1 Einleitung

Zahlreiche Gründe können vorliegen, wenn Kinder und Jugendliche ihr familiäres Umfeld verlassen müssen und vom Jugendgericht in Heimen, in Kinder- und Jugendpsychiatrien oder im Jugendgefängnis platziert werden. Insbesondere wenn eine angemessene psychische Entwicklung des Kindes auf Grund multipler innerfamiliärer Probleme nicht mehr gewährleistet ist, kann das Jugendgericht zum Schutz des Kindes die Platzierung von Säuglingen, Kleinkindern und Schulkindern in Pflegefamilien oder in Institutionen einleiten. Bei älteren Schulkindern und Jugendlichen erfolgt die richterliche Anordnung zur Fremdunterbringung und Trennung vom Elternhaus meist auf Grund ausgeprägter Verhaltensauffälligkeiten der Kinder und Jugendlichen, wie z. B. wiederholtes Schwänzen der Schule, vermehrte verbale oder körperliche Aggressionen, Selbstverletzung, Alkohol- und Drogenkonsum bis hin zu delinquentem Verhalten. Die Herkunftsfamilie sieht sich in diesen Fällen in ihren Erziehungskompetenzen häufig überfordert und steht den Verhaltensauffälligkeiten des Kindes bzw. des Jugendlichen oft hilflos gegenüber.

Den Kindern und Jugendlichen ist häufig gemein, dass sie zahlreiche belastende, zum Teil traumatisierende Situationen erlebt haben, ehe es zu einer Fremdunterbringung gekommen ist. Die manchmal unvorbereitete Herausnahme aus dem familiären Milieu wird von den Betroffenen oftmals als zusätzliche emotionale Belastung wahrgenommen. Kinder und Jugendliche sind selten in der Lage, eine Trennung von ihren primären Bezugspersonen als entwicklungsförderlich anzusehen. Die Sehnsucht nach einer Rückkehr ins familiäre Umfeld bleibt meistens über die gesamte Dauer der Fremdplatzierung bestehen. Selbst wenn die Beziehung der Kinder zu den Eltern in der Vergangenheit von Vernachlässigung und Gewalt geprägt war, beeinflusst der Wunsch nach stabilen familiären Beziehungen das psychische Wohlergehen der Kinder und Jugendlichen über Jahre hinweg.

Was benötigen diese Kinder und Jugendlichen, damit sie sich in den Institutionen, die zu ihrem neuen Lebensumfeld geworden sind, wohl fühlen und sich besser entwickeln können, als dies im familiären Umfeld der Fall war? Der folgende Beitrag wird sich mit dieser Fragestellung auseinandersetzen. Dabei werden in einem ersten Schritt theoretische Grundlagen und Befunde bezüglich des Bindungsverhaltens und Beziehungsaufbaus von Neugeborenen und Säuglingen erörtert und deren Bedeutung für eine psychisch gesunde Entwicklung aufgezeigt. Daraufhin folgt die Erläuterung frühkindlicher Traumatisierung sowie die Auswirkungen extremer Belastungssituationen auf die Entwicklung von Kindern. Dieser Teil wird durch eine kurze Beschreibung von resilientem Verhalten bei traumatisierten Kindern ergänzt. Der nachfolgende Abschnitt wird sich mit den Merkmalen und Herausforderungen der Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen in Institutionen auseinandersetzen und in einem letzten Schritt wird eine derzeit durchgeführte Studie vorgestellt, die zu der erwähnten Fragestellung über das Wohlbefinden fremdplatzierter Kinder und Jugendlicher in luxemburgischen Institutionen relevante Befunde vorlegen wird. In diesem Teil werden Ziele und Methodik der Studie erläutert und erste vorläufige Befunde vorgestellt.

2 Theoretischer Teil

2.1 Bindungstheoretische Grundlagen

Spätestens seit Anfang des 19. Jahrhunderts wird darauf hingewiesen, dass Kinder für ihre gesunde psychische Entwicklung präsente, zuverlässige und wertschätzende Beziehungspersonen benötigen. Bereits 1901 bemängelte der österreichische Kinderarzt Meinhard von Pfaundler die systematische und „widernatürliche“ Trennung der Neugeborenen von ihren Müttern. In seinem „Handbuch der Geburtshilfe“ (1915) brachte er die Entstehung und die Bedingungen des Hospitalismus bei Säuglingen und Kindern mit einer längeren Mutter-Kind-Trennung in Verbindung. Einige Jahre später verglich Eriksson (1925) Anstaltskinder, die aus wohlhabenden Elternhäusern stammten mit Kindern aus einem Armenviertel. Er stellte fest, dass die Kinder aus dem Armenviertel, die bei ihren Familien aufwuchsen, deutlich intelligentere und sozialere Verhaltensmuster aufwiesen als die Anstaltskinder. Bei den Anstaltskindern stand zu diesem Zeitpunkt die strenge Beachtung der Hygienebedingungen im Vordergrund des Wohlergehens, dem emotionalen Wohlbefinden wurde kaum Beachtung geschenkt. Einige Jahrzehnte später befasste sich der Psychoanalytiker René Spitz (1945) mit dem emotionalen Wohlbefinden des Säuglings und rückte dabei die Bedeutsamkeit der Mutter-Kind-Beziehung in den Vordergrund einer gesunden psychischen Entwicklung.

Die Säuglings- und Kleinkindforschung gewann zunehmend an Beachtung. Forscher wie Bowlby (1969) und Ainsworth (1985) haben beobachtet, dass das Neugeborene bereits kurz nach seiner Geburt in der Lage ist, mit seiner Bezugsperson in Beziehung zu treten. Der Säugling sendet mithilfe seiner angeborenen Fähigkeiten Signale an die Umwelt, die bei einer feinfühligen Person intuitiv eine schnelle und angemessene Reaktion auslösen. Durch diese sich ständig wiederholenden Interaktionen zwischen dem Säugling und seiner Bezugsperson baut sich nach und nach eine intensive und anhaltende Beziehung auf. In seinen Arbeiten betont Bowlby (1969, 1973, 1980), dass Säuglinge ab dem dritten Lebensmonat ein spezifisches Bindungsverhalten zu einer bestimmten Person zeigen, die fortan als primäre Bindungsperson bezeichnet werden kann. Das Bindungsverhalten manifestiert sich in der Interaktion zu einigen wenigen Bezugspersonen, wobei es sich im Kontakt mit der primären Bindungsperson am stärksten auszudrücken scheint. Die Forschungsarbeiten von Ainsworth (1985) haben Bowlbys Theorien um das Bindungsverhalten erweitert. Die Bindungsforscherin konnte in einer künstlich hergestellten Situation („strange situation test“) beobachten, dass ein sicher gebundenes Kind sich bei Stress von seiner primären Bindungsperson ohne weiteres trösten und beruhigen lässt, während dies einer dem Kind fremden Pflegeperson eher weniger gelingt. Laut Bowlby (1969, 1973, 1980) sind die primären Bezugspersonen wegen der ausgeprägten Individualität dieser Beziehung nicht ohne weiteres austauschbar. Je weiter der Prozess des Bindungsaufbaus zu der primären Person fortgeschritten ist, umso stärker scheint eine längere Trennung von dieser Person die weitere Entwicklung des Kindes zu beeinträchtigen.

Weitere Studien zum Bindungsverhalten weisen darauf hin, dass Säuglinge und Kleinkinder, die in der Interaktion mit ihren primären Bezugspersonen ein sicheres Bindungsmuster aufbauen, bessere soziale, emotionale, motivationale und kognitive Fähigkeiten entwickeln und ein höheres Selbstwertgefühl aufweisen als Kinder mit unsicheren Bindungsmustern (Bretherton 1985; Decarli 2019; George und Main 1979; Sroufe 1983; Zimmermann 2004). Des Weiteren wurde in zahlreichen Publikationen der Einfluss der Qualität, der aus den frühkindlichen Interaktionen resultierenden Bindung des Säuglings zu seiner primären Bezugsperson auf die Fähigkeit zur affektiven Selbstregulation beschrieben (Ainsworth 1985; Crittenden 1995; Dornes 1993; Papousek et al. 2004). Laut Schore (1994) übernimmt die primäre Bezugsperson die Rolle eines externen psychoneurologischen Regulators. Gerät das Kind in eine Stresssituation, reagiert eine aufmerksame und feinfühlige Bezugsperson unmittelbar auf den emotionalen Zustand ihres Kindes und hilft dem Kind mittels ihres eigenen, ruhigen Gefühlszustandes, sich zu beruhigen. Schore (1994) betont, dass das Kind durch diese sich wiederholenden Eltern-Kind-Interaktionen schon früh lernt, dass negative Gefühlszustände ausgehalten und bewältigt werden können. Von den internen Arbeitsmustern (neurologischen Verbindungen), die sich in Folge dieser Erfahrungen beim Kind bilden, wird das Kind bis ins Erwachsenenalter profitieren. In schwierigen Situationen wird es die erlernten Arbeitsmuster immer öfters aktivieren und sich auf seine Gefühle und Gedanken verlassen, um die in der Situation entstandenen negativen Gefühle eigenständig zu bewältigen. Solche Selbsterfahrungen verstärken beim Kind nach und nach das Gefühl von Kontrolle, Selbstwirksamkeit und eigener Kompetenz. Befindet sich das Kind in einer Situation, in der es ihm nicht gelingt, sich selbst zu regulieren, wird es weiterhin auf die positiven Beziehungserfahrungen zurückgreifen und sich Beruhigung und Unterstützung bei einer ihm vertrauten Person suchen (Schore 2003).

Grossmann und Grossmann (2011) kritisieren an der Bindungstheorie, dass sich Bowlbys Theorie hauptsächlich auf die Beziehung zwischen Mutter und Kind beschränkt. Rezentere Forschungsergebnisse betonen neben der Rolle der Mutter auch die Bedeutung des Vaters, der Großeltern oder die einer Tagesmutter für die Bindung und Entwicklung des Kindes (Chambers et al. 2000; Papoušek et al. 1987). Dornes (1997) sieht als weiteren Kritikpunkt, dass der Rolle des kindlichen Temperamentes in den Bindungstheorien wenig Beachtung geschenkt wird. Zudem betont er, dass der Bindungsstil eines Kindes nicht nur von der durchgehenden Anwesenheit seiner primären Bezugsperson abhängt, sondern vor allem von der Qualität dieser Beziehung. Roth und Strüber (2014) weisen ihrerseits daraufhin, dass unsere Persönlichkeit aus einem Zusammenwirken von genetisch-epigenetischen Einflüssen sowie vorgeburtliche und früh nachgeburtliche Ereignisse bestimmt wird. Sie sehen in der Qualität der Beziehung zwischen dem Säugling und seiner primären Bezugsperson einen wichtigen Einflussfaktor, der auf die genetisch angelegten sozialen Fähigkeiten des Kindes einwirken und diese ausdifferenzieren kann.

Trotz diverser Kritik besteht in der Bindungsforschung weiterhin Konsens, dass die frühen positiven Bindungserfahrungen eine wesentliche Grundlage für eine angemessene psychische Entwicklung bilden. Sie sollen dem Kind vor allem während der ersten Lebensjahre, aber auch später durch einfühlsame und beständige Bezugspersonen vermittelt werden (Crittenden 1995; Papousek et al. 2004).

2.2 Frühkindliche Traumatisierung und ihre Folgen

Kinder und Jugendliche, die unter Störungen in der Selbst-, Affekt- und Impulsregulation leiden, haben in ihrer frühen Kindheit die Fähigkeit zur Selbstregulation und das Sicherheitsgefühl, das ihnen in stabilen und feinfühligen Beziehungsangeboten vermittelt werden sollte, kaum oder nur unvollständig erworben (Egle et al. 2005; Papoušek et al. 2004). Die Ursachen hierfür sind multifaktoriell, wobei diese Kinder und Jugendliche oft frühen Traumatisierungen und dysfunktionalen Beziehungsmustern ausgesetzt waren. Die schwache Form der Selbstregulation kann sich in der Kindheit und in der Adoleszenz nicht nur durch mangelnde Impulskontrolle, sondern auch in destruktiven Handlungen gegenüber sich selbst und gegenüber anderen manifestieren (van der Kolk und Fisler 1994; Streeck-Fischer 2004). Hinzu kommen Aufmerksamkeitsstörungen, Hyperaktivität, aggressives Verhalten sowie zahlreiche andere Verhaltensauffälligkeiten. Ackermann und seine Mitarbeiter (1998) konnten bei einer Gruppe von Kindern, die sexualisierte und körperliche Gewalt erlebt hatten, als häufigste Diagnose Trennungsangst, gefolgt von gestörtem Sozialverhalten, Phobien, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), Depression, Zwangsstörungen und weitere Auffälligkeiten diagnostizieren. Zahlreiche weitere Studien bestätigen die Annahme, dass stressreiche und traumatische Erlebnisse in der Kindheit erhebliche Risikofaktoren für die Entstehung von psychischen und körperlichen Erkrankungen sind. Solche Auffälligkeiten können sich bis ins Erwachsenenalter manifestieren (Entringer et al. 2016; Entringer und Heim 2016; Heim und Binder 2012).

In einem Beitrag über männliche, aggressive Jugendliche hebt Streeck-Fischer (2004) hervor, dass sämtliche Jugendliche in einem schwierigen familiären Umfeld aufgewachsen sind und schweren Traumatisierungen ausgesetzt waren. Ein weiterer Befund dieser Studie zeigt auf, dass die weiblichen Jugendlichen, die unter ähnlichen problematischen Bedingungen aufgewachsen sind, wesentlich resistenter auf chronisch traumatischen Stress reagiert haben. Sie zeigten in der Kindheit ein eher angepasstes Verhalten und fielen gelegentlich durch schlechte Schulleistungen und Symptome wie Einnässen oder Stehlen auf. Streeck-Fischer (2004) erklärt das Verhalten dieser jungen Mädchen dadurch, dass die betroffenen Mädchen oft eine verantwortungsvolle Rolle für die kleineren Geschwister und für die psychisch überforderten Eltern übernahmen. Die unverarbeiteten traumatischen Erlebnisse drücken sich erst im Alter der Adoleszenz vermehrt durch selbstdestruktive Verhaltensweisen wie Essstörungen, Selbstverletzungen, Schulabbruch, massive Regelverletzungen oder Drogenkonsum aus. In dieser schwierigen Zeit der Adoleszenz kommt es bei den traumatisierten Jugendlichen oft zu Re- und Neutraumatisierungen (Bryson et al. 2017; Cromer und Villodas 2017).

Die Auswirkungen belastender, unverarbeiteter Stresssituationen aus der Kindheit auf die Entwicklung des Gehirns in Bezug auf Gefühle und Verhalten können hierbei aufgezeigt werden (Anda et al. 2006; Roth und Strüber 2014). In den ersten 18–24 Monaten nach der Geburt bildet sich der größte Teil der neuronalen Vernetzungen. Die frühen Beziehungserfahrungen werden im Rechtshirn gespeichert, welches mit dem limbischen System – dort werden die Emotionen verarbeitet – verbunden ist. Erlebt das Kind Angst und emotionale Verunsicherungen, wird unter anderem das limbische System aktiviert und es werden vermehrt Botenstoffe und Hormone ausgeschieden. Die Hormone führen ihrerseits zu einer Verfestigung der neuronalen Verschaltungen, die in Stresssituationen Verhaltensmuster einleiten, damit das emotionale Gleichgewicht wiederhergestellt werden kann. Diese im Säuglings- und Kleinkindalter entstandenen neuronalen Verschaltungen im frontalen Kortex beeinflussen unsere Kognitionen, Gefühle und unser Handeln noch im Erwachsenenalter. Sie können bei Stress Verhaltensmuster von funktionaler aber auch von dysfunktionaler Natur einleiten (Schore 2003).

2.3 Trauma und Resilienz

Nicht alle Kinder und Jugendlichen, die in ihrer Kindheit traumatischen Situationen ausgesetzt waren, entwickeln erkennbare Belastungssymptome. Sowohl in psychosozialen Risikofamilien wie auch in stationären Hilfsmaßnahmen finden sich immer wieder Kinder und Jugendliche, die trotz zahlreicher Belastungssituationen ein eher unauffälliges Verhalten zeigen (Clerverley und Kidd 2011; Sattler und Font 2018). Diesen Kindern gelingt es, sich in die Wohngruppen zu integrieren, Beziehungen zu den Gleichaltrigen und den Betreuungspersonen aufzubauen und die Schule regelmäßig und ohne größere Schwierigkeiten zu besuchen. Wissenschaftliche Befunde bestätigen, dass diese Kinder eine erstaunliche Widerstandskraft gegenüber dem erlebten Leid zeigen, während andere Kinder wesentlich verletzbarer sind (Freedman und DeBoer 1979; Gunnar 1998). Die Forscher erklären dieses Verhalten dadurch, dass diese Kinder über eine höhere Resilienz verfügen. Resilienz wird dabei als eine Kompetenz, schwierige und belastende Situationen aufgrund persönlicher Ressourcen, Fähigkeiten und Potenziale angemessen zu bewältigen, definiert (Luthar et al. 2000; Rutter 2000). In rezenten Studien wird der Begriff auch als „ein dynamischer und damit adaptiver Prozess beim Vorhandensein belastender Ereignisse und Schwierigkeiten“ beschrieben (Lindert et al. 2018). Neueste Erkenntnisse weisen darauf hin, dass Resilienzverläufe über die verschiedenen Altersstufen hin veränderlich sind, die Resilienz nicht als eine anhaltende, stabile Fähigkeit gesehen werden kann, und dass unterschiedliche Faktoren eine Rolle beim Auftreten von resilientem Verhalten spielen (Lindert et al. 2018; Rutter 2000; Scheithauer et al. 2000). So konnten Laucht et al. (2002) nachweisen, dass die Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern nicht allein von den erlebten Situationen abhängt, sondern dass neben der Veranlagung und den persönlichen Ressourcen, die Qualität der frühen Mutter-Kind-Beziehung eine wesentliche Rolle in den langfristigen Auswirkungen von belastenden und traumatisierenden Ereignissen spielt. Die Studie belegt, dass Kinder, die eine Bezugsperson haben, die sich angemessen und einfühlend um ihr Wohl kümmert, eine ausgeprägtere Resilienz aufweisen und demnach bessere Bewältigungsmöglichkeiten zeigen als Kinder, deren primäre Bezugsperson auf einer ungünstigen, dysfunktionalen Beziehungsebene zu ihnen steht. Weitere Faktoren, die das resiliente Verhalten von Kindern begünstigen, konnten in einer Studie von Sattler und Font (2018) dokumentiert werden. Die Autoren beziehen sich auf das Modell von Bronfenbrenner (1994), indem sie Schutzfaktoren auf den unterschiedlichsten Ebenen – die individuelle Ebene, die familiäre Ebene und die gesellschaftliche Ebene – sowie über eine Zeitspanne hinweg identifizierten. Die Studie ergab, dass ein Zusammenhang zwischen den familiären Faktoren und der kindlichen Resilienz auf sozio-emotioneller, kognitiver und allgemeiner Ebene besteht. Die kognitiven Stimulationen und die emotionale Unterstützung durch die Familie konnten dabei als wichtigste Einflussfaktoren bestimmt werden.

Bezüglich der wissenschaftlichen Befundlage über resilientes Verhalten mehrfach traumatisierter Kinder stellt sich Panksepp (2004) die Frage, ob bei den nach außen hin resilient scheinenden Kindern nicht das Risiko besteht, teilweise dysfunktionale Abwehrmechanismen zu entwickeln, die sie ein Leben lang begleiten. Um diese Frage angemessen zu beantworten, sind im Bereich der Resilienzforschung weitere Längsschnittstudien erforderlich.

2.4 Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen

Wie bereits aufgeführt, werden zum Teil Kinder, die sich in Heimen oder bei Pflegeltern befinden, schon im Säuglings- und Kleinkindalter aus dem familiären Milieu herausgenommen. Andere kommen erst im Schulkindalter oder im Alter der Adoleszenz in eine außerfamiliäre Betreuung. Bei älteren Kindern und Jugendlichen sind es vor allem die sich wiederholenden und gravierenden Verhaltensauffälligkeiten, die dazu führen, dass das soziale Umfeld auf diese Kinder aufmerksam wird. In solchen Fällen wird das Jugendgericht über die Verhaltensauffälligkeiten des Kindes informiert und eine sozialpädagogische Untersuchung des familiären Milieus eingeleitet. Wenn die Eltern in ihrer Fähigkeit als Erziehungs- und Beziehungspersonen als unfähig oder in ihren Erziehungskompetenzen als überfordert beurteilt werden, erfolgt in den meisten Fällen ein ambulantes Hilfsangebot. Erst wenn die ambulanten Maßnahmen scheitern, die familiäre Situation weiterhin angespannt ist und im erweiterten Familiensystem keine stabilen Familienmitglieder vorhanden sind, welche die Erziehungsaufgaben übernehmen können, werden die Kinder aus der Familie herausgenommen und fremdplatziert.

Je älter die Kinder sind, desto schwieriger erweist es sich, eine geeignete Pflegefamilie zu finden. Die meisten Kinder und Jugendlichen werden dann in Kinderwohngruppen und Jugendgruppen untergebracht.

Da viele dieser jungen Menschen jahrelang entwicklungsschädigenden Erziehungsmethoden und -bedingungen ausgesetzt waren und unter traumatischen Belastungserfahrungen leiden, stellt dies sowohl die Pflegeeltern wie auch die Betreuer der Kinder- und Jugendwohngruppen vor eine große Herausforderung (Schmid 2013). Auf Grund eines hohen persönlichen Belastungsgrades sind die leiblichen Eltern der Heimkinder oftmals nicht in der Lage,  ihren Kindern ein sicheres Bindungsmuster zu vermitteln. Bei diesen Kindern werden häufig unsichere bis hin zu desorganisierte Bindungsmuster beobachtet (George et al. 1985; Howe und Fearnly 2003; Lionetti et al. 2015; Tizard und Rees 1975). Zahlreiche Studien belegen, dass dysfunktionale Bindungsmuster bereits im Säuglings- und Kleinkindalter zu Verhaltensauffälligkeiten wie Regulationsstörungen und mit fortschreitendem Alter zu exzessivem Trotzen, Impulsivität oder aggressiven Verhaltensweisen führen können (Lyons-Ruth und Jacobvitz 2008; Spangler 2011; Teicher 2011). Die meist unverarbeiteten Erlebnisse wirken bei den Kindern und Jugendlichen jahrelang nach und beeinflussen deren physisches und physisches Wohlergehen, sowie deren Verhalten (Felitti et al. 1998). Internationale Forschungsarbeiten, die sich mit dem psychischen Wohl von Heimkindern befassen, berichten diesbezüglich über eine außergewöhnlich stark belastete Population (Ford et al. 2007; Hukkanen et al. 1999; McCann et al. 1996; Schmid 2007). Die Prävalenz psychischer Erkrankung bei Heimkindern und -jugendlichen liegt bei 60–70 % (Ford et al. 2007; Schmid 2007), wobei die Rate psychisch stark belasteter Jugendlicher im Jugendstrafvollzug und in justiziellen Institutionen bis auf 80 % steigt (Fazel et al. 2008; Grisso 2004). In einer epidemiologischen Untersuchung von 592 Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die in Schweizer Heimen und im Jugendstrafvollzug untergebracht waren (Durchschnittsalter 16,1 Jahren), berichteten 80 % der Teilnehmer von mindestens einem traumatischen Erlebnis und ein Drittel von mehreren traumatischen Erlebnissen (Schmid et al. 2011). 74 % der Jugendlichen litten gemäß den psychiatrischen Diagnosekriterien (DSM-IV-TR oder ICD-10) an mindestens einer, 44 % an zwei oder mehreren psychischen Erkrankungen. Solche Ergebnisse unterstreichen den hohen Belastungsgrad von Heimkindern und -jugendlichen und machen den Bedarf nach einer intensiven pädagogischen Unterstützung und Betreuung sowie einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Hilfe deutlich (Schmid 2013). Kinder und Jugendliche, bei denen zunehmende Selbstverletzungen und Selbstgefährdungen wie z. B. exzessiver Alkohol- oder Drogenkonsum oder Fremdgefährdung (verbale oder körperliche Gewalt, delinquentes Verhalten, usw.) beobachtet wird, erhalten oft vor oder während ihrer Platzierung in einer Kinder- oder Jugendwohngruppe eine stationäre psychiatrische Behandlung. Bei andauernden kriminellen Tätigkeiten (Einbrüche, Überfälle, Drogenhandel usw.) droht den Jugendlichen eine Unterbringung im Jugendgefängnis.

Bei diesen komplex traumatisierten Kindern und Jugendlichen ist das Risiko eines Abbruchs der erfolgten Hilfsmaßnahme stark erhöht und führt häufig zu sich wiederholenden Abbrüchen der stationären Hilfsmaßnahmen (Schmid 2007, 2008, 2010; Tornow und Ziegler 2012). Die reduzierte Bindungsfähigkeit erschwert die Eingliederung in Kinder- und Jugendwohngruppen. Dumais und seine Mitarbeiter (2014) berichten in ihrer Meta-Analyse über Bindungsmuster von Kindern, die in Heimen leben, dass viele dieser Kinder einen unsicheren-desorganisierten Bindungsstil aufweisen. Bei Kindern mit einem unsicher-desorganisierten Bindungsstil steigt das Risiko, Auffälligkeiten auf der kognitiven und auf der sozialen Ebene zu entwickeln. Zudem können bei diesen Kindern vermehrt psychopathologische Verhaltensmuster beobachtet werden (Lyons-Ruth und Jacobvitz 2008). Das pädagogische Betreuungspersonal steht Kindern mit solchen dysfunktionalen Bindungsmustern oft hilflos und überfordert gegenüber (Schmid und Kind 2018). Die aggressiven Verhaltensweisen der Kinder können bei den Erziehern emotionale Reaktionen wie Gefühle der Überforderung, Aggressionen und Ablehnungstendenzen auslösen (Schmid 2010). Nach der „Replikationshypothese“ wiederholen sich in der sozialpädagogischen Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen Beziehungsmuster, welche die Kinder aus ihrem familiären Umfeld übernommen haben (Schmid und Fegert 2012). Der so entstandene Teufelskreis kann in besonders schwerwiegenden Fällen zu einer Aktualisierung traumatischer Erfahrungen führen und das Eingewöhnen in die Wohngruppe massiv erschweren. In Folge kann es zum Abbruch der Hilfsmaßnahmen kommen, was bei den Kindern und Jugendlichen zu erneuten Beziehungsabbrüchen führt. Internationale Studien belegen, dass viele fremdplatzierte Kinder und Jugendliche mehrere Pflegefamilien oder Heimplatzierungen durchlaufen (Jaritz et al. 2008; Schmid und Fegert 2012). Solche Abbrüche verstärken nicht nur die Bindungsproblematik der betroffenen Kinder und Jugendlichen, sondern werden auch von den sozialpädagogischen Fachkräften als erschwerend erlebt. Diese bauen häufig eine emotionale Beziehung zu den Kindern und Jugendlichen auf und erleben dann, dass ihr Beziehungsangebot von den Jugendlichen nicht als solches wahrgenommen und genutzt wird. Grenzüberschreitende Verhaltensweisen der Kinder und Jugendlichen den Fachkräften gegenüber hinterlassen bei den Betroffenen oft Gefühle der Verunsicherung und Überforderung. Vielfach lösen die persönlichen Verletzungen am Arbeitsplatz Scham und Schuldgefühle aus und in Folge ein Verlust der Freude an der Arbeit (Schmid und Kind 2018). Laut Schmid (2013) sollten pädagogische Fachkräfte auf die aus vorausgegangenen traumatischen Erlebnissen entstandenen, dysfunktionalen Verhaltensmuster der Kinder und Jugendlichen vorbereitet und dementsprechend ausgebildet sein.

Wie dargelegt, erweist sich die Arbeit mit fremdplatzierten, meist psychisch belasteten Kindern und Jugendlichen vielfach als schwierig und langwierig. Trotz diesen erschwerenden Bedingungen ist eine Herausnahme aus den psychosozial stark belasteten Familien oftmals eine Chance für das Kind. Durch die Meta-Analyse von Knorth et al. (2008) konnte eine Verbesserung des psychosozialen Verhaltens von fremduntergebrachten Kindern und Jugendlichen belegt werden. Da sich die Ergebnisse dieser Analyse auf kurzzeitige Effekte (drei bis vier Monate nach Beendigung der Maßnahme) beziehen, hat das Forschungsteam um Knorth (Harder et al. 2017) versucht, Faktoren zu identifizieren, die zu einer langzeitigen Verbesserung des Verhaltens der betroffenen Kinder und Jugendlichen beitragen. Die Suche nach diesen Faktoren hat auf mehreren Ebenen stattgefunden. In der von Harder und ihren Mitarbeitern (2017) durchgeführten Studie waren die befragten Jugendlichen und deren Eltern der Ansicht, dass eine Verbesserung des Verhaltens der Jugendlichen während ihres Aufenthaltes in der Institution in erster Linie durch das institutionelle Umfeld bedingt gewesen sei. Da die Institution ein angemessenes Verhalten verlangt habe, sollen die Jugendlichen ihr Verhalten nur während der Dauer ihres Aufenthaltes den institutionellen Anforderungen und Regeln angepasst haben. Diese rein externalisierte Motivation einer Verhaltensveränderung könnte erklären, wieso viele Jugendliche nach ihrer Entlassung aus der Institution wieder ihre alten, dysfunktionalen Verhaltensmuster übernehmen (Ryan und Deci 2000). Für Harder und ihre Mitarbeiter zeigt dieser Befund, dass die persönliche Motivation, am eigenen Verhalten etwas verändern zu wollen – und nicht die durch institutionelle Regeln und Maßnahmen erzwungenen Verhaltensveränderungen – einer der Hauptfaktoren ist, um eine anhaltende positive Veränderungsbereitschaft bei den Jugendlichen zu bewirken. Ein weiterer Befund der Studie von Harder et al. (2017) besteht darin, dass die verschiedenen Fachkräfte, die die Kinder und Jugendlichen betreut haben, unterschiedliche Ansichten und Erklärungen bezüglich der Ursachen, die zu einer erfolgreichen Verhaltensveränderung der Jugendlichen geführt haben, aufweisen. Diese Feststellung bekräftigt die Befunde der Studie von Knorth et al. (2010), die belegt, dass Mitarbeiter aus dem Erziehungsbereich im generellen Kinder und Jugendliche nach ihren eigenen, individuellen Ansichten und mittels ihres persönlichen Stils behandeln und betreuen. Um jedoch in der stationären Kinder- und Jugendhilfe positive Effekte zu bewirken, ist es, laut Knorth et al. (2010), notwendig, dass alle Mitarbeiter einer Institution dieselben Zielsetzungen zeigen und den Kindern und Jugendlichen gegenüber dieselben Erziehungspraktiken und Einstellungen aufweisen.

Aufgrund dieser erschwerenden Bedingungen rund um die stationäre Jugendhilfe wird die Wirksamkeit der Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen in der Forschung kontrovers diskutiert. Neben Befunden zu kurzeitigen positiven Effekten der Fremdunterbringung in Institutionen (De Swart et al. 2012; Knorth et al. 2008) liegen auch Befunde vor, die diesbezüglich keine oder negative Effekte nachweisen (Dumais und Michel 2014; Strijbosch et al. 2015). Einige Forscher bemängeln zudem das Fehlen von Befundlagen zu den Langzeitwirkungen institutioneller Fremdbetreuung von Kindern und Jugendlichen (De Swart et al. 2012; Knorth et al. 2008).

2.5 Anzahl stationär untergebrachter Kinder und Jugendlicher in Luxemburg

Um einen Einblick in die Anzahl, der in Luxemburg in Institutionen platzierten Kinder und Jugendlichen zu bekommen, wird die Zahl, der im April 2019 in Luxemburg durchs Jugendgericht platzierten Kinder und Jugendlichen tabellarisch dargestellt. Die in Pflegefamilien lebenden Kinder und Jugendlichen werden hierbei nicht berücksichtigt. Bei den Angaben, die aus dem Jahresbericht des „Office National de l’Enfance“ (vgl. ONE 2019) entnommen wurden, handelt es sich um Kinder und junge Erwachsene, wobei sich der Begriff „Kinder“ auf Minderjährige unter 18 Jahren und „junge Erwachsene“ auf junge Menschen zwischen 18 und weniger als 27 Jahren bezieht.

Die meisten minderjährigen Kinder und Jugendlichen wurden vom Jugendgericht in die diversen Strukturen platziert, ein kleiner Teil war freiwillig oder auf Wunsch der Eltern in den Institutionen untergebracht. Der Vollständigkeit halber wird in der folgenden Tabelle auch die Anzahl der nicht platzierten Kinder aufgeführt (Tab. 1).

Tab. 1 Überblickstabelle der am 1. April 2019 in luxemburgischen Institutionen untergebrachten Kinder und jungen Erwachsenen

Insgesamt befanden sich im April 2019 770 Kinder und Jugendliche in einer stationären Hilfsmaßnahme. 577 (74,94 %) waren vom Jugendgericht platziert, 193 (25,06 %) waren freiwillig in der Maßnahme. Diese Daten belegen, dass auch in Luxemburg eine relevante Zahl vom Jugendgericht platzierter Kinder und Jugendlichen vorliegt. Mit Blick auf die in internationalen Studien aufgeführten 80 % Prozent traumatisierter Kinder und Jugendlichen, die in Institutionen leben (Schmid et al. 2011) wie auch auf die erwähnte Prävalenz von 60 bis 70 % psychischer Erkrankungen dieser Kinder (Ford et al. 2007; Schmid 2007) lässt sich annehmen, dass auch ein vergleichbarer Prozentsatz in luxemburgischen Institutionen zu erwarten ist. Dies legt nahe, dass es sich ebenso bei den in Luxemburg lebenden Heimkindern um eine vulnerable und stark belastete Population handelt, die das luxemburgische psycho-soziale Betreuungssystem in unterschiedlicher Weise fordert.

3 Empirischer Teil

Dieser Teil des Beitrags befasst sich mit einer im August 2018 an der Universität Luxemburg begonnenen Studie, deren Ziel es ist, die Faktoren zu erfassen, die einerseits zum Wohlbefinden und zu einer positiven Entwicklung fremdplatzierter Kinder und Jugendlichen an luxemburgischen Institutionen beitragen sowie diejenigen, die andererseits zu Belastungen oder Traumatisierungen bei den Betroffenen führen können.

3.1 Studie über das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen, die in luxemburgischen Institutionen platziert sind

Die aufgeführten wissenschaftlichen Grundlagen zu den Bindungstheorien und zur frühkindlichen Traumatisierung geben einen Einblick in die Komplexität der Betreuung und Förderung fremdplatzierter Kinder und Jugendlicher. Zahlreiche wissenschaftliche Studien belegen, dass die Mehrzahl der platzierten Kinder und Jugendlichen traumatischen Ereignissen ausgesetzt war, bevor sie auf Beschluss des Jugendgerichts aus den Familien herausgenommen wurden (Jackson et al. 2019; Ptacek et al. 2012; Zeanah et al. 2012). Ziel ist es, diesen Kindern und Jugendlichen ein Umfeld zu bieten, in dem sie ihre traumatischen Erlebnisse aufarbeiten können, sich sicher und geborgen fühlen und sich auf psychischer wie auch physischer Ebene angemessen entwickeln können. In den letzten Jahrzehnten sind bedeutende Fortschritte auf dem Gebiet der Heimbetreuung festzustellen (Bryson et al. 2017; Gahleitner 2009; Gahleitner et al. 2018; Schmid 2018) und dennoch kommt es bei dieser sensiblen und belasteten Population weiterhin zu Retraumatisierungen und den daraus resultierenden Verhaltensauffälligkeiten.

Die vorliegende Studie setzt sich mit dieser Thematik auseinander, indem sie die Befindlichkeit betroffener Kinder und Jugendlicher untersucht und die Faktoren, die zu einer Retraumatisierung führen können, identifiziert. Mit Hilfe der Befragung von Jugendlichen sollen Antworten auf folgende Fragen eruiert werden: „Welche Faktoren erhöhen das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen, die in luxemburgischen Institutionen fremdplatziert worden sind?“ und „Welche Faktoren erschweren die Entwicklung dieser Kinder und Jugendlichen?“. Zusätzlich werden neue Erkenntnisse im Forschungsgebiet der stationären Jugendhilfe erwartet, die es erlauben, Retraumatisierungen in Zukunft zu vermeiden und entwicklungsförderliche Veränderungen in diesem Handlungsfeld zu bewirken. Sämtliche Befunde stützen sich auf die Aussagen der befragten Jugendlichen und geben die von den Studienteilnehmern retrospektiv betrachteten persönlichen Wahrnehmungen und Beschreibungen des Erlebten wieder.

Im Folgenden werden zuerst die Teilnehmer der Befragung sowie der Interviewleitfaden und das Auswertungsverfahren kurz dargestellt, um anschließend erste Befunde der Studie vorzustellen. Die Darstellung der Ergebnislage wird sich dabei auf einzelne Faktoren beschränken, die von den Jugendlichen als entwicklungsförderlich oder entwicklungserschwerend beschrieben wurden. Die gesamte Befundlage der Studie wird voraussichtlich Anfang 2021 vorliegen.

3.1.1 Methode

Um die in der Fragestellung genannten Faktoren zu identifizieren wurden 30 Jugendliche über ihre Erfahrungen, die sie in den unterschiedlichen Institutionen gemacht haben, befragt. Als Einschlusskriterium für die Teilnahme an der Studie galt eine Platzierung durch das Jugendgericht in einer luxemburgischen Institution während der Kindheit oder im Jugendalter (unter 18 Jahren) mit einer Aufenthaltsdauer von mindestens vier Monaten. Als Ausschlusskriterium galt, wenn der Jugendliche sich zum Zeitpunkt der Befragung in einer emotional instabilen Phase befand oder unter einer diagnostizierten schwerwiegenden psychiatrischen Erkrankung litt. An der Studie nahmen 16 minderjährige Jugendliche (zwischen 15 und 17 Jahren) und 14 junge Erwachsene (zwischen 18 und 27 Jahren) teil. Davon waren 16 weibliche und 14 männliche Teilnehmer. Die Teilnahme erfolgte auf freiwilliger Basis, wobei den Jugendlichen absolute Anonymität garantiert wurde. Die Studie wurde im Vorfeld durch die Ethik-Kommission der Universität Luxemburg („Ethics Review Panel“) bewilligt.

Die Rekrutierung erfolgte durch direktes Ansprechen betroffener Jugendlicher sowie durch das Vorstellen der Studie und die Anwerbung zur Teilnahme in unterschiedlichen Institutionen. Da die Institutionen im Allgemeinen ein großes Interesse an der Studie zeigten, wirkten sie aktiv bei der Suche nach Teilnehmern und unterstützend bei der Durchführung der Interviews mit. Einige Teilnehmer meldeten sich spontan, nachdem sie durch andere Jugendliche von der Studie erfahren hatten. Die Rekrutierung der Teilnehmer erwies sich als unproblematisch, da der Wunsch, sich mitzuteilen und über persönliche Erfahrungen und Erlebnisse zu berichten, bei den betroffenen Jugendlichen sehr ausgeprägt war.

Die Befragung fand anhand eines semi-strukturierten Interviews statt. Neben der Erhebung demographischer Daten wurden die Teilnehmer gebeten, über ihre ersten Lebensjahre zu berichten. Anschließend wurde eine Traumaanamnese über die Zeit vor der ersten Platzierung durch das Jugendgericht erhoben, wobei die Jugendlichen darauf hingewiesen wurden, dass sie keine Einzelheiten zu den erlebten Belastungssituationen erzählen sollten. Nach der Traumaanamnese wurden die Teilnehmer gebeten, den Grund ihrer ersten Platzierung mitzuteilen. Im Folgenden sollten die Jugendlichen ihr eigenes Problemverhalten vor und während der Fremdplatzierung, sowie auch ihre aktuellen Schwierigkeiten, falls vorhanden, beschreiben. Der Schwerpunkt des Interviews lag auf der Befragung über die positiven und entwicklungsförderlichen wie auch belastenden Erfahrungen der Jugendlichen während der Dauer ihrer Platzierung. Hier konnten die Teilnehmer zuerst frei berichten, anschließend wurden sie zu spezifischen Themen befragt. Die durchschnittliche Dauer eines Interviews betrug 57 min.

Die Audioaufnahmen wurden transkribiert und anhand eines Kategoriensystems analysiert. Hierbei wurde sich an der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2015), Schreier (2012) und Kuckartz (2018) orientiert.

3.1.2 Erste Befunde

Da eine umfassende Auswertung der Interviews erst Mitte 2022 vorliegen wird, werden im Folgenden nur erste, eingeschränkte Befunde dargelegt und einige zentrale Themenbereiche der Studie erläutert.

Erstplatzierung: Die Gründe der ersten Platzierung der Interviewteilnehmer in einer Institution variierten je nach Alter der Betroffenen. Dort, wo die erste Fremdbetreuung im Säuglings-, Kleinkind- oder Schulkindalter erfolgte, berichteten alle Jugendlichen von einer Kindeswohlgefährdung. Die Kinder wurden entweder körperlich und psychisch vernachlässigt und/oder sie waren Opfer von körperlicher, sexueller oder psychischer Gewalt. Einige der betroffenen Jugendlichen beschrieben die frühe Herausnahme aus der Familie als eine Chance, den Belastungen und traumatischen Ereignissen, denen sie im familiären Umfeld ausgesetzt waren, zu entkommen. Bei Studienteilnehmern, die bei ihrer ersten Platzierung bereits das Alter der Adoleszenz erreicht hatten, waren die Gründe dieser Platzierung meistens gehäufte und anhaltende Verhaltensauffälligkeiten, wie zum Beispiel Schule schwänzen, Drogenkonsum, Regelmissachtungen bis hin zu delinquentem Verhalten. Manche Jugendlichen klagten, dass sie noch immer nicht nachvollziehen könnten, wieso sie wegen wiederholtem Schulschwänzen oder Regelmissachtungen aus der Familie genommen und in einer Institution untergebracht worden seien („Ech hun vill blo gemacht…do ass d’Decisioun vum Gericht einfach komm, dass ech géif placéiert gin“). Andere wiederum bedauerten, dass sie nicht viel früher aus der Familie herausgenommen wurden. In diesen Fällen lag bei den Eltern meistens eine starke Suchtproblematik oder eine psychiatrische Erkrankung vor.

Traumatisierungen und psychische Belastungen im familiären Umfeld: Bis auf eine Jugendliche berichteten sämtliche Teilnehmer von traumatischen Ereignissen und/oder Trennungssituationen während der Kindheit und/oder Jugend. Die Jugendlichen sprachen über psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt, der sie selbst ausgesetzt waren („geschloen, Zigaretten u mir ausgedreckt gi sin…“) oder die sie beobachtet haben. Hinzu kamen Vernachlässigung und psychische Erkrankungen der Eltern, wie zum Beispiel Depressionen, Drogen- oder Alkoholabhängigkeit.

Wechsel und Abbrüche: Die Zahl der Wechsel und Abbrüche in den unterschiedlichen Institutionen variierte zwischen einer einzigen Platzierung in einer Institution bis zu 11 Abbrüchel oder Wechsel zwischen unterschiedlichen Institutionen. Die Wechsel kamen gelegentlich auf Anfrage der Jugendlichen zustande, jedoch fand ein Abbruch oder ein Wechsel in den meisten Fällen ohne die Zustimmung des Kindes oder des Jugendlichen statt. In solchen Fällen war die aktuelle Institution meistens nicht mehr in der Lage, den Bedürfnissen des Jugendlichen gerecht zu werden und eine angemessene Entwicklung zu gewährleisten. Die Wechsel waren, nach Aussagen der Jugendlichen, immer mit Beziehungsabbrüchen sowie Eingewöhnungs- und Anpassungsschwierigkeiten verbunden. Die bei dem Wechsel gelegentlich stattgefundene Trennung von Geschwisterkindern wurde von den Jugendlichen als besonders schwierig beschrieben (siehe hierzu weiter unten).

Gruppengröβe: Die meisten Jugendlichen zogen kleinere Gruppen von 8–12 Kindern oder Jugendlichen vor. Sie gaben an, dass auftretende Konflikte in kleineren Gruppen eher erkannt und gelöst werden konnten („Mir waren ze vill Jugendlëcher ob enkem Raum. Dat kann sou net goen“) und kleinere Gruppen eher einen familiären Charakter hatten. Zudem soll die Beziehung zwischen den Heimbewohnern und dem Betreuungspersonal in kleineren Gruppen intensiver gewesen sein, was den Vorteil hatte, dass sich die Jugendlichen dem Personal eher anvertrauten. Einige wenige der befragten Jugendlichen fühlten sich in größeren Gruppen wohler („Am beschten hu mir éischter esou grouss Gruppe wéi … gefall…. …t’ass méi cool, du hues méi Leit, du hues méi Ofwiesselung, net ëmmer die Nämmlecht an jo.“). An größeren Gruppen gefiel ihnen, dass sie mehr Auswahl hatten, was Freundschaften betraf. Außerdem wurden größere Gruppen von vereinzelten Teilnehmern als abwechslungsreicher beschrieben.

Beziehungen: Die Beziehung zu den Mitarbeitern der Institutionen wie auch die Beziehung zu den Mitbewohnern spielte für die Studienteilnehmer eine zentrale Rolle für ihr Wohlbefinden. Wertschätzende und stabile Beziehungen steigerten offensichtlich das Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen und trugen zu deren positiven Entwicklung bei. Die Jugendlichen schätzten es, wenn sich ein Betreuer Zeit für sie nahm und ihnen aufmerksam zuhörte („…un sech hun ech mech gudd gefillt, well et war een do. Et war een do an déi hun mer ëmmer nogelauschtert. An sie hun mat dir geschwad. An sie hun dech fier eescht geholl“). Auch scheint die jahrelange Anwesenheit desselben Betreuers für vereinzelte Jugendliche einen großen Stellenwert gehabt zu haben („An do war en Erzéier do, den ech vun klengem un kennen also kannt hun, dat heescht, ech hat awer eng gud Bindung zu engem …. dat war eng mega wichteg Persoun.“). Einige Teilnehmer nannten die Köchin oder die Haushälterin als wichtigste Bezugsperson („D’Botzfra hat eng mega grouss Roll a mengem Liewen….sie ass do, sie hëlleft eis, sie kacht eis, sie hëlleft mir“). Die gute Beziehung zu den Fachkräften wurde als ebenso bedeutend für das allgemeine Wohlbefinden beschrieben wie die freundschaftliche Beziehung zu den anderen Heimbewohnern, wobei der Einfluss dieser Freundschaften auf die eigene Entwicklung im Nachhinein nicht in allen Fällen als entwicklungsförderlich angesehen wurde. Ein weiterer wichtiger Faktor, der von den Jugendlichen als unterstützend beschrieben wurde, war der regelmäßige Kontakt zur eigenen Familie.

Diverse weitere Faktoren: Die Ausstattung der Gemeinschaftsräume, der Schlafzimmer und der sanitären Anlagen schienen einen direkten Einfluss auf das Wohlbefinden der Jugendlichen gehabt zu haben. Die Beschreibungen variierten von wohnlich, großräumig und sauber bis hin zu klein, alt, kaputt und ekelig. In einigen Institutionen wurde kritisiert, dass die Schlafzimmer zu klein waren und noch Spuren von den Vorgängern enthielten („et war en plus iwerall gemolt…do war nëmmen fier ze schlofen gudd soss war et net gemittlech an esou…“). So wurden z. B. defektes Mobiliar und unhygienische sanitäre Bedingungen bemängelt. Die institutionsinternen Freizeitaktivitäten wie z. B. gemeinsam das Freibad besuchen oder ins Kino gehen, hatten bei den befragten Jugendlichen einen hohen Stellenwert. Sämtliche Teilnehmer schienen von den angebotenen Freizeitaktivitäten profitiert zu haben und beschrieben diese als einen wichtigen Faktor, der zu ihrem allgemeinen Wohlbefinden beigetragen hat. Sie bedauerten lediglich, dass solche Aktivitäten nicht oft genug stattgefunden hätten. Des Weiteren gaben einige Jugendliche an, dass die therapeutische Arbeit mit einem Psychologen oder Psychiater sie in ihrer persönlichen Entwicklung gestärkt und weitergebracht habe. Andere Jugendliche wiederum hätten sich öfters Gespräche mit ihrem Therapeuten gewünscht oder sie fühlten sich von ihrem Psychologen nicht verstanden („also fier mech, mein Psycholog huet et net bruecht…t’ass die eenzeg Persoun, déi mir hätt wierklech kéinten hëllefen“). Institutionelle Regeln und Einschränkungen konnten von den Jugendlichen relativ gut angenommen werden und wurden sogar teilweise als hilfreich beschrieben.

Retraumatisierung und entwicklungserschwerende Bedingungen während der Fremdplatzierung: Viele der befragten Jugendlichen berichteten von traumatischen Ereignissen und schwierigen Zeiten während der Fremdplatzierung. Die meisten traumatischen Ereignisse seien von anderen Heimbewohner ausgegangen. Die Jugendlichen sprachen von Drohungen und Erpressungen, körperlicher und verbaler Gewalt, Mobbingsituationen, sexuellen Übergriffen und Vergewaltigung durch andere Bewohner der Institution. Einige der Kinder und Jugendlichen erzählten, dass sie mit niemandem über das Erlebte gesprochen hätten. In den meisten Fällen befürchteten die Kinder und Jugendlichen noch heftigere Reaktionen von Seiten der Täter, wenn sie über die Vorfälle reden würden. Einige wenige Jugendliche berichteten, sie hätten mit Erziehern über die Vorfälle geredet, es sei jedoch von Seiten der Institution keine angemessene Reaktion erfolgt („T’ass einfach ënnert den Teppech gekiert gin a fäerdeg“). Als weitere extreme Belastungssituation wurde, wie bereits erwähnt, die Trennung von den Geschwistern beschrieben. Solche Trennungen seien schmerzhaft gewesen und hätten bei den Kindern und Jugendlichen oft zu einer Zunahme ungünstiger Verhaltensmuster geführt. Auch soll die Unterbringung in diversen Institutionen das Unwohlsein gesteigert und demnach zu vermehrten Verhaltensauffälligkeiten und Drogenkonsum bei den Jugendlichen geführt haben. Einige Jugendliche berichteten, dass sie während der Fremdplatzierung ihren ersten Kontakt mit Drogen hatten. Was die Betreuer betraf, sollen die Kinder und Jugendliche selten körperliche, sondern eher verbale Gewalt wie Demütigungen und Erniedrigungen durch die Betreuer erlebt haben („T’es bon à rien“). Auch sollen verschiedene institutionelle Konsequenzen, die auf Fehlverhalten erfolgt seien, als ziemlich belastend empfunden worden sein und eher eine Verhaltensverschlechterung anstelle einer Verbesserung bewirkt haben. Als besonders belastend wurde die Bestrafung durch mehrtägige Isolation in einem dafür vorgesehenen Bestrafungsraum empfunden („…dat mëscht een krank am Kapp“).

3.1.3 Interpretation der Befunde

Der im theoretischen Teil bereits thematisierte hohe Prozentsatz an traumatisierten fremdplatzierten Kindern und Jugendlichen wird in dieser Studie ebenso belegt. Fast alle Studienteilnehmer waren in ihrer Kindheit und Jugend anhaltend belasteten Situationen ausgesetzt, ehe es zu einer ersten Fremdplatzierung kam. Obwohl die erhaltenen Befunde und Aussagen der Jugendlichen nur eine vorläufige Analyse der Interviews wiederspiegeln, weisen sie deutlich daraufhin, dass die Mehrheit der Studienteilnehmer auch während ihrer Fremdplatzierung traumatisierenden Situationen ausgesetzt waren. Die Jugendlichen berichteten unter anderem über vermehrten Drogenkonsum während der Zeit ihrer Fremdplatzierung, über körperliche, sexuelle und psychische Gewalt durch andere Heimbewohner, über körperliche, vor allem psychische Gewalt auf Ebene der Erzieher und anderen Fachkräften, über übertriebene institutionelle Konsequenzen und über einen hohen Belastungsgrad durch die Trennung von ihren Geschwistern. Einige Jugendliche sahen einen Zusammenhang zwischen dem Erlebten und der Entstehung weiterer Verhaltensauffälligkeiten.

Bezüglich der Faktoren, die zum Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen beigetragen haben, standen für fast sämtliche Teilnehmer die zwischenmenschlichen Beziehungen an oberster Stelle. Eine vertrauensvolle Beziehung zu einer pädagogischen Fachkraft, einem Angestellten oder einem Therapeuten, enge Freundschaften zu Gleichaltrigen und/oder die Unterstützung durch Familienangehörige wurden hierbei als die wirksamsten Faktoren beschrieben. Hinzu kamen unter anderem gemeinsame Freizeitaktivitäten mit der Wohngruppe, ein angenehmes Wohnumfeld, kleine Gruppen und angemessene institutionelle Verhaltensregeln.

4 Fazit und Ausblick

Die bisherige Befundlage der empirischen Studie zeigt deutlich, dass die Jugendlichen, die an der Studie teilgenommen haben, häufig schwierigen Lebensbedingungen ausgesetzt waren. Dies sowohl vor ihrer ersten Platzierung im familiären Milieu wie auch während der Zeit ihrer Platzierung in den diversen Institutionen. Die vorliegende Analyse der Daten bestätigt, dass es sich bei Kindern und Jugendlichen, die in einem außerfamiliären Umfeld aufwachsen, um eine stark belastete Population handelt. Interviewaussagen weisen darauf hin, dass den Bedürfnissen dieser Populationsgruppe nicht ausreichend Rechnung getragen wird und deren psychische Entwicklung weiterhin erschwert bleibt. Zudem unterstreichen sie die Notwendigkeit einer weiterführenden Analyse der Daten zur Fremdplatzierung. Je mehr Klarheit über die emotionalen Bedürfnisse dieser vulnerablen Kinder und Jugendlichen besteht, umso besser können die Betreuungsstrukturen und -formen angepasst und die Entwicklungschancen dieser jungen Menschen erhöht werden.

Aufgrund zahlreicher Beobachtungen und Forschungsergebnissen konnten auf dem Gebiet der Heimunterbringung in den vergangenen Jahrzehnten bereits eine Reihe von positiven und entwicklungsfördernden Veränderungen erzielt werden (Gahleitner et al. 2018; Harder et al. 2017; Knorth et al. 2008; Schmid 2018). Dennoch bleibt es eine bedeutsame Aufgabe zu prüfen, welche weiteren Veränderungen vorgenommen werden sollten, um den Bedürfnissen der betroffenen Kinder und Jugendlichen gerecht zu werden. Anzunehmen ist, dass nicht nur Veränderungen bezüglich der Handlungsweisen der Fachkräfte notwendig sind, sondern dass auch insbesondere angemessene strukturelle Maßnahmen erforderlich sind.