Wie schnell sich die Welt doch innerhalb von 80 Jahren ändert.

Joseph Schumpeter war ein weltweit einflussreicher Ökonom, dessen Analysen und Prognosen noch lange nach seinem Tod von Studierenden und Forschenden rund um den Erdball gelesen werden. Doch was der renommierte Vordenker Mitte des 20. Jahrhunderts über die Schweiz schrieb, liest sich heute wie eine verblüffend kurzsichtige Momentaufnahme aus dem Kuriositätenkabinett: Eine bäuerliche Welt, abgesehen von ein paar Hotels und Banken, in der alles so einfach und stabil und verständlich zu sein scheint, weil es schlicht keine grossen Entscheide zu treffen gibt. Beste Voraussetzungen für eine direkte Demokratie also, in der die Politik ohne grosse Mühe Problemlösungen findet, denen alle Bürgerinnen und Bürger vorbehaltlos zustimmen können.

Wir sollten Schumpeter gewogen sein. Er konnte nicht vorhersehen, dass sich der seinerzeit auf dem internationalen Parkett eher unbedeutende Alpenstaat nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem ernstzunehmenden «Player» der globalen Politik und Ökonomie mausern würde. Offenkundig hält die damalige Zustandsbeschreibung der Schweiz einer aktualisierten Überprüfung im hochentwickelten Kapitalismus, der neben Wohlstand typischerweise materielle Konflikte, soziale Ungleichheiten und politische Entfremdungstendenzen marginalisierter Milieus fördert, nicht Stand. Auch dass der Wohlfahrtsstaat bis zum Ende des 20. Jahrhunderts einen wahren «Siegeszug» in der westlichen Welt antreten und das schweizerische Sozial- und Gesundheitswesen erstaunliches Format annehmen würde, war zu seinen Lebzeiten nicht zwangsläufig zu prophezeien. Und mit dem Umstand, dass die politischen und ökonomischen Gegebenheiten, welche über das Wohl und Wehe der Gesundheits- und Sozialeinrichtungen bestimmen, angesichts ihrer Komplexität eines Tages ganze Lehrbücher füllen, rechnete er wohl ebenfalls nicht (und wenn doch, so hätte ihn dies als gebürtigen Österreicher und Professor an renommierten Universitäten im Vereinigten Königreich und in den USA möglicherweise nicht mit sonderlich grossem Interesse erfüllt).

Eher milde lächeln dürfen wir also angesichts seiner damaligen Einschätzung. Von wegen nur Hotels und Banken: Das Gesundheits- und Sozialwesen trägt mittlerweile (2020) 8 % zur Wirtschaftsleistung bei, beschäftigt rund 766′000 Personen und stellt dadurch zahlreiche mit dem Schweizerkreuz assoziierte Branchen in den Schatten. Doch auch fernab ökonomischer Grössen leisten Angehörige der Sozial- und Gesundheitsberufe mit ihrer täglichen Arbeit einen elementaren Beitrag zur Erhaltung, Steigerung oder (Wieder-)Herstellung von Lebensqualität in den vier Sprachregionen und 26 Kantonen. Spitäler, Heime und Spitex-Dienste sind nur Beispiele für Organisationen, deren am Menschen orientiertes Handeln wie Schmieröl im Räderwerk von Wirtschaft und Politik wirkt, die jedoch von Letzteren auch stark abhängig sind. Um das Zusammenspiel dieser komplexen gesellschaftlichen Teilbereiche zu verstehen, bedarf es Wissen über ihre grundlegenden Strukturmerkmale, Funktionsweisen und Herausforderungen.

Mit dem vorliegenden Buch begeben wir uns auf eine gemeinsame Lernreise zu den politischen und ökonomischen, teilweise gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Sozial- und Gesundheitswesens in der Schweiz. Es schlägt den Bogen von ausgewählten Grundbegriffen und Theorien der Demokratie und des politischen Systems über die für soziale Dienstleistungen und das Gesundheitssystem relevanten Institutionen und Kennzahlen bis hin zu Fragen sozialer Gerechtigkeit, politischer Mitwirkung von Professionellen in den Gesundheits- und Sozialberufen sowie aktuellen Trends, welche die zukünftige Gestalt der Versorgungsinfrastruktur prägen werden. Die Ausführungen helfen Ihnen, Komplexität zu reduzieren und das «Wesentliche» zu sehen.

In Kap. 2 beschäftigen wir uns mit den Grundlagen der Politik und Demokratie mitsamt den unterschiedlichen Erscheinungsformen, Kriterien und Vorzügen demokratischer Ordnungen. Anschliessend gehen wir in Kap. 3 auf das Konzept der Konsensdemokratie ein, welches sich für den Vergleich demokratischer Systeme und die internationale Einordnung der Schweiz als besonders hilfreich erwiesen hat. Schliesslich vertiefen wir den helvetischen «Sonderfall» in Kap. 4 hinsichtlich der Eigenheiten des politischen Entscheidungsprozesses, wobei hier die (halb-)direkte Demokratie und der föderale Staatsaufbau von zentraler Bedeutung sind. Eine ökonomische Perspektive auf das Sozial- und Gesundheitswesen nehmen wir in Kap. 5 ein, indem wir entlang volkswirtschaftlicher Kennzahlen sowie Branchen- und Arbeitsmarktdaten auf die Finanzierung, Ausgaben, Anbietenden und das Personal in ausgewählten Segmenten schauen. Sozialversicherungen und Sozialhilfe als institutionelle Grundpfeiler der Gesundheits- und Sozialversorgung werden in Kap. 6 gegenübergestellt. Kap. 7 behandelt Sozial- und Gesundheitseinrichtungen im Spannungsfeld gesellschaftlicher Sektoren, namentlich Staat, Markt und Familie, und thematisiert, wie Fach- und Führungspersonen neben der Dienstleistungserstellung einem politischen Auftrag gerecht werden (können). Bevor sich die Buchdeckel schliessen, widmen wir uns in Kap. 8 den Herausforderungen des Gesundheits- und Sozialwesens zwischen Wandel und Gerechtigkeit.

In diesem Buch wird abwechselnd und zufällig vom Sozial- und Gesundheitswesen oder vom Gesundheits- und Sozialwesen die Rede sein. Die jeweilige Terminologie bringt keine Wertigkeit zum Ausdruck. Es handelt sich um die bewusste Zusammenfassung von zwei Politikfeldern resp. Wirtschaftsbranchen, die in der offiziellen Statistik differenziert ausgewiesen werden, aber im Hinblick auf ihre Kontextfaktoren über vielerlei Gemeinsamkeiten verfügen und in Zeiten interprofessioneller Zusammenarbeit und Schnittstellen im Versorgungssystem nicht isoliert voneinander betrachtet werden sollten. Sozialarbeitende sind in Spitälern tätig, Gesundheitsberufe Teil der Heim-Infrastruktur, die Unterstützung von Personen mit psychischen oder physischen Beeinträchtigungen gelingt in vielen Fällen nicht ohne eine systematische Abstimmung zwischen Therapie, Pflege, Medizin, Rehabilitation und sozialen Diensten.

Der Anspruch, das schweizerische Sozial- und Gesundheitswesen in einem einzigen Lehrbuch vollumfänglich abzubilden, wäre vermessen. Die dargebotenen Inhalte, Theorien und empirischen Befunde sind ebenso selektiv wie die Praxisbeispiele innerhalb bzw. Lernaufgaben am Ende der Kapitel. Das Gleiche betrifft die Herausforderungen, welche im Buch als lohnende Themenanker präsentiert werden, wenn Sie die gesundheitliche und soziale Versorgungslandschaft der Schweiz politisch und ökonomisch einordnen und ggf. mitgestalten wollen. Die jeweiligen Auflistungen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit und wurden nach bestem Wissen und Gewissen auf Basis der Fachliteratur zusammengestellt. Ihre Auswahl geht zurück auf eigene Forschung, Gespräche mit Studierenden, Fach- und Führungspersonen, lebhafte Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen der Wissenschaft und dem öffentlichen Sektor sowie wertvolle Einblicke in die Praxis. Sie sind als Diskussionsangebote gedacht und regen dazu an, sich mit den Themen vertieft auseinanderzusetzen – und gerne auch: Widerspruch zu formulieren.

Das Lehrbuch soll Ihnen relevante Zusammenhänge verständlich und zugleich fachlich fundiert aufzeigen, praxisnahe Beispiele liefern, Sie zum Nachdenken anregen, Ihnen Fragen stellen und Ihre Neugierde wecken. Gewiss werden Sie nicht alles gleichermassen spannend und selbsterklärend finden, evtl. werden Sie knifflige Abschnitte zweimal lesen. Wenn Sie nach der Lektüre Themen für sich identifiziert haben, denen Sie im weiteren Verlauf Ihrer Auseinandersetzung mit dem Gesundheits- bzw. Sozialwesen Aufmerksamkeit schenken möchten, ist viel erreicht. Sie finden am Ende jedes Kapitels zwei Literaturvorschläge für die Vertiefung. Zwecks detaillierter Recherche können Sie sich an den Referenzen im Text und an den Literaturverzeichnissen orientieren.

Auf den folgenden Seiten treten wir eine gemeinsame Expedition zum Gesundheits- und Sozialwesen an, deren sprachlicher Kompass weitgehend auf die erste Person Plural («wir») geeicht ist. Ich schreibe über Bürgerinnen und Bürger, Politikerinnen und Politiker, gebrauche die männliche und weibliche Form gelegentlich abwechselnd, oder wähle – wo praktikabel – genderneutrale Begriffe. Personen aller Geschlechtsidentitäten mögen sich angesprochen fühlen.

Das Buch ist für all jene gedacht, die sich Basiswissen zum Gesundheits- und Sozialwesen in der Schweiz aneignen möchten. Vermutlich wird es sich hierbei insbesondere um in der Schweiz lebende, arbeitende oder in anderer Weise mit der Schweiz verbundene Personen handeln, denen die schweizerische Kommunikationskultur vertraut ist. Deshalb kombiniere ich das Schriftdeutsch in zurückhaltender Dosierung mit typisch-schweizerischen Ausdrucksformen. Leserinnen und Leser aus Deutschland, Österreich oder anderswo mögen diese mit Interesse zur Kenntnis nehmen oder freundlicherweise über sie hinwegsehen.

Ich danke Klaus Grunwald und Ludger Kolhoff, den beiden Herausgebern der Lehrbuchreihe, für den langen Atem und ihr Vertrauen in das Publikationsprojekt. Amina Rosenthal, Anita Weber und Noah Balthasar gilt Dank für wertvolle Kommentare und Unterstützung bei der Bearbeitung des Manuskripts.

Beim Lesen wünsche ich Ihnen viel Freude und spannende Erkenntnisse.

Konstantin Kehl

Zürich, im Februar 2023