Schlüsselwörter

1 Einleitung

In einer im Jahr 2005 veröffentlichten Studie zum Wohlbefinden der Jugendlichen in Luxemburg (Wagener et al. 2005, S. 26) haben 11- bis 12-jährige Jugendliche positive Aspekte des Wohlbefindens folgendermaßen ausgedrückt: „ein Zuhause haben, eine Familie haben, sich geborgen fühlen“, „zuhause in meinem Zimmer fühle ich mich sehr wohl“; negative Aspekte hingegen sind: „allein sein, traurig sein, sich schämen“; „in einem anderen Haus, in der Gesellschaft bei anderen Menschen, die mich nicht mögen, fühle ich mich schlecht“.

Zum Wohlbefinden in der Familie gehören vor allem: mit den Eltern scherzen, diskutieren, sich an familiären Aufgaben und Entscheidungen beteiligen (ebd., S. 50). Im Kommentar betont die Studie die Wichtigkeit der Gewohnheiten und Verhaltensweisen, Lebensarten, Lebensgewohnheiten innerhalb der Familie, die die Kinder prägen. Das „Vertrauen, die Kommunikation, die Beziehungen“ innerhalb der Familie „beeinflussen maßgeblich das psychosoziale Gleichgewicht und die Beziehungsfähigkeit“ der Jugendlichen. „Die Familie spielt eine wesentliche Rolle in der Persönlichkeitsentfaltung jedes Jugendlichen. Defizite an dieser Stelle gehören oft zu den Hauptursachen für Beeinträchtigungen des Wohlbefindens zu einem späteren Zeitpunkt.“ (ebd., S. 75).

Die gleiche Studie beschreibt Gesundheit als „wichtigen Faktor für die individuelle, soziale und wirtschaftliche Entwicklung eines Menschen. (…) Anerkennung, Ablehnung, Selbstwertgefühl, Stress, Einsamkeit, Ausgrenzung, Gewalt, Solidarität, Armut, Lebensperspektive (…) bestimmen das Wohlbefinden oder das Missempfinden eines Menschen“ (ebd., S. 15).

Ein 2010 veröffentlichter Bericht über die seelische Gesundheit der Jugendlichen in Luxemburg (Louazel et al. 2010) definiert im Einklang mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die seelische Gesundheit als eine individuelle und eine kollektive Ressource, sie entspricht einem Zustand von Wohlbefinden, in dem die Person sich verwirklichen, normale Spannungen des Lebens überwinden, eine produktive und erfolgreiche Arbeit bewältigen und zum Leben in Gemeinschaft beitragen kann. Seelische Gesundheit ist viel mehr als das Fehlen von psychischer Krankheit (Zermatten 2005).

Der Beitrag zeigt auf, wie Kinder und Jugendliche mit belastenden Erfahrungen und Erlebnissen umgehen und inwiefern ein Leben im Kinderheim für diese Kinder und Jugendlichen eine Chance auf eine bessere Zukunft sein kann. Dabei richtet der Beitrag auch den Blick auf die professionelle Praxis in Heimstrukturen und diskutiert die zentralen Konzepte und Methoden, mit denen die Einrichtungen ihren gesetzlichen Auftrag umsetzen. Die Grundlage der Darstellungen, Analysen und Interpretationen in diesem Beitrag bilden die Praxiserfahrungen im Institut AITIA.

Im ersten Kapitel geht es um die geschichtliche Entwicklung der Einrichtung, von den Anfängen bis hin zu den Konzepten der Traumapädagogik und deren Implementierung in einer partizipativen Vorgehensweise. Das zweite Kapitel erläutert die Neuerungen des Gesetzes vom 01.08.2019 und deren Folgen für die Einrichtung. Im dritten Kapitel stehen die Menschen, Arbeitsprozesse und Strukturen im Dienst des Wohlbefindens von Kindern und Jugendlichen im Mittelpunkt. Das vierte Kapitel zeigt die Arbeitsprozesse im Institut AITIA anhand einiger konkreter Beispiele. Abschließend skizziert das fünfte Kapitel die möglichen Folgen einer zunehmenden Ökonomisierung auf die Soziale Arbeit.

2 Historischer Rückblick

Fremdunterbringung beruhte im 19. und weit bis ins 20. Jahrhundert hinein auf einem bestimmten gesellschaftlichen Problemverständnis, wonach dem Kindeswohl am besten begegnet werden konnte durch Herausnahme des Kindes aus einem schlechten Milieu und seine Verpflanzung in ein gesundes Milieu. Das Kind wird nicht gefragt, es hat keine Meinung (zu haben), es hat sich anzupassen und dankbar zu sein. Fragen nach Sicherheit, Geborgenheit und Wohlbefinden waren kein Thema.

Erst die große Reformbewegung der 1970er Jahre ermöglichte die Entwicklung anderer Vorstellungen des Umgangs mit verwahrlosten und gefährdeten Kindern. Sie entsprachen eher dem „Staffellaufmodells“, wonach die Einrichtung die gefährdeten Kinder zu einem bestimmten Moment von der Familie übernimmt, zeitlich begrenzt und mit dem Ziel, es wieder zurück in die Obhut der Familie geben zu können. Die Aufnahme eines Kindes schreibt sich hier ein in die Lebens- und Familiengeschichte des Kindes, die Aufnahme ist nicht zeitlos. Das Kind ist nicht genötigt, sich anzupassen, es geht darum, dass es sich entfalten kann. Die Beziehungen des Kindes rücken in den Mittelpunkt und damit auch das subjektive Erleben des Kindes und sein Wohlbefinden (Schmit 2010).

Das „Institut étatique d’aide à l’enfance et à la jeunesse – AITIA“ hat diese Entwicklung seit der Gründung der Einrichtung im Jahre 1884 selbst durchlaufen (Staatlech Kannerheemer 1994; Schmit 2009). Vor diesem Hintergrund soll hier nur ein kurzer Blick auf die Entwicklung der letzten 10 Jahre geworfen werden, als versucht wurde, ein Leitbild und handlungsfähige Konzepte der „Staatlichen Kinderheime“ zu erstellen.

Dies erwies sich als schwieriges Unterfangen, da das damalige Rahmengesetz von 2004 keine klaren Rahmenbedingungen vorgab und das ASFT-Gesetz von 1998 eigentlich nur rein formale Kriterien zum Erlangen eines Agréments enthieltFootnote 1.

Ebenso schwierig gestaltete sich eine Bestandsaufnahme der Stärken und Schwächen der Einrichtung in den Jahren 2002 bis 2005. Der Versuch der Formalisierung eines Institutionskonzeptes fand seine Grenzen in der Tatsache, dass Erzieher, Sozialpädagogen und Sozialarbeiter ihren Beruf als einen Beruf der Aktion, des Handelns mit den Kindern verstanden und keine eigene Sprache zum Reflektieren ihrer Arbeit hatten. Jede Art der Formalisierung hatte demnach den Charakter des Fremden.

Gleichzeitig und vielleicht genau aus diesem Grund zeigte sich jedoch, dass die Arbeitsbedingungen in der Einrichtung sich veränderten und dass die Problematik der Kinder und Jugendlichen die Professionellen vor immer größere Herausforderungen stellten.

Die Betreuung dieser Kinder und Jugendlichen verlangt eine Unterstützung der interdisziplinären Teams, institutionelle Rahmenbedingungen und Ermutigungen, um berufliche Spannungen und Segmentierungen zu überwinden. Es braucht interaktive Zusammenarbeit zwischen den erzieherischen, therapeutischen und schulischen Bereichen, dies in einer Perspektive von Pflege.

In Anlehnung an diese Stellungnahme und in Anbetracht eines generell entstandenen Gefühls der Überforderung, der steigenden Ohnmacht und Müdigkeit der Mitarbeiter hat das Institut AITIA im Jahr 2012 ein „Atelier de réflexion“ ins Leben gerufen, mit dem Ziel, alle Karten auf den Tisch zu legen. In einem Prozess des permanenten Dialoges der Leitung und der (gewählten) Vertreter des „Atelier de réflexion“ mit den Mitarbeitern des „Département Hébergement“ konnen auf diese Art und Weise alle Fragen, Sorgen, Ängste, Herausforderungen, Hoffnungen und Zukunftsperspektiven offen und gemeinsam besprochen und nach Lösungen gesucht werden.

Aus dieser gemeinsamen Arbeit ergab sich die Notwendigkeit der Suche nach einem gemeinsamen Referenzmodell und einer gemeinsamen Sprache für die institutionelle Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen sowie die Notwendigkeit einer Überarbeitung des bestehenden Gesetzes, das die Existenz und den Auftrag/das Mandat der staatlichen Einrichtung regelt. Gemeinsam wurde sich auf die Traumapädagogik als Referenzmodell für das „Département Hébergement“ verständigt.

Konkrete Schritte waren zunächst eine systematische Fortbildung vor Ort für alle betroffenen Mitarbeiter über 3–4 Jahre, eine Implementierung der traumapädagogischen Konzepte als permanenten Prozess, garantiert durch die Schaffung eines Fachdienstes, das Ausarbeiten eines spezifischen Rahmenkonzeptes durch die Leitung und zunehmende Partizipation der Kinder und Jugendlichen. Die traumapädagogische Arbeitsweise wird u. a. daran zu messen sein, wie sie ermöglicht, dass der „Fremdzwang“ zurückgenommen wird und das Kind „Mitgestalter“ des erzieherischen Alltags wird (Wolf 2008, S. 102).

3 Das Gesetz vom 01.08.2019

Am ersten August 2019 ist das neue Rahmengesetz „concernant l’institut étatique d’aide à l’enfance et à la jeunesse“Footnote 2 in Kraft getreten. Es stellt einen Meilenstein in der Geschichte dieser staatlichen Einrichtung dar, deren Gründung in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückführt.Footnote 3

Das neue Gesetz wurde notwendig, um die Struktur und die Organisation der Einrichtung „Staatliche Kinderheime“ an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Es ging darum, eine transversale Politik zu fördern und Konzepte zu entwickeln, welche die erzieherischen, sozialen, schulischen, psychologischen, therapeutischen, und medizinischen Dimensionen miteinander verbinden und eine ganzheitliche und personenzentrierte Betreuung der Jugendlichen ermöglichen können. Desweiteren wird hier ein Schritt in Richtung Entgrenzung („décloisonnement“) gegangen, welche im Bericht „Pour une stratégie nationale en faveur de la santé mentale des enfants et des jeunes au Luxembourg“ (Louazel et al. 2010) als ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer globalen, holistischen Betreuung dargestellt wird.

Ein wesentlicher Aspekt dieser Vorgehensweise besteht darin, dem Staat als Träger und Initiator der sozialen Arbeit die Möglichkeit zu geben, eigene Strukturen zu schaffen, neue Vorgehensweisen zu initiieren respektive modellhaft neue, innovative Wege zu gehen. Der Staat gibt sich so die Möglichkeit, aktiv in der Rolle eines Regulierers zu bleiben.

Im Gesetz ist die Umsetzung dieser Missionen (Aufträge, Mandate) durch die Aufteilung des Instituts in verschiedene „Départements“Footnote 4 vorgeschrieben. Es definiert klare Vorgaben im Sinn einer „Assurance-Qualité“ sowie durch das Verständnis des Mandates als eines dreifachen Mandates.

Assurance-qualité: Zurzeit gibt es (noch) keinen nationalen Referenzkader für den Bereich der „Aide à l’enfance“. Das Gesetz vom 1. August 2019 gibt Vorgaben für das staatliche Institut AITIA: So wird ein Rahmenkonzept („Projet institutionnel“) für die gesamte Einrichtung gefordert, eine Beschreibung der Zielsetzung und der Orientierung der Arbeit in den verschiedenen Bereichen, sowie Transversalität und Öffnung zum Arbeitsfeld der Santé mentale, Interdisziplinarität sowie eine Arbeitsweise, welche differenzierte, modulierbare und an die Betroffenen angepasste Strukturen und Prozesse vorsieht. Ein „Projet d’accompagnement personnalisé“ für alle betreuten Menschen garantiert und verlangt eine partizipative Arbeitsweise, die den Kindern und Jugendlichen sowie ihren Familien einen wesentlichen Platz in der Ausarbeitung und der Umsetzung aller Hilfemaßnahmen einräumt.

Das dreifache Mandat: Das im Gesetz eingeschriebene Mandat (mission) wird, in Anlehnung an Staub-Bernasconi (2007), als ein dreifaches Mandat verstanden. Die Einrichtung erhält ein erstes Mandat von den Kindern und Jugendlichen und ihren Familien, die eine Hilfe erbitten. Die Einrichtung bemüht sich, ihnen als einzigartigen Menschen zu begegnen und sie nicht als „Objekte“ der Pflege und Fürsorge zu sehen. Die Einrichtung kann dieses Mandat auch von den Justizbehörden erhalten, welche die institutionelle Betreuung eines Kindes anhand eines gerichtlichen Beschlusses entscheiden. Die Institution erhält ein zweites Mandat von der Gesellschaft. Der Staat hat die Pflicht, eine Sozialpolitik umzusetzen, die allen Bürgern, und insbesondere den Kindern, die in der staatlichen Einrichtung betreut werden, zugutekommt. Es ist Aufgabe des Staates, die nötigen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen zu schaffen, damit diese Institution ihren verschiedenen Aufträgen gerecht werden kann. Dies geschieht u. a. durch das oben genannte Gesetz. Ein drittes Mandat ergibt sich auf der Ebene der Fachleute selbst, aus deren fachlicher Verantwortlichkeit und deren Berufsethos. Dies bedeutet für die Mitarbeiter, die Arbeit auf der Grundlage ihrer beruflichen und deontologischen Regeln zu begreifen und die Arbeit nach institutionellen Richtlinien zu organisieren. Wichtig ist, die Arbeit nach Maßstäben sozialer Einbeziehung (inclusion sociale) zu verstehen und nicht so sehr nach Maßstäben sozialer Integration oder Anpassung (intégration ou adaptation sociale). Dies kann durch eine Vorgehensweise der Interdisziplinarität, des Zusammentragens von Sichtweisen und Praktiken, und nicht durch das Aufzwingen eines Wissens um das Beste für den Anderen, erreicht werden.

So gilt es auch, aufmerksam zu bleiben, damit nicht eine Fachrichtung zu dominant wird und den anderen Fachrichtungen keinen Platz mehr lässt. Echte Interdisziplinarität verlangt interaktive Zusammenarbeit sowie die Bereitschaft, die anderen Fachkräfte in das eigene Berufsfeld einzuladen.

4 Konzepte und Methoden des staatlichen Instituts AITIA zur Förderung des Wohlbefindens von Kindern und Jugendlichen: das Kind im Mittelpunkt, Interdisziplinarität und Traumpädagogik

Die pädagogische Arbeit des staatlichen Instituts AITIA gründet auf verschiedenen Konzepten und Methoden. Sie zielen auf eine Förderung des Wohlbefindens der in den Einrichtungen untergebrachten Kindern und Jugendlichen.

4.1 Das Kind im Mittelpunkt

Ein zentrales Prinzip der Arbeit ist die Orientierung an den Bedürfnissen des Kindes, das in eine Einrichtung aufgenommen wird. Das Kind braucht einen Platz zur Begleitung und Pflege durch Erwachsene, die ihm Kontinuität, Verlässlichkeit und Betreuung und Pflege „maßgeschneidert“ zusichern, wobei auch den Eltern und den Betreuern Rechnung zu tragen ist. Es braucht keinen Ort, an dem es „aufbewahrt“ wird, in Erwartung einer Lösung. Der psychischen Realität soll Rechnung getragen werden, das heißt die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen über Fakten und objektive Tatsachen hinaus aufmerksam sein für die Art und Weise, wie die betroffene Person, ob Junge oder Mädchen, Mann oder Frau, ein Geschehen erlebt hat. Es gilt, anzuerkennen, dass ein Mensch nicht reduzierbar ist auf ein Objekt des Bemühens anderer, der Erzieher zum Beispiel, sondern vielmehr Subjekt seines eigenen Wortes und Handelns ist. Es gilt, die Einzigartigkeit jedes Kindes und jedes Jugendlichen zu erkennen und anzuerkennen.

Ein Heim kann für Kinder und Jugendliche ein förderlicher oder ein verhindernder Ort des Aufwachsens sein, so wie es auch für die Fachkräfte gesundheitsfördernde oder krankmachende Arbeitsplätze bieten und für die Eltern eine bedeutsame Unterstützungseinrichtung oder eine „Einrichtung der Missachtung“ sein kann.

4.2 Interdisziplinarität

Interdisziplinarität impliziert das Zusammentragen von verschiedenen Sichtweisen, Aufgaben und Interventionen auf Basis gemeinsamer Reflexion und Erarbeitung, mit dem Ziel, eine einheitliche konzeptionelle Rahmenstruktur aufzubauen und gemeinsame Lösungsstrategien zu erarbeiten. Interdisziplinarität verlangt von allen Mitarbeitern, die eigene Arbeit mit den Sichtweisen und Praktiken der anderen Disziplinen zu einem gemeinsamen Arbeitsprozess zu verknüpfen und auf dieser Basis ein Arbeitsbündnis mit den Kindern und Familien auszuarbeiten. Das verlangt u. a., dass alle Mitarbeiter ihre eigene Praxis in eine Teamarbeit einschreiben und die Sichtweisen und die Arbeit aller Teammitglieder wertschätzen und unterstützen. Eine solche Herangehensweise ermöglicht es allen Beteiligten, sich der emotionalen Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen bewusst zu werden und somit deren symptomatische Äußerungen und die daraus entstehenden Widerstände zu erkennen, auszuhalten und adäquat darauf zu reagieren. Diese gemeinsame Haltung ermöglicht den Kindern und Jugendlichen, aus den ihnen bekannten, sich wiederholenden Verhaltensmustern auszusteigen und andere Seiten an sich zu entdecken.

Diese Art der institutionellen Arbeit erweist sich als ein komplexer Prozess, dessen Umsetzung im Alltag für alle Beteiligten anspruchsvoll ist und die Bereitschaft zu konflikthaften Auseinandersetzung voraussetzt. Die Mitarbeiter sind dafür verantwortlich, sich der Anforderung von Selbstreflexion zu stellen, der eigenen Person als Werkzeug gewahr zu werden, mit Widersprüchen und Ambivalenzen leben zu können und sich der Prinzipien der Übertragung und Gegenübertragung bewusst zu werden.

In der interdisziplinären institutionellen Arbeit ist es von großer Bedeutung, einen Raum der Vertraulichkeit zu schaffen, der es ermöglicht, dass ein Kind, ein Jugendlicher sich einer Vertrauensperson öffnen kann, mit der Gewissheit, dass nicht alle Teammitglieder über alles genauestens informiert sind.

4.3 Traumapädagogik

Im Jahr 2012 wurde beschlossen, das Rahmenkonzept des „Département Hébergement“ nach den traumapädagogischen Standards der BAG Traumapädagogik auszurichten (BAG Traumapädagogik 2011; Lang et al. 2013). Traumapädagogik bildet damit ein wichtiges Konzept der pädagogischen Arbeit in den Einrichtungen. Sie ist heute eine eigenständige Fachdisziplin geworden, die Kindern hilft, gemeinsam mit Betreuern Antworten zu suchen auf die Frage, wie sie zu welcher Zeit selbstbemächtigt ihren eigenen Lebensweg finden können. Des Weiteren hilft Traumapädagogik der Institution, Konzepte zu entwickeln, welche in Haltungen, Arbeitsprozesse und institutionelle Strukturen implementiert werden, so dass sie eine reale Hilfe sowohl zum Verstehen von Kindern und Jugendlichen mit lebensgeschichtlich belasteten Erfahrungen als auch zum pädagogischen Handeln bieten. Traumapädagogische Konzepte beziehen sich also auf alle Ebenen einer Institution.

Eine solche Vorgehensweise ist kohärent mit dem oben angeführten Modell des Staffellaufes. Sie beruht nicht auf einem vermeintlichen Wissen über andere Menschen, sondern geschieht in und durch ein wohlwollendes Zusammenfügen des Wissens von mehreren Professionalitäten, also auch dem eigenen Wissen der Kinder und Jugendlichen.

Eine traumapädagogische Vorgehensweise begnügt sich in keiner Hinsicht damit, „Rezepte“ zu liefern. Sie soll vielmehr zu einem gemeinsamen, interdisziplinären Denken und Handeln anregen. Einige Hauptbegriffe der Traumapädagogik seien hier kurz erläutert (Maisons d’Enfants de l’État 2015).

Der Lebensort „Heim“ als sicherer Ort

Die Kinder und Jugendlichen benötigen einen Ort, einen Lebensraum, der ihnen Sicherheit und Geborgenheit gibt, damit sie lernen, ihren alten, schmerzvollen Erfahrungen neue, korrigierende Beziehungserfahrungen entgegenzusetzen und so neue Beziehungsmuster zu entwickeln. Ein sicherer Ort zeichnet sich aus durch innere Sicherheit, ermöglicht und gerahmt durch äußere Sicherheit. Dazu braucht es eine adäquate räumliche Gestaltung, aber auch Fachkräfte, die sich den Kindern und Jugendlichen stellen, die zuverlässig da sind für die Kinder und Jugendlichen. Dann braucht es die Unterstützung durch haltgebende und sichernde Strukturen sowie die Unterstützung durch klare Arbeitsprozesse und fachliche Begleitung. Es gilt, den Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, bei sich selbst Sicherheit zu finden, sich selbst einen sicheren inneren Ort zu schaffen. Die Kinder und Jugendlichen lernen, wieder an sich selbst zu glauben und sich selbst zu vertrauen, sich selbst zur Ruhe zu bringen und ihre eigenen Emotionen zu regulieren.

Der sichere Ort ist ein Ort der Berechenbarkeit, der Transparenz, der Vorhersehbarkeit und der Selbstbemächtigung. Er ist eine Voraussetzung dafür, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen ihre Schutzmechanismen und Symptome aufgeben und sich neuen Beziehungserfahrungen öffnen können.

Die Grundhaltung

Die Traumapädagogik gründet auf einer wertschätzenden und verstehenden Grundhaltung. Dies gilt für die Arbeit aller Fachkräfte mit den Kindern und Jugendlichen sowie deren Familien und auch unter Professionellen auf allen Ebenen der Einrichtung. Ein fundiertes Wissen über Traumafolgestörungen ermöglicht ein (neues) Verständnis für das Verhalten der Kinder und Jugendlichen im Alltag, wie zum Beispiel die verminderte Belastbarkeit als Auswirkung von traumatischen Erlebnissen.

Eine solche Grundhaltung aller Teammitglieder ist auf Dauer nur möglich durch einen permanenten Prozess der Pflege und Unterstützung der Beteiligten.

Die Annahme des guten Grundes. „Alles, was ein Mensch zeigt, ergibt einen Sinn in seiner Geschichte!“

Viele der Verhaltensweisen, mit denen Jungen und Mädchen auf Traumatisierungen reagieren, sind für die Erzieher und die anderen Kinder und Jugendlichen der Gruppe belastend. Dabei geht die notwendige Wertschätzung und Würdigung der Verhaltensweisen der Kinder und Jugendlichen als Überlebensstrategien häufig verloren. Würdigung und Wertschätzung dieser notwendig gewordenen Verhaltensweisen sind aber ein entscheidender erster Schritt, den Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen, ihr belastendes Verhalten im Kontext seiner Notwendigkeit zu reflektieren und möglicherweise alternative Verhaltensweisen zu entwickeln. Ihr Verhalten als eine normale Reaktion auf eine außergewöhnliche Situation zu verstehen, entlastet die Kinder und Jugendlichen von Scham und Schuld. Wenn die Betreuer den eigenen „guten Grund“ und den Sinn des eigenen Handelns kennen, so steigert dies ihre innere Sicherheit in ihren pädagogischen Handlungen. Und wenn die Kinder und Jugendlichen um die „guten Gründe“ ihrer Erzieher wissen, steigert das ihr Vertrauen in diese Menschen und somit das Vertrauen in den „sicheren Ort“ (Maisons d’Enfants de l’Etat 2016, S. 18–38).

Wertschätzung. „Es ist gut so, wie du bist!“

Das intensive und wiederholte Erleben von Hilflosigkeit, Ohnmacht und Willkür kann bei Kindern und Jugendliche dazu führen, dass sie kaum noch Sinn und Wert in sich und ihrem Handeln sehen. Sie übertragen Gefühle, Gedanken und Beziehungsinhalte der traumatisierenden Situationen immer wieder auf aktuelle. Sie müssen die Möglichkeit haben, sich und das, was sie tun, mehr und mehr wieder als wertvoll zu erleben. Dort anzusetzen, wo Stärken vorhanden sind, was gerne gemacht wird, ermöglicht es, sich selbst mit seinen Fähigkeiten zu erleben und sich selbst schätzen zu lernen. Die Traumapädagogik gestaltet einen sicheren Rahmen, in dem den Kindern und Jugendlichen der Aufbau eines positiven Selbstbildes ermöglicht wird, um ihr Selbstwertgefühl und ihr Selbstbewusstsein wachsen zu lassen. Neben dieser erforderlichen Korrektur nicht funktionaler Einstellungen und Überzeugungen besteht die Notwendigkeit, das Geschehen in die eigene Lebensgeschichte einzuordnen und traumatische Erinnerungsebenen selbst zu regulieren.

Partizipation. „Ich trau dir was zu und überfordere dich nicht.“

Die Teilhabe an der Gestaltung der eigenen Lebensbedingungen zählt zu den wichtigen Einflussfaktoren, die zu seelischer Gesundheit führen. Kinder und Jugendliche bilden eine positive Motivation vor allem dann aus, wenn sie Erfahrungen auf folgenden drei Ebenen machen: 1) Erleben von Autonomie – ich kann etwas entscheiden, 2) Erleben von Kompetenz – ich kann etwas bewirken und 3) Erleben von Zugehörigkeit – ich gehöre dazu und werde wertgeschätzt.

In ihrem alten Lebensumfeld von Gewalt, Vernachlässigung und/oder Missbrauch haben traumatisierte Kinder und Jugendliche eine extreme, existentielle Form des Kontrollverlustes erfahren. Sie leben in der Erwartung, keinen Einfluss auf sich oder ihr Umfeld zu haben. Ihre Selbstwirksamkeitserwartung ist stark herabgesetzt, teilweise kaum vorhanden. Gerade für diese Mädchen und Jungen ist es unerlässlich, Strukturen und Ansätze zu schaffen, die, dem jeweiligen Entwicklungsstand entsprechend, die höchstmögliche Teilhabe gewährleisten.

Transparenz.,,Jeder hat jederzeit ein Recht auf Klarheit!“

Kinder und Jugendliche mit belastenden biographischen Erfahrungen haben in der Regel Macht und Hierarchie als etwas Missbräuchliches erlebt. Sie haben einen willkürlichen Umgang mit sichernden Strukturen erfahren. Es ist daher von großer Bedeutung, dass diese Kinder und Jugendlichen einen transparenten, verantwortungsvollen Umgang mit Hierarchien, Strukturen und Machtverhältnissen erleben. Der sichere Ort muss ein Ort der Berechenbarkeit sein und setzt somit ein Gegengewicht zur bisherigen Unberechenbarkeit des Lebensumfeldes. Kinder benötigen Erklärungsansätze, die ihr Verhalten positiv und begründend deuten. Kinder können hierdurch eine verstehende Haltung für die vielfach auch von ihnen selbst als negativ empfundene Verhaltensweise entwickeln.

Spaß und Freude. „Viel Freude trägt viel Belastung!“

Psychische Traumata gehen mit extremen Gefühlen der Angst, Ohnmacht, Scham, Trauer, Wut und Ekel einher. Die Belastungswaage der Emotionen zeigt ein erhebliches Ungleichgewicht. Es gilt daher, die Freudenseite zu beleben und ihr einen besonderen Schwerpunkt zu geben, um die Belastung und Widerstandsfähigkeit (Resilienz) ins Gleichgewicht zu bringen. Dieser die Gesundheit als Prozess verstehende Ansatz bringt Kopf und Körper in positives Erleben, das Konstruktivität, Lernen und Entwicklung nachhaltig unterstützt. Weiter unterstützen Spaß und Lachen die Serotoninausschüttung und setzen so ein Gegengewicht zur erhöhten Adrenalinausschüttung durch ein erhöhtes Stresslevel, das traumatisierte Kinder und Jugendliche erfahren. Kinder, die aus traumatisierenden familiären Bezügen kommen, sind in der Regel „Überlebenskünstler“. Sie haben es geschafft, unter massiv vernachlässigenden Bedingungen eine oft beeindruckende Entwicklungsleistung zu vollbringen. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, die vorhandenen Ressourcen zu stärken und neue Ressourcen zu entdecken.

5 Konkrete Gestaltung auf den Weg gebracht

Im folgenden sollen einige zentrale Aktivitäten und Schritte des AITIA vorgestellt werden, mit denen die Einrichtung eine konzeptionelle und zielorientierte Neuausrichtung zum Wohle der Kinder umgesetzt hat.

5.1 Der Kinder- und Jugendrat als Instrument der Partizipation

Der Kinder- und Jugendrat (KJR) ist im Jahr 2015 aus dem Prozess der Implementierung der Traumapädagogik entstanden. Seit Jahren hat sich die Institution darum bemüht, die Partizipation der Kinder und Jugendlichen an den sie direkt betreffenden Entscheidungen, an der Gestaltung des Alltagslebens im Heim sowie an der Erarbeitung ihrer Hilfepläne zu beteiligen (Autorenband 2000; ADCA 2007). Verschiedene Initiativen, wie Kinderversammlungen in den Lebensgruppen, die Herausgabe eines Kinder-Info-Blattes sowie das Einbinden der Kinder und Jugendlichen in das Erarbeiten ihrer Hilfepläne, ermöglichten eine begrenzte Partizipation. Es gab jedoch keine allgemein anerkannte Kultur der Partizipation.

Nach einer Vorbereitungszeit wurde der KJR eingesetzt. Er wird von einem kleinen Team von Professionellen begleitet, welche nicht direkt im Alltag mit den Kindern und Jugendlichen in den Gruppen arbeiten. Ihre (neutrale) Aufgabe besteht darin, einen geregelten Ablauf der Sitzungen und eine respektvolle Kommunikation zu ermöglichen, Hilfe zu leisten bei der Vorbereitung der Sitzungen, bei der Aufstellung der Tagesordnung sowie bei der Berichterstattung. Diese Aufgabe war besonders in den ersten Jahren von großer Bedeutung.

Die Mitglieder des KJR vertreten die verschiedenen Wohngruppen und werden jeweils von diesen gewählt. Präsident und Sekretär werden im KJR in einer geheimen Wahl bestimmt. Die Vertreter der Heimgruppen vermitteln und garantieren den Dialog mit den Kindern und Jugendlichen in den Gruppen. Die Mitglieder des KJR werden für ihre Arbeit entlohnt.

Die Schaffung des KJR hat sich über ein gutes Jahr hingezogen. Es galt, Befürchtungen, Ängste, Zweifel (vor allem bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern) zu verstehen, eine eigene Arbeitsweise zu (er)finden und durch eine regelmäßige Evaluation die Arbeitsweise anzupassen. Heute hat sich der KJR einen festen Platz in der Institution erarbeitet.

Die Sitzungen werden mit großer Ernsthaftigkeit vorbereitet und durchgeführt. Das Arbeitsklima ist sehr positiv und respektvoll. Die Kinderversammlungen in den Wohngruppen sind auf Anfrage der Mitglieder des KJR neu geplant und strukturiert worden. Es gibt regelmäßig Treffen mit der Einrichtungsleitung. Mehrere Belange der Kinder und Jugendlichen sind von der Leitung angenommen und umgesetzt worden. So zum Beispiel der Zugang zu Internet über WiFi in allen Wohngruppen oder Zimmerschlüssel gratis für alle Kinder und Jugendlichen, was zu einer Besserung des Wohlfühlklimas der Kinder und Jugendlichen beigetragen hat. Andere Anfragen sind noch in Bearbeitung (was für die Kinder und Jugendlichen nicht immer nachvollziehbar ist), wie zum Beispiel eine größere Mitverantwortung und erweiterte Möglichkeiten beim Kleiderkauf. Es wurden viele Themen behandelt, wie u. a. das Thema der Traumapädagogik (was bedeutet Traumapädagogik für die Kinder und Jugendlichen, was bringt sie ihnen, wie können sie damit umgehen) oder die Beteiligung an der Planung und Gestaltung einer neuen Wohngruppe. Es wurden Umfragen in den Wohngruppen unternommen, um die Meinung der Kinder und Jugendlichen zu erfragen zu Themen wie der „sichere Ort“, Umgang mit Handy, Feste und Rituale, Begrüßungsmappe für neu ankommende Kinder und Jugendliche.

Die Schaffung des KJR hat in der Institution eine Dynamik ausgelöst und neue Akzente gesetzt, die heute zu festen Bestandteilen der Institution geworden sind.

So ist aus den Erfahrungen des KJR die Notwendigkeit erkannt worden, ein „Beschwerdemanagement“Footnote 5 zu schaffen, das heißt eine Anlaufstelle für Beschwerden und Anregungen sowie transparente Beschwerdebearbeitungswege, und das sowohl für die Kinder und Jugendlichen als auch für die Mitarbeiter. Es gilt, diesen Umgang mit Beschwerden in Einklang mit den Standards der Traumapädagogik zu bringen und die nötigen Voraussetzungen zu schaffen: wertschätzende und verstehende Haltung, positive Beschwerdekultur, Erlernen, dass Kinder, Jugendliche und Mitarbeiter sich beschweren dürfen, und dass dies ernstgenommen wird. Diese Vorgehensweise kann Erfahrungen von Selbstwirksamkeit herbeiführen.

Auf der Ebene der Mitarbeiter wurde eine Personalvertretung geschaffen, die als Hauptaufgaben hat: Beratung über Veränderungen, Vorschriften, Maßnahmen im Betrieb (Dienstzeiten, Arbeitsaufteilungen, Beförderungen, Arbeitsbedingungen), Förderung der Fortbildung der Mitarbeiter, Erarbeiten von Vorschlägen zur Verbesserung der Organisation und Unterstützung von Opfern jeglicher Diskrimination am Arbeitsplatz. Die Personalvertretung wird eingebunden, wenn im Fall interpersoneller Probleme oder auch struktureller Probleme keine Lösung, über Dialog auf den verschiedensten Ebenen, möglich ist sowie im Fall von arbeitsrechtlichen Fragen.

Für die Kinder und Jugendlichen galt es, einen konkreten Beschwerdeweg mit der nötigen Dokumentation auszuarbeiten. Kinder und Jugendliche erhalten die Möglichkeit, über Brief, E-Mail, Beschwerdekasten, Telefon oder persönliche Gespräche Beschwerden einzureichen. Jede Beschwerde wird dokumentiert und muss innerhalb einer Woche eine Antwort erhalten. Erster Ansprechpartner ist ein Erzieher, zweiter Ansprechpartner der Gruppensprecher im KJR usw. Es gibt zwei Vertrauenserzieher, die von den Kindern und Jugendlichen in diese Funktion gewählt werden. Eine Beschwerde kann innerhalb der Institution behandelt werden oder aber nach außen zum ORK (Ombuds-Komitee für die Rechte des Kindes) oder zum „Kanner- a Jugendtelefon“ weitergereicht werden.

Eine große Herausforderung ist die Veränderung der Beschwerdekultur in der Institution (weg von Klagen hinter vorgehaltener Hand hin zu einer offenen Beschwerdekultur im Sinn einer Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen). Es geht um Prävention gegen Missbrauch der Autorität in der Institution, also auch um Selbstschutz und Selbstfürsorge.

5.2 Traumafachberatung

Die Traumafachberatung ist in die institutionelle Struktur der AITIA fest eingeschrieben worden mit der Aufgabe, Fortbildung, evaluative Gespräche in den Gruppen, traumasensible Fallberatungen, Netzwerkarbeit, usw. zu garantieren.

Institutionelle Arbeit im Sinn der Traumapädagogik verlangt, dass alle Fachkräfte eine entsprechende Ausbildung erhalten und die Bereitschaft mitbringen zu einer wertschätzenden und verstehenden Haltung als Fundament ihrer Arbeit sowie zu einer interdisziplinären Zusammenarbeit und zur regelmäßigen Reflexion und Evaluierung. Des Weiteren ist eine strukturierte Implementierung der Traumapädagogik in die Arbeitsprozesse und in die institutionellen Strukturen sowie eine Anpassung der Rahmenbedingungen als permanenter Prozess notwendig.

Da Veränderungsprozesse in einer Institution viel Zeit brauchen, ist ein „Comité de pilotage“ mit einem externen Fachberater geschaffen worden, das die Aufgabe erhalten hat, die Arbeit fachlich zu begleiten und zu beraten und damit die Implementierung auf eine breitere Basis zu stellen.

5.3 Geschwistergruppen

Das staatliche Institut AITIA bietet seit 2015 die Möglichkeit, Geschwister gemeinsam unterzubringen. Geschwisterbeziehungen sind von großer Bedeutung im Erleben, im Fühlen, in der Darstellung nach außen, und vor allem für das emotionale Gleichgewicht und die Identitätsentwicklung. Geschwisterbeziehungen stehen in der Regel für Kontinuität und Vertrautheit, sie bieten einander eine wichtige „Wir-Ebene“, dies unabhängig von der Qualität der Beziehung.

„Zusammen sind wir stark“, das gilt besonders, wenn die Elternfunktionen ausfallen, wenn Kinder von ihren Eltern getrennt leben müssen. Die Trennung von Geschwistern im Fall einer Fremdunterbringung bedeutet in den meisten Fällen einen zusätzlichen Schmerz durch das Entziehen der letzten noch Kontinuität sichernden Beziehung. Natürlich gilt es, im Vorfeld einer Platzierungsentscheidung von Geschwistern ein genaues Abwägen der Vor- und Nachteile einer gemeinsamen oder getrennten Einweisung in ein Kinderheim vorzunehmen. Auf keinen Fall aber sollten Geschwister aus rein administrativen oder finanziellen Gründen getrennt werden.

Grundsätzlich ist es wünschenswert, Geschwister gemeinsam unterzubringen. Stellt sich mit der Zeit heraus, dass das gemeinsame Leben in einer Heimgruppe erhebliche Nachteile mit sich bringt, kann es sinnvoll sein, an eine Trennung zu denken, wobei die Nachteile einer Trennung so weit wie möglich zu mildern sind. Es stellt sich manchmal mit der Zeit heraus, dass Geschwister, wenn sie älter werden, das Bedürfnis ausdrücken, mehr Distanz zueinander zu haben. Dann ergeben sich neue Formen von Geschwisterpädagogik, auf Basis eines gesamten Konzeptes und im Einklang mit den traumapädagogischen Standards.

Die Arbeit in Geschwistergruppen stellt eine besondere Herausforderung für die Fachkräfte dar, erweist sich aber für die betroffenen Kinder und Jugendlichen als besonders förderlich für die Identitätsfindung und das seelische Gleichgewicht.

5.4 Integration geflüchteter minderjähriger Jugendliche

Geflüchtete minderjährige Jugendliche werden in begrenzter Zahl in multikulturelle Gruppen des Instituts AITIA integriert. Alle geflüchteten Kinder und Jugendlichen haben in ihrer Heimat, auf der Flucht, im Exil traumatische Ereignisse erlebt und erfahren auch in Luxemburg angstbesetzte Situationen und Bedrohungen, etwa durch eine mögliche erzwungene Rückkehr.

Diese jungen Menschen brauchen dringend und zuallererst Sicherheit im Alltag (einen „sicheren Ort“), Sicherheit, was einen befristeten oder unbefristeten Aufenthalt anbelangt, Gewissheit, was ihre Familienangehörigen anbelangt. Sie brauchen Klarheit und Begleitung im Hinblick auf schulische und soziale Inklusion. Traumapädagogisch ausgerichtete Arbeit mit diesen Jugendlichen, wie sie im Institut AITIA angeboten wird, basiert auf einer Grundhaltung, die erkennt und zulässt, dass die Verhaltensweisen dieser Jugendlichen normale Reaktionen auf extreme Stressbelastungen sind, dass sie für ihre Reaktionen und Verhaltensweisen „einen guten Grund“ haben, dass sie in ihrem Leben sehr viel überstanden und geleistet haben. Sie brauchen Unterstützung bei der Akzeptanz ihrer Verletzungen und Schwierigkeiten, sie brauchen Unterstützung und Hilfe, aber sie sind als Experten für ihr Bestehen in schwierigen Lebenslagen ernstzunehmen. Sie benötigen vonseiten der Fachkräfte Geduld, Gelassenheit, die Sicherheit von Zugehörigkeit, Rückzugsmöglichkeiten, möglichst stabile und verlässliche Beziehungen.

Die anderen Kinder und Jugendlichen benötigen im gleichen Maße Unterstützung der Fachkräfte, damit ein Zusammenleben mit geflüchteten Jugendlichen für alle lebenswert bleibt. Und die Fachkräfte sind hier in besonderem Maße auf Unterstützung der Traumafachberatung angewiesen.

5.5 Jugendliche, die großjährig werden

Das Institut AITIA hat Wohnstrukturen geschaffen, in denen junge Menschen auch über ihr 18. Lebensjahr hinaus bleiben können und Zeit zum Experimentieren haben. Dieses Angebot geht auf einen steigenden Bedarf an Begleitung und Unterstützung für Jugendliche im Übergang von der Heimversorgung zur Eigenverantwortung zurück, da diese Übergänge oft mit besonderen Unsicherheiten und Belastungen verbunden sind. Messmer (2013) hat in einer Studie die Vermutung formuliert, „dass in den Beziehungsstrukturen die Grundlagen für Selbstachtung und Selbstwirksamkeit angelegt sind, ohne die der Übergang in ein zufriedenstellendes und eigenständiges Erwachsenenleben kaum vorstellbar ist“ (Messmer 2013, S. 437). „Bei den Faktoren, die Selbstachtung fördern, handelt es sich im Kern um die Aneignung derjenigen Kompetenzen, die notwendig sind, um authentisch mit sozial relevanten Umwelten in Beziehung zu treten und daraus Nutzen für sich selbst und seine Entwicklung zu ziehen“ (Messmer 2013, S. 437). Kerviel (2015) bestätigt eine alltägliche Feststellung in der Praxis, dass junge Menschen, die ein Heim mit Erreichen des 18. Lebensjahres verlassen, sei es aus eigener Entscheidung oder gezwungenerweise, in der Regel nicht vorbereitet sind auf ein Leben in Eigenverantwortung. Sie benötigen Übergänge, Zeiten zum Experimentieren, zum Neubeginn im Fall eines Scheiterns, sie benötigen aber auch Unterstützung, materielle Ressourcen und Sozialkapital (Peters & Jaeger 2016). Nach Kerviel (2015) bedeutet Sozialkapital alle aktuellen und möglichen Ressourcen einer Person in Zusammenhang mit einem dauerhaften Netz von mehr oder weniger stabilen und wechselseitigen Beziehungen und der Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Menschen, die nicht nur gemeinsame Eigenschaften haben, sondern auch beständige und nützliche Bindungen untereinander leben.

Das Institut AITIA stellt zum Beispiel jungen Menschen, die im Ausland studieren möchten und keinen Rückhalt in ihrer Familie haben, ein Zimmer zur Verfügung, wo sie in den Ferienzeiten bleiben können. Der Erfolg des Experimentierens hängt einerseits von den Rahmenbedingungen ab, die das Institut den Jugendlichen anbietet, und andererseits von den pädagogischen Konzepten und den Haltungen, die die Institution vertritt und die die Mitarbeiter im Alltag vertreten. Die Rahmenbedingungen sind abhängig von den politischen Entscheidungen und dem Stellenwert, den die politisch Verantwortlichen diesen pädagogischen Konzepten zugestehen.

6 Ausblick: Rahmenbedingungen Sozialer Arbeit jenseits ökonomischer Effizienz

Das Institut AITIA hat sich die Möglichkeit gegeben, über das Département „Centre de Ressources“ die Umsetzung der im Beitrag beschriebenen Handlungsweisen und Arbeitsprozesse zu begleiten, zu evaluieren und strukturell zu verankern. Dazu gehören gruppenübergreifende, spezifische Angebote an die Adresse der Kinder und Jugendlichen, aber auch Angebote an die Mitarbeiter (v. a. Fachberatung, pädagogische Begleitung, Fortbildung).

Die Institution stellt sich in den Dienst des Lebens der ihr anvertrauten Kinder und Jugendlichen. Dabei geht es notwendigerweise auch um die Gesundheit aller Mitarbeiter. Eine Institution ist nie gegen Auswüchse oder Missstände gewappnet, sie ist und bleibt in einem gewissen Sinn verwundbar. Das ist zugleich eine Chance: Eine Institution, die sich der eigenen Verwundbarkeit verschließt, entwickelt sich zu einem starren Gebilde, aus dem alles Leben entweicht, wo Kinder und Jugendliche nicht als Subjekte ihres eigenen Lebens gelten, sondern einzig und allein als Objekte der institutionellen Maßnahmen zählen, und das keine Öffnung nach außen zulässt. Nach Renders (2011, S. 67–68) ist eine Institution, die „gut funktioniert“, eine Institution, in der gesprochen wird, in der entschieden wird und in der die Krankheiten ihrer Funktionsweise erkannt werden. In einer Institution arbeiten bedeutet, mit Gegensätzlichkeiten und Widerspruch zu leben.

Dies zu ermöglichen, damit eine Institution ihrem Auftrag gerecht werden kann, liegt in der Verantwortung der Politik. Wenn man Institutionen als menschliche Gebilde/Strukturen definiert, erkennt man an, dass sie verschieden sein müssen. Die Verschiedenheit muss möglich sein, im Rahmen eines gemeinsam getragenen Referenzkaders, sie muss sich ausdrücken in verschiedenen Modellen, Konzepten und Finanzierungsmodellen.

Anders als im Fall der staatlichen Strukturen hat das durch das Gesetz vom 16. Dezember 2008Footnote 6 neu geschaffene Finanzierungsmodell für die privaten Träger zu einer Konzentration von Strukturen geführt, wobei die Lebendigkeit der Verschiedenheiten zu verschwinden droht. Die neuen großen Träger laufen viel eher die Gefahr, mit diesem Finanzierungsmodus einer marktwirtschaftlichen Logik zu verfallen, die im Sozialen eigentlich fehl am Platz ist, aber dem neoliberalen Zeitgeist entspricht. Darüber hinaus wirkt diese Entwicklung sich schleichend auf den gesamten sozialen Sektor aus.

Da, wo „die Übertragung von Marktprinzipien auf das Soziale (…) nach Ansicht der Marktgläubigen für noch mehr Effizienz bei gleichzeitig noch besserer Qualität sorgen“ sollte, ist feststellbar geworden, dass der Charakter der „sozialen Dienstleistungen“ sich verändert hat (Schneider 2014, S. 106). Wenn alles „in Geldwert umgerechnet“ wird, wird letztendlich auch unsere Wertschätzung und werden unsere Bedürfnisse „nach Geldwert gefiltert und gelenkt“ (ebd., S. 108). „Die Quantifizierung von Qualität ist Voraussetzung und Konsequenz der Ökonomisierung der sozialen Arbeit zugleich“ (ebd., S. 110). Das wiederum führt dazu, dass „Leistungen völlig unabhängig von spezifischen Kontexten beschrieben werden“, wobei das Spezifische, das Einzigartige, das Besondere, das Lebendige einer institutionellen Arbeit verlorengeht. Gesundheit und Wohlbefinden sind komplexe Realitäten, die nicht auf „quasi-objektive Messergebnisse und Kennzahlen“ reduziert werden können (vgl. ebd., S. 114).

Soziale Arbeit ist und bleibt Beziehungsarbeit und folglich einzigartig, wobei die Fachlichkeit der Professionellen im Dienst der Menschen steht und nicht im Dienst von Effizienz oder Mehrwert.

Im Sozialsektor geht es um Humanisierung, um Menschlichkeit, wobei alle Mitarbeiter sich in ihrer Subjektivität den Herausforderungen stellen müssen und interdisziplinär zu arbeiten bereit sind.

Die Rahmenbedingungen müssen umfassende und gute Soziale Arbeit im oben beschriebenen Sinn ermöglichen, „die den Menschen als Ganzes in den Blick nimmt und eine vertrauensvolle Beziehung zu ihm aufbaut. Dazu brauchen die Fachkräfte Zeit, fachliche Freiräume und Vertrauen“ (Schneider 2014, S. 134–135).

Die heute schon weit verbreiteten sprachlichen Verschiebungen (der Mensch wird zum Klienten, die Soziale Arbeit zur Dienstleistung, die Institution zum Dienstleistungsanbieter und der Leiter zum Verwalter oder Manager) sind nicht so unbedeutend, wie sie oft dargestellt werden, sie zeigen den Einfluss der Ökonomisierung, sie haben die Ökonomisierung salonfähig gemacht. Gesundheit und Wohlbefinden sind mehr wert als Quantifizierung. Sie sind Herausforderung zu mehr Menschlichkeit.