Schlüsselwörter

1 Einleitung

Ähnlich wie in den europäischen Nachbarländern erhöht sich auch in Luxemburg die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die nicht in ihrer Herkunftsfamilie aufwachsen können. Diese Angebote von außer-familialer Erziehung werden überwiegend von Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe vorgehalten. Die aktuellen Zahlen in Bezug auf stationäre Unterbringungen im Großherzogtum zeigen, dass über zwei Drittel der Heimplatzierungen im ersten Halbjahr 2020 durch die zuständigen Jugendgerichte angeordnet wurden und nur etwa 27 % auf freiwilliger Basis erfolgten (MENJE & ONE 2020).

Vor diesem Hintergrund haben Interventionsangebote in der stationären Kinder- und Jugendhilfe nur Aussicht auf Erfolg, wenn sie an das Lebensgefühl, die subjektive Wahrnehmung und den aktuellen Lebenskontext der Jugendlichen anknüpfen. Das subjektive Wohlbefinden von jungen Menschen in der Heimerziehung ist eine relevante Komponente in Bezug auf ihr eigenes Gesundheitsverhalten im Alltag.

In der pädagogischen Praxis stehen Erzieher und Erzieherinnen vermehrt unter dem Druck, eine Schutzfunktion gegenüber den ihnen anvertrauten Jugendlichen ausüben zu müssen, wenn sie den Eindruck haben, dass diese sich selbst oder auch anderen mit ihrem Verhalten schaden. Somit müssen die Fachkräfte davon überzeugt sein zu wissen, was „gut“ und was „nicht gut“ für die Jugendlichen ist. Die Frage (im Titel dieses Beitrags) „Was wollt ihr von mir?“ gilt als beispielhaft für diese grundlegenden Situationen, in denen Jugendliche in der Kinder- und Jugendhilfe sich konfrontiert sehen mit Erziehungsauftrag und den Erziehungsvorstellungen der Professionellen, und sich dann oft missverstanden und bevormundet fühlen.

Im Folgenden soll dieses Spannungsfeld zwischen der Wahrnehmung der Jugendlichen und dem Verständnis bzw. der Resonanz der pädagogischen Fachkräfte auf die Handlungen der jungen Menschen beleuchtet werden.

Bevor wir uns mit dem Thema „Wohlbefinden und Gesundheit von Jugendlichen“ auseinandersetzen, beschäftigen wir uns in einem ersten Schritt mit den Entwicklungsaufgaben und Grundbedürfnissen im Jugendalter (Abschn. 2.1). Parallel zum allgemeinen Entwicklungsprozess in dieser Altersphase kommen bei Jugendlichen im Heimkontext oft erschwerende Ausgangsbedingungen hinzu (Abschn. 2.2). Die Jugendlichen entwickeln im Umgang mit diesen, oft traumatischen Erlebnissen ganz unterschiedliche Resilienzfaktoren, die einen erheblichen Einfluss auf ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden haben (Abschn. 2.3).

Anschließend wird das Thema „Wohlbefinden und Gesundheit von Jugendlichen“ anhand von drei Fallbeispielen aus der Kinder- und Jugendhilfe aus unterschiedlichen Perspektiven mit verschiedenen thematischen Schwerpunkten beleuchtet (Abschn. 3).

Bei der Entstehung dieses Buchbeitrags haben verschiedene MitarbeiterInnenFootnote 1 aus dem Erziehungshilfebereich von arcus mitgewirkt. Durch den Austausch von Praxisbeispielen aus internen Fallbesprechungen sowie die Auswertung von generalisierbaren Erfahrungswerten aus der Praxis wurden einrichtungsübergreifende Themen in Bezug zur Gesundheit von Jugendlichen im Heimkontext herausgefiltert. Dieses gemeinsam geteilte Erfahrungswissen findet sich sowohl innerhalb der alltagsnahen Beschreibung der drei konkreten Fallbeispiele wieder als auch im Ausblick auf eine Weiterentwicklung der Praxis zum Thema „Wohlbefinden und Gesundheit von Jugendlichen im stationären Kontext“. Im letzten Abschnitt des Artikels werden die Ergebnisse unserer Überlegungen zusammengefasst. Wir hoffen, dadurch einige Hinweise zu Zielsetzungen, Aufgaben und Handlungsstrategien geben zu können, die die Sensibilität für dieses Thema in der Praxis der Heimerziehung erhöhen und gleichzeitig dem Erleben und der Sichtweise von Jugendlichen mehr Gewicht verleihen.

Darüber hinaus konnten wir diesen Buchbeitrag nutzen, um einrichtungsinterne Lernprozesse anzustoßen. Durch die gemeinsame Arbeit an diesem Artikel ergaben sich viele Impulse und Denkanstöße, die eine differenziertere Auseinandersetzung mit dem Thema „Wohlbefinden und Gesundheit von Jugendlichen im stationären Kontext“ voranbrachten.

Da das Thema „Wohlbefinden und Gesundheit von Jugendlichen im stationären Kontext“ sehr viele Komponenten und eine große Komplexität aufweist, ist es uns wichtig, verschiedene Fragestellungen und Beobachtungen in ihrer Verbindung von Theorie und Praxis näher zu beleuchten.

2 Mehrfachproblematiken bei Jugendlichen in der stationären Jugendhilfe

Ausgehend von der Tatsache, dass Jugendliche mit vielen Entwicklungsschritten und mit der Befriedigung von ganz spezifischen Bedürfnissen konfrontiert sind, ist anzunehmen, dass es sich beim Jugendalter um eine sehr herausfordernde Phase handelt. Da die meisten Jugendlichen die Fremdunterbringung als zusätzliche Belastung erleben, zeigen sie oftmals Verhaltensweisen, welche für das erzieherische Personal besondere Herausforderungen im Alltag darstellen. Im folgenden Kapitel werden diese Mehrfachproblematiken bei Jugendlichen im stationären Kontext näher beleuchtet, indem die Entwicklungsschritte und die damit einhergehenden Grundbedürfnisse im Jugendalter sowie erschwerende Ausgangsbedingungen durch Biografie und Heimunterbringung vorgestellt werden. Außerdem werden die generellen Auswirkungen dieser Mehrfachproblematiken auf das Wohlbefinden und die Gesundheit bei Jugendlichen in der stationären Jugendhilfe kurz beschrieben.

2.1 Entwicklungsschritte und Grundbedürfnisse im Jugendalter

Basierend auf Theorien der Entwicklungspsychologie (Jean Piaget) und Soziologie (Robert Havighurst) werden wir uns im folgenden Kapitel mit den Veränderungsprozessen, den Entwicklungsaufgaben und den Bedürfnissen im Jugendalter beschäftigen. „Entwicklungsaufgaben beschreiben, welche Themen für ein bestimmtes Alter eine besondere Wichtigkeit haben und inwieweit deren Bewältigung zur erfolgreichen Entwicklung essenziell ist. Entwicklungsaufgaben entstehen durch das Zusammenspiel gesellschaftlicher Anforderungen und Erwartungen, wie zum Beispiel am Ende eines bestimmten Altersabschnittes aus dem Elternhaus ausgezogen zu sein, biologischer Entwicklungsveränderungen (z. B. Pubertät, Menopause) und der Persönlichkeit eines Individuums.“ (Schneider und Lindenberger 2018, S. 268).

Die körperlichen und hormonell bedingten Veränderungen während der Pubertät gehören zu den bedeutsamsten Entwicklungen in der frühen Adoleszenz, mit denen sich junge Heranwachsende auseinandersetzen müssen.

Der Wunsch nach dem Zusammensein mit Gleichaltrigen (Peergruppe) wächst aus dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Sicherheit. In der Peergruppe finden Jugendliche andere Gleichaltrige, die sich innerhalb eines gemeinsamen sozialen Kontextes mit den gleichen Entwicklungsaufgaben beschäftigen. Dies begünstigt einen Prozess des besseren gegenseitigen „Verstehens“. Als Folge des körperlichen Reifungsprozesses entwickeln Jugendliche sexuelle Bedürfnisse und den Wunsch nach Anerkennung und Zuwendung durch eine Partnerin oder einen Partner. Ebenso wie sie ihre Sozialbeziehungen zu Gleichaltrigen und Partnern weiterentwickeln, ändert sich auch die Beziehung zu den Eltern. In der Adoleszenz kommt es vermehrt zu Konflikten über alltägliche Probleme, aber auch zu Divergenzen über grundsätzliche Lebensthemen. Die Suche nach einer eigenen Identität, Individualität und der Wunsch nach Unabhängigkeit und Autonomie entstehen durch den Zuwachs an neuen Möglichkeiten und Herausforderungen (Schneider und Lindenberger 2018).

Die beschriebenen körperlichen Veränderungen in der Pubertät, die unterschiedlichen Entwicklungsaufgaben und die Bedürfnisse der Adoleszenz sind eng miteinander verknüpft. Körperliche sowie gesundheitliche Veränderungen und Probleme spielen während dieser Lebensphase genauso eine wichtige Rolle wie psychisches und soziales Wohlbefinden. Verhaltens- und Einstellungsänderungen ergeben sich aus der Reflexion über die körperlichen Veränderungen und lassen vielfach Konflikte mit der Umgebung entstehen oder führen nicht selten zu Pubertätskrisen (Remschmidt et al. 2005).

Jugendliche mit einer durchschnittlichen und relativ unproblematisch verlaufenden Entwicklung, welche unter allgemein guten Voraussetzungen aufwachsen und die notwendige soziale Unterstützung erfahren, sind in der Regel gut auf die beschriebenen Entwicklungsaufgaben vorbereitet. Vor diesem Hintergrund stellen diese Entwicklungsschritte positive und entwicklungsstimulierende Herausforderungen dar. Wenn Jugendliche allerdings durch mehrfach erschwerende Voraussetzungen, bedingt durch Heimunterbringung, Traumatisierung oder Trennung der Eltern, nicht hinreichend bei der Auseinandersetzung mit den Anforderungen ihrer Lebensphase unterstützt werden, kann dies zu erheblichen Entwicklungsproblemen führen (Remschmidt et al. 2005; Hurrelmann und Quenzel 2012).

Jugendliche der stationären Kinder- und Jugendhilfe zählen eher zur zweiten Gruppe. Sie sind zusätzlich zu den typischen Herausforderungen, welche die Pubertät und die damit zusammenhängenden Entwicklungsschritte und Grundbedürfnisse mit sich bringen, weiteren Belastungen ausgesetzt. Diese Belastungen sind häufig durch ihre Biografie und die Heimunterbringung selbst begründet.

2.2 Erschwerende Ausgangsbedingungen durch Biografie und Heimunterbringung

Zu den allgemeinen Veränderungen und Herausforderungen, welche die Jugendphase mit sich bringt, kommt bei Jugendlichen, die stationär untergebracht sind, hinzu, dass sie häufig bereits seit dem Kleinkindalter zusätzlichen Belastungen verschiedenster Art ausgesetzt sind. Dazu gehören zerrüttete und konfliktreiche Familienverhältnisse, welche heute zunehmend mit prekären Wohnverhältnissen einhergehen. Zudem haben schwere traumatische Situationen in der Kindheit häufig einen erheblichen Einfluss auf das Bindungsverhalten der Jugendlichen.

Es lässt sich beobachten, dass der Entwicklungsprozess der Identitätsfindung, mit anschließendem Loslösungsprozess von erwachsenen Bezugspersonen, vermehrt durch viele Beziehungsabbrüche im Laufe ihrer Biografie gestört wird. Um sich gesund loslösen zu können, sind positive Erfahrungen im Rahmen von verbindlichen und tragfähigen Beziehungen mit erwachsenen Bezugspersonen von großer Bedeutung. Meist haben die betroffenen Jugendlichen allerdings nicht viele verlässliche Beziehungen in ihrer Biografie erlebt, verbrachten viele Jahre ihrer Kindheit und frühen Jugend außerhalb ihres familiären Milieus und haben schlimmstenfalls durch das Scheitern verschiedener Hilfesysteme auch hier mehrere Beziehungsabbrüche erfahren müssen. Hinzu kommt, dass sie durch häufiges Umziehen, sei es mit der Herkunftsfamilie oder aber bedingt durch den Wechsel zwischen verschiedenen institutionellen Hilfemaßnahmen, sich öfter als andere Jugendliche an ein fremdes schulisches und soziales Umfeld anpassen müssen. Diese Diskontinuitäten erschweren wiederum den Anschluss an eine feste Peergruppe und die Entwicklung eines Gefühls von Zugehörigkeit. So kommt es, dass sich bei Jugendlichen aus der stationären Heimerziehung die Frage stellt: Von welcher stabilen erwachsenen Bezugsperson soll oder kann ein Ablösungsprozess stattfinden? Von ihren Eltern, mit denen das Zusammenleben oft von vielen unerfüllbaren Ansprüchen und unauflösbaren Ambivalenzen geprägt ist, was einen hohen Leidensdruck auf der Seite der Jugendlichen wie auch bei den Eltern erzeugt? Oder erfolgt der Loslösungsprozess eher von den ErzieherInnen, welche während einer bestimmten Zeit wichtige Ansprechpartner und Bezugspersonen darstellen? Durch die Diskrepanz zwischen ihrem eigenen Bedürfnis, Zeit mit ihrer Peergruppe zu verbringen, und dem Wunsch der Familie nach gemeinsamer Zeit mit ihren Kindern, sind Jugendliche aus der stationären Kinder- und Jugendhilfe in vielen Fällen zudem einem Loyalitätskonflikt ausgesetzt, der oftmals zu einem großen Unbehagen führt.

Außerdem steigt das Risiko von (internalisierenden und externalisierenden) Verhaltensauffälligkeiten bei sich kumulierenden Belastungsfaktoren gravierend. Dies hat zur Folge, dass viele Beziehungs- und Hilfeangebote der Kinder- und Jugendhilfe scheitern. Die vermehrten familiären und psychosozialen Risikofaktoren, welchen diese Jugendlichen ausgesetzt waren oder noch sind, gehen in vielen Fällen mit einer hohen Prävalenz von psychischen Störungen einher (Komorbidität). So stellte Marc Schmid (2007, S. 26) fest, dass „der Prozess der Hilfeplanung, die Trennung von den Bezugspersonen, familiengerichtliche Auseinandersetzungen, unklare Umgangsregelungen und vor allem das Scheitern von eingeleiteten Jugendhilfemaßnahmen und der damit verbundene erneute Wechsel der Bezugspersonen und die wiederholten Trennungserfahrungen etc. eine enorme Belastung für die Kinder darstellen.“ Die Studie basiert auf einer repräsentativen Stichprobe, die 20 deutsche Jugendhilfeeinrichtungen mit insgesamt 689 Kindern und Jugendlichen erfasst. Sie ergab, dass bei 60 % der Kinder und Jugendlichen „definierte klinische Diagnosen aus dem Gebiet der Kinder-und Jugendpsychiatrie (…)“ festgestellt wurden (Schmid 2007, S. 13).

2.3 Auswirkungen auf Wohlbefinden und Gesundheit

Aufgrund der oben genannten Mehrfachbelastungen in der Herkunftsfamilie und traumatischen Erlebnissen auch in den institutionellen Hilfekontexten stehen die jungen Heranwachsenden vor der Herausforderung, neben den eigenen Entwicklungsaufgaben noch zusätzliche Problemlagen bewältigen zu müssen. Dabei fehlen ihnen häufig die dafür notwendigen Ressourcen und Schutzfaktoren, wie zum Beispiel eine sichere Bindungsrepräsentation, stärkende Vorerfahrungen oder ein unterstützendes soziales Umfeld. Dies hat zur Folge, dass die betroffenen Jugendlichen vermehrt mit Rückschlägen und frustrierenden Situationen konfrontiert werden.

Aus internen Fallbesprechungen und Intervisionen geht hervor, dass die Kinder und Jugendlichen in Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe unterschiedliche Verhaltensformen aufzeigen, die häufig mit einer Beeinträchtigung der Gesundheit und des Wohlbefindens einhergehen. In der Praxis beobachtete Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Symptomen sind beispielsweise Essstörungen, Substanzmissbrauch (Tabak, Drogen), Schlafstörungen, selbstverletzendes und selbstgefährdendes Verhalten, Einnässen oder auch Störungen des Sexualverhaltens.

Zudem gilt es Entwicklungsstörungen, wie z. B. motorische Störungen, Sprachstörungen, Lernschwäche und kognitive Einschränkungen im Betreuungs- und Behandlungsalltagfrühzeitig zu erkennen, um gesundheitlichen Problemen von Kindern und Jugendlichen entgegenzuwirken.

Einige Jugendliche zeigen außerdem hohe Verhaltensauffälligkeiten. Auf der sozialen Ebene können sich diese sowohl in einem oppositionellen als auch in einem aggressiven Verhalten ausdrücken. Es fällt ihnen häufig schwer, sich auf verlässliche Beziehungen einzulassen.

Werden zentrale Grundbedürfnisse, wie das Bedürfnis nach Bindung, Kontrolle und Orientierung, Selbstwerterhöhung sowie positiver Lust auf lange Zeit nicht befriedigt, entwickeln Kinder und Jugendliche ihre eigenen Verhaltensmuster und Ich-Strukturen. So handelt es sich bei den als schwierig empfundenen Verhaltensweisen der Jugendlichen häufig um Schutzmechanismen, um sich vor weiteren verletzenden Erfahrungen zu schützen (Grawe 1999).

So können beispielsweise Essstörungen und oppositionelles Verhalten als Ausdruck für das Bedürfnis nach Kontrolle interpretiert werden. Aggressives und abweisendes Verhalten kann wiederum als emotionaler Schutz vor weiteren Abweisungen und Beziehungsabbrüchen erklärt werden.

Um das Verhalten der Jugendlichen im Heimalltag pädagogisch und therapeutisch adäquat auffangen zu können, gilt es die Hilfeleistung jeweils an die individuellen Bedürfnisse der Jugendlichen anzupassen.

Neue positive Erfahrungsmomente, partizipative Prozessgestaltungen, Erfolgserlebnisse und verlässliche Beziehungsangebote können einen großen Einfluss auf das Wohlbefinden der Jugendlichen haben (Wüsten und Pauls 2013; Pauls 2013). Die beschriebenen Auswirkungen auf Wohlbefinden und Gesundheit der Jugendlichen stellen also spezifische Anforderungen an das erzieherische Personal im Heimalltag.

3 Herausforderungen im Heimalltag – Fallbeispiele

Die beschriebenen Fallbeispiele wurden so weit verfremdet, dass die Anonymität der Betroffenen gewahrt bleibt.

In den jetzt folgenden Fallbeispielen von Jugendlichen aus dem stationären Kontext der Kinder- und Jugendhilfe in Luxemburg handelt es sich um drei Jugendliche, bei denen die spezifischen Themen, Dynamiken und Problematiken, die wir beleuchten wollen, besonders deutlich werden.

Als Hintergrundinformation für die von uns ausgewählten Fallbeispiele wollen wir an dieser Stelle kurz die stationären Angebote von arcus beschreiben.Footnote 2

In den geschlechtlich gemischten Lebensgruppen werden Kinder und Jugendliche von pädagogischen Fachkräften begleitet und betreut. Hierbei handelt es sich um junge Menschen, die sich in einer prekären Lebenssituation befinden, einem erhöhten Risiko von Gefährdungen ausgesetzt sind sowie eine befristete räumliche Trennung von ihren Eltern benötigen.

Die Lebensgruppen in den stationären Einrichtungen bieten den Kindern und Jugendlichen einen sicheren Ort des respektvollen Umgangs miteinander. Die Förderung der Gesundheit und der schulischen Entwicklung, der Aufbau familiärer und sozialer Beziehungen, die Befähigung zu einer eigenständigen Lebensgestaltung, die Bereitstellung eines strukturierten Alltags sowie die Aufarbeitung traumatischer Erlebnisse kennzeichnen das sozialpädagogische Arbeiten in unseren Lebensgruppen.

Neben der individuellen Förderung der Kinder und Jugendlichen erfährt die Unterstützung und Wertschätzung der leiblichen Eltern im Rahmen der stationären Unterbringung eine besondere Bedeutung. Eine größtmögliche Partizipation und Einbindung der Eltern in den Heimalltag wird von allen Lebensgruppen angestrebt. Die Stärkung der Familie sowie die Unterstützung der Erziehungsprozesse bilden grundlegende Schwerpunkte der pädagogischen Arbeit im Heimalltag.

Arcus bietet darüber hinaus für Kinder und Jugendliche, deren Wohl durch körperliche, psychische, sexuelle Misshandlung, Verwahrlosung oder andere traumatische Erlebnisse gefährdet wurde, eine intensivpädagogische stationäre Unterbringung an. Die intensivpädagogischen stationären Gruppen arbeiten in enger Kooperation mit Akteuren der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie für die Umsetzung bedarfsorientierter Therapien mit dem „Berodungsdéngscht fir Kanner, Jugend a Famill“ von arcus zusammen.

Die Förderung der Autonomiefähigkeit und der Selbstständigkeit ist zentrales Anliegen der stationären Unterbringung, dies besonders für die Lebensgruppen mit einem Aufnahmealter ab dem zwölften Lebensjahr. Die Umsetzung dieses Zieles findet sich in der pädagogischen Ausrichtung des Alltags wieder.

3.1 Jugendliche im Spannungsfeld zwischen selbst entscheiden (zu) dürfen und institutionellem Kontrollstreben

Der Fokus des ersten Fallbeispiels liegt auf der subjektiven Erlebnisdimension der eigenen Gesundheit und des Wohlbefindens eines Jugendlichen vor dem Hintergrund seiner biografischen Erlebnisse und seiner soziokulturellen Herkunft.

In der stationären Kinder- und Jugendhilfe gibt es oft eine noch stärkere Diskrepanz zwischen Selbsteinschätzung und Fremdeinschätzung der Gesundheit und des Wohlbefindens junger Menschen (zwischen externer Beobachtung/Diagnose und Selbstwahrnehmung) im Vergleich zu Jugendlichen, die in ihrem Herkunftsmilieu aufwachsen.

Bezogen auf Gesundheitsthemen nehmen die pädagogischen MitarbeiterInnen oft eine eher kontrollierende Rolle und Haltung gegenüber den Jugendlichen und ihren Eltern ein. Sie fühlen sich stark verantwortlich, was sich dann im Alltag in einer Kommunikation mit sehr reglementierendem Aufforderungscharakter hinsichtlich der physischen und psychischen Selbstpflege der Jugendlichen widerspiegelt.

Für Jugendliche in der stationären Kinder- und Jugendhilfe ist Wohlbefinden eng mit der Mitbestimmung des eigenen Lebens verbunden. Die individuell entwickelten Alltagskonstruktionen der Jugendlichen in Bezug auf ihr Wohlbefinden und somit auch auf ihre Gesundheit sind oft schwer nachvollziehbar für die pädagogischen Fachkräfte.

Die alltagsbezogene Gesundheitsförderung kann nicht losgelöst von der Lebenswelt und den kognitiven, emotionalen sowie sozialen Ressourcen der Jugendlichen gesehen werden. Sie ist eng verbunden mit dem Hintergrund ihrer oft brüchigen Biografie. Zudem haben Jugendliche in der stationären Jugendhilfe und ihre Eltern kaum die Möglichkeit, sich im Alltag miteinander auseinanderzusetzen und hierdurch ihre Beziehung neu zu definieren. Ihre biografischen Verläufe erlauben es den Jugendlichen häufig nicht, sich eigene gesundheitsfördernde Handlungsfähigkeiten und -strategien anzueignen.

Tom

Tom ist 15 Jahre alt und lebt seit 3 Jahren in einer Jugendgruppe von arcus.

Als Tom 7 Jahre alt war, wurde bei ihm Diabetes diagnostiziert. Zu diesem Zeitpunkt lebte er bei seinen leiblichen Eltern. Als die Ehe 2014 geschieden wurde, wohnte Tom fortan bei seiner Mutter.

Der Mutter ging es nicht gut. Sie lebte selbst in einer für sie belastenden sozialen Situation. Vor allem die Verarbeitung einer Trennung, depressive Episoden und finanzielle Engpässe stellten für sie zeitweilig eine große Überforderung dar. Somit fiel es der Mutter in dieser Zeit sehr schwer, sich um Toms Gesundheit zu kümmern.

Entsprechend war bei den regelmäßigen Untersuchungen in der Kinderklinik Toms Zuckerspiegel oft zu hoch oder zu niedrig, sodass das Jugendgericht entschied, die Familie müsse eine ambulante Pflegekraft in Anspruch nehmen, um die Mutter zu unterstützen. Es kam jedoch sehr oft vor, dass Tom der Pflegekraft die Tür nicht aufmachte, wenn er allein zu Hause war und seine Mutter arbeitete. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich zunehmend. Nach einer erneuten Untersuchung in der Kinderklinik wurde Tom zuerst stationär in der Klinik und danach in einer Inobhutnahme-Struktur untergebracht. Die Mutter war teilweise präsent, jedoch weiterhin einer sehr instabilen Lebenssituation ausgesetzt, sodass keine Rückführung geplant werden konnte.

Mit 12 Jahren kam Tom in eine stationäre Lebensgruppe mit gleichaltrigen Jugendlichen.

Toms Gesundheitszustand, und vor allem der Umgang seiner Mutter mit der Krankheit, war einer der Hauptgründe für die Fremdunterbringung. Am Anfang des Aufenthaltes im Heim gab es nur wenig Kontakt zur Mutter. Sie wurde zu jedem schulischen und medizinischen Termin eingeladen, nahm diese Angebote jedoch meistens nicht wahr. Tom war ein etwas zurückhaltender Junge. Anfangs fiel es den ErzieherInnen sehr schwer einzuschätzen, wie autonom Tom mit seiner Krankheit umgehen konnte. Das zeigte sich in seinem heimlichen Essverhalten. Oft vergaß er seine Zuckerwerte einzugeben, sodass es ihm häufig schwindelig wurde und er sich insgesamt nicht gut fühlte.

Aufgrund kognitiver Defizite fiel es Tom schwer, eigene Entscheidungen mit Blick auf seine Gesundheit abzuwägen und kritisch reflektiert zu treffen. Der Jugendliche konnte den Sinn und Zweck eines gesundheitsförderlichen Verhaltens noch nicht erkennen. Gerade hohe Zuckerwerte verursachten bei den ErzieherInnen Alarmstimmung. Tom blieb dabei oftmals demonstrativ gelassen, da er die direkten Auswirkungen des hohen Zuckers nicht unbedingt zeitnah erlebte. Er zeigte sich dann aber im weiteren Verlauf solcher Situationen eher gestresst, da er z. B. nachts geweckt werden musste, um mehrmals Messungen der Blutzuckerwerte durchzuführen. Eine weitere Rolle spielte ein spezifischer Essensplan für Tom.

Er hatte große Schwierigkeiten, Anleitungen im Umgang mit seinem Diabetes zu verstehen und nachzuvollziehen, da sein Verhalten nicht zu sofortigen direkt wahrnehmbaren gesundheitlichen Krisen führte.

Anna Lena Rademaker (2018, S. 51) beschreibt in „Agency und Gesundheit in jugendlichen Lebenswelten“, „dass zunächst einmal die Förderung von Wissen über verschiedene Gesundheitsaspekte“ wichtig ist, „um vor diesem Hintergrund Entscheidungen mit Blick auf die eigene Gesundheit abwägen und kritisch-reflektiert treffen zu können. Es bedeutet die Stärkung von Selbstwirksamkeitserfahrungen, damit junge Menschen sich als einflussmächtig mit Blick auf ihre Gesundheit erleben und die Förderung von Zukunftsoptimismus, um auch Sinn und Zweck in einem gesundheitsförderlichen Verhalten für sich finden zu können. Insbesondere ist dabei die Fähigkeit der selbstkritischen Reflexion eigener Verhaltensweisen im Alltag mit Blick auf die Gesundheit zu bekräftigen.“

In Bezug auf Toms Situation heißt das, wenn er etwas mit seiner Peergruppe unternehmen wollte, waren die ErzieherInnen sehr besorgt, da sie während mehrerer Stunden keine Handhabe über die notwendigen Vorkehrungen in Bezug auf den Diabetes hatten. Tom fühlte sich dadurch sehr eingeschränkt in seinem Alltag. Vieles musste für ihn vorab geplant werden. Für die ErzieherInnen stellte sich hier die Frage, wie sie die Spritz-, Kontroll- und Essenszeiten so gestalten konnten, dass die Zuckererkrankung nicht zu sehr die Alltagsabläufe bestimmte und Tom einen größtmöglichen Freiraum erleben konnte. Dabei standen die pädagogischen Fachkräfte unter einem diffusen Erwartungsdruck, da sie wussten, dass der nachlässige Umgang der Mutter mit der Erkrankung der zentrale Grund für die Fremdunterbringung war. Der unausgesprochene Auftrag an das Team lautete, dass in einem professionellen Kontext so etwas nicht passieren darf, was natürlich zu einer genaueren Ausweitung und weiteren Differenzierung der Kontrolle führte. Dies wiederum verstärkte tendenziell das Unwohlsein von Tom, da er nicht ausschließlich als „Diabetiker“, sondern als eigenständige Person wahrgenommen werden wollte.

Toms eigener Umgang mit der Krankheit und sein Wohlbefinden hatten somit auch viel mit der Beziehung zu seiner Mutter zu tun. Funktionierte sein Alltag gut in der Lebensgruppe, empfand die Mutter dies als Kränkung, so als würde er ihr indirekt in den Rücken fallen. Wenn Toms Entwicklung in der Lebensgruppe stagnierte oder chaotisch verlief, war der Unterbringungsgrund aus ihrer Sicht hinfällig, da die ErzieherInnen es ja schließlich auch nicht besser hinbekamen als sie selbst.

Toms Mutter war am Anfang der Unterbringung sehr misstrauisch gegenüber der Einrichtung. Ihre Wahrnehmung war bestimmt vom Scheitern und von Schamgefühlen. Sie wollte nicht über das Thema „Diabetes“ reden. Ihre subjektive Wahrnehmung, die sich in der Überzeugung „Mein Kind wurde mir weggenommen“ ausdrückte, führte zu intensivem Stresserleben. So blendete sie das Thema „Diabetes“ teilweise aus.

Häufig fühlen sich Eltern von Jugendlichen, die nicht mehr im Herkunftsmilieu leben, dadurch abgewertet, dass der Jugendliche in der Gruppe verschiedene Verhaltensweisen, welche von der Familie als auffällig erlebt wurden, im stationären Kontext zeitweise nicht mehr zeigt. Es musste also zuerst eine Vertrauensbasis zur Mutter aufgebaut werden. Erst dann konnte sie sich wieder schrittweise auf die angebotenen Unterstützungsmaßnahmen der ErzieheInnen einlassen.

Die Unterbringung in der stationären Kinder- und Jugendhilfe erfolgt selten auf freiwilliger Basis. Neben der Verlust- und Trennungserfahrung war es für Tom eher schwierig, sich in eine Peergruppe zu integrieren. Aufgrund seiner Erkrankung erfuhr er intensive Interventionen seitens der ErzieherInnen sowie Einschränkungen im Alltag (z. B. beim Ausgang mit seinen Freunden, Blutzucker messen und kurz danach Insulin spritzen zu müssen bei spontanen Snacks oder Unwohlsein). Dann gab es noch die regelmäßigen Aufenthalte am Wochenende bei seiner Familie, nach denen er mit sehr hohen Zuckerwerten zurück in die Einrichtung kam. Die Planung einer Rückführung war somit auch stets mit der Angst des Scheiterns bezüglich der Stabilisierung der gesundheitlichen Situation von Tom verbunden.

Tom war ständig hin- und hergerissen zwischen dem gesundheitsfördernden Umgang mit seiner Krankheit in dem für ihn schwierigen Kontext der Heimunterbringung und seinem Autonomiebestreben. Letzteres gestaltete sich oft schwierig, da seine selbstständigen Initiativen außerhalb des Betreuungskontextes stets mit Einschränkungen in Bezug auf seine Krankheit einhergingen. Diese Dynamik erschwerte Tom die allmähliche Loslösung von den erwachsenen Bezugspersonen, in seinem Fall von den Eltern und den ErzieherInnen, sowie eine stärkere Anbindung an seine Peergruppe.

Die generelle Schwierigkeit für Jugendliche in der Adoleszenz, eine Balance zwischen Autonomiebestrebungen, Bindungsbedürfnissen und Loyalitätsverpflichtungen zu finden, gestaltete sich für Tom als besondere Herausforderung, da er nicht zuhause lebte. Demnach war es für die pädagogische Begleitung wichtig, nicht ausschließlich Toms Krankheit im Blick zu haben, sondern auch die Faktoren, welche seine Gesundheit und sein Wohlbefinden positiv beeinflussen konnten.

In Toms Fall wurden im Verlauf der Hilfsmaßnahme gemeinsam mit der Familie wichtige Ressourcen herausgefiltert, welche es Tom zukünftig erlauben sollten, mehr Zeit mit seiner Familie zu verbringen. Eine weitere Intervention war, dass die Familienbesuche nicht sofort reduziert wurden, wenn der Jugendliche nach dem Wochenende bei einem Elternteil mit zu hohen Blutzuckerwerten in die Einrichtung zurückkehrte.

Zusammenfassend für diesen Fall bleibt aus unserer Sicht festzuhalten, dass es von großer Bedeutung im Sinne des Fallverstehens ist, die eigene Aufmerksamkeit sowohl auf das Autonomiebestreben der Jugendlichen, die Bedürfnisse und Wahrnehmung innerhalb der Familie als auch auf die mögliche Erwartung und die Ängste des Fachpersonals zu richten. Erst dieses mehrdimensionale Verstehen mit der Beteiligung der Adressaten erlaubte es den pädagogischen Fachkräften, zieldienliche und gesundheitsfördernde Interventionen für den Jugendlichen und seine Familie zu entwickeln.

3.2 Der Umgang mit Ambivalenzen als gemeinsamer Prozess zwischen Jugendlichen und Fachkräften

Das folgende Fallbeispiel setzt den Fokus auf das Wohlbefinden und die Gesundheit einer Jugendlichen in der Kinder- und Jugendhilfe und die damit verknüpften Entwicklungsschritte sowie Grundbedürfnisse des Jugendalters im Kontext einer psychopharmakologischen Behandlung.

Der Fakt, dass Jugendliche immer häufiger begleitend zu psychologischen und psychotherapeutischen Behandlungen auch einer psychiatrischen und medikamentösen Therapie unterzogen werden, bringt mit sich, dass sich diese Jugendlichen und ihr Umfeld mit unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert sehen, die direkte Auswirkungen auf ihr Wohlbefinden und die Gesundheit haben.

Julia

Julia ist 16 Jahre alt und lebt seit 10 Jahren getrennt von ihrer Familie in unterschiedlichen stationären Kontexten.

Ihre Familie wurde bereits vor ihrer Geburt durch diverse Erziehungshilfemaßnahmen unterstützt. Julia fiel schon als Kind im Kindergarten durch aggressive Verhaltensweisen auf. Schwere körperliche Misshandlungen vonseiten des leiblichen Vaters sowie der Fakt, dass die Mutter davon wusste, sie jedoch nicht schützte, sondern vielmehr Julia zu Falschaussagen ermutigte, führten dazu, dass die Jugendliche erstmalig fremdplatziert wurde. Dies war der Beginn einer Aneinanderreihung von sich wiederholenden Entlassungen und sich anschließenden Wiederaufnahmen in diversen stationären Fremdunterbringungsstrukturen. Während dieser Zeit verschlechterte sich Julias Verhalten zusehends. Zu dem bereits in der frühen Kindheit gezeigten aggressiven Verhalten gesellten sich impulsive Verhaltensweisen, Schwierigkeiten, mit Erwachsenen in Kontakt zu treten, sowie delinquentes Verhalten. Auch die schulische Betreuung gestaltete sich zusehends schwieriger. Vor diesem Hintergrund wurde ihr im Alter von 8 Jahren zum ersten Mal, durch den Neurologen der Mutter, Ritalin verschrieben.

Im beginnenden Jugendalter wurde Julia aufgrund sexueller Übergriffigkeiten gegenüber einem Mitbewohner aus ihrer damaligen stationären Struktur verwiesen und anschließend in der Kinder- und Jugendpsychiatrie untergebracht. Schlussendlich wurde die Jugendliche in einer neuen stationären Jugendwohngruppe aufgenommen.

Zu diesem Zeitpunkt wurde die Medikation von Julia nach 6 Jahren zum ersten Mal medizinisch überprüft. Bedenkt man, dass unter der kontinuierlichen Anwendung von Psychopharmaka regelmäßige Überprüfungen von Organfunktionen (z. B. Blutdruck und Puls) erforderlich sind und die Dosierung stets dem Gewicht, der Größe und dem Alter des Kindes oder Jugendlichen angepasst sein muss, ist es sehr bedenklich, dass die Medikation erst nach diesem langen Zeitraum zum ersten Mal überdacht wurde. Außerdem empfehlen Leitlinien für die Behandlung der meisten Störungsbilder im psychischen Bereich eine Kombination aus Psychotherapie und Medikamenten, was eine regelmäßige Überprüfung der Indikation für die Gabe von Medikamenten notwendig macht. Auch diese Empfehlung wurde also über mehrere Jahre hinweg im Fall von Julia nicht berücksichtigt.

Diese fast schon willkürliche Verschreibung des Medikamentes ist nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen, dass eine kontinuierliche psychotherapeutische Betreuung durch die häufigen Wechsel der Strukturen nicht gegeben war. Julia musste also schon sehr früh erfahren, dass erwachsene Menschen, zu denen sie ohnehin einen schwierigen Zugang hatte, wichtige Themen über ihren Kopf hinweg entschieden. Sie musste unter der Anleitung von Erwachsenen dauerhaft ein Medikament einnehmen und erlebte dann im Nachhinein, dass sich niemand wirklich verantwortlich fühlte, die Indikation des Medikamentes im Laufe der Jahre zu evaluieren. Dass sich daraus ein Gefühl des Ausgeliefertseins und eine Abwehr gegen die Medikation entwickelte, scheint verständlich. Ihren Unmut äußerte Julia immer wieder deutlich und wehrte sich lauthals gegen das Einnehmen des Medikamentes. Dagegen bezogen sich die ErzieherInnen auf die Verschreibung des behandelnden Psychiaters und forderten das regelmäßige Einnehmen des Medikamentes ein. Allerdings ist zu beachten, dass die Evaluation der Medikation durch den Psychiater immer nur auf Basis der von den Fachkräften geschilderten Beobachtungen gemacht werden konnte. „Bei der Behandlung von Kindern im Rahmen institutioneller Betreuung ergeben sich für den verordnenden Arzt oft insofern Schwierigkeiten, dass eine kontinuierliche Beobachtung durch eine Bezugsperson meist nicht möglich ist (Schichtdienst o. ä.). Um Symptome adäquat und vergleichbar einschätzen zu können, ist eine intensive Kommunikation von wesentlicher Bedeutung: zwischen den Betreuern, aber auch zwischen den Betreuern und dem behandelnden Arzt.“ (Kämmerling und Linck, 2016, S. 38).

Im Laufe der Begleitung stellte sich heraus, dass es Julia gelungen war, während eines Zeitraums von 12 Monaten kein Medikament einzunehmen, ohne dass die pädagogischen Fachkräfte dies bemerkt hatten. Gleichzeitig pochten sie darauf, dass Julias Verhalten laut ihren Beobachtungen ohne Medikament nicht mehr tragbar sei. Dies bestärkte erneut Julias Unbehagen gegenüber Medikamenten und führte dazu, dass sich ihr Bedürfnis nach Unabhängigkeit und Autonomie immer weiter ausprägte, was Julia auch zum Ausdruck brachte. So wollte sie eigenständig, zusammen mit dem zuständigen Psychiater, Entscheidungen in Bezug auf ihre Medikation treffen. Schließlich würden die Betreuer sie eh nicht verstehen und sie brauche daher auch niemanden, der für sie entscheide, so Julia. Sie würde dies gerne selbst bestimmen. Der behandelnde Psychiater reagierte darauf mit einem Versuch, das Medikament langsam abzusetzen, damit die Jugendliche weiterhin mit ihm kooperierte. Das Verhalten verschlechterte sich kurzzeitig, wobei es sich nach einer wichtigen Gerichtsverhandlung, bei der grundlegende Entscheidungen in Bezug auf ihre Familiensituation getroffen wurden, wieder verbesserte. Eine spätere Rückführung in die Herkunftsfamilie funktionierte gut. Obwohl Julia weiterhin kein Medikament einnahm, blieb ihr Verhalten stabil.

Julias Beispiel zeigt deutlich, wie wichtig es ist, Jugendliche in die Entscheidung zur Medikamentengabe mit einzubinden und sie mitbestimmen zu lassen. Ihre Meinung und Wahrnehmung in Bezug auf ihr eigenes Wohlbefinden sind dabei von zentraler Bedeutung, nicht das Empfinden der ErzieherInnen, ob das Verhalten des Jugendlichen ohne Medikament tragbar ist oder nicht. Nur auf diese Weise wird dem Bedürfnis nach Unabhängigkeit, Autonomie und Selbstbestimmung Rechnung getragen.

Genauso wichtig sind die Berücksichtigung und das Anerkennen eines grundlegenden körperlichen Wohlbefindens des Jugendlichen. Julia beschwerte sich zum Beispiel immer wieder über starke Nebenwirkungen des Medikamentes, wie Schlafprobleme und verminderter Appetit. Zusammen mit dem Jugendlichen sollte abgewogen werden, inwieweit die auftretenden Nebenwirkungen den Alltag beeinflussen respektive ob die Wirkung des Medikamentes einen höheren Nutzen hat als das körperliche Wohlbefinden.

Zudem hat das Bedürfnis der Integration in die Gruppe von Gleichaltrigen eine wichtige Bedeutung. Julia fühlte sich stets stigmatisiert durch das Medikament. Sie hatte Angst, es könnte etwas mit ihr nicht stimmen, da sie auf ein bestimmtes Medikament angewiesen sei, um richtig funktionieren zu können. Sie dachte, dass Gleichaltrige dies genauso sehen würden und sie darum meiden könnten. Dies führte dazu, dass sie sich zum Schutz vor schmerzlichen Erfahrungen erst gar nicht auf Beziehungen zu Gleichaltrigen einließ. Sie äußerte, dass sie darunter leide, als krank angesehen zu werden, obwohl sie sich nicht als krank empfand.

Aus Sicht einer partizipativen Haltung zeigt Julias Beispiel, wie wichtig es ist, Jugendliche als Experten ihrer eigenen Lebenssituation anzuerkennen und somit, aus Sicht der pädagogischen Fachkräfte, gemeinsam mit ihnen alternative Lösungen, in diesem Fall in Bezug auf die Medikation, zu finden. Nur so können Fachkräfte im Umgang mit Jugendlichen, die ein herausforderndes Verhalten im Alltag zeigen, Sicherheit gewinnen und andere Lösungsstrategien zulassen. Hier gilt es stets die Bedürfnisse der Heranwachsenden im Auge zu behalten, um somit einer eventuell kontraproduktiven (medikamentösen) Behandlung vorzubeugen.

3.3 Problematisch erlebtes Verhalten als Ausdruck unerfüllter Bedürfnisse

Im abschließenden Fallbeispiel liegt der Fokus darauf, wie Jugendliche psychische Belastungen durch ein körperliches und soziales Verhalten zum Ausdruck bringen können, das häufig als problematisch erlebt wird. Zudem wird dargestellt, wie im Heimkontext darauf reagiert werden kann, um eine Verkörperung der „Symptome“ zu verhindern.

Marie

Marie ist 16 Jahre alt und befindet sich seit ihrem 8. Lebensjahr in stationärer Unterbringung.

Im Verlauf ihrer Kindheit äußerte sich Maries Problematik in Einnässen, Albträumen, Schlafstörungen und auffälligem Sexualverhalten. Später im Jugendalter zeigten sich zudem aggressives und oppositionelles Verhalten, Drogenkonsum, Essstörungen und selbstverletzendes Verhalten.

Rückblickend auf Maries erste Lebensjahre in ihrer Herkunftsfamilie, könnte ihr distanzloses und von wenig Selbstwert zeugendes Verhalten auf die fehlenden Bezugspersonen, die keine stabile Bindungsentwicklung zuließen, zurückgeführt werden. Maries Vater verstarb an Krebs, als sie ein Säugling war. Ihre Mutter litt an Depressionen und konnte ihrer Rolle als wichtige Bindungsperson nicht gerecht werden. Der Kontakt zwischen Mutter und Tochter zeichnete sich seit der Unterbringung als sehr unregelmäßig und unverlässlich aus. Durch die Abwesenheit der Eltern fehlten Marie im frühen Kindheitsalter verlässliche, empathische Bezugspersonen, um eine sichere Bindung aufbauen zu können. Sie konnte daher wesentliche Schutzfaktoren im Leben nicht entwickeln. Ebenso fiel es ihr schwer, Emotionen zuzulassen, auszudrücken und zu regulieren. Da sie von Kindheit an sehr auf sich allein gestellt war und auch bereits früh ein großes Verantwortungsbewusstsein für das Wohlergehen ihrer psychisch stark belasteten Mutter entwickelte, konnte Marie außerdem keine Strategien zur Bewältigung von Herausforderungen und Konflikten erlernen und umsetzen.

Allgemein waren bei Marie bereits im frühen Jugendalter wenig Selbsteinschätzung hinsichtlich ihrer psychischen und physischen Gesundheit, keine Gefahreneinschätzung oder sexueller Schutz und eine gewisse Abgestumpftheit zu beobachten. Früh entwickelte sie außerdem ein aktives Sexualverhalten. Nach einer gynäkologischen Untersuchung wurde eine Geschlechtskrankheit bei der Jugendlichen diagnostiziert. Auf die Sorge der ErzieherInnen reagierte Marie mit Teilnahmslosigkeit.

Bezugnehmend auf Grawe (2004) könnte man annehmen, dass die Erfahrung von Vernachlässigung sowie geringe emotionale und liebevolle Kontakte zu ihren primären Bezugspersonen Marie daran gehindert haben, eine stabile psychische Struktur und Ressourcen zur Krisenbewältigung aufzubauen. Möglicherweise wurde der Aufbau einer sicheren Bindung dadurch erschwert, dass die Grundbedürfnisse im frühen Kindheitsalter nicht befriedigt wurden. Mit Blick auf die fehlenden positiven Beziehungserfahrungen in ihrer frühen Kindheit ließe sich auch Maries niedriges Selbstwertgefühl erklären.

Maries exzessives Weglaufen im Jugendalter und ihr Drang, sich gegen die Unterbringung im stationären Kontext zu wehren, könnten als Zeichen für ihr Bedürfnis nach Kontrolle und Orientierung interpretiert werden. So kamen die ErzieherInnen zur Hypothese, dass Marie durch das Weglaufen über ihre Perspektive und ihre Situation mitbestimmen konnte und gleichzeitig ihr im Jugendalter immer stärker werdendes Bedürfnis nach Unabhängigkeit erfüllt wurde.

Den Beobachtungen der pädagogischen Fachkräfte im Alltag zufolge fehlten Marie notwendige Ressourcen, Selbstwirksamkeitserfahrungen und die Fähigkeit, Konflikte zu lösen. Dies alles führte bei ihr zu großen Frustrationen. So richtete Marie in vielen Momenten erlebte Gewalt im familiären Kontext sowie tiefsitzende Verletzungen und Enttäuschungen in Form von Aggressionen gegen sich selbst. Die inneren Spannungszustände und Ambivalenzen zeigten sich auch in Form von distanzlosem sexuellem Verhalten, Drogen- und Alkoholkonsum sowie Suizidversuchen.

Marie hatte zudem seit ihrer Kindheit Übergewicht, verfügte aber abgesehen davon über einen guten Gesundheitszustand. Im Heimkontext war ihr Körpergewicht im Hinblick auf das gesundheitliche Wohlbefinden immer wieder Thema. So wurde sie durch die BetreuerInnen motiviert, sich in verschiedenen Sportvereinen zu integrieren. Die ErzieherInnen arbeiteten gemeinsam mit Marie an der Zielsetzung, mit Hilfe von gesunder und regelmäßiger Ernährung ihr Gewicht zu reduzieren. In vielen Austauschgesprächen wurde die Notwendigkeit von Diäten und einer Ernährungsberatung diskutiert. Hinzu kam, dass Marie große Schwierigkeiten hatte, soziale Kontakte zu knüpfen. Sie konnte sich nicht auf Beziehungen einlassen und schottete sich sehr von Gleichaltrigen ab. Die vermehrte Thematisierung ihrer körperlichen Erscheinung trug dazu bei, dass sie sich stets als minderwertig und nicht gut genug empfand. Sie konnte ihrem im Jugendalter zunehmenden Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Zuneigung nicht gerecht werden.

Einerseits fühlten sich die ErzieherInnen dazu verpflichtet, Maries Körpergewicht als einen Gesundheitsfaktor zu betrachten, den es galt zu kontrollieren, um ihr Wohlbefinden zu gewährleisten. Andererseits schien die Jugendliche durch die körperliche Erfahrung des Essens lustvolle und erfreuliche Momente herbeizuführen. So galt es Maries Verlangen nach Essen nicht nur als defizitär anzusehen, sondern auch als Ressource und Ausgleich, um darauf aufzubauen. Ihre Leidenschaft wurde durch gemeinsames Kochen und Backen gefördert. So konnten ihre Fähigkeit und ihr Wunsch, sich selbst Gutes zu tun, gestärkt werden.

In Maries Fall stellte sich die Frage, welches Bedürfnis sich hinter ihren „Symptomen“ versteckte. Mit Blick auf die Bedürfnisse im Jugendalter handelte es sich möglicherweise um eine Art der Selbstbestätigung, die sie woanders nicht bekam. Aber auch der Wunsch nach Sicherheit, Unabhängigkeit und Zugehörigkeit konnte in Maries Verhalten beobachtet werden. Daher war es aus professioneller Sicht wichtig, Maries Selbstbewusstsein zu stärken und ihr im Alltag die notwendige Zuneigung zu geben, wenn es ihr nicht gut ging. Dies bedeutete, ihr auch in schwierigen Situationen bedingungslose Wertschätzung entgegenzubringen. Durch das Angebot verlässlicher Beziehungen im stationären Kontext konnte Marie mit der Zeit wieder Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen. Die Anbindung an therapeutische Maßnahmen, sportliche Aktivitäten, viele Vieraugengespräche mit den ErzieherInnen und die Stärkung ihres Selbstbewusstseins halfen Marie ihren Körper zu akzeptieren. Sie entwickelte ihm gegenüber ein Gefühl der Sensibilität und Achtsamkeit.

In Bezug auf Maries Fall war es wichtig, die unerfüllten Bedürfnisse hinter ihrem Verhalten zu erfassen. Die intensive, beständige Beziehungsarbeit mit der Jugendlichen galt als Basis für ihre Stabilisierung. Im Heimkontext wurde ihr außerdem durch klare Regeln und Strukturen ein sicherer Rahmen geboten. Die durch die körperliche und seelische Reifung bedingten Veränderungen akzentuierten den Wunsch nach Sicherheit. Aber auch die Möglichkeit der Partizipation an wesentlichen Entscheidungsprozessen gab ihr ein Gefühl von Kontrolle und Orientierung. Durch Erfolgserlebnisse konnte sie Selbstwirksamkeit erfahren und in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt werden. Durch eine enge, wertschätzende und akzeptierende Betreuung der ErzieherInnen konnte Marie im Alltag des stationären Kontextes neue Erfahrungen im Hinblick auf die Befriedigung ihrer Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Unabhängigkeit und Selbstentwicklung machen sowie vorhandene Ressourcen wiederentdecken und ausbauen.

4 Ausblick: Implikationen für präventive und gesundheitsfördernde Ansätze im stationären Kontext

Jugendliche befinden sich in einer Phase ihres Lebens, welche geprägt ist durch Veränderungen, neue Entwicklungsaufgaben und Unsicherheiten. Im stationären Heimkontext kommen häufig erschwerende Ausgangsbedingungen durch die Heimunterbringung selbst, zerrüttete Familienverhältnisse und traumatische Erlebnisse hinzu.

Rückblickend auf die oben beschriebenen Fallbeispiele zum Thema „Wohlbefinden und Gesundheit von Jugendlichen im stationären Kontext“, haben sich folgende präventive und gesundheitsfördernde Ansätze in unserer Praxis sehr positiv bewährt.

  1. a)

    Eine mehrperspektivische Sichtweise auf den gesamten Lebenskontext ist für die soziale Arbeit mit jungen und meist traumatisierten Menschen unentbehrlich. Auf Grundlage des bio-psycho-sozialen Modells können die wechselseitige Beeinflussung und die voneinander abhängigen Wirkungen auf der Ebene von Person, Beziehung, Umfeld bzw. System betrachtet werden (Pauls 2013).

    Es gilt die Multidimensionalität des auffälligen Verhaltens auf der körperlichen, psychischen und sozialen Ebene zu erfassen. Folgende Fragen können dabei hilfreich sein: Was sind die Hinweise auf das Problem? Welche Personen sind involviert, welche Faktoren rufen das als problemhaft empfundene Verhalten hervor und halten es aufrecht? Welche unerfüllten Bedürfnisse stecken hinter dem Verhalten? Über welche Ressourcen verfügen die Jugendlichen? Verfügen sie über ein soziales Netzwerk (ebd., S. 205ff.)?

    Fehlende persönliche und soziale Ressourcen, Entwicklungsanforderungen und Belastungen aus dem Umfeld sowie problematische Selbsteinschätzungen können hierdurch herauskristallisiert werden. Diese Faktoren blockieren eine positive Entwicklung der Jugendlichen und fördern häufig problematische Bewältigungsstrategien (ebd., S.117).

  2. b)

    Des Weiteren spielt der, im Konzept der Salutogenese verankerte Begriff des Kohärenzgefühls eine sehr wichtige Rolle in der subjektiven Wahrnehmung der Gesundheit. Nach Antonovsky (1997) bestimmt diese Grundhaltung, wie gut Menschen ihre vorhandenen Ressourcen nutzen können. Sie wird im Laufe der Kindheit und Jugend von den jeweiligen Erfahrungen geprägt, die der Mensch in dieser Zeit macht. Was hält den Menschen gesund bzw. was hilft ihm, wieder gesund zu werden? Wie entwickelt er ein starkes Kohärenzgefühl?

    Das Konzept des Kohärenzgefühls beschreibt die Fähigkeit, angesichts vielfältiger gesellschaftlicher Optionen ein Gefühl von Verstehbarkeit, Sinnhaftigkeit und Handhabbarkeit (drei Grundkomponenten des Kohärenzgefühls) zu entwickeln. Nach Antonovsky (1997) entscheiden soziale Ressourcen und Belastungen mit darüber, in welchem Ausmaß das Kohärenzgefühl und die damit verbundene Fähigkeit, in Belastungssituationen über ein flexibles Bewältigungsinstrumentarium zu verfügen, entwickelt werden können. Antonovsky geht davon aus, dass das Kohärenzgefühl entscheidend für den Umgang mit Gesundheit und die Entwicklung von Resilienzfaktoren ist (Wydler et al. 2010). Für einen Jugendlichen, wie er im ersten Fallbeispiel beschrieben wird, ist es schwierig, ein solches Kohärenzgefühl zu entwickeln. In Toms Fall ist die „Verstehbarkeit“ für ihn selbst nur begrenzt möglich, da verschiedene kognitive Prozesse in Bezug auf das Verständnis der Unterbringung wie auch im Hinblick auf das Verständnis im Umgang mit seiner Krankheit nicht umsetzbar sind. Somit wird auch die Handhabbarkeit seines Diabetes schwieriger. Diese Handhabbarkeit zeigt sich gerade in Situationen, in denen er einfach nur mit seiner Peergruppe etwas unternimmt, wo zum Beispiel spontanes Essen eine große Rolle spielt. Er will dann nur ein „ganz normaler“ Jugendlicher sein und nicht auffallen, indem er spezielle Essgewohnheiten zeigt und Messungen an seinem Körper durchführt. „Bedeutsamkeit“: Für ihn steht der Diabetes in direktem Zusammenhang mit der Unterbringung, also der Trennung von seiner Mutter. Gut mit der Krankheit umzugehen, führt bei Tom zu ambivalenten Gefühlen wie zum Beispiel zu dem Gefühl, seiner Mutter gegenüber nicht loyal zu sein. Zudem ist bei ihm ständig eine gewisse Angst präsent, die Rückführung zur Mutter könnte nicht realisierbar sein, wenn seine Werte nur bei den Aufenthalten zuhause schlecht sind.

    In Bezug auf Maries Situation wird die Entwicklung von Verstehbarkeit und Achtsamkeit gegenüber sich selbst erst über das Anknüpfen der Fachkräfte an wichtige Bedürfnisse und Themen der Jugendlichen möglich.

    Eine salutogenetische Sichtweise mit Blick auf Ressourcen, positive Erfahrungen und neue Bewältigungsmuster ist wichtig für eine positive Veränderung. Es gilt dabei den Fokus nicht zu sehr auf die „Thematisierung“ und „Aktivierung“ der Symptomatik oder des Problems zu legen, sondern vielmehr die Konflikte, Probleme und Schwierigkeiten hinter der nach außen hin sichtbaren Symptomatik aufzudecken. Gesundheit, Krankheit und Beeinträchtigung können somit als biografisch und in sozialen Milieus verankert gesehen werden. Erst bei der Betrachtung einer Person in ihrer Umgebung kann ein Zusammenhang zwischen den Bedürfnissen nach Selbstwert, Selbstregulation, sozial-emotionalen Beziehungen und sozialer Unterstützung hergestellt und eine Intervention in die Wege geleitet werden (Gahleitner und Pauls 2014).

  3. c)

    Mit den wesentlichen Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz gehen Grundbedürfnisse einher, auf welche bei Jugendlichen aus schwierigen Herkunftsverhältnissen häufig nicht adäquat reagiert werden kann. Umso wichtiger erscheint es, dass partizipative Strategien in der Arbeit mit den Jugendlichen und ihrem Umfeld im stationären Kontext verankert sind. Es ist notwendig, die Jugendlichen und ihre Familie in alle Entscheidungsprozesse (Alltag, Hilfeplan, Gesundheitsmaßnahmen) miteinzubeziehen. Dies kann zu einer Förderung des Selbstwertgefühls und der Selbstwirksamkeit beitragen. Die Jugendlichen und ihre Familie werden hierdurch als wichtig und kompetent wahrgenommen. Durch transparentes Kommunizieren und Handeln können Loyalitätskonflikte oder Machtgefälle vermieden werden. Die Partizipation der Jugendlichen wird somit nicht allein durch vorstrukturierte Regelanwendungen erreicht, sondern benötigt eine gegenseitige Bereitschaft zur Kooperation. Die ErzieherInnen und die Jugendlichen müssen sich einig sein über das Ziel, das es zu erreichen gilt, und über den Weg, der dorthin führt. Erziehung zur Selbstständigkeit und Selbstverantwortung heißt, die Jugendlichen ihrem Alter und Entwicklungsgrad entsprechend an allen sie betreffenden Entscheidungen zu beteiligen.

    Es ist wichtig, dass die ErzieherInnen pädagogische Prozesse initiieren, in denen eine Balance gefunden wird zwischen dem altersangepassten Autonomiebestreben der Jugendlichen (sie wollen Freiheit, Unabhängigkeit und ein Recht auf Selbstbestimmung) und deren Einbindung in die Alltagsstrukturen der Lebensgruppe, was stärker ihrem Bedürfnis nach Zugehörigkeit entspricht.

    Für alle Jugendlichen sollte ein als positiv erlebtes Zusammenleben in der Lebensgruppe geschaffen werden, wo jedem Jugendlichen die Möglichkeit geboten wird, ein individuelles, auf den eigenen Ressourcen aufbauendes Lebensprojekt zu entwickeln und mitzubestimmen.

    Es muss dabei gelingen, an die Wirklichkeitskonstruktionen der Jugendlichen (und ihrer Familien) anzuknüpfen, um gemeinsam Veränderungen in den Denk- und Handlungsmustern anzuregen. Es ist davon auszugehen, dass sowohl Jugendliche als auch Eltern versuchen, ihr bisheriges System und ihre Überzeugungen aufrechtzuerhalten. Genau hieran gilt es anzuknüpfen. Am Beispiel von Tom wird dies deutlich, indem die Loyalität in Bezug zu seiner Mutter von den ErzieherInnen gewürdigt und akzeptiert wird.

    Es ist wichtig, als pädagogische Fachkraft mit einer systemischen Perspektive eigene Wirklichkeitskonstruktionen (z. B.: Was mir guttut, muss also auch dem anderen guttun) nicht auf die Jugendlichen zu übertragen. Die wertschätzende Kommunikation mit den Jugendlichen ist ein grundlegendes Element in der alltäglichen Zusammenarbeit und in der Erfassung ihrer Bedürfnisse.

  4. d)

    Darüber hinaus sollten sich die Fachkräfte bewusst sein, dass ein partizipativer, ressourcenorientierter Ansatz zu einer ambivalenten Rollenausgestaltung, zwischen der Umsetzung des Schutzauftrags einerseits und der Wertschätzung gegenüber den Bedürfnissen der jungen Menschen andererseits, führen kann. Es gilt diese Ambivalenzen bewusst zu gestalten und konstruktiv sowie zieldienlich für den Hilfeprozess zu nutzen.

    Anhand der drei Fallbeispiele wird klar, dass das sozialpädagogische Fachpersonal oft hin- und hergerissen ist zwischen protektiven Interventionen in Bezug auf die physische und psychische Gesundheit der Jugendlichen, und dem Wissen, dass eine Zusammenarbeit mit dem Jugendlichen nur dann funktioniert, wenn er sich in der Interaktion als selbstbestimmt erlebt. Wie das Fallbeispiel von Julia zeigt, wird die Einnahme von Medikamenten, welche dem Bereich der Neuroleptika zugeordnet werden, als besonders fremdbestimmt von ihr erfahren. Jugendliche, die sich in einer medikamentösen Behandlung befinden, fühlen sich oft auch körperlich unwohl, da verschiedene Nebenwirkungen dieser Medikamente deutlich spürbar sind. Zusätzlich zum Schutzauftrag sehen sich die ErzieherInnen in der Verantwortung, für die Sicherheit der anderen Mitbewohner und Mitarbeiter zu sorgen. Wie im genannten Fallbeispiel erleben die ErzieherInnen die Jugendliche z. B. als aggressiv und unberechenbar, wogegen mit der Einnahme der Medikamente aus ihrer Sicht eine gewisse „Ruhe“ eintritt. Somit spielt auch oft die Angst eine wesentliche Rolle, die Gruppendynamik wieder zu destabilisieren, sollten die Medikamente abgesetzt werden. Hier ist es sehr wichtig, mit dem Jugendlichen und seinem Umfeld zusammen alle möglichen Optionen in Bezug auf seine Gesundheit mit allen Vor- und Nachteilen zu besprechen, da eine medikamentöse Behandlung doch als sehr invasiv erlebt werden kann.

    Eine ähnliche Ambivalenz in den erzieherischen Interventionen wird auch in den Fallbeispielen von Tom und Marie deutlich. Bei Tom ist es die Angst der Fachkräfte, dass die Symptome des Diabetes sich verschlimmern könnten, sollte keine genaue Kontrolle der Ernährung und der Regulierung seiner Insulingaben erfolgen. Die ErzieherInnen erleben jedoch parallel, dass Tom sich sehr unwohl fühlt, da er diese Begleitung als Einschränkung und Kontrolle in seinem Alltag erlebt.

    Marie hat über Jahre immer mehr an Gewicht zugelegt. Die ErzieherInnen sorgen sich, dass eine weitere Zunahme zu schwerwiegenden Gesundheitsproblemen führen könnte und fühlen sich natürlich dazu verpflichtet, Marie täglich beim gemeinsamen Essen zu bremsen. Dies wiederum führt zu einer angespannten Situation.

  5. e)

    Es stellt sich also die Frage, wie günstige Rahmenbedingungen geschaffen werden können, in denen sich der betroffene Jugendliche nach seinen eigenen Wünschen und Möglichkeiten verändern kann, dies immer im Hinblick auf Wohlbefinden und Gesundheit. Wie kann eine dynamische Interaktion zwischen belastenden und entlastenden sowie schützenden Rahmenbedingungen aufgebaut werden? Wie kann der Jugendliche in seiner Selbstwirksamkeit unterstützt werden, sodass er die Hilfemaßnahme der stationären Unterbringung akzeptieren und sie aktiv mitgestalten kann, um seine Gesundheit und sein Wohlbefinden zu fördern? Wichtig ist, dass alle Fachkräfte eine Neugier in die Gespräche einbringen, bewusst zuhören können und auch erfragen, was momentan beim jungen Menschen gut läuft. Was will der Jugendliche? Was kann der Jugendliche selbst tun? Welche Ressourcen und Kompetenzen hat er bereits? Welche Bedürfnisse liegen seinem Verhalten und seinen Schlussfolgerungen zugrunde?

    Die praktische Arbeit in der stationären Jugendhilfe ist anspruchsvoll, da es gilt unterschiedlichen Anforderungen im Alltag gerecht zu werden und dabei stets die Notwendigkeit besteht, mehrere Perspektiven miteinzubeziehen. Die pädagogischen Fachkräfte brauchen also Handlungsstrategien und das notwendige Fachwissen, um auch schwieriges und sich wiederholendes symptomatisches Verhalten von Jugendlichen zu bewältigen und gegebenenfalls neu zu interpretieren. Dies setzt eine hohe Reflexionsfähigkeit und -bereitschaft voraus. Es ist wichtig, dass die pädagogischen Fachkräfte über konstruktive Strategien verfügen, die eigene Handlungsfähigkeit in schwierigen und herausfordernden Situationen aufrechtzuerhalten. Für diese Prozesse müssen ein spezifisches Bewusstsein und die notwendige Achtsamkeit in den jeweiligen Teams etabliert sein. Spezifische Fortbildung und Supervisionen helfen dieses Fachwissen und Bewusstsein aufzubauen. Darüber hinaus wird in unseren Strukturen das Vertrauen bei den Fachkräften gefördert, im Bedarfsfall Unterstützung und Hilfe im Teamzusammenhang zu suchen.

    Um dieses Qualitätsniveau auf der Ebene des Fachpersonals mittelfristig zu garantieren, sind für uns Personalfürsorge sowie Entlastungs- und Schutzkonzepte in Bezug auf die psychische und emotionale Gesundheit der ErzieherInnen wichtige Bausteine in der Weiterentwicklung unserer Strukturen. Hierzu gehören z. B. Krisenverfahrenspläne, die die Begleitung von Jugendlichen als auch von betroffenen Fachkräften in sehr belastenden Situationen absichern, teaminterne Entlastungsstrategien und Verantwortungsaufteilung, aber auch regelmäßige Supervision und Fortbildung.

    Somit kann ein günstiger Entwicklungsprozess für die Jugendlichen ermöglicht werden. Es ist wichtig, ihre individuellen Sichtweisen zu berücksichtigen und den Weg gemeinsam mit ihnen zu gehen. Erst wenn die Anforderungen es wert sind, sich dafür anzustrengen, und sie für die Jugendlichen einen subjektiven Sinn ergeben, kann ein gesunder Umgang mit ihrem Körper und der Befriedigung ihrer Bedürfnisse ermöglicht werden. Indem die individuellen Ressourcen stetig fokussiert und hervorgehoben werden, lässt sich bei den Jugendlichen ein Gefühl der Selbstwirksamkeit und Handlungsfähigkeit erreichen.