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1 Trauer – zwischen Verlustbewältigung und Gesundheitsbeeinträchtigung

Trauer ist eine universell beobachtbare menschliche Reaktion auf den Verlust von wichtigen und geliebten Personen oder anderen Verlusterfahrungen. Sie zeichnet sich durch unterschiedlich lange Perioden von Trauererleben und Trauerbewältigung aus, die mit Leiden einhergehen. Dieser Prozess wird von den meisten Menschen gut verarbeitet und integriert.

Die Trauer ist die unmittelbare Antwort auf diesen Verlust und geht einher mit Gefühlen wie intensive Traurigkeit, Schmerz und Wut. Der Trauerprozess hilft den Verlust zu begreifen, Abschied zu nehmen und sich dem Leben wieder zuwenden zu können. Somit ist der Trauerprozess ein gesunder Bewältigungsmechanismus in Bezug auf die veränderte Lebenssituation. Auch dieser Prozess wird von den meisten Menschen gut verarbeitet und integriert.

Eine Verlusterfahrung kann aber auch krisenhafte Ohnmachterfahrungen auslösen, die mit körperlichen und seelischen Gesundheitsbeeinträchtigungen verbunden sind. Dies gilt insbesondere dann, wenn Trauernde – wie etwa Kinder und Jugendliche – noch keine stabilen Bewältigungsmuster entwickelt haben und in ihrem Umgang mit Verlust und Trauer noch keine Erfahrungen haben. Hier ist die Gefahr dauerhafter psychischer und psychosomatischer Beeinträchtigungen aufgrund einer unzureichenden Bewältigung groß, mit langfristigen Folgen für Gesundheit und Wohlbefinden der Jugendlichen.

1.1 Einführung in theoretische Trauermodelle

Im Laufe der letzten Jahrzehnte wurde an Hand verschiedener Phasenmodelle versucht, den dynamischen und teilweise verwirrenden Ablauf der Trauer zeitlich zu strukturieren und Ähnlichkeiten im menschlichen Trauerprozess hervorzuheben. Dazu gehören:

  • Das Phasenmodell nach Kübler-Ross (1969): Menschen durchleben 5 Phasen der Trauer: Verleugnung, Wut, Verhandlung, Depression und Akzeptanz; diese werden nacheinander und klar voneinander abgrenzbar durchlebt.

  • Phasen nach Bowlby (1984): Der Autor geht davon aus, dass die von ihm beschriebenen Phasen (Phase der Betäubung, der Sehnsucht und Suche nach der verlorenen Bindung, der Desorganisation und Verzweiflung, der Reorganisation, der Verleugnung, der Wut und des Zorns, des Verhandelns, der Depression) mehrmals durchlebt werden können und von der Stärke der Bindung zum Verstorbenen abhängen. Demnach stellt Trauer den Versuch dar, die Bindung aufrechtzuerhalten.

  • Traueraufgaben nach Worden (2002): Im Gegensatz zu einem „passiven“ Erleben der Trauer schlägt er vier Aufgaben vor, die der Trauernde aktiv zu lösen hat: den Verlust als Realität/Wirklichkeit akzeptieren; den Trauerschmerz erfahren; sich anpassen an eine veränderte Umwelt, in der der Verstorbene fehlt; dem Toten einen neuen Platz zuweisen und im Leben weitergehen.

  • Trauerphasen nach Kast (2013): Nicht-Wahrhaben-Wollen; aufbrechende Emotionen; suchen, finden und sich trennen; neuer Selbst- und Weltbezug.

  • Traueraufgaben nach Spierings (2006): In diesem Modell werden die Konzepte von Phasen der Trauer sowie Aufgaben der Trauer integriert: den Tod als Realität begreifen; den Trennungs- und Trauerschmerz durchleben; Erinnern und Wiedererleben der Beziehung zum Verstorbenen; Lösen der alten Bindung; sich anpassen an eine Welt ohne den Verstorbenen; neue Sinnfindung und Investition in das Leben.

1.2 Kritik an den Trauermodellen

Phasenmodelle versuchen zwar Ähnlichkeiten zwischen Trauernden hervorzuheben, vernachlässigen jedoch individuelle, soziale und kulturelle Unterschiede. Hinzu kommt oft eine mangelhafte empirische Überprüfung.

Trauernde unterscheiden sich in ihrem Erleben stark voneinander, was die Beurteilung „angemessener“, „normaler“ oder „abweichender“ respektive „komplizierter“ Trauerreaktionen erschwert. Phasenmodelle können missverstanden werden etwa als Zwang zum „richtigen“ Trauern oder Verunsicherung und Stigmatisierungsängste bei Abweichungen vom vorgegebenen Schema auslösen.

In der praktischen Arbeit mit Trauernden zeigen sich die Trauerreaktionen auch häufig nicht linear, sondern verlaufen eher in Form einer Welle oder Spirale – eine Achterbahnfahrt der Gefühle, wie von Trauernden häufig berichtet wird.

Einem solchen flexiblen, dynamischen Prozess entspricht besser das duale Prozessmodell der Trauer nach Stroebe und Schut (1999). Dabei werden zwei Hauptarten der Bewältigung (Coping) des Verlustes unterschieden: die verlustorientierte und die wiederherstellungsorientierte. Erstere richtet sich auf die Verarbeitung verschiedener Aspekte des Verlustes selbst (Beziehung/Bindung zur verstorbenen Person, Gedanken, gemeinsame Erlebnisse, Grübeln, Weinen über den Tod). Die wiederherstellungsorientierte Bewältigung dagegen richtet sich auf die Folgen des Verlustes, wie z. B. Einsamkeit, und die Art der Bewältigung, wie z. B. neue Kontakte knüpfen mit ähnlich Betroffenen. Die Trauer bewegt sich zwischen diesen beiden Bewältigungsstrategien hin und her.

1.3 Multidimensionalität der Trauer

Die Trauerreaktionen, wie sie von Worden (1966) zusammengefasst und beschrieben werden, zeigen sich auf 4 Ebenen:

  • Emotional (Traurigkeit, Angst, Wut, ….)

  • Physiologisch (körperliche Reaktionen wie Schlafstörungen, Appetitverlust, Müdigkeit, Unruhe, ….)

  • Kognitiv (Gedanken wie Selbstvorwürfe, Konzentrationsschwierigkeiten, Suizidgedanken, ….)

  • Verhaltensbezogen (sozialer Rückzug, Aktivismus, Essstörungen,….)

Nach Spierings (2006) entwickelt sich normale Trauer in drei Beziehungsdimensionen, verbunden mit entsprechenden Traueraufgaben:

  • Eine neue Beziehung zu sich selbst, eine neue Identität finden

  • Eine neue Beziehung zur Welt herstellen

  • Eine neue Beziehung zum Verstorbenen entwickeln

1.4 Einfache und komplizierte Trauer

Trauernde unterscheiden sich in ihrem Erleben und dem Ausdruck von Trauergefühlen erheblich voneinander. Diese große Variabilität der Trauerreaktionen erschwert die Beurteilung „abweichender“ und „komplizierter“ Trauerreaktionen, zumal auch, wie bereits erwähnt, religiöse, soziale und kulturelle Aspekte zu berücksichtigen sind.

Folgende Aspekte können den Trauerprozess erschweren (nach Spierings 2006; Paul 2011):

  • Verneinte Trauer: der Tod wird nicht anerkannt (kein Beginn der Trauer)

  • Verzögerte Trauer: die Trauer kann nicht beginnen

  • Chronische Trauer: die Trauer kann nicht beendet werden

  • Verzerrte Trauer: der Zugang zu den Gefühlen ist erschwert

  • Traumatische Trauer: zuerst muss das Trauma bewältigt werden

  • Somatisierte Trauer: die Trauer drückt sich in körperlichen Symptomen aus

Paul (2011) nennt Risikofaktoren in vier Bereichen, die den Trauerprozess erschweren können:

  • Begleitumstände des Todes/Todesart

  • Beziehung zwischen Trauernden und Verstorbenen

  • Lebensgeschichte und aktuelle Lebenssituation der Trauernden

  • Soziale Faktoren

Spierings (2006) beschreibt konkret folgende Risikofaktoren (traumatische Verluste/Todesumstände), die die Notwendigkeit professioneller Unterstützung für die Betroffenen erhöhen:

  • Plötzlicher, unerwarteter Verlust

  • Suizid eines Angehörigen

  • Verlust eines Kindes

  • Tod wurde als vermeidbar angesehen

  • Lang andauernder Krankheitsverlauf

  • Ambivalente oder abhängige Beziehung zum Verstorbenen

  • Mehrere Todesfälle gleichzeitig oder in kurzer Abfolge

  • Fehlendes soziales Unterstützungssystem

1.5 Gesundheitsbeeinträchtigung durch anhaltende Trauerstörung

Die anhaltende Trauerstörung (Prolonged Grief Disorder, PGD) ist gekennzeichnet durch schwerwiegende, langanhaltende und beeinträchtigende Verlustreaktionen. 2019 wurde sie als Krankheitsbild in die internationale statistische Klassifikation (International Statistical Classification of Diseases, ICD-11) der Weltgesundheitsorganisation aufgenommen (WHO 2020). Diese soll 2022 offiziell in Kraft treten.

Eine vergleichbare Störung namens Persistent Complex Bereavement Disorder (PCBD) wurde zur weiteren Erforschung in das DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) aufgenommen (Fleming & Drake 2020).

Es wird diskutiert, inwiefern die separate Kodierung einer Diagnose für „pathologische Trauer“ zu einer Stigmatisierung der Betroffenen führen könnte.

2 Besonderheiten von Kinder- und Jugendtrauer als Grundlage für die Beratungspraxis

Der Verlust von engen Bezugspersonen ist für jeden Menschen, egal welchen Alters, von großer Bedeutung, da sich das Bindungsgefüge dadurch stark verändert. Kern et al. (2017) stellen in ihrem Buch „Wie Kinder trauern“ fest, dass sich in den letzten drei Jahrzehnten die Sicht auf die kindliche Trauer verändert hat. Früher wurde angenommen, dass Kinder Verlust aufgrund fehlender emotionaler und geistiger Entwicklung nicht verstehen könnten und somit keine Trauer empfänden. Diese Meinungen sind heute revidiert.

Die Todesvorstellungen von Kindern sind schon früh vorhanden, unterscheiden sich jedoch von denen der Erwachsenen, weil die kindlichen Todeskonzepte von der jeweiligen Entwicklungsphase und der kognitiven Reife abhängig sind. Dabei prägen nicht nur elterliches Verhalten und deren Erklärungen über den Tod die Vorstellungen der Kinder, sondern auch die jeweilige religiöse und kulturelle Zugehörigkeit.

2.1 Verlustphänomene und Trauersymptome

Die Verlustphänomene und Trauersymptome zeigen sich auch bei Kindern und Jugendlichen auf verschiedenen Ebenen.

  • Psychische, emotionale Ebene

  • Physische, somatische Ebene; bei Kindern und Adoleszenten insbesondere durch somatoforme Schmerzen

  • Wahrnehmungsebene (u. a. Verlangsamung, Zweifel, verminderter Selbstwert)

  • Verhaltensebene (expressive Reaktionen wie: schreien, weinen, klagen; Imitieren der verstorbenen Person oder sprechen wie sie, Hyperaktivität, Verwahrlosung, Rückzug u. a.)

2.2 Entwicklung des Todeskonzeptes

Die Entwicklung des kindlichen Todeskonzeptes wird beeinflusst vom Entwicklungsalter, von vorherigen Erfahrungen sowie von Vorbildern im Umgang mit den Themen Sterben und Tod. Da die kindliche Entwicklung individuell sehr unterschiedlich verlaufen kann, sind die Altersangaben fluide und dienen der groben Orientierung; Abweichungen sind häufig festzustellen. Die folgende Beschreibung vom Verständnis des Todes bei Kindern orientiert sich an Webb (2010).

Das Kleinkind (0–2 Jahre)

Kinder ab etwa acht Monate zeigen Trauerreaktionen wie Ess- oder Schlafstörungen, Weinen, Unruhe, Angst, sich wegdrehen oder sich auf den Boden werfen.

Das Vorschulkind (2–7 Jahre)

Das Vorschulkind kann die Endgültigkeit des Todes noch nicht begreifen. Es geht davon aus, dass der Tod rückgängig gemacht werden kann.

Ein Kind in diesem Alter hat meistens noch unrealistische Vorstellungen davon, wie lange man lebt, und es glaubt, dass auch nach dem Tod verschiedene Körperfunktionen weitergehen.

Das Vorschulkind denkt magisch. So kann es glauben, es hätte den Tod selbst herbeigeführt oder verursacht.

Das Schulkind (7–11 Jahre)

Das Schulkind kann die Endgültigkeit und Unvermeidbarkeit des Todes begreifen. Es hat eine realistische Vorstellung davon, wie alt Menschen werden.

Mit 7 Jahren gehen noch viele Kinder davon aus, dass der Tod nur alte und schwache Menschen trifft. Sie stellen sich den Tod als Person oder Skelett vor.

Das Grundschulkind (9–12 Jahre)

Das Grundschulkind ab 9/10 Jahren hat eine realistische Einschätzung folgender Subkonzepte des reifen Todeskonzeptes:

  • Irreversibilität: Endgültigkeit des Todes

  • Nonfunktionalität: Körperfunktionen sind stillgelegt beim Tod

  • Universalität: Jeder stirbt früher oder später

  • Kausalität: Es gibt immer eine Todesursache

Jugendliche

Im Jugendalter ist das Todeskonzept ausgereifter. Der Jugendliche befindet sich in einer Übergangsphase zum Erwachsenwerden. Findet zu diesem Zeitpunkt ein Todesfall statt, kann dies zu Schwierigkeiten in der Entwicklung führen. Es finden zahlreiche kognitive und körperliche Veränderungen statt. Viele Jugendliche sind unsicher und haben Probleme ihre Emotionen zuzulassen. Sie reden meist lieber mit Gleichaltrigen als mit Erwachsenen über den Tod. Jugendliche zeigen Verständnis und Interesse für Spirituelles und stellen philosophische Fragen.

2.3 Trauer und Trauerreaktionen bei Kindern und Jugendlichen

2.3.1 Unterschiede zu Erwachsenen

Weil bei Kindern und Jugendlichen die Fähigkeit der Affektregulation noch nicht voll entwickelt ist, sind schmerzhafte Emotionen für sie oft schwer auszuhalten. Auch ihre kognitive Entwicklung ist noch nicht ausgereift. Daher reagieren sie im Vergleich zu Erwachsenen stärker psychosomatisch. Meist leben sie eher im „Hier und Jetzt“. Dennoch sind sie abhängig von Erwachsenen und sind an ihre Bezugspersonen gebunden. Sie brauchen Vorbilder in der Trauer. Erwachsene trauern oft kontinuierlicher, Kinder eher punktueller und manchmal verzögert. Ennulat (2013) findet hierfür ein eindrückliches Bild, in dem der Trauerprozess von Kindern mit dem Stolpern in und dem Herausspringen aus Pfützen verglichen wird.

2.3.2 Reaktionen Jugendlicher nach einem Todesfall – zwischen Ohnmacht und der Suche nach Bewältigung

Kinder und Jugendliche sind unterschiedlich und so zeigen sie auch ihre Trauer durch individuell ganz unterschiedliche Reaktionen. Die Reaktionen sollten nicht gewertet werden, sondern als normale Reaktion auf eine außergewöhnliche Situation angesehen werden. Die folgende Aufzählung von Trauerreaktionen bei Kindern und Jugendlichen erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern gibt einen Ausschnitt aus unseren Beratungserfahrungen wieder. Mögliche Reaktionen auf einen Todesfall werden in den folgenden 4 Ebenen dargestellt:

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Allgemein sind Kinder und Jugendliche meist stärker und widerstandsfähiger, als von Erwachsenen angenommen wird. Bezüglich der Trauerverarbeitung und des Themas Tod sind jüngere Kinder im Kindergartenalter oft neugierig und unbefangen, denn sie kennen noch kein Tabu. Sie sind oftmals bereit, sich mit schwierigen Situationen auseinanderzusetzen.

Bei Jugendlichen stellt der Rückzug eine häufige Bewältigungsstrategie dar, mit manchmal unorthodoxen Reaktionen (scheinbar „coole“ Reaktion z. B.: eine Bierflasche als Grabbeigabe). Familienmitglieder sind unterschiedlich resilient, dadurch sind sie auch nicht gleich betroffen.

2.4 Trauer und die Beeinträchtigung mentaler Gesundheit: zur Abgrenzung von Trauer zu Psychotrauma

Die Trauersituation kann, aber muss nicht zwangsläufig mit einem Psychotrauma einhergehen.

Zu Verlusten, die ein erhöhtes Risiko bergen, als traumatisch erlebt zu werden und in deren Folge sich traumabezogene Symptome entwickeln können, zählen u. a.

  • Suizide

  • der Verlust einer wichtigen Bindungsperson in Kindheit oder früher Jugend

  • plötzliche, unerwartete Verluste, z. B. durch Unfall oder Herzinfarkt

  • der Verlust nach langer chronischer Krankheit

  • Verluste mit stark verändertem Aussehen des Verstorbenen

    • z. B. durch extreme Kachexie nach schweren Erkrankungen, etwa einer Krebserkrankung

    • durch livide Gesichtsverfärbung nach dem Tod (z. B. durch Ersticken)

    • oder auch durch die auftretenden Totenflecken  und  Verluste durch außergewöhnliche Todesarten wie Gewalt, Naturkatastrophen, Verbrennen, Flugzeugabsturz etc.

Solche Verluste können insbesondere bei Kindern traumatische Bilder und Flashbacks (Intrusionen) hervorrufen, falls sie unvorbereitet den Verstorbenen gefunden haben oder wenn sie sich genau vorstellen, wie der Verstorbene sein Leben verloren hat. Diese Bilder, auch wenn sie nur der eigenen Vorstellungskraft entspringen, können wiederum Hilflosigkeits- und Ohnmachtsgefühle hervorrufen und ein hohes Belastungspotential bergen.

Daher versuchen viele Betroffene diese Erinnerungen zu vermeiden und kapseln sich zum Beispiel ab. Eltern reden oft nicht mit Kindern über das Geschehene, sind selber sprachlos und verunsichert. Jugendliche und Kinder empfinden das als bedrückend und es verhindert, das Geschehene zu begreifen und zu verarbeiten. Oft unterdrücken sie dann ihre Gefühle. Oder sie entwickeln auch Minderwertigkeitsgefühle und/oder einen instabilen Selbstwert. Eine traumatische Trauerverarbeitung kann dann die Folge sein. In einem solchen Fall kann die Trauer erst dann verarbeitet werden, wenn das Trauma behandelt wurde. Bekannt ist ebenso die höhere, stressbedingte Krankheitsanfälligkeit bei Trauer und Trauma.

3 Der „Kanner- a Jugendservice“ von Omega 90

3.1 Die Vereinigung Omega 90

Omega 90 ist eine gemeinnützige Vereinigung ohne Gewinnzweck (a.s.b.l.)Footnote 1, die 1990 mit der Aufgabe gegründet wurde, die Palliativpflege in Luxemburg zu verbreiten und zu fördern. Zu diesem Zweck werden Initiativen unterstützt, die sich mit der Begleitung von schwer bzw. unheilbar kranken und sterbenden Menschen und ihren Angehörigen beschäftigen sowie mit der Begleitung von trauernden Menschen. Unter einem erweiterten, gesellschaftlichen Blickwinkel möchte Omega 90 dazu beitragen, eine Kultur des Lebens zu entwickeln, die die Endlichkeit der menschlichen Existenz nicht verdrängt, sondern ins Leben integriert. Omega 90 ist nicht an eine bestimmte Ideologie oder Religion gebunden, sondern orientiert sich im Rahmen der geltenden gesetzlichen Regelungen an den WertevorstellungenFootnote 2, wie sie in der Menschenrechtserklärung festgelegt sind. Die ethischen Richtlinien von Omega 90 sind im „Ethischen Orientierungsrahmen“ der Gesellschaft beschrieben.Footnote 3

Um seine Ziele zu verwirklichen, hat Omega 90 unterschiedliche Angebote und Dienstleistungen entwickelt:

  • Haus Omega, ein Zentrum für Palliativpflege in Luxemburg, mit 15 Betten für Menschen am Lebensende

  • Centre de Consultation, eine psychologische Beratungsstelle für Menschen, die an einer unheilbaren Krankheit leiden, sich am Lebensende befinden oder nach einem Todesfall trauern; zur Beratungsstelle gehört auch der Kanner- a Jugendservice

  • Fortbildungsprogramme in Palliativpflege für Ärzte, Pflegefachkräfte und Angehörige psychosozialer Berufe

  • Ausbildung und Betreuung von ehrenamtlichen Mitarbeitern, die Menschen am Lebensende begleiten

  • Sensibilisierungsaktionen für ein größeres Zielpublikum

3.2 Der „Kanner- a Jugendservice“: Angebote, Methoden und Erfahrungen aus der Beratungspraxis

Der Kanner- a Jugendservice von Omega 90 besteht seit über 20 Jahren. Seine Hauptaufgabe besteht in der Begleitung von Trauer und traumatischen Verlusten bei Kindern und Jugendlichen. Er gehört zum Beratungsdienst Consultation von Omega 90, welcher auch Beratung, Begleitung und Psychotherapie für Erwachsene anbietet. In diesem Rahmen ist der Kanner- a Jugendservice eine teils eigenständige Abteilung. Die Arbeit mit trauernden Kindern und Jugendlichen unterscheidet sich von der Arbeit mit Erwachsenen, weil sie spezifische Anforderungen stellt und dementsprechende Kompetenzen verlangt. Im Jahr 2020 verfügte der Kanner- a Jugendservice über 1,75 Psychologenstellen (70 Wochenstunden).

3.2.1 Angebote des „Kanner- a Jugendservice“

Der Kanner- a Jugendservice bietet trauernden Kindern und Jugendlichen im Alter von 4 bis 18 Jahren – in Einzelfällen auch darüber hinaus – Begleitung in Form von Einzelgesprächen oder Gruppen an. Familiengespräche, Erziehungsberatung sowie Informationsvermittlung für Eltern, Angehörige und Professionelle im Umgang mit trauernden Kindern und Jugendlichen gehören ebenfalls zu den Angeboten.

Die Trauerbegleitung von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien im Kanner- a Jugendservice kann aufgeteilt werden in:

  • kurzfristige Beratung für Eltern, telefonisch oder im direkten Gespräch

  • Kurzzeitbegleitungen für Kinder, Jugendliche und Eltern bei einfacher Trauer über einige Sitzungen (ca. 1–4 Termine)

  • längerfristige Begleitungen für Kinder, Jugendliche und Eltern (meist bei komplexeren Situationen, Dauer länger als 5 Termine)

  • Trauergruppen für Kinder und, je nach Anfrage, auch für Jugendliche

Trauergruppen

Der Kanner- a Jugendservice von Omega 90 bietet seit dem Jahr 2003 Trauergruppen für Kinder und für Jugendliche an. Diese Gruppen sollen eine gemeinsame Trauerarbeit und Austausch über die jeweiligen Lebenssituationen, Gedanken und Gefühle ermöglichen, wie z. B. Isolation („Meine Freunde verstehen mich nicht, die haben so etwas nicht erlebt.“). Das Gruppenangebot bietet Unterstützung, um sich aus der erlebten Isolation zu befreien und neue Kontakte zu knüpfen. Kinder und Jugendliche können auf kreative und spielerische Art ihre Gefühle ausdrücken und lernen, mit dem Geschehenen umzugehen.

Die langjährige Erfahrung mit altersspezifischen Trauergruppen bei Omega 90 hat gezeigt, dass die Betroffenen erst psychisch stabil sein müssen und keine Intrusionen, Übererregungszustände o. Ä. mehr aufweisen sollten, wenn sie an einem Gruppenangebot teilnehmen möchten.

Fortbildungsangebote

Jedes Jahr bietet der Kanner- a Jugendservice verschiedene Fortbildungskurse zum Thema Krankheit, Tod und Trauer bei Kindern und Jugendlichen an. Teilnehmer an diesen Fortbildungen sind Professionelle aus sozio-edukativen oder Gesundheitsberufen. Für diese Berufsgruppen führen Mitarbeiter des Kanner- a Jugendservice auf Anfrage auch Supervisionen durch. Die Anfragen für Fort- und Weiterbildungen gehen mittlerweile über die Grenzen Luxemburgs hinaus.

Prävention: „Omega mécht Schoul“, Beratung für Professionelle, „Trauerwallis“

Das präventive Projekt Omega mécht Schoul gehört seit der Durchführung des Pilotprojektes im Jahr 2011 ebenfalls zu den Angeboten des Kanner- a Jugendservice. Es wird im schulischen Umfeld durchgeführt, um Kindern einen angstfreien Umgang mit den Themen Krankheit, Tod und Sterben zu ermöglichen. An diesem Projekt nehmen auch speziell geschulte ehrenamtliche Mitarbeiter teil.

Bei schwerer Krankheit, nach einem Todesfall oder im Notfall können Lehrer, Schüler oder pädagogisches Fachpersonal Beratung in Anspruch nehmen.

2019 wurde im Kanner- a Jugendservice von Omega 90 die „Trauerwallis“ als Instrument sowohl zur Krisenintervention als auch für die Präventions- und Trauerarbeit entwickelt. Sie kommt in Schulen und anderen Einrichtungen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, zum Einsatz, wenn ein Mitglied der Institution oder jemand aus dem Umfeld verstirbt. Der Koffer mit leicht anzuwendendem didaktischem Handbuch und pädagogischem Material mit konkreten Anleitungen für den Notfall soll Betroffenen in der Akutsituation helfen, ein Gefühl von Handlungsfähigkeit, Sicherheit und Kontrolle zu bewahren. Auch der auf einen Trauerfall folgende notwendige Prozess des Wahrhabens des Verlustes soll bei den Beteiligten mit Hilfe der „Trauerwallis“ in Gang gebracht und gefördert werden.

3.2.2 Methoden und Ziele

Ziel der Trauerbegleitung bei Jugendlichen ist es, die akute Verlustbewältigung zu unterstützen und gesundheitliche Folgeerscheinungen nicht gelebter Trauer, wie psychosomatische Erkrankungen, soziale und emotionale Probleme und Entwicklungsblockaden, zu vermeiden. Da Kinder in der Regel noch wenig Verlusterfahrungen verarbeiten mussten, haben sie meist noch keine entwickelten Bewältigungsmuster und –routinen zur Verfügung, wie wir es von Erwachsenen kennen. Von daher sind die Ziele der Trauerbegleitung von Jugendlichen nicht nur auf die Vermeidung akuter physischer und psychischer Gesundheitsbeeinträchtigungen ausgerichtet, sondern zugleich immer auch auf die Entwicklung von Bewältigungsmechanismen und nachhaltiger Resilienz.

Dabei ist es wichtig, dass die Entwicklungsphasen der Kinder und Jugendlichen auf der psychischen, emotionalen und sozialen Ebene beachtet werden. In der Begleitung im Kanner- a Jugendservice orientieren wir uns unter anderem am dualen Prozessmodell nach Stroebe und Schut (1999) sowie an den Traueraufgaben nach Worden (2002).

Vor dem Hintergrund dieser Zielsetzungen finden im Kanner- a Jugendservice finden folgende Methoden Anwendung: Systemische und analytische Therapie für Kinder- und Jugendliche, traumazentrierte Therapie (z. B. EMDR, eine neuropsychologisch wirksame Behandlungsmethode, um Traumata zu verarbeiten), Hypnotherapie, körperorientierte Psychotherapie, Tanztherapie, Sophrologie und andere Entspannungsverfahren. Es wird integrativ gearbeitet. Die Sitzungen werden den individuellen Bedürfnissen der Betroffenen angepasst und altersgerecht auf spielerische, kreative Art und Weise umgesetzt.

3.2.3 Erfahrungen aus der Beratungspraxis

Wer überweist Klienten an den „Kanner- a Jugendservice“?

Alle Mitarbeiterinnen des Kanner- a Jugendservice sind auf die Themen Krankheit, Sterben, Tod und Trauer spezialisiert und entsprechend in Trauerbegleitung und Psychotherapie für Kinder und Jugendliche ausgebildet. Die Strukturen und Institutionen, die deshalb Klienten an den Kanner- a Jugendservice überweisen, sind breit gefächert: Groupe de Support Psychologique (GSP des CGDIS), SePAS (Service Psycho-social et d’Accompagnement Scolaire), Professionelle im schulischen Bereich, psychologische Dienste und Palliativstationen der Kliniken, Haus Omega, Ärzte und Therapeuten in privater Praxis, Fondation Cancer, Fondation Kriibskrank Kanner, ALAN, Famille plus, Office National de l’Enfance, Familljen-Center, Familles Plus, Psy-Jeunes und Unterbringungsstrukturen. Darüber hinaus verweisen Klienten, die bereits bei Omega 90 begleitet wurden, auf uns. Andere Betroffene finden über die Internetseite von Omega 90 oder durch Medienberichte den Weg zum Kanner- a Jugendservice.

Umgang mit trauernden Kindern und Jugendlichen

Die im Folgenden beschriebenen Richtlinien stellen in gewisser Weise die Essenz aus über 20 Jahren Trauerarbeit mit Kindern und Jugendlichen von Omega 90 dar. Es handelt sich um Erkenntnisse, Erfahrungen und Rückschlüsse aus unserer Praxis, die unterfüttert sind von theoretischer Auseinandersetzung mit und stetiger Weiterbildung in diesem Bereich.

Trauer ist eine normale Reaktion auf einen Verlust, ein persönliches Lebensgefühl, eine tiefgreifendeund unausweichliche Erfahrung, die den ganzen Menschen erfasst (Hentges 2013). Sie beinhaltet eine Trennung die schmerzlich, aber notwendig ist. Unserer Erfahrung nach braucht es stabile Beziehungen, Orientierung, Halt und Sicherheit, um mit Trauer umzugehen. Das Durchleben der Trauer kann helfen, diese zu bewältigen und umzuwandeln. Dieser Prozess braucht in der Regel Gemeinschaft, Ausdruck, Raum und Zeit.

Ein Kind ist abhängig von seinen Eltern und Angehörigen, Jugendliche in der Regel auch von ihrer Peergroup, um sich schrittweise einem Leben anzupassen, in dem der Verstorbene fehlt. Kinder und Jugendliche brauchen Erwachsene, die für sie da sind, ohne sich aufzudrängen, die sie trösten und ihre manchmal widersprüchlichen Reaktionen aushalten. Darüber hinaus sollten Erwachsene ihnen den Ausdruck von Gefühlen ermöglichen und ein Vorbild sein für den Umgang mit und das Ausleben von Trauer.

Trauernde Kinder und Jugendliche brauchen klare Informationen über das Geschehen in ihrer Familie, sie sollten als vollwertige Mitglieder derselben behandelt werden. Es müssen nicht alle Details genannt werden, aber das, was einem Kind oder Jugendlichen mitgeteilt wird, sollte der Wahrheit entsprechen. Wird nichts erklärt, entstehen unter Umständen Phantasien, die schlimmer und ängstigender sein können, als es die verschwiegene Realität wäre.

Es gilt, betroffenen Kindern und Jugendlichen altersgerechte Antworten auf ihre Fragen zu geben, Unverständliches zu erklären und sie in die Rituale und das Geschehen rund um den Tod zu integrieren. Es braucht Erwachsene, die Betroffene nicht allein lassen, sondern sie trösten und bereit sind, auf ihre vielfältigen Gefühle und Gedanken einzugehen. Ein wichtiger Faktor ist die Wertschätzung der individuellen Fähigkeiten und Eigenheiten des Kindes oder des Jugendlichen. Durch diese wird das Selbstwertgefühl gestärkt und in der Folge kann die Trauer autonomer und dem individuellen psychischen Tempo entsprechend bewältigt werden. Im Idealfall findet ein Kind/Jugendlicher die genannten unterstützenden Faktoren in der eigenen Familie vor. Der Verlust einer engen Bezugsperson stellt für das trauernde Kind, den trauernden Jugendlichen, eine große Herausforderung dar, die sein Leben prägen wird. Es ist eine ganze Familie, die vom Tod betroffen ist. Die Trauer des einen beeinflusst die Trauer des anderen Familienmitgliedes, Rollen im Familiensystem verteilen sich neu, aus einem Geschwisterkind wird unter Umständen nun ein Einzelkind.

Unserer Erfahrung nach haben die Familienangehörigen der Kinder und Jugendlichen sowie ihre Begleitpersonen in der Schule oft nicht die nötigen Informationen, das Wissen oder die Zeit, um die Trauernden bestmöglich zu begleiten. Der Mangel an Informationen führt häufig zu der Angst, etwas Falsches zu sagen, was dann wiederum in Schweigen endet.

Des Weiteren erleben wir in unserer Arbeit Erwachsene, die das Thema meiden, weil sie Schwierigkeiten haben, mit ihrer eigenen Endlichkeit umzugehen. So fällt es jedoch schwer, den Kindern Zuversicht im Wissen um den Tod zu vermitteln.

Zusammenfassend kann man sagen, dass es eine Vielzahl von Gründen gibt, die es erschweren, trauernde Kinder und Jugendliche innerhalb ihres familiären und schulischen Umfeldes einfühlsam und ihrer Entwicklung entsprechend zu begleiten. Viele Familien greifen dann auf die fachliche Hilfe durch Begleitung und Therapie im Kanner- a Jugendservice von Omega 90 zurück.

Die Mitarbeiter von Omega 90 geben ratsuchenden Eltern und Professionellen häufig folgende Hinweise (die Aufzählung hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit):

  • Ehrlich und offen über den Tod reden

  • Emotionen dürfen ausgedrückt und gezeigt werden

  • Altersgerechte Ansprache und Erklärungen verwenden

  • Möglichst zeitnah auf Fragen antworten

  • Gespräch anbieten, aber nicht aufdrängen

  • Sich und den anderen Trauernden Zeit lassen

  • Aber auch schnell wieder gewohnte Abläufe in den Alltag einkehren lassen

  • Mit Feingefühl die Bedürfnisse des Kindes/Jugendlichen erkennen

  • Verhaltensänderungen beachten und ernst nehmen

  • Wechsel zwischen Nähe und Distanz akzeptieren

  • Das Kind oder den Jugendlichen nicht in eine (Erwachsenen-)Rolle drängen

  • Kinder und Jugendliche in die unterschiedlichen Rituale rund um das Sterben und den Tod integrieren

  • Selbstwirksamkeit fördern, Entscheidungen treffen lassen

  • Wertschätzung zeigen und möglichst Ressourcen aktivieren

Trauer von Kindern und Jugendlichen

Insbesondere Kinder zeigen ihre Trauer über ihr Verhalten und über ihren Körper, jedes auf seine ganz persönliche Art und Weise. Kinder leben überwiegend in der Gegenwart und können schmerzliche und andere starke Gefühle nicht lange aushalten. Anders als Erwachsene haben Kinder wenig Worte, um zu beschreiben, wie es ihnen geht. Sie zeigen ihre Trauer eher auf indirekte oder symbolische Art im Malen, im Spiel, in der Bewegung oder sonstigem kreativen Gestalten. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Umgang mit kindlichen Schuldgefühlen. Kann ein Kind eine Situation nicht richtig einordnen oder verstehen, so glaubt es oft, es habe selbst etwas mit der Situation zu tun und trage Schuld z. B. an Krankheit und Tod. Kleine Kinder denken verstärkt magisch, d. h., sie meinen, ihre Gedanken können den Lauf der Dinge beeinflussen. Es ist wichtig, ihnen hierzu Erklärungen zu geben.

Jugendliche hingegen haben oft ein starkes Bedürfnis nach Autonomie. Wie bereits erwähnt, versuchen sie meist, Probleme eigenständig zu bewältigen, und wenden sich im Zweifelsfall eher an Gleichaltrige. Oft haben sie Schwierigkeiten, Affekte zuzulassen, auszudrücken und zu begreifen. So erleben sie ihre Gefühle als überwältigend, irritierend oder unkontrollierbar, was sie manchmal verunsichert und desorientiert zurücklässt. Inadäquate Bewältigungsstrategien wie Substanzmittelmissbrauch, Aggressivität oder soziale Isolation können die Problematik verstärken.

Eltern in Trauer, Trauerdynamik in der Familie, Prozess der Trauerberatung

Trauernde Eltern und Familienmitglieder sind oft so sehr von ihrem eigenen Leid überwältigt, dass sie selbst psychologische Hilfe benötigen, um ihr Leben wieder ins Gleichgewicht zu bringen. So kommt es oft vor, dass Erwachsene die Not der Kinder und Jugendlichen übersehen, besonders weil diese ihre Trauer anders erleben und zeigen als Erwachsene.

Wenn ein nahes Familienmitglied schwer erkrankt oder stirbt, benötigen Eltern oft fachliche Hilfe, um kurzfristige Entscheidungen für ihr Kind treffen zu können. Häufig werden folgende Fragen an die Mitarbeiterinnen des Kanner- a Jugendservice gestellt:

  • Unser Arzt hat mir eben mitgeteilt, dass meine Mutter in den nächsten Tagen sterben wird. Wie kann ich meinem fünfjährigen Jungen dies mitteilen? Welche Worte soll ich benutzen?

  • Darf mein Kind die verstorbene Person sehen?

  • Sollen Kinder an der Beerdigung teilnehmen und wie kann man sich in dieser Situation am besten als Familie organisieren und verhalten?

  • Wie kann ich meinem Kind sagen, dass sein Vater lebensbedrohlich erkrankt ist?

  • Mein Mann hat sich das Leben genommen. Was darf und was muss ich meinen Kindern sagen?

  • Mein Kind fragt immer wieder, wann seine verstorbene Mutter zurückkommt. Was mache ich falsch?

  • Mein Kind möchte nicht darüber reden. Ist das gut?

Die Antworten auf diese Fragen sollten fachlich korrekt sowie verständlich formuliert sein und Orientierung bieten. Manchmal ist die Anfrage mit der Beratung über Telefon zufriedenstellend beantwortet. Oft ergibt sich später daraus eine Begleitung für das trauernde Kind.

Die Begleitung eines Kindes bei Omega 90 kann nur von seinen Eltern oder der Person, die das elterliche Sorgerecht innehat, angefragt werden. Die Bedingung für eine Trauerbegleitung ist die Einwilligung des Kindes oder Jugendlichen. Trauer kann erst bearbeitet werden, wenn der Betroffene bereit ist, sich mit seiner Trauer auseinanderzusetzen. Das Verdrängen der Trauergefühle kann für das Kind eine bestimmte Zeit lang eine normale Schutzreaktion sein. Für Eltern bedeutet die fachliche Begleitung ihres trauernden Kindes vor allem eine gewisse Entlastung in einer schwierigen Situation, mit der sie sich eventuell überfordert fühlen. In vielen Fällen wird die Begleiterin als fachliche Beraterin und als Vermittlerin zwischen den Welten der Kinder und Jugendlichen und denen der Erwachsenen angesehen.

Bei einem Erstgespräch mit den Eltern wird die familiäre Situation beschrieben und die Eltern erhalten unterschiedliche Informationen, wie z. B. häufige Reaktionen auf einen Todesfall oder den Verlauf von Trauer bei Kindern und Jugendlichen. Es wird geklärt, ob die Eltern ihr Kind selbst begleiten, ob es zu einer fachlichen Begleitung bei Omega 90 kommt oder ob eine andere Einrichtung empfohlen wird. Die Anfrage der Eltern an die Trauerbegleiterin erfolgt und eine Anfrage auf Kostenübernahme an das Office National de l’Enfance (ONE) wird formuliert. Drei oder vier Termine, meist in einem Intervall von jeweils zwei bis drei Wochen, werden anfänglich für das Kind vereinbart. Anschließend wird entschieden, welche weitere Begleitung das Kind benötigt. Ist es sinnvoll, das Kind weiter zu sehen? Ist wirklich Trauer das akut zu behandelnde Thema? Oder steht eventuell ein ganz anderes Thema als Trauer im Raum? Brauchen eher die Eltern weitere Unterstützung? Oder ist es angezeigt, das Kind in die Kindertrauergruppe aufzunehmen?

Trauer kann mit der Diagnose einer lebensbedrohlichen Krankheit beginnen. In manchen Fällen vertrauen uns erkrankte Väter oder Mütter ihr verunsichertes Kind an. Hier gilt es, sowohl den Eltern wie auch den Kindern und Jugendlichen Richtlinien zu geben, was in dieser schwierigen Zeit zwischen Leben und Tod für die Zukunft der Familie bedeutsam ist. In solchen Situationen möchte der schwerkranke Elternteil ebenfalls informiert werden, wie er das Kind oder den Jugendlichen auf den endgültigen Abschied vorbereiten und auf welche Art er ihm seine persönlichen Anliegen am besten mit auf den Lebensweg geben kann. Die Arbeit in solchen Situationen kann für die Mitarbeiterin des Kanner- a Jugendservice von Omega 90 einen zusätzlichen Auftrag darstellen.

Wenn die Therapeutin sowohl das Kind als auch den kranken/sterbenden Elternteil begleitet, ist dies oft sehr intensiv und eher längerfristig. Auch Geschwister von kranken Kindern oder Jugendlichen können bei Omega 90 begleitet werden. In manchen Fällen begleiten Eltern ihr Kind selbst und kommen regelmäßig in den Kanner- a Jugendservice bei Omega 90, um Rücksprache mit der Begleiterin zu halten. Auf diese Weise kann die Autonomie der Eltern gestärkt werden.

3.2.4 Zahlen zum Tätigkeitsbericht des „Kanner- a Jugendservice“

Im Jahr 2019 wurden insgesamt 313 Anfragen im Kanner- a Jugendservice durchgeführt, davon 218 (70 %) mit neuen Klienten. Der Auslöser für die Anfrage nach Beratung war in der Mehrzahl der Fälle ein Todesfall in der Familie oder im nahen Umfeld der Kinder oder Jugendlichen, in circa 10 % der Fälle eine lebensbedrohliche Erkrankung. In circa einem Drittel der Fälle wurde mit einer erwachsenen Bezugsperson gearbeitet, die Hilfe im Umgang mit Kindern und Jugendlichen in diesen Situationen suchte.

Die folgende Tab. 1 gibt Aufschluss über die Altersstruktur der Klienten im Jahr 2019. Es fanden insgesamt 910 Beratungs- und Therapiesitzungen statt, die 909 h reine Beratungszeit (ohne Vor- und Nachbereitungszeit, Fallgespräche, Kooperation, Bericht, …) in Anspruch nahmen. Hinzu kommen 194 h Psychoedukation, in denen Eltern in einem Beratungsgespräch Informationen bekamen, wie sie mit ihren trauernden Kindern und Jugendlichen umgehen können.

Tab. 1 Altersstruktur der Klienten im Jahr 2019 (hier sind die Fälle nicht mitgezählt, bei denen erwachsene Bezugspersonen ohne die betroffenen Kinder oder Jugendlichen konsultierten). (eigene Darstellung)

Über die Dauer der Begleitungen, ermittelt für den Zeitraum von 2015 bis 2019, gibt Tab. 2 Auskunft.

Tab. 2 Dauer der Begleitungen von 2015 bis 2019. (eigene Darstellung)

Aus diesen Zahlen geht hervor, dass die Hälfte der Begleitungen nicht mehr als zwei Sitzungen in Anspruch nahm, 80 % der Begleitungen nicht mehr als fünf Sitzungen. Bei den Fällen, die mehr Sitzungen benötigten, handelte es sich um komplexere Trauersituationen, wie sie in den vorherigen Kapiteln beschrieben wurden.

4 Ausblick

Kinder sind verletzbar, doch zugleich sind sie resilient. Fachliche Begleitung für trauernde Kinder und ihre Angehörigen ist eine wichtige und sehr nützliche Dienstleistung von Omega 90. Durch relativ kurze, doch intensive Interventionen können bei Kindern und Jugendlichen Blockaden verhindert oder aufgelöst werden, und die Entwicklung von Bewältigungsmechanismen und Resilienz unterstützt werden.

Ein sehr wichtiger Teil der Aufgaben des Kanner- a Jugendservice von Omega 90 ist die Präventionsarbeit, zu der „Omega mécht Schoul“ bereits einen wichtigen Beitrag leistet.

Mit der „Trauerwallis“ wurde die Präventionsarbeit um ein Projekt erweitert, das gleichzeitig auch der Krisenintervention und Trauerarbeit dient. Wird eine solche „Trauerwallis“ von einer Institution erworben, die mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, müssen deren Mitarbeiter im Umgang mit dieser geschult werden. Hierdurch hat sich die Aktivität des Kanner- a Jugendservice im Bereich Weiterbildung vergrößert. Sie wird in Zukunft noch weiter ausgebaut werden.

Darüber hinaus ist beabsichtigt, weitere Ausbildungen und Schulungen für die Öffentlichkeit anzubieten, um die Menschen für die Themen Tod und Trauer zu sensibilisieren und diese Themen weiter zu enttabuisieren. Menschen in ihrer Trauer zu informieren, zu beraten, zu orientieren, zu entlasten und zu unterstützen bleibt ein wichtiges Ziel.

Die 2019 etablierte Beratung für Kinder und Jugendliche in Ettelbrück ist ein geographisch erweitertes Beratungsangebot unseres Kanner- a Jugendservice, das sehr gut angenommen wird und in Zukunft personell erweitert werden sollte.

Neben der laufenden Trauergruppe „Reebougrupp“ im Kanner- a Jugendservice wurde 2020 eine Trauergruppe für junge Eltern und Erwachsene angeboten, die zeitgleich stattfand. Dieses parallellaufende Angebot wird weiter ausgebaut.

Der Trauerprozess benötigt Zeit und Raum und sein Ausdruck in allen Aspekten findet in unserem Alltag meist wenig Anerkennung und Akzeptanz. Eine neue Trauerkultur zu finden, sprich neue Verhaltensformen, Rituale im Umgang mit unseren Verlusten, ist eine Herausforderung für unsere Gesellschaft.