FormalPara Lernziele des Kapitels
  • Sie kennen die grundlegenden Politik- und Demokratiebegriffe.

  • Sie können die drei Erscheinungsformen des Politischen (Politics, Policy, Polity) unterscheiden und erklären.

  • Sie sind in Kenntnis von Dahls Demokratiekriterien und können die Vorzüge demokratischer Ordnungen benennen.

Jede und jeder von uns besitzt ein grobes Bild von Politik und ihrer Funktion in der Gesellschaft. Wenn wir etwa an das Frühjahr 2020 zurückdenken, als sich die COVID-19-Pandemie ausbreitete und viele von uns tagtäglich gebannt in den Fernseher oder die Nachrichten-App starrten, um auf dem neuesten Stand zu sein, wie wir als Gesellschaft mit der neuartigen Bedrohung umgehen und welche Schutzmassnahmen vom schweizerischen Bundesrat in Absprache mit den Kantonen und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) getroffen wurden. Oder, die Älteren mögen sich erinnern, im Jahre 2001, als das World Trade Center in New York Ziel eines Anschlages wurde und die Welt an den Lippen der Politikerinnen und Politiker hing, die sich – mal mehr, mal weniger enthusiastisch – mit den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) und ihrem damaligen Präsidenten George W. Bush solidarisierten, der einen «Krieg gegen den Terrorismus» ausrief. All dies sind Episoden in unserem kollektiven Gedächtnis, in denen klar wurde, wie sehr unser Leben durch Politik bestimmt ist.

Wir alle verfügen über Assoziationen und Erinnerungen an politische Grossereignisse, die den redensartlichen «Lauf der Dinge» verändert haben (wie z. B. an den 11. September 2001, über den vermutlich ein Grossteil der Erwachsenen noch heute sagen kann, wo sie oder er den Einsturz der «Zwillingstürme» am TV miterlebt hat). Abgesehen von globalen «Mega-Events» ist Politik jedoch auch in unserem alltäglichen Handeln omnipräsent und für unser privates und professionelles Tun relevant; sei es, weil der Gemeinderat unseres Wohnortes ein Infrastrukturprojekt beschlossen hat, das die Strasse vor unserem Balkon in eine überdimensionierte Baustelle verwandelt, sei es, weil die neubesetzte Kantonsregierung andere Prioritäten setzt als ihre Vorgängerin und unserem Arbeitgeber eine unerwartete Finanzspritze verabreicht, durch die sich Personalengpässe kurzfristig vermeiden und Arbeitsbelastungen verringern lassen. Und wir alle haben biografische, durch unsere Herkunft und Sozialisation geprägte Wahrnehmungen und Bewertungen politischer Prozesse und Inhalte. Gleichwohl können wir einige Grundzutaten identifizieren, die Politik über unsere individuelle Perspektive (und kollektivierte Erinnerung) hinaus ausmachen.

Politik- und Demokratiebegriffe

Das antike Griechenland ist hierfür ein guter Ausgangspunkt. Der Begriff Politik stammt aus dem (Alt-)Griechischen und meint erstens den Bürger oder die Bürgerin, zweitens «das Öffentliche, das Gemeinschaftliche, das alle Bürger Betreffende und Verpflichtende» sowie drittens die «Kunst der Führung und Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten» (Schmidt 1995: 729). Ursprünglich handelte es sich um die «Bezeichnung für die stimmberechtigten Bürger eines Gemeinwesens […], die auf Ordnung und Führung dieses Gemeinwesens im Innern und in seiner Beziehung zu anderen Staaten gerichteten Bestrebungen und die Institutionen der Willensbildung und Entscheidungsfindung über öffentliche Angelegenheiten» (ebd.). Die Referenz auf die Bürgerinnen und Bürger ist vor allem in der Demokratie von besonderer Relevanz; einer politischen Ordnung, in der die Herrschaft vom Volke – direkt per Abstimmung oder von gewählten Repräsentantinnen und Repräsentanten – ausgeht und zu seinem Wohlergehen (resp. dem der Volksmehrheit) eingesetzt wird.

Im Unterschied zu nicht-demokratischen Ordnungen ist die Existenz eines fairen politischen Wettbewerbs substanziell. In ihm fördert das Ringen um die Gunst der Wahl- und Stimmberechtigten die «Auslese und Schulung kompetenter politischer Führer [sic]», wie es Schmidt (2019: 185) in Anlehnung an den Soziologen Max Weber und seine Vorstellung von der elitären «Führerdemokratie» von Beginn des 20. Jahrhunderts formuliert – und in der schweizerischen Direktdemokratie die «direkte Mitsprache des Volkes […] in den wichtigsten Fragen» (Linder 2009: 576). Geeignete institutionelle Verfahren stellen sicher, dass über personelle und inhaltliche Entscheide nicht in den «Hinterzimmern der Macht» (vorgängig) befunden wird, sondern Wahlen und Abstimmungen frei, geheim und ergebnisoffen erfolgen.

Aus dieser ersten Begriffsbestimmung lassen sich wichtige Elemente demokratischer Politik ableiten. Zum einen sind da die Bürgerinnen und Bürger, die bei Wahlen und – in der Schweiz: regelmässigen – Abstimmungen ihre Stimme einbringen können müssen. Zum anderen entdecken wir in der vorgängigen Beschreibung die politischen Institutionen: Spezifische, in der jeweiligen Landesverfassung festgeschriebene Einrichtungen wie Parlamente und Regierungen sowie formale und informelle Prozesse und Regelhaftigkeiten, wie sie z. B. von Wahl- und Abstimmungsgesetzen vorgegeben werden. Gesamthaft bilden sie den Rahmen für die Produktion kollektiv bindender Entscheidungen. Weiterhin können wir aus dem Skizzierten herauslesen, dass es im politischen System wie auch in der Bürokratie Personal braucht, welches die Kunst des Steuerns öffentlicher Angelegenheiten beherrscht und Entscheide umsetzt. Nicht zuletzt ist das alle Bürgerinnen und Bürger Betreffende offenkundig an Inhalte gebunden, die darüber entscheiden, welche Themen und Herausforderungen innerhalb des Gemeinwesens im Hinblick auf seine Ordnung und Führung aufgegriffen und politisch verhandelt (resp. vom Politikapparat «verarbeitet») werden.

Dies deckt sich im Grossen und Ganzen mit einer anerkannten Dreiteilung, die sich im englischen Sprachgebrauch für das Verständnis von Politik und ihren Erscheinungsformen durchgesetzt hat (siehe Tab. 2.1). Demnach bezeichnen Politics den dynamischen Prozess der Willensbildung und Konfliktaustragung, des Verhandelns und Schmiedens von Kompromissen bzw. der Verständigung auf einen Konsens durch politisches Personal mit dem Ziel der Entscheidungsfindung und finalen Implementierung (siehe hierzu die Ausführungen zum schweizerischen Gesetzgebungsprozess in Kap. 4). Policies sind die Inhalte von politischen Entscheiden und Programmen, also z. B. Sozialversicherungsreformen, städtische Bauprojekte oder Initiativen – kurz: Problemlösungen, definierte Aufgaben und Ziele, die erreicht werden sollen. Die Polity dagegen bezieht sich auf die Institutionenordnung eines politischen Gemeinwesens, d. h. auf die Verfahrensregeln, Rechtsnormen und allgemein die Form, innerhalb derer Politics zu Policies führen (Schmidt 1995). Damit sind in der Schweiz neben der Bundesverfassung sämtliche Gesetze und Erlasse gemeint, die den Ablauf demokratischer Verfahren festlegen und dirigieren (bspw. die kantonalen Wahl- und Abstimmungsgesetze). In einem weiteren Sinne kann dies zusätzlich kulturell geprägte Regelungsmuster und «ungeschriebene Gesetze» einschliessen, wie bspw. die Anwendung der sog. Zauberformel bei der Besetzung des Bundesrates (siehe Kap. 3).

Tab. 2.1 Die drei Erscheinungsformen von Politik. (Eigene Darstellung)

Regierungen vs. Bürgerinnen und Bürger?

Die Bürgerinnen und Bürger sind jeweils an exponierter Stelle mitgedacht, und zwar in folgender Hinsicht: Demokratische Politik muss vom Volk – genauer: den Stimmberechtigten – durch Wahl oder Abstimmung beauftragt sein, sie muss von ihm ausgeübt werden resp. sich auf das Interesse der Mehrheit und breit legitimierte Ziele berufen können und letztlich zu seinen Gunsten handeln (Schmidt 2019). Das meinte der US-amerikanische Präsident Abraham Lincoln mit seiner idealisierenden Demokratiedefinition «government of the people, by the people, for the people» (Bühlmann und Kriesi 2013). Wobei Lincoln mit seinem Zitat aus dem 19. Jahrhundert der Regierung bzw. dem Regieren (Government) eine besonders exklusive Rolle in der Politik zugedacht hat, was heute nicht mehr alle Beobachtenden mühelos unterschreiben. Vielmehr ist es seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert en vogue, von Governance zu sprechen. Damit ist komplexes, nicht ausschliesslich hierarchisches – sondern horizontales – Regelungshandeln zwischen voneinander abhängigen gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren gemeint, bei dem die Vertreterinnen und Vertreter des politisch-administrativen Systems im engeren Sinne verstärkt der Mitwirkung von (und Kooperation mit) anderen Akteurinnen und Akteuren wie z. B. Gewerkschaften, Unternehmensverbänden, Medienschaffenden etc. bedürfen (Mayntz 2004). Es bezieht sich auf einen Modus demokratischer Aktivität, in dem politische Entscheide «nicht mehr ausschließlich von den staatlichen Hauptinstitutionen wie Parlament und Regierung geformt und umgesetzt werden können, sondern auf Grund von Interessenverflechtung und Ressourcenverteilung eine Vielzahl heterogener staatlicher und nicht-staatlicher Organisationen und Interessengruppen am Politikprozess beteiligt werden müssen» (Janning et al. 2009: 66).

Trotzdem ist die Regierung an dieser Stelle ein gutes Stichwort. Denn auch in der Schweiz ist die Regierung – der Bundesrat, den wir uns später genauer ansehen werden – eine zentrale politische Institution, die viele politische Entscheide trifft oder ihre Richtung in erheblicher Weise prägt. Aufgrund der starken Volksmitwirkung im eidgenössischen Politiksystem, welche ebenfalls an späterer Stelle ausgeführt wird, ist sie aber (genauso wie das Parlament) tendenziell weniger einflussreich als in Repräsentativdemokratien. Unabhängig davon, wie oft und wie direkt oder indirekt das Wahl- und Stimmvolk über öffentliche Sachverhalte entscheiden kann, ist jedoch vor einem Verständnis von Demokratie zu warnen, welches ihren Aktionsradius zu sehr auf die «grossen politischen Bühnen» in Bern, Paris oder Brüssel (und ihr im medialen Dauereinsatz befindliches Spitzenpersonal) reduziert. Politik ist viel mehr als der Bundesrat oder ein Kantonsparlament; sie fängt direkt vor unserer Haustür in Zürich, Fribourg oder im Emmental an.

Gerade in Krisenzeiten, wie z. B. während der COVID-19-Pandemie, schlägt zwar oftmals die grosse Stunde der Exekutive (während der Verbreitung des neuartigen Virus hielt der Bundesrat das Zepter des Krisenmanagements in kaum dagewesener Weise in seiner Hand und vereinigte, vor allem während der ersten Welle im Frühjahr 2020, in durchaus beeindruckender Weise das Volk hinter seinen Entscheiden und MassnahmenFootnote 1). Wenn jedoch ein Schulhaus saniert, ein Fussballstadion neu gebaut oder eine Tramlinie verlängert werden soll – alles Beispiele aus der jüngsten Zürcher Kommunalpolitik, die sich ähnlich auf andere Gemeinden übertragen lassen – sind wir tief in der lokalpolitischen Realität ohne Korrespondentinnen, Redenschreiber und Glamour angekommen. Oder denken Sie an Angelegenheiten, die für Berufsfelder im Gesundheits- und Sozialwesen von unmittelbarer Bedeutung sind: Wenn sich die Frage stellt, wie eine Stadt der wachsenden Drogen- und Suchtproblematik begegnet und ob niederschwellige Anlaufstellen für Abhängige mitsamt «Drug-Checking-Angeboten» geschaffen werden sollen, oder wenn es um die Erweiterung eines Spitals oder die Entwicklung von bedarfs- bzw. bedürfnisgerechtem, bezahlbarem Wohnraum für unterstützungsbedürftige (oder generell) Menschen geht – dann sind all dies potenziell kontroverse Themen, um die herum in aller Regel eine politische Auseinandersetzung entsteht.

An ihr nehmen sodann Akteurinnen und Akteuren mit divergierenden Haltungen, Interessen und demokratietheoretischen Funktionen teil:

  • Bürgerinnen und Bürger, indem sie von ihren politischen (Wahl-, Abstimmungs- und Demonstrations-)Rechten Gebrauch machen;

  • Parteien, indem sie Personal rekrutieren, Programme erarbeiten und durch ihre Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen Einfluss auf Entscheidungsfindungsprozesse nehmen;

  • Verbände wie Gewerkschaften, Arbeitgebervereinigungen oder Berufs- und Fachverbände, indem sie politische Positionen und Interessen gesellschaftlicher (Gross-)Gruppen aufnehmen, bündeln und artikulieren;

  • zivilgesellschaftliche Organisationen und Bürgerbewegungen, indem sie neue Bedürfnisse und Einstellungen innerhalb der (oftmals lokalen) Bevölkerung aufspüren und sie aufs Tableau der öffentlichen Meinung bringen;

  • staatliche Institutionen und Verwaltungen, individuelle Politikerinnen und Politiker, Unternehmerinnen und Unternehmer, Stiftungen, sog. Think Tanks, Lobbyorganisationen, Forschende, Journalistinnen und Journalisten, bis hin zu Social-Media-Persönlichkeiten.

Vielfach schliessen sie sich – nicht notwendigerweise intentional, aber empirisch beobachtbar – zu sog. Diskurs- bzw. Advokatenkoalitionen zusammen, die themenspezifisch und gemeinhin auf der Grundlage geteilter Überzeugungen in der (medialen) Öffentlichkeit entstehen und ihre Präferenzen durch koordiniertes (sowie teilweise strategisches) Handeln in die politischen Entscheidungsarenen einspeisen (Sabatier 1998; Jenkins-Smith et al. 2017; Hutter et al. 2019). Ob Konzernverantwortungs-, Verhüllungsverbots- oder Pflegeinitiative: Beispiele gibt es in der Schweiz zuhauf, denn die Initiativkomitees, welche Anliegen erfolgreich vors Volk bringen, durchlaufen typischerweise die evolutionäre Entwicklung von der Discourse zur Advocacy Coalition.

Alle zuvor Genannten profitieren von der Demokratie. Doch was macht die Demokratie besonders, und weshalb könnte man behaupten, dass sie anderen politischen Ordnungen bzw. Staatsformen wie z. B. der Aristokratie als Herrschaft von wenigen «Geeigneten» (traditionell ist damit der Adel gemeint) oder der Monarchie als Herrschaft eines Königs oder einer Kaiserin vorzuziehen ist? Hierzu hat sich der Politikwissenschaftler Robert Dahl prominent geäussert, indem er sowohl Kriterien des demokratischen Prozesses als auch Vorteile der Demokratie identifizierte.

Robert Dahls Kriterien und Vorzüge der Demokratie

Zu Dahls (1998) zentralen Demokratiekriterien zählt zum einen die effektive Partizipation aller (stimmberechtigten) Bürgerinnen und Bürger. Damit hängt die Notwendigkeit eines offenen politischen Diskurses und einer fundierten Willens- und politischen Bildung zusammen, welche über den Zugang zu essenziellen Informationen hinsichtlich relevanter Angelegenheiten, etwa im Rahmen des öffentlich finanzierten Rundfunks, sicherzustellen ist: «Medien, die frei von Zensur und staatlicher Steuerung über politische Strukturen, Prozesse und Zusammenhänge berichten, die staatliches Handeln öffentlich kontrollieren, die Missstände, Skandale und Affären aufdecken und zudem den Bürgern ein Forum der Artikulation bieten, [sind] eine notwendige Bedingung für die Demokratie» (Frevel und Voelzke 2017: 78). Mit dem Diskurs und der Willensbildung verschränkt ist das Kriterium der kontinuierlichen Kontrolle des Volkes über die politische Agenda. Damit charakterisiert Dahl Politik als einen im steten Fluss befindlichen Prozess, der einer fortlaufenden Rekonfiguration und Weiterentwicklung unterliegt. Zudem findet sich in der Kriterienliste die Gleichheit der Wahl; sowohl auf die Instrumente als auch auf die Stimmengewichtung bezogen. Der Wahl- und Abstimmungsmodus, so Dahl, muss gewährleisten, dass die Stimmen aller Wahl- bzw. Abstimmungsberechtigten in gleicher Weise das Ergebnis beeinflussen und nicht Personen, z. B. aufgrund ihres sozialen Status oder ihres Wohnortes, systematisch benachteiligt werden. Und schliesslich ist für Dahl die Inklusion aller (erwachsenen) Bürgerinnen und Bürger wichtig, sodass niemand vom demokratischen Geschehen ausgeschlossen wird.

Spätestens hier wird ersichtlich, dass es sich bei Dahls Kriterienkatalog um ein Idealbild handelt, das in der Realität selten oder vermutlich nie vollständig ausgemalt ist. So können wir mit Blick auf die Schweiz feststellen, dass mit den regelmässigen, direktdemokratischen Abstimmungen zwar tatsächlich viel Aufwand getrieben wird, um die Bürgerinnen und Bürger möglichst umfassend und in gleichbleibender Frequenz an Entscheiden über öffentliche Angelegenheiten zu beteiligen. Aber auch hierzulande gestalten angesichts von rund einem Viertel Ausländerinnen und Ausländern an der Wohnbevölkerung – die momentan an Wahlen und Abstimmungen bis auf wenige Kantone und Gemeinden nicht teilnehmen dürfen – bei weitem nicht alle erwachsenen, in der Schweiz wohnhaften Personen Politik mit. Gemäss Vatter (2020) waren seit Einführung des Frauenwahlrechts 1971 nie mehr als zwei Drittel der Personen mit schweizerischer Meldeadresse berechtigt, ihre Stimme bei Nationalratswahlen abzugeben. Wenngleich dieser Befund neben den Eingewanderten auf die Minderjährigen zurückzuführen ist, deren Exklusion bis zu einem gewissen Lebensalter gerechtfertigt sein mag, stellt die Schweiz im besten Fall eine «Zwei-zu-eins-Demokratie» dar, in der mindestens eine von drei Personen nicht politisch partizipieren kann. Und selbst die, die wählen und abstimmen könnten, tun es oft nicht: Die Beteiligung an Wahlen und Abstimmungen schwankte in den vergangenen 50 Jahren grob zwischen 30 und 60 %; mit einer Tendenz in den jüngsten Dekaden, die auf einen Korridor zwischen 40 und 50 % hindeutet (ebd.). In diesem Zusammenhang ist die Schweiz eines der Länder weltweit, in denen politische Mitbestimmungsrechte am wenigsten gebraucht werden. In Deutschland lag die Beteiligung an nationalen Wahlen z. B. nie unter 70 % (die allerdings im vierjährigen Rhythmus stattfinden, während Schweizerinnen und Schweizer im Abstand von mehreren Monaten um ihr Votum gebeten werden).Footnote 2

Wenn Sie diese Diagnose verwundert oder gar ernüchtert hat – was, mit Verlaub, verständlich ist in einem Staats- und Bildungssystem, das gelegentlich mit seinen direkten Mitbestimmungsrechten kokettiert –, widmen wir uns nun mit Freude den Stärken, für die der Aufwand der Demokratie getrieben wird. Denn auch, wenn nicht alle Betroffenen zu jedem Zeitpunkt mit grösster Hingabe partizipieren, scheint die demokratische Ordnung positive Effekte auf alle Bürgerinnen und Bürger auszuüben. Das kann ärgerlich für diejenigen sein, die ihre kostbare Zeit investieren, um wohlabgewogene Entscheide zu treffen, während die Gesamtheit profitiert. Aber auch dieses sog. Trittbrettfahrerproblem (mit dem wir uns noch in einem anderen Kontext auseinandersetzen) gehört zur Demokratie. Davon abgesehen können wir in umgekehrter Richtung mit der ökonomischen Theorie über die Paradoxie des Wählens argumentieren, dass die eigene Stimme bei geringerer Wahl- und Abstimmungsbeteiligung an relativem Wert gewinnt und sich das Kosten-Nutzen-Verhältnis des individuellen Urnengangs weniger «irrational» gestaltet (Downs 1957). Denn schliesslich gilt in den allermeisten Kantonen ein ausgewiesenes Recht und keine Pflicht, politisch zu partizipieren – und jede «verfallene» Stimme erhöht die Chance auf Durchsetzung der eigenen Position.Footnote 3

FormalPara Die schweizerische Demokratie während der Corona-Pandemie

Wie die meisten Länder der Erde, wurde die Schweiz von der Corona-Pandemie zu Beginn des Jahres 2020 kalt erwischt. Als in Europa und vor allem Norditalien die Infizierten-Zahlen und Todesfälle innert weniger Tage steil anstiegen – und damit wegen der vielen Grenzgänger auch im Tessin und weiteren grenznahen Kantonen – definierten der Bundesrat und das Bundesamt für Gesundheit (BAG) ab Februar schrittweise Empfehlungen und später dringende Hinweise zum «Social Distancing» (soziale – oder eigentlich eher: physische – Distanzierung). Schliesslich wurde durch entsprechende Weisungen im März das gesamte öffentliche Leben in der Schweiz auf ein absolutes Minimum «systemrelevanter» Aktivitäten und Wirtschaftszweige begrenzt. Ziel war es, aufgrund des Fehlens eines Impfstoffes und von Medikamenten die Verbreitung des Virus zu verlangsamen und Überlastungen der Spitäler und Intensivstationen zu vermeiden. Gingen bereits diese Vorkehrungen einigen Kritikerinnen und Kritikern zu weit, steuerte die Situation auf eine Eskalation zu, als im Verlaufe des Jahres 2021 klar wurde, dass die Pandemie länger andauert als von Virologinnen und Epidemiologen befürchtet – und von der Politik und den Medien kommuniziert.

Spätestens mit der Verfügbarkeit eines Impfstoffes und der öffentlichen Diskussion über eine Impfpflicht, wie sie intensiv vor allem ab Herbst 2021 geführt wurde, erhärteten sich die Fronten zwischen Skeptikern und Befürworterinnen der Corona-Politik. «Das Private ist politisch», dieser emanzipatorische Slogan der Frauenbewegung bewahrheitete sich auf unheilvolle Weise: COVID-19 war plötzlich etwas, das Familien und Freundeskreise auseinandertrieb und das Vertrauen in die demokratischen Institutionen auf die Probe stellte. Die Ende 2021 rund 30 % ungeimpften Schweizerinnen und Schweizer fragten sich, ob das noch «ihr» Staat ist, der darüber diskutiert, ihnen das Vakzin obligatorisch zu verspritzen. Die anderen ca. 70 %, für welche der «Pieks» vielfach nur das kleinere Übel war und die sich womöglich aus Solidarität gegenüber Risikogruppen und der Aussicht auf Privilegien impfen liessen, fühlten sich teilweise «verschaukelt», als der Bundesrat vor Weihnachten doch wieder ein allgemeines Beschränkungspaket schnürte. Die Demokratie schien auf allen Ebenen versagt zu haben. Doch hat sie das wirklich? Gewiss, die Minderheit der Ungeimpften und «Corona-Kritiker» wurde vom Megafon der Mehrheit übertönt. Das ist das Wesen der Demokratie. Einige von ihnen sahen gar die «Tyrannei der Vielen» wie einen Tornado über sich hinwegziehen. Über die Rolle und Unabhängigkeit der Medien, und natürlich auch Social Media, können wir diskutieren; sie haben während der Pandemie nicht immer das beste Bild abgegeben. Auch über eine Impfpflicht und ihre Vereinbarkeit mit Bürgerrechten kann man unterschiedlicher Meinung sein. Im Grossen und Ganzen wurde aber die Partizipation nicht gravierend eingeschränkt, das Volk kontrollierte auch weiterhin die politische Klasse, und die Kontroversen zeigten nur zu gut, wie sehr der demokratische Diskurs floriert.

Zu den Vorzügen der Demokratie bemerkt Dahl (1998) zunächst, dass die Demokratie Tyrannei und autokratischer Willkür vorbeugt. Sie stellt eine Ordnung des Gemeinwesens her, in der sich einzelne Personen oder Gruppen nicht über den Willen der Mehrheit hinwegsetzen können, sondern das Volk ausgedehnte Partizipationsmöglichkeiten geniesst. Dadurch werden grundlegende Bürgerrechte (besser) garantiert. Neben den politischen Partizipationsrechten sind dies insbesondere soziale Rechte wie z. B. die Gewährung eines materiellen Existenzminimums – in der Schweiz in Form der Sozialhilfe, dem «untersten Netz der Sozialen Sicherheit», siehe Kap. 6 – oder grundlegende Leistungen im Bereich der Gesundheitsversorgung und sozialen Teilhabe. Die Demokratie schneidet in dieser Hinsicht nach Einschätzung von Dahl besser ab als konkurrierende Ordnungsmodelle. Gleichfalls lässt die Demokratie den Bürgerinnen und Bürgern grösstmögliche Freiheit zuteilwerden. Sie hat es nicht nötig, Andersdenkende zu unterdrücken oder, wie im Mittelalter, der Guillotine zu übergeben. Im Gegenteil: Der ständige Wettbewerb um die öffentliche Meinung und um das bessere Argument, die fortwährende Kontroverse und das Gebot der Auseinandersetzung mit den Standpunkten der Gegenseite sind geradezu ihr Sinn und Zweck.

Durch die Demokratie ist ein Volk selbstbestimmt und autonom in seiner Rechtssetzung, postuliert Dahl. Es kann demzufolge über sämtliche Rechte und Pflichten sowie über die (gesetzlichen) Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens völlig frei entscheiden und muss sich diese nicht von anderen Staaten, Staatengemeinschaften oder Herrschenden diktieren lassen. Dies ist einer der Gründe, weshalb sich das Stimmvolk in der Schweiz oft gegen einen EU-Beitritt gewehrt hat. Man möchte sich nicht von Brüssel vorschreiben lassen, wie im Wallis der Wein gekeltert oder im Bündnerland die Capuns gewickelt werden. Zudem geht es Dahl um die moralische Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger. Nach seiner Einschätzung entwickeln wir in der Demokratie eine Haltung, mit der wir für uns und andere Verantwortung übernehmen (können). Wir schreiben einerseits den Schutz unserer persönlichen Interessen gross, haben andererseits aber die Gemeinschaft im Blick. Politische Gleichheit und Frieden sind das Resultat. Am Ende führt dies, so seine Analyse, zu grösstmöglicher wirtschaftlicher Prosperität. Oder anders ausgedrückt: In Demokratien geht es dem Grossteil der Menschen im Vergleich zum Wohlstandsniveau in alternativen Ordnungen ziemlich gut.

Die Demokratie nüchtern betrachtet

Trotz alledem wäre es unpassend, die Demokratie als das «gelobte Land» zu verherrlichen, in dem Milch und Honig fliessen. Zu einer der Schattenseiten gehört, dass nicht alle Bürgerinnen und Bürger mitentscheiden (können). Dahl hat deshalb für die real existierenden, unvollkommenen Demokratien, welche nicht alle seine Kriterien (vollumfänglich) erfüllen, den Begriff der Polyarchie geprägt, die «Herrschaft der Vielen». Mit Blick auf Erkenntnisse zum Wahl- und Abstimmungsverhalten in der Schweiz könnten wir spöttisch qualifizieren: Die «Herrschaft der alten, studierten (weisen?) Männer». Denn die Stimmabgabe korreliert tatsächlich mit Alter, Bildungsniveau und Geschlecht, ausserdem u. a. mit Haushaltseinkommen und Zivilstand (Tresch et al. 2020). Weiterhin orientieren sich Parteien in ihrer Programmatik nicht notwendigerweise am Wohlergehen des Volkes, sondern an der Frage, wie sie das «Kundenpotenzial» bestmöglich «abfischen» können. Das wusste schon Downs (1957), der schlussfolgerte, dass rational handelnde Parteien auf dem Links-rechts-Spektrum zur Mitte – zum sog. Median-Wähler – neigen (siehe auch Kap. 7). Und was machen die Regierungen? Sie verhalten sich auch nicht zwingend so, wie es ihre Anhängerinnen und Anhänger erwartet hätten. So werden Mitte-rechts-Regierungen nicht selten von den Ideen der oppositionellen Linksparteien «infiziert», während sich linke Regierungen gelegentlich von der Mitte-rechts-Programmatik «anstecken» lassen (Hicks und Swank 1992). Was uns in der Schweiz nicht bekümmern sollte, da die Zusammensetzung des Bundesrats ohnehin durch die Zauberformel (siehe Kap. 3) vorgezeichnet ist.

Dazu kommt, dass die Bürgerinnen und Bürger auch in Demokratien nicht allesamt in gleichem Masse vom Wohlstand profitieren, wenngleich Dahl die ökonomische Leistungsfähigkeit explizit als Vorzug erwähnt. Und das gilt für die Schweiz ebenfalls. Wir könnten vielleicht annehmen, dass die Einkommen und Vermögen in einem Land, in dem das Volk regelmässig über direktdemokratische Verfahren zur Teilhabe an Politik eingeladen ist, einigermassen «gerecht» über die Bevölkerung hinweg verteilt sind (zum Begriff Gerechtigkeit siehe Kap. 8). Jedoch gehen im internationalen Vergleich zwar die Einkommen zwischen Top- und Geringverdienenden nicht übermässig auseinander, sehr wohl aber die Vermögen, die sich hierzulande stark auf wenige Privilegierte konzentrieren. So verdienen die reichsten 10 % der Bevölkerung zwar «nur» rund 30 % der Löhne, wenn wir die Umverteilungswirkung von Steuern berücksichtigen, aber sie besitzen mehr als 60 % der Vermögen – ein europäischer Spitzenwert. Weiterhin sind die geschlechtsspezifischen Einkommensunterschiede in der Schweiz, verglichen mit anderen europäischen Staaten, besonders ausgeprägt. Über die gesamte Erwerbsbiografie hinweg betrachtet, verdienen Frauen in der Schweiz gemäss Daten von 2018 etwa 43 % weniger als Männer, übertroffen nur von Österreich und den Niederlanden mit jeweils 44 % (Bundesrat 2022; WID 2022).

Literatur zur Vertiefung

FormalPara Lernaufgabe

Diskutieren Sie, welche der Kriterien von Dahl auf die Schweiz eindeutig zutreffen und bei welchen allenfalls Abstriche zu verzeichnen sind. Begründen Sie, weshalb Ihrer Meinung nach einige seiner Demokratiemerkmale in der Schweiz stärker ausgeprägt sind als andere.