In diesem Kapitel wird das erste von zwei Fallbeispielen untersucht. Dabei werden der vorab entworfene analytische Rahmen (siehe Kp. 5) sowie die Methodik (siehe Kp. 6) zur Erfassung von Themenkarrieren in der Planungswissenschaft auf das Thema Schrumpfende Städte angewandt. In diesem sowie im anschließenden Kapitel (Thema Klimawandel, siehe Kp. 8) wird die empirische Grundlage geschaffen, auf der generalisierbare Erkenntnisse zur Entstehung von Themen gewonnen werden (siehe Kp. 9).

Der Begriff Schrumpfende Städte oder auch (Stadt-)Schrumpfung wird häufig synonym mit rückläufigen demografischen Prozessen und Wohnungsleerstand verwendet, bleibt dabei jedoch oft unscharf (Brandstetter et al. 2005: 55). Häufig impliziert der Begriff die Gleichzeitigkeit von demografischen mit ökonomischen sowie städtischen und stadtregionalen Niedergangsprozessen (Brandstetter et al. 2005; Jessen und Walther 2007). Schrumpfende Städte werden als räumliche Auswirkung und Teilaspekt des demografischen Wandels verstanden, der die Aspekte natürliche Bevölkerungsentwicklung, Wanderung und Alterung umfasst (BBR 2005: 29–40).

Zu dem Thema Schrumpfende Städte wurden im Zeitraum 1995 bis 2014 325 Artikel, an denen 353 Autor*innen beteiligt waren, in den planungswissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht und in diesem Kapitel analysiert. 3.412 Bezüge aus dieser Literaturauswahl zu weiteren Publikationen wurden erfasst, und insbesondere zentrale (häufig zitierte) und grundlegende (in frühen Artikeln zitierte) Publikationen wurden zusätzlich ausgewertet. Des Weiteren wurden einzelne Veröffentlichungen ausgewertet, die den wissenschaftlichen Diskurs um Schrumpfende Städte nachvollziehen (bspw. Brandstetter et al. 2005; Jessen und Walther 2007; Bernt 2017). Es wurden acht Interviews mit einschlägig in Erscheinung getretenen Planungswissenschaftler*innen geführt.

Die in diesem Kapitel vorgelegte Untersuchung der Karriere des Themas Schrumpfende Städte beginnt nicht erst mit dem Jahr 1995, ab dem systematisch erhobene, quantitative Daten vorliegen. Stattdessen setzt die Analyse bereits ab Mitte der 1970er Jahre ein, als das Absinken der Geburtenrate unter die Sterberate die deutsche Planungswissenschaft erstmals veranlasste, die demografische Schrumpfung und deren Folgen zu diskutieren. Zwar lässt sich, wie sich zeigen wird, das rasche Ansteigen der Aufmerksamkeit gegenüber dem Thema ab dem Ende der 1990er Jahre als eigene, neue Themenkarriere fassen. Gerade dieser Umstand, also der Bruch zwischen den inhaltlich ähnlich gelagerten Diskursen der 1970er und 1980er Jahre und jenen der 2000er Jahre, legt jedoch wertvolle Aufschlüsse zur Erklärung von Thematisierungsprozessen offen (siehe Kp. 7.1). Begrifflich werden die Diskussionen der 1970er und 1980er Jahre als Vorläufer gefasst, was zum einen die große inhaltliche Schnittmenge der beiden Aufmerksamkeitszyklen zum Ausdruck bringt, zum anderen aber nicht impliziert, dass bereits ein Weg bereitet oder Vorarbeit geleistet wurde. Schließlich bauen die Diskurse der 2000er Jahre nur marginal auf jenen der 1970er und 1980er Jahre auf und sie erleben Thematisierungshemmnisse noch einmal in sehr ähnlicher Form. Die Beschreibung und Analyse der aktuellen Themenkarriere Schrumpfende Städte mit Latenz-, Durchbruch-, Fokus- und Normalisierungsphase beginnt ab dem Jahr 1991, als die Vorläuferdiskurse nach der Deutschen Wiedervereinigung zum Erliegen kommen.

Die in Abb. 7.1 gezeigte Aufmerksamkeitskurve zum Thema Schrumpfende Städte basiert auf der Anzahl einschlägiger Artikel pro Jahr im Untersuchungszeitraum 1995–2014. Sie zeigt zunächst eine kaum messbare Aktivität in den 1990er Jahren, die als Latenzphase eingeordnet wird (Kp. 7.2). Sie wird durch die Durchbruchphase in den Jahren 2000 und 2001 abgelöst, in der ein leichter Anstieg der Aufmerksamkeit zu erkennen ist (Kp. 7.3). Es folgen ein schlagartiger Anstieg der Kurven in den Jahren 2002 und 2003, ein zwischenzeitliches Absinken sowie ein zweiter Höhepunkt in den Jahren 2005 und 2006. Diese beiden Aufmerksamkeitshochs werden als Beginn und Ende der planungswissenschaftlichen Fokussierung (2002–2006) betrachtet (Kp. 7.4). Das wellenförmige Absinken ab dem Jahr 2007 auf ein gegenüber der Latenzphase deutlich erhöhtes Niveau wird als Normalisierungsphase bezeichnet (Kp. 7.5). Eine umfassendere quantitative Gesamtbetrachtung der Themenkarriere Schrumpfende Städte wird in Abschnitt 7.6 vorgenommen.

Abb. 7.1
figure 1

(Quelle: Eigene Erhebung auf Basis der planungswissenschaftlichen Zeitschriften 1995–2014)

Aufmerksamkeitskurve zum Thema Schrumpfende Städte 1995–2014 basierend auf der Anzahl einschlägiger Artikel

7.1 1972 bis 1990: Vorläufer der Themenkarriere

Nachdem in der damaligen Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1972 die Zahl der Geburten unter die Zahl der Sterbefälle gesunken ist, wird im Raumordnungsbericht 1974 ein „Wandel der Einflußfaktoren der räumlichen Entwicklung“ konstatiert (BMRBS 1974: 28–29). Zu den vier wesentlichen Rahmenbedingungen der Raumordnungspolitik zählen nun „Geburtenrückgang und stagnierende, wahrscheinlich sogar rückläufige Bevölkerungsentwicklung“ sowie „zurückhaltende Anwerbepolitik für ausländische Arbeitnehmer“ (Deutscher Bundestag 1974: 28–29). Die zukünftig schrumpfende Bevölkerung wird breit diskutiert (Tönnies 2004: 155–156), und auch die Alterung gibt Indizien für eine bevorstehende „Bevölkerungsimplosion“ (Jost 1974). Nach Jahren des Wachstums der Nachkriegszeit wird ein unerwarteter wirtschaftlicher und demografischer „Wendepunkt“ ausgemacht, der zu „veränderten Verhältnissen“ führe (ARL 1976: VII). Hinzu käme die Suburbanisierung, durch die die meisten Großstädte bereits deutliche Bevölkerungsverluste zu verzeichnen haben, sodass bereits vom „Verslumen“ einiger innerstädtischer Bereiche die Rede ist (Göb 1977: 159). Angesichts dieser neuen Situation, in der in den Städten nicht mehr überschüssiges Potenzial, sondern Defizite zu verteilen seien, müssten manche liebgewonnen Vorstellungen der Planer*innen über „Bord geworfen werden“ (Schwarz 1978: VIII).

Das Thema Schrumpfung wird im Rahmen von ArbeitskreisenFootnote 1 und öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen der Akademie für Raumforschung und Landesplanung (ARL) sowie der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung (DASL) aufgegriffen. Es werden Fragestellungen entwickelt, die für die planungswissenschaftliche Fachgemeinschaft bis heute relevant sind (vgl. Istel 1975: 78ff). So werden „Infrastrukturumbau“ (Thoss 1976: 15ff), „Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen“ (ebd: 27), „Stadtumbau“ (Farenholtz 1976: 57) sowie die Aufgaben der Raumplanung und die Eignung des planerischen und gesetzlichen Instrumentariums generell (Riemann 1976; Stich 1976: 61) jeweils vor dem Hintergrund der Schrumpfung besprochen (vgl. Istel 1975: 71ff). Dabei stellt Riemann (1976: 43, 49) bereits fest, dass „Stadtumbau“ unter Schrumpfungsbedingungen Neuinvestitionen erfordere und dass „Geringeres Wachstum […] nicht weniger, sondern eher mehr Planung“ bedeute.

Die einschlägig forschenden Planungswissenschaftler*innen müssen erkennen, dass das gesellschaftliche Interesse an ihrem Thema weitgehend ausbleibt, wie Göb 1977 in seinem Beitrag „Die schrumpfende Stadt“ resümiert. So stünden, trotz des mittlerweile „allgemein bekannten Sachverhalts“ des Bevölkerungsrückgangs, Öffentlichkeit und Politik dem Phänomen noch „ziemlich apathisch“ gegenüber (Göb 1977: 154).

Dennoch werden die genannten Fragestellungen in den 1980er Jahren in der Planungswissenschaft stellenweise vertieft und aktualisiert (vgl. bspw. ARL 1983). Insbesondere in den Kernstädten wird aufgrund des anhaltenden Bevölkerungsverlustes und des Trends zur dezentralen Konzentration Wohnungsleerstand diagnostiziert und für die folgenden Jahrzehnte prognostiziert (vgl. Reiß-Schmidt und Zwoch 1985: 123). Städtebauliche Missstände und Leerstand in Großwohnsiedlungen finden nun öffentliches und planungswissenschaftliches Interesse und sind Gegenstand zahlreicher Fachtagungen (vgl. Autzen und Becker 1985: 134). In diesem Kontext wird die Anwendung von Städtebaufördermitteln für „Rückbau“, „Entdichtung“, „Teilabbruch“ und „Entkernung“ neben weiteren Anpassungsstrategien breit diskutiert (vgl. Henckel 1985). Auch die Entschuldung von Wohnungsunternehmen wird bereits thematisiert (vgl. Autzen und Becker 1985: 140). Um die mögliche Tragweite der Problematik als „warnendes Beispiel“ (Ganser 1985: 120) illustrieren zu können und dort implementierte Strategien zu evaluieren, werden bereits geschrumpfte Städte oder Vororte, wie etwa in den USA, Großbritannien oder Frankreich, als Beispiele herangezogen (vgl. Autzen und Becker 1985; Häußermann und Siebel 1985; Fortin 1985).

Mehrere im Rahmen dieser Arbeit analysierte Forschungsbiografien und befragte Planungswissenschaftler*innen sind bereits in der Vorläuferphase mit dem Thema Schrumpfende Städte befasst. So veröffentlicht Anfang der 1980er Jahre eine an der Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung (BfLR) angestellte Person ihre erste einschlägige Publikation. Wie sie auf das Thema Schrumpfung aufmerksam wird, ist nur durch eine Mehrzahl von Faktoren zu erklären, die sowohl in der eigenen empirischen Forschung, dem beruflichen als auch in dem gesellschaftlichen Kontext gelagert sind. Die Person wechselte zuvor innerhalb der BfLR in ein neues Referat, das sich mit Raumbeobachtung und Prognostik beschäftigt. Der damalige Leiter der BfLR, Karl Ganser, regt die Person an, sich quantitativ mit dem demografischen Wandel und der Schrumpfung auseinanderzusetzen. Die Entwicklung und Ausführung von Bevölkerungsprognosen zählten zwar bereits zu den klassischen Aufgaben der BfLR, sie erhalten Anfang der 1980er Jahre aufgrund wachsender Rechnerkapazitäten allerdings eine neue Dynamik.

Im Interview erklärt die Person, dass für die einschlägig interessierten Planungswissenschaftler*innen bereits zu dieser Zeit „sichtbar“ gewesen sei, dass das Ruhrgebiet und das Saarland schrumpfen:

„Es ging uns eigentlich nur darum Szenarien zu rechnen, um wie viel [Betonung durch die interviewte Person] sie schrumpfen werden. Dass sie schrumpfen war klar.“ (i1)

Gemäß der Interviewaussagen sei die Schrumpfung nicht nur aufgrund der Vielzahl darauf hindeutender Indikatoren – darunter Arbeitslosigkeit, Steueraufkommen, Wohnungsbau, Geburtenrate und Wanderungssaldi – offensichtlich gewesen. Sie sei, etwa im Ruhrgebiet, auch schon „spürbar“ geworden.

In ihrer ersten räumlich differenzierten Prognose aggregiert die Person verschiedene Regionstypen. Für einen dieser Typen, die „alt-industrialisierten Gebiete“, kann aufgrund der guten Datengrundlage eine im Vergleich mit den anderen Typen besonders belastbare Prognose aufgestellt werden, nämlich dass dort „die Bevölkerung nahezu unausweichlich schrumpft“ (i1). Aufgrund dieser Ergebnisse bzw. durch „reine Empirie“, so erklärt es die Person zunächst selbst, sei sie auf das Thema Schrumpfende Städte und Regionen gestoßen. Eine wesentliche Motivation für die räumlich differenzierten Prognosen sei gewesen, dass die Voraussetzungen für ihre Erstellung gerade erst geschaffen worden seien, sodass die Originalität möglicher Ergebnisse garantiert gewesen sei:

„Nach dem Motto: ‚Wir haben die Daten, wir haben diese Rechnerkapazitäten inzwischen, wir können das, also machen wir es‘. Dann kann man auch hinterher verkünden: ‚Ich habe Neuigkeiten für euch‘.“ (i1)

Hinzu kommt, dass die Akteur*innen der BfLR regelmäßig (gemeinsam) versucht hätten zu antizipieren, was in der Raumpolitik relevant werden würde und was die zukünftigen Anforderungen an die Politikberatung sein könnten. Auf Basis der räumlich differenzierten Prognosen sei die befragte Person insbesondere an der Diskussion um die Auswirkungen der Schrumpfung und den Umgang damit interessiert gewesen. Sie habe zusammen mit Karl Ganser auf die Problematik aufmerksam machen und auf die Vorteile früher Anpassungsmaßnahmen hinweisen wollen. Gleichzeitig sei es ihr Anliegen gewesen, keine „Panik daraus zu machen“. Allerdings hätten diese Punkte ohnehin nur geringe Aufmerksamkeit erregen können. Stattdessen habe sich die öffentliche Diskussion über den demografischen Wandel auf die Zukunft der Rente und später auf regionale Disparitäten und deren Ausgleich durch Wirtschaftsförderung fokussiert (i1).

Die Diskussion um regionale Schrumpfungsszenarien habe Anfang der 1980er Jahre nach Aussagen der interviewten Person aus einer Vielzahl von Gründen nicht wirklich Fahrt aufgenommen. So seien die meisten Bevölkerungsprognosen anderer Institute nicht (so stark) regionalisiert, die Methodik vergleichsweise unbekannt und die informierte Community dementsprechend klein gewesen. Der „Warnruf“ sei zwar in bestimmten, primär wissenschaftlichen Kreisen wahrgenommen worden, in Politik und Raumplanung sei das Thema allerdings zunächst nicht aufgegriffen worden:

„Man wollte auf keinen Fall zugeben, dass es auch die Gefahr des Schrumpfens gäbe. Das war sozusagen ein Tabu.“ (i1)

Für die betroffenen Regionen seien alternative Bevölkerungsprognosen von anderen Akteur*innen angefertigt worden, in denen Bevölkerungsverluste durch die Annahme unwahrscheinlicher Wanderungssaldi neutralisiert worden seien:

„[Der prognostizierte Bevölkerungsrückgang war] ein Thema, was gerade die in den Ländern für Raumordnung und Regionalpolitik Zuständigen nicht so breit öffentlich diskutieren wollten. Nach dem Motto: ‚Das wollen wir den Leuten nicht sagen, wir tun ja rechtzeitig was, damit es nicht passiert‘.

[…] In der Ministerkonferenz für Raumordnung, wo Bund und Länder sich eigentlich über so etwas zu unterhalten hatten, war das eigentlich ein Thema, was nicht so beliebt war. Auch in der Akademie [für Raumforschung und Landesplanung] war das zu Beginn nicht so beliebt, weil einfach die Furcht bestand, es könnten ja die Verlierer identifiziert werden und als Verlierer dastehen. Das ist Imageverlust und das will man aus politischen Gründen nicht haben. Das war nach dem Prinzip Hoffnung. Es wird bestimmt wieder alles besser, wenn wir da beispielsweise genug Regionalförderungsmittel reinpumpen.“ (i1)

Das Eingeständnis, die eigene Region verliere demografisch und wirtschaftlich, hätten Politiker*innen ungern und auch nur dann gegeben, wenn Mittel für strukturschwache Regionen, bspw. zur regionalen Wirtschaftsförderung, in Aussicht gestanden hätten. Die „politische Schizophrenie“, einerseits die eigene Strukturschwäche zu betonen, um Fördermittel einzufordern, und sich an anderer Stelle als starker und gut bemittelter Standort gegenüber Unternehmen und Wähler*innen zu präsentieren, bezeichnet die Person als damals gängiges Phänomen. Außerdem sei die Themenbreite dessen, was man damals als Aufgaben der Raumordnung auf Bundesebene verstanden habe, groß gewesen. Welches Thema stärker in den Blickpunkt rücken solle, sei nicht allein in der BfLR „entschieden“ worden, sondern auch durch den Kontext bestimmt gewesen: Innerhalb der BfLR hätten die Einschätzungen und Meinungen der miteinander im Austausch stehenden Mitarbeiter*innen eine Rolle gespielt, die sich aus politischen Einstellungen, empirischem Material sowie wissenschaftlichen Handlungslogiken – „Wo können wir Neues produzieren?“ (i1) – gespeist hätten. Aus dem breiten Themenspektrum, das die BfLR bei aller Schwerpunktsetzung trotzdem abgedeckt und in Publikationen teilweise gleichberechtigt nebeneinander dargestellt habe, habe sich die Politik und die Öffentlichkeit dann häufig auf ein Thema fokussiert. Dieses habe in der Folge mehr oder weniger unabhängig von der BfLR eine Karriere erlebt. Des Weiteren habe die BfLR mögliche Beratungsbedarfe seitens der Politik stets antizipieren wollen (i1). Im Sinne der Erwartungserwartung (Luhmann 1991: 411ff) trifft die BfLR also eigenständig Prioritätsentscheidungen, von denen sie annimmt, sie entsprächen den Relevanzkriterien der Politik.

Die Person wendet sich schließlich anderen Themen zu und veröffentlicht Mitte der 1980er Jahre das letzte Mal zum Thema Bevölkerungsrückgang. Sie erklärt das Ablegen des Themas zum einen durch einen erneuten Positionswechsel innerhalb der BfLR. Zum anderen sei Schrumpfung aus der Perspektive der laufenden Raumbeobachtung und im regionalpolitischen Diskurs nur die „eine Seite der Medaille“, Wachstum sei ebenso wichtig. Die Person beschäftigt sich im Anschluss insbesondere mit Wachstumsregionen.

In einem weniger Prognostik-orientierten und stärker stadtsoziologisch und planungspraktisch gelagerten Diskurs werden in den 1980er Jahren die „Chancen des Schrumpfens“ (Putz 1983: 3) hervorgehoben. Sie werden 1985 durch Häußermann und Siebel öffentlichkeitswirksam in ihrem gleichnamigen Beitrag im Wochenblatt DIE ZEIT erörtert. Der Text geht auf den Dortmunder Soziologentag 1984 zurück, zu dem die beiden Autoren einen stadtsoziologischen Vortrag mit Lokalbezug entwickeln wollen. Die referierten Thesen werden zunächst in dem genannten Artikel veröffentlicht und später in dem Buch „Neue Urbanität“ (1987) vertieft. Häußermann und Siebel interpretieren Schrumpfung darin als primär ökonomisches, strukturwandelbedingtes Phänomen und blenden demografische Prognosen sowie die oben geschilderten planungswissenschaftlichen Diskussionen weitgehend aus. Ihre zentrale These ist, dass die verbreitete Prämisse „aus Schrumpfen wieder Wachstum zu machen“ nicht nur häufig aussichtslos sei, sondern auch Gefahr laufe andere Qualitäten des städtischen Lebens in den Hintergrund zu rücken (Häußermann und Siebel 1988: 92). Schließlich könne eine sinkende Bevölkerungszahl beispielsweise den Wohnungsmarkt entlasten und der wachsende Flächenbedarf der Privathaushalte könne nun innerhalb der Stadt befriedigt werden (Häußermann und Siebel 1985: 36). Die Stadtpolitik müsse das Schrumpfen als Gestaltungschance begreifen und zu steuern suchen:

„Das Alte geht nicht mehr, jedenfalls nicht mehr überall. Etwas Neues ist noch nicht definiert oder gar gesellschaftsfähig. Und dennoch muß darauf hin geplant werden.“ (Häußermann und Siebel 1985: 37)

Die Vorstöße Häußermanns und Siebels, die letztlich einen Paradigmenwechsel in der Stadtentwicklungspolitik strukturschwacher Räume einfordern, erregen zunächst Aufmerksamkeit im öffentlichen und planungswissenschaftlichen Diskurs. Im Interview konstatiert Siebel, ihre Aussagen seien auch von der Politik stark nachgefragt worden und das Buch ‚Neue Urbanität‘ sei zunächst ein Verkaufserfolg gewesen. Allerdings versiegen die Diskussionen schlagartig, als die Wiedervereinigung ab 1989 die angesprochenen Probleme für einige Jahre in den Hintergrund rücken lässt. So ernten Häußermann und Siebel für ihre Vorstöße in den 1990er Jahren „steinernes Schweigen“ in Politik und Wissenschaft (Hannemann 2004: 74). Siebel erinnert sich im Interview, dass einige Wissenschaftler*innen „so ein bisschen versuchten sich lustig zu machen“ über die Thesen und Prognosen (i2). Weiske und Schmitt (2000: 163) ergänzen, dass die Aufforderung, die schrumpfende Stadt als „neuen Gegenstand“ zu entdecken, auch von Häußermann und Siebel selbst nicht dezidiert weiterverfolgt worden sei. Siebel selbst erklärt dazu:

„Ich glaube weder Hartmut Häußermann noch mir wäre da furchtbar viel Neues eingefallen. Das war für uns im Wesentlichen abgeschlossen. Und wenn Sie als Wissenschaftler arbeiten, dann möchten Sie auch mal etwas Neues und nicht ein altes Thema immer wieder durchwurschteln.“ (i2)

Später ergänzt Siebel:

„Solange das Problem nicht verstanden ist, möchte man daran arbeiten, glaubt man aber, es verstanden zu haben, sinkt das Interesse rapide. Deshalb haben Häußermann und ich z. B. nach der ‚Neuen Urbanität‘ uns nicht mehr um Schrumpfung gekümmert.“ (i3)

Auch wenn Siebel sich in den 1990er Jahren neuen Themen zuwendet, darf hier nicht unterschlagen werden, dass er im Rahmen der Internationalen Bauaustellung Emscher Park (IBA Emscher) (1989–1999) von dem Geschäftsführer Karl Ganser als Wissenschaftlicher Direktor engagiert wird. Er wirkt in dieser Funktion an wichtigen planungstheoretischen und -praktischen Anstößen im Umgang mit dem Strukturwandel mit und präzisiert seine zusammen mit Häußermann formulierten Forderungen teilweise anhand konkreter Projekte im Ruhrgebiet (siehe Kp. 7.2).

Mitte der 1980er Jahre greift eine weitere Person das Thema Schrumpfung im Kontext der Planungswissenschaft auf. Sie wird einige Jahre nach ihrer Promotion durch einen Vortrag des Soziologen und Bevölkerungsforschers Rainer Mackensen sowie im Anschluss durch dessen Publikationen (insb. Mackensen 1984) und den persönlichen Kontakt mit ihm auf den nahezu unausweichlichen Bevölkerungsrückgang aufmerksam gemacht. Die Person erkennt, dass mit dem Bevölkerungsrückgang große Herausforderungen für die Planung verbunden sind, und nimmt die Forschung zu den regionalen Auswirkungen der Schrumpfung sowie zu den Strategien des Umgangs damit auf. Im Interview schildert die Person, wie die Recherchen zum Thema zunächst nach dem klassischen Schneeballprinzip verlaufen seien. Ausgehend von wenigen Publikationen habe sie also Literaturhinweise verfolgt, um dort weitere Erkenntnisse und Literaturhinweise zu finden. Insbesondere die oben genannten ARL-Publikationen hätten sich dabei als nützlich erwiesen. Dass die Person „viel zu wenig“ wissenschaftliche Literatur zu dem Thema gefunden habe, habe sie zunächst verunsichert, weil ihr zum einen wichtige Grundlagen gefehlt hätten und zum anderen das fachöffentliche Interesse gering zu sein schien. Andererseits sei sie zu dem Schluss gekommen, dass es sich dementsprechend „lohnt“, vertiefend zu dem Thema zu forschen und kollektive Wissenslücken zu schließen (i4).

Als die Person nach mehrjähriger Forschung ein Buch zu dem Thema habe veröffentlichen wollen, habe der Verlag die Änderung des Titels eingefordert:

„Ich wollte das eigentlich unter einer ganz anderen Überschrift veröffentlichen. Nämlich unter einer Überschrift, die auf den demografischen Wandel hinführt. Da hat dann der […] Verlag das abgelehnt und gesagt: Damit lässt sich das Buch nicht verkaufen, das müssen wir umändern. Dadurch kam dieser Titel zustande.“ (i4)

Der geänderte Titel ist allgemein gehalten und lässt keine Rückschlüsse auf die Themen Demografischer Wandel oder Schrumpfung zu. Die Verkaufszahlen des Buches beschreibt die Person trotzdem als gering. Es erscheint kurz vor der Wiedervereinigung, die in der Planungswissenschaft und der Raumpolitik großen Raum einnimmt. Das anfangs durchaus vorhandene Interesse einiger Politiker*innen an den Thesen sei in der Folge erloschen. Die Person führt dies auch darauf zurück, dass diese Politiker*innen angesichts des Zeitgeistes keine Möglichkeit gesehen hätten, das erkannte Problem auf die politische Agenda zu setzen und zu unmittelbar umsetzbaren Lösungen zu gelangen (i4).

Nach eigener Aussage habe die Person Anfang der 1990er Jahre mehrfach (fach-)öffentlich darauf hingewiesen, die Programme zur Förderung des Wohnungsbaus in den neuen Ländern seien angesichts der Wanderungsbewegungen und Bevölkerungsprognosen „eigentlich fehlgeleitet“ und würden den „Leerstand der Zukunft“ produzieren (i4). Ihre Warnungen seien zwar wahrgenommen, aber nicht weiterverfolgt worden. Belegen lassen sich diese Interviewaussagen mangels textlicher Manifestierungen lediglich insofern, als dass die Person das Thema in den 1990er Jahren weiterverfolgt und in Publikationen, Vorträgen und Diskussionsrunden jeweils am Rande erwähnt. Dass die Person das Thema in den 1990er Jahren nicht in das Zentrum der Betrachtung rückt, erklärt sie selbst damit, dass sie keine Anfragen für einschlägige Vorträge und Projekte erhalten habe. Solche Anfragen hätten aber für sie oft den Anstoß gegeben, eine Fragestellung zu vertiefen, um anschließend die Ergebnisse in wissenschaftlichen Artikeln zu publizieren (i4).

Zwar keimt in den geschilderten Diskussionen hin und wieder das Potenzial für eine breite planungswissenschaftliche und gesellschaftliche Debatte auf, diese tritt jedoch in den 1970er und 1980er Jahren nicht ein. Die Interviewaussagen geben Anhaltspunkte dafür, dass das systemübergreifend vorhandene Widerstreben gegenüber der Thematisierung von Schrumpfungsprozessen Ende der 1980er Jahre abgebaut wird. Ab 1989 setzt allerdings die deutsche Wiedervereinigung ein, über deren abrupte Wirkung auf den Schrumpfungsdiskurs Einigkeit bei den befragten Personen sowie in der planungswissenschaftlichen Literatur besteht: Durch die „Einheitseuphorie“ werden Diskussionen zur Schrumpfung nicht nur überlagert, sondern größtenteils geschlossen, weshalb durch sie ein Endpunkt für die Vorläufer des Schrumpfungsdiskurses markiert wird.

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Der gesamte Verlauf der Aufmerksamkeit gegenüber dem Thema Schrumpfende Städte in der Planungswissenschaft gibt Anhaltspunkte zur Erklärung von Themenkarrieren. Zu diesem Verlauf zählen Beiträge aus den 1970er und 1980er Jahren, die bereits grundlegende Fragestellungen entwickeln und wesentliche Erkenntnisse hervorbringen. Allerdings ermüdet die (fach-)öffentliche Aufmerksamkeit gegenüber dem Thema nach der Wiedervereinigung in den 1990er Jahren. Als das Thema Anfang der 2000er Jahre zu einem dominanten Diskurs in der Planungswissenschaft wird, geschieht dies weitestgehend ohne Bezüge zu den Beiträgen aus den vorangegangenen Jahrzehnten. Das anfängliche Widerstreben und die Ignoranz gegenüber dem Thema seitens der Politik und Teilen der Planungswissenschaft erfahren die Protagonist*innen Ende der 1990er noch einmal in ganz ähnlicher Form, wie es bereits in den 1970er und 1980er Jahren erlebt wurde.

Die im Rahmen der Vorläufer des Schrumpfungsdiskurses diskutierten Inhalte – Bevölkerungsprognostik, Entleerung der Innenstädte, Großwohnsiedlungen, Strukturwandel – sind nicht als ein kohärenter, aufeinander aufbauender Diskurs zu sehen. Vielmehr handelt es sich um eigenständige Vorstöße aus jeweils unterschiedlichen Forschungstraditionen. Dennoch lassen sie sich im Nachhinein der ab Ende der 1990er Jahre entstehenden Themenkarriere Schrumpfende Städte zuordnen. Die Problemdiagnosen, Begriffe und Handlungsempfehlungen sind teilweise deckungsgleich mit jenen der 2000er Jahre. Weil aber der Diskurs ab Ende der 1990er Jahre nur marginal auf die Diskussionen aus den vorangegangenen Jahrzehnten aufbaut, lässt sich trotz inhaltlicher Überlappungen kaum von einer zusammenhängenden Kommunikation sprechen.

Die Vorläufer der Themenkarrieren zeigen einerseits, dass die Planungswissenschaft gesellschaftliche und räumliche Entwicklungen frühzeitig erkennen und Lösungsvorschläge entwickeln kann. Andererseits wird deutlich, dass die planungswissenschaftlichen Vorstöße in der Planungspolitik und -praxis nicht resonieren. Sie werden stattdessen ignoriert, belächelt oder abgelehnt. Dies führt dazu, dass die jeweiligen Initiativen auch innerhalb der Planungswissenschaft nicht weiterverfolgt werden und verhallen. Die einschlägig Forschenden wenden sich nach drei bis sechs Jahren schwerpunktmäßig anderen Themen zu. Ohne das wissenschaftsexterne Interesse ist die Planungswissenschaft offenbar nicht in der Lage, das Thema zu institutionalisieren und einen einschlägigen Wissenskanon über mehrere Jahrzehnte hinweg zu pflegen und weiterzuentwickeln. Zwar gibt es Anhaltspunkte, dass das systemübergreifend vorhandene Widerstreben gegenüber dem Schrumpfungsthema Ende der 1980er Jahre abgebaut wird, nach Einsetzen der Einheitseuphorie ist dieses aber wieder hergestellt. Die 1990er Jahre werden deshalb als Latenzphase der anschließend einsetzenden Themenkarriere Schrumpfende Städte eingeordnet.

7.2 1991 bis 1999: Latenzphase

Neben der Einheitseuphorie, die Politik, Öffentlichkeit und Planungswissenschaft für mehrere Jahre erfasst, tragen auch die Ergebnisse aus der Volkszählung von 1987, nach denen im Bundesgebiet ca. 1 Mio. Wohnungen weniger vorhanden sind als vorher angenommen, sowie eine erstarkte Zuwanderung aus dem Ausland zu einer Verdrängung des Themas Schrumpfende Städte bei (Spiegel 2007: 18–19; Leib und Mertins 1992: 134; Süddeutsche Zeitung 11.11.1995 zitiert in Jessen und Walther 2007: 385). Der Spiegel Nr. 29 vom 15.07.1991 titelt „Crash am Wohnungsmarkt: Die Neunziger werden ein Jahrzehnt schlimmsten Wohnungsmangels“. Dabei wird bereits 1990 in Ostdeutschland ein Leerstand von 420.000 Wohnungen verzeichnet (Hübl et al. 1996: 40). Neben der Abwanderung gerät der ostdeutsche Wohnungsmarkt auch durch den steuerlich subventionierten Wohnungsbau unter Druck, im Rahmen dessen zwischen 1991 und 1999 rund 690.000 neue Wohnungen in Ostdeutschland gebaut werden. Gemäß Aehnelt (2018: 21) sei es „eine der großen Paradoxien dieser Phase, dass der gesamte Wohnungsüberhang, der sich bis zum Ende des Jahrzehnts auftürmen sollte, rechnerisch allein auf das Konto des Neubaus und nicht der Abwanderung oder Alterung geht“. Die zwischen 1992 und 2002 eingesetzte Enquete-Kommission zum Thema „Demographischer Wandel – Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik“ verhandelt primär den Zusammenhang zwischen Alterung und Arbeitsmarkt, während der Bevölkerungsrückgang und seine Auswirkungen kaum eine Rolle spielen (Kaufmann 2005: 30; vgl. Deutscher Bundestag 2002).

Die IBA Emscher, die in den 1990er Jahren eine hohe Aufmerksamkeit seitens der Planungswissenschaft hervorruft, beschäftigt sich mit dem Strukturwandel im Ruhrgebiet und setzt Erneuerungsimpulse. Sie lässt sich als eine Brücke zwischen den Schrumpfungs- und Strukturwandeldiskursen der 1980er Jahre und jenen der 2000er Jahre interpretieren. Allerdings ist auch hier die Thematisierung der – über den montanindustriellen Niedergang hinausgehenden – Schrumpfung in den 1990er Jahren deutlich weniger ausgeprägt als in der Zeit ihrer Vor- und Nachbereitung in den 1980er Jahren bzw. ab dem Jahr 2000 (vgl. Sieverts und Ganser 1993; Mayer und Siebel 1998). Auffällig ist die Rolle Karl Gansers, der in mehreren Interviews und Dokumenten im Schrumpfungskontext als „kritischer Geist“ und „Antreiber“ beschrieben wird. Er gibt in seinen verschiedenen Funktionen für die BfLR, das Ministerium für Landes- und Stadtentwicklung des Landes Nordrhein-Westfalen, die IBA Emscher sowie als profilierter Planungspraktiker und -wissenschaftler in den 1970er, 1980er, 1990er und 2000er Jahren wichtige Anstöße für den Schrumpfungsdiskurs. Indem Ganser die verschiedenen Jahrzehnte sowie die verschiedenen Teildiskurse – insbesondere Bevölkerungsrückgang, Strukturwandel, planungspraktischer Umgang – miteinander verbindet, lässt er sich als die vielleicht wichtigste Klammer der zeitlich, inhaltlich und personell bislang weitgehend unverbundenen Schrumpfungsdiskurse betrachten.

Insgesamt mahnt die Planungswissenschaft in den 1990er Jahren nur sehr vereinzelt die Beschäftigung mit Schrumpfungsprozessen an. Nur acht planungswissenschaftliche Artikel (von 1.657) beschäftigen sich zwischen 1995 und 1999 mit dem Thema, sechs davon in der PLANERIN, sowie jeweils einer in der RuR und der RAUM. Bezüglich der mangelnden Aufmerksamkeit gegenüber dem Thema Schrumpfung resümiert Hannemann im Jahr 2004 (S. 75), das Zulassen und Steuern von Schrumpfung sei in den 1990er Jahren in der Politik nicht diskussionsfähig gewesen und es scheine fast „als habe sich die Stadtforschung über Jahre dem ‚Denkverbot‘ der Politik unterworfen“. Ganser (1997: 8–9) zeigt auf, wie bequem eine Abkehr vom unangenehmen Nachdenken über eine Steuerung rückläufiger Entwicklung zu einer „erneuten Wachstumseuphorie“ gewesen sei und konstatiert, dass so „mühsam aufgebautes Bewusstsein“ zerschlagen worden sei.

Einen ersten Impuls für die erneute planungswissenschaftliche Verhandlung des Themas bietet eine 1996 erscheinende Studie des Pestel-Instituts im Auftrag der DSL-Bank (vgl. Hübl et al. 1996). Sie prognostiziert einen Wohnungsüberhang von einem Drittel des Bestandes bis 2010 und kommt zu dem Schluss, dass 750.000 Altbauwohnungen abgerissen werden sollten. Einige Planungswissenschaftler*innen registrieren die sogenannte Pestel-Studie vorübergehend mit Interesse, allerdings fällt die fachöffentliche Resonanz weitgehend ablehnend und stellenweise vernichtend aus (Aehnelt 2018: 22). So wird der Bericht als interessengeleitet, methodisch fragwürdig und unseriös eingestuft. Die Gegenpositionierung der Politik wird indessen gestützt, nach der die Nachkriegs-Neubaubestände für die Wohnungsversorgung unverzichtbar seien und die Weiterentwicklung der großen Siedlungen geboten sei (vgl. Großhans 1997: 103; Rietdorf 1997a: 52, 1997b). Nelle (2018: 61) konstatiert, die Studie sei „mit der Thematisierung des Abrisses den Diskursen ihrer Zeit […] um ein paar Jahre voraus“. Ein weiterer Impuls geht von einem Wissenschaftsforum der Universität Bremen im November 1996 aus, das das „Verschwinden der Städte“ in den Fokus stellt und einschlägigen Beiträgen von Ganser, Häußermann und Siebel (u. a.) ein Forum bietet (vgl. Krämer-Badoni und Petrowsky 1997).

In einigen ostdeutschen Städten kommen ab 1996 in Veranstaltungen vermehrt die Themen Leerstand und Bevölkerungsrückgang auf, sie werden jedoch nicht systematisch aufgegriffen (Reuther 2003: 577). 1997 widmet sich die SRL-Jahrestagung sowie die in der Folge erscheinende Ausgabe der PLANERIN der „Stadt im harten Wandel“, stellt dabei aber nicht die ebendort diagnostizierten Leerstände in den Kernstädten und Großwohnsiedlungen in den Mittelpunkt, sondern die Entwicklungen in der „Zwischenstadt“ gemäß der so betitelten Neuerscheinung von Thomas Sieverts (1997). Mit der Zwischenstadt thematisiert Sieverts den Siedlungsraum, der weder dem städtischen noch dem ländlichen Raum zugeordnet werden kann, und problematisiert die mangelnde Aufmerksamkeit der Planung für diesen Typ der fragmentierten Stadtlandschaft. In den Folgejahren weisen einige weitere Veröffentlichungen auf Missstände in den Neubausiedlungen der neuen Bundesländer hin und fordern die Entwicklung von Konzepten, die auch Teilrückbau und Abriss miteinschließen (vgl. insb. BMVBW 1999; BBR 2000a) (Aehnelt 2018: 22–23; Nelle 2018: 61). Auch in der Planungspraxis lässt sich bereits der Beginn eines Umdenkprozesses beobachten. 1998 werden erstmals Abrissmaßnahmen in ostdeutschen Großwohnsiedlungen im Rahmen des Bund-Länder-Förderprogramms „Weiterentwicklung großer Neubauwohngebiete“ gefördert, sofern städtebauliche Missstände als Fördertatbestand nachgewiesen werden (Haller und Nelle 2018: 189–190; Rietdorf et al. 2001: 10–11). In Leipzig wird 1998 mit der „Neuen Gründerzeit“ ein Programm aufgelegt, das zur Verbesserung der Wohnumfeldqualität erstmals auch den Rückbau bestehender Gründerzeitstrukturen forciert (Glock 2006: 130–131).

Ende der 1990er Jahre beginnen an verschiedenen Instituten in Ostdeutschland junge Planungswissenschaftler*innen das Thema Schrumpfung aufzugreifen. Die in Abschnitt 7.1 benannten (planungs-)wissenschaftlichen Erkenntnisse der Vorläufer zum Thema Schrumpfende Städte spielen für ihr wachsendes Interesse zunächst keine Rolle. In den Interviews schildern die Pionier*innen ihre Themenfindung stellenweise wie eine Art Puzzle. Um selbst ein Problembewusstsein zu entwickeln, aber auch um anderen Akteur*innen dies vermitteln zu können, hätten die Forschenden verschiedene Teilaspekte gemeinsam betrachten müssen: Aktuelle Daten aus der Wohnungsmarktbeobachtung (insb. Hübl et al. 1996), Erkenntnisse aus einzelnen (Forschungs-)Projekten mit unterschiedlichen regionalen und thematischen Schwerpunkten, die gemeinhin wahrgenommenen Herausforderungen in den ostdeutschen Großwohnsiedlungen, leerstehende Altbauten und nicht zuletzt das alltägliche Erleben der Schrumpfung. Letzteres sei für eine interviewte Person besonders ausschlaggebend gewesen:

„Ich glaube, dass […] der Anstoß dieser Auseinandersetzung vielleicht gar nicht durch akademische Inspirationen kam – Publikationen oder politische Diskurse, die aufkommen und die man wahrnimmt –, sondern durch Schrumpfungserfahrungen in der Region, in der man lebt. […] Da, wo ich gewohnt habe, war eine Art Wohnungsruinenfeld, unglaublich viel Leerstand mit brach gefallenen Grundstücken, mit eingestürzten Häusern. […] Es war klar irgendwie, dass die räumliche Planung und Politik darauf reagieren muss. Und ebenso klar war, dass es ein völlig neues Thema ist und dass Planung überhaupt nicht darauf vorbereitet ist. Es waren, glaube ich, alltägliche Wahrnehmungen verstärkt eben durch so einen beginnenden Diskurs, der sich entwickelt hat, der uns […] und mir gezeigt hat: Das ist ein Riesenthema, wir müssen da irgendwie ran.“ (i5)

Für die Akteur*innen sei anfangs der formelle (bspw. interne review-Verfahren) und informelle (bspw. Gespräche nach Feierabend) Austausch mit Kolleg*innen sowie mit reflektierten Stakeholder*innen aus der Praxis maßgeblich für die Verfolgung des Themas gewesen, insbesondere dann, wenn die Gesprächspartner*innen unterschiedliche professionelle oder disziplinäre Hintergründe mitgebracht hätten (bspw. Raumplanung, Soziologie, Bevölkerungsforschung, Wohnungswirtschaft). Über einen einschlägig interessierten Personenkreis an ihrer planungswissenschaftlichen Einrichtung sagt eine Person:

„Dann gab es weitere Kollegen [mit unterschiedlichen Forschungshintergründen], die sich ebenfalls für das Thema interessiert haben. Also ich würde mal so sagen es waren fünf bis sechs Leute. Aber es war nicht institutionalisiert, […] es war eher ein loses Netzwerk von Themeninteressierten, die das diffuse Gefühl hatten: Da ändert sich was, da kommt irgendwas. Wir müssen uns da intensiver mit befassen.“ (i6)

Zwar schildern die befragten Personen, dass ihnen bereits Ende der 1990er Jahre klar geworden sei, dass das Thema die Raumplanung langfristig beschäftigen würde und dass diese noch nicht über das benötigte Problembewusstsein und die Lösungskompetenz verfüge. Jedoch sei weder die hohe Dringlichkeit, mit der das als Langzeitphänomen wahrgenommene Thema in den Folgejahren verhandelt worden sei, noch das Ausmaß der einsetzenden fachinternen Aufmerksamkeit für die Akteur*innen absehbar gewesen. So ist auch zu erklären, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema anfangs kaum auf eine strategische Motivation zurückzuführen ist. Vielmehr berichten die Interviewten von einer wachsenden persönlichen „Faszination“ für die Schrumpfungsproblematik (i7). Über den Zeitraum 1997 bis 1999 sagt eine Person:

„Es war glaube ich wirklich, wie man so schön sagt, ein intrinsisches Interesse. Wir fanden das einfach spannend. Raumplaner sagen immer gerne ‚Das ist spannend‘, aber das ist wirklich auch so gemeint. Das hat uns schon fasziniert. Auch diese damalige Physis [ostdeutscher Städte] hat mich total fasziniert. Das war auch einer der Gründe, wieso ich [aus einer westdeutschen in eine ostdeutsche Großstadt] gegangen bin, weil mich das wirklich interessiert hat. Also diese Überformung des Sozialismus und dann aber auch diese unverkennbaren Schrumpfungsspuren durch Deindustrialisierung, Abwanderung, baulichen Verfall, den die DDR ja nicht verhindern wollte, der Innenstädte. Das fand ich einfach erstmal faszinierend. Das hat eine Grundmotivation kreiert und verfestigt, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.“ (i8)

Der so gelagerten Motivation folgend, äußert sich die Beschäftigung mit dem Thema zunächst auch nicht in schwerpunktmäßigen Bemühungen innerhalb des Systems Wissenschaft. Wenn es zu einschlägigen Vorträgen und Publikationen kommt, so sind diese von geringer reputativer Strahlkraft, wie bspw. im Kontext einer Festschrift oder eines lokalen Symposiums.

Eine weitere interviewte Person befasst sich bereits seit Beginn der 1990er Jahre mit Großwohnsiedlungen, ihren Bewohner*innenstrukturen und Stakeholder*innen. Die Wahl dieses Themas sei in den ersten Forschungsjahren weitestgehend durch Vorgesetzte festgelegt und durch sie selbst nie in Frage gestellt worden. Auf größeren Konferenzen sei ihr jedoch der Eindruck vermittelt worden, sie beschäftige sich mit einem weniger reizvollen, randständigen Thema. Die Person selbst habe ihre Fachkolleg*innen zeitweise um ihre resonanzträchtigeren Themen beneidet, wie die folgende Aussage zeigt:

„Naja sagen wir es mal so: Plattenbaugebiete sind ja nun nicht unbedingt sonderlich sexy […]. Man steht so manches Mal mitten im Plattenbaugebiet und denkt sich: Jetzt ein Café und einen schönen Cappuccino. Und es ist weit und breit nichts als quadratisch, praktisch, gut. Abstandsgrün und Wind, der einem um die Nase weht. Das sind dann so die Momente, wo man eigentlich mehr sich selbst so ein bisschen belächelnd sagt: ‚Ach, hätte ich mich doch mal mit anderen Dingen beschäftigt‘. Aber ich habe meine Arbeit zu dem Themenfeld eigentlich nie in Frage gestellt in dem Sinne: ‚Das mache ich jetzt nur, weil ich muss‘.“ (i9)

Ab dem Jahr 1996 sei die Person im Rahmen ihrer Forschung durch Gespräche und Befragungen mit Akteur*innen der Wohnungswirtschaft darauf aufmerksam geworden, dass der zunehmende Leerstand in Großwohnsiedlungen für manche Wohnungsunternehmen zu einem existenzgefährdenden Problem werden könne. Allerdings sei ihre Problemwahrnehmung zunächst nur auf ihren Forschungsgegenstand Großsiedlungen bezogen gewesen. Die Person habe zu dem Zeitpunkt nicht gesehen, dass es schon zur Wendezeit rund 400.000 leerstehende Wohnungen in Ostdeutschland gegeben habe, die auf Verfallserscheinungen in Altbauten und auf ganz andere Eigentümergruppen zurückgingen. Den Moment, in dem sie ausgehend von ihrem eng abgegrenzten Thema Großsiedlungen, angestoßen unter anderem durch die oben genannte Pestel-Studie, die gesamtstädtische Problematik des Leerstands „begriff“, beschreibt die Person als „irritierend“:

„Denn man hätte gerade die Probleme der Stadtentwicklung in Ostdeutschland viel früher in ihrer Dimension erkennen können, wenn man sich eben nicht fokussiert hätte auf nur Großsiedlungen oder nur historischen Altbaubestand. Das war der Punkt, […] wo sich so allmählich das Themenfeld aufgeweitet hat.“ (i9)

Es folgen eigene Forschungen und Veranstaltungen zum Thema Leerstand. Mehr und mehr greift die Person in ihren Publikationen neben Strategien zur Aufwertung von Großwohnsiedlungen verstärkt die Themen Abwanderung, Mieterfluktuation und Leerstand auf.

Die Pionier*innen berichten von dem Widerstreben einiger etablierter Wissenschaftler*innen, Vorgesetzter und Politiker*innen in der Zeit vor der Jahrtausendwende. Dieses habe sich etwa darin manifestiert, dass keine Projekte mit einschlägigem Bezug in Auftrag gegeben worden seien, dass einschlägige Wortbeiträge auf Veranstaltungen Ablehnung erfahren hätten oder dass durch Vorgesetzte Maßnahmen ergriffen worden seien, um Mitarbeiter*innen von der Beschäftigung mit dem Thema abzubringen. Eine Person schildert etwa, wie Nachwuchswissenschaftler*innen an ihrer Einrichtung das Thema bereits diskutiert und erforscht hätten, während die etablierten Wissenschaftler*innen das Thema zugunsten anderer Themen strukturell vernachlässigt hätten – solange bis das Thema auf die politische Agenda gelangt sei:

„Also ich habe das Gefühl, dass dieses Thema eher so bottom-up [in unserer Einrichtung] institutionalisiert worden ist […], dass von der Leitung […] zunächst andere Schwerpunkte bis ungefähr zur Jahrtausendwende gesetzt worden sind. Dann kam es ja auch in der Politik, und es ist extrem diskursmächtig geworden, dieses Thema. Aber so die ersten Jahre, so 1997, 1998, 1999, gab es eine kleine Gruppe von Interessierten im Institut, die das ein bisschen auf die Agenda gesetzt hat. […] Aber es war nicht sofort oder nicht relativ schnell Politik [der Einrichtung] sich damit zu befassen.“ (i10)

Die entgegengebrachte Ablehnung brachte die Akteur*innen nicht von ihrem einschlägigen Interesse ab. Teilweise habe sie zu der wachsenden Motivation beigetragen, sich mit dem Thema Schrumpfung intensiv zu beschäftigen. Die Pionier*innen hätten sich vermehrt mit Akteur*innen auseinandergesetzt, die über ein deutlich schwächer ausgeprägtes empirisches Fundament verfügt hätten, von denen sie sich in ihren teilweise abweichenden Positionen aber nicht ernst genommen gefühlt hätten:

„Da eine eigene Linie zu finden und zu sagen: Was passiert denn hier eigentlich tatsächlich? Hat mich dann beschäftigt bis zu dem Punkt meiner Dissertation, wo ich gesagt habe: ‚Okay, wenn ich über einen längeren Zeitraum immer wieder den unterschiedlichsten Diskursen ausgesetzt bin, möchte ich mit so einer Dissertation auch einen Punkt finden, wo man die eigene Position auch mal festhält, und deutlich macht, und sie auch belegt.‘“ (i11)

„In dem Moment, wo wir gemerkt haben ‚man kommt […] um das ganze Leerstandsthema nicht herum, es muss thematisiert werden‘, da erntet man erstmal unendlich viel Gegenwind. Und man muss natürlich gucken, wie bettet man es ein, wie begründet man es […]. Wo dann die Leute gesagt haben: ‚Was Ihr uns hier erzählt zu Schwedt oder Stendal, das ist doch alles Quatsch. Das ist doch nur vorübergehend, das waren besondere Bedingungen, das kann man überhaupt nicht übertragen.‘ Da braucht man ja Argumente, um in der Diskussion dann irgendwie bestehen zu können.“ (i12)

Zur Stärkung der eigenen Position, forschen die Planungswissenschaftler*innen nach Argumenten, die über ihren ursprünglichen Forschungsgegenstand hinausgehen. Eine Person stößt dabei unter anderem auf die Publikationen von Häußermann und Siebel. Faszinierend seien hierbei insbesondere die damals in ähnlicher Weise vorliegenden Barrieren der Thematisierung gewesen und „wie wenig an Aufmerksamkeit und wie viel an Abwertung oder Abwehrhaltung von Fachkollegen auch da war“ (i13). Eine solche Abwehrhaltung habe die befragte Person auch in ihrem direkten Arbeitsumfeld zu spüren bekommen. Während ihr*e Vorgesetzte*r den Großteil seines*ihres planungswissenschaftlichen und planungspraktischen Lebenswerks durch die Schrumpfungs- und Stadtumbau-Debatte gefährdet gesehen habe, sei sie selbst „viel weniger befangen in der Auseinandersetzung“ gewesen (i13). Lange in der zweiten Reihe stehend, sei sie nun in der Fachöffentlichkeit und darüber hinaus als Person wahrgenommen worden:

„Naja, als diese ganze Schrumpfungs- und Leerstandsdebatte hochkam, habe ich mich teilweise schon sehr deutlich positioniert. Also auch im Rahmen von Veranstaltungen: ‚Das ist ein Thema, damit müssen wir uns beschäftigen, […] ob wir es schön finden oder nicht‘. Damit habe ich mich natürlich an vielen Stellen auch ein bisschen gegen den Mainstream gestellt. […] Klar, da fingen dann auch Konflikte an, was dann auch dazu geführt hat, dass [von einer vorgesetzten Person] direkt bestimmte Sachen an mich herangetragen worden sind. In dem Sinne: ‚Können Sie sich nicht mal hiermit oder damit beschäftigen?‘ So ist dieses [andere Thema ohne Schrumpfungsbezug] an mich herangetragen worden.“ (i13)

Der Beginn dieses Zitats markiert den – erst im Nachhinein erkennbaren – Phasenübergang von der Latenz- zur Durchbruchphase: Es wird erstmals von einer „Debatte“ gesprochen, die an Resonanz gewinnt. Eine explizite Positionierung in dem Thema erscheint plötzlich erstrebenswert. Den Schilderungen der Pionier*innen zufolge reagieren die etablierten Akteur*innen bis jetzt entweder gar nicht oder sie ergreifen Maßnahmen gegen das Aufkommen des Themas. Das Nicht-Reagieren lässt sich noch damit erklären, dass die etablierten Akteur*innen die Debatte nicht zur Kenntnis nehmen (wollen). Das aktive Ergreifen von Maßnahmen der Verhinderung zeigt dagegen, dass das Thema einschließlich inhaltlicher, sozialer, politischer und räumlicher Dimensionen auch für Außenstehende sichtbar wird. Inwieweit die Abwendung des Themas gelingen kann bzw. inwieweit sich auf der anderen Seite die Investitionen der Pionier*innen auszahlen, ist bis zu diesem Zeitpunkt nicht absehbar. Noch ist möglich, dass die Pionierarbeiten, ähnlich wie jene der 1970er und 1980er Jahre, verhallen.

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Ab Mitte der 1990er Jahre sind mehr und mehr einschlägige Aktivitäten und Kommunikationen in der Planungswissenschaft zu verzeichnen. Einige Pionier*innen beginnen dem Thema Schrumpfende Städte Zeit und Ressourcen zu widmen. Das Aufgreifen des Themas in der Latenzphase ergibt sich aus dem Zusammenspiel verschiedener Impulse, wobei Gespräche mit Akteur*innen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft sowie persönliches Erleben eine wichtige Rolle einnehmen. Zunehmend schreiben die Pionier*innen dem Thema eine hohe Bedeutung zu, auch wenn sie die Dimensionen der Fokussierung in den Folgejahren nicht vorhersehen. Sie beginnen Daten zusammenzutragen und über das Thema zu kommunizieren – zunächst über weniger reputationsträchtige Kanäle (bspw. Gespräche, Vorträge, Jubiläumsbände). Sie sind dabei mit verschiedenartigen institutionellen Hemmnissen in Bezug auf die Themenwahl konfrontiert: Desinteresse oder Anfeindungen seitens der Fachgemeinschaft, Ignoranz oder Sanktionierung seitens der Vorgesetzten, ausbleibende Resonanz und fehlende Mittelzuweisungen seitens wissenschaftsexterner Akteur*innen. Sie selbst sind fasziniert von dem Thema, was unter anderem auf die Diskrepanz zwischen der zunehmend für sie erkennbaren Dimension der Problematik auf der einen und der fachgemeinschaftlichen Nichtbeachtung auf der anderen Seite zurückzuführen ist.

Die strukturellen Hemmnisse wirken einerseits demotivierend und lenken die Aufmerksamkeit auf andere Themen, deren Bearbeitung einfacher und gewinnbringender erscheint. Andererseits hat gerade die strukturelle Ignoranz einen motivierenden Effekt, denn die Pionier*innen müssen Argumente zusammentragen, wenn sie Resonanz für ihre einschlägigen Erkenntnisse erhalten wollen. Da sie von der Wichtigkeit des Themas überzeugt sind, investieren sie Zeit und Ressourcen, um die benötigten Kompetenzen zu erlangen. Dadurch entstehen in den letzten vier Jahren der Latenzphase Wissen sowie ein – noch weitgehend unverbundener – Expert*innenkreis zum Thema Schrumpfende Städte. In der Retrospektive lässt sich feststellen, dass damit eine Fundierung für den direkt anschließenden Durchbruch geschaffen wird. Das heißt, Pionier*innen erarbeiten epistemisches und soziales Kapital, auf das in den Folgejahren aufgebaut wird.

Den Schilderungen der jungen Planungswissenschaftler*innen zufolge ignorieren die etablierten Planungswissenschaftler*innen in der Latenzphase zunächst das Thema. Damit einher geht das Aufrechterhalten der präferenziellen Allokation von Ressourcen zugunsten anderer Themen. Als die Etablierten erste Zeichen des Aufkommens einer Debatte erkennen, ergreifen sie partiell sogar aktiv Maßnahmen zur Verhinderung des Themas. Ihr wissenschaftliches Kapital ist zum Teil an die Allgemeingültigkeit des Wachstumsparadigmas gebunden, das sie nun im Kontext ihres Forschungsfeldes in Frage gestellt sehen. Auch die emotionale Verbundenheit gegenüber dem eigenen Lebenswerk spielt dabei eine Rolle. In der Latenzphase ist noch nicht absehbar, ob, wann und in welcher Form das Thema einen disziplinweiten Durchbruch erfahren wird.

7.3 2000 bis 2001: Durchbruchphase

Im Juli 2000 erscheint die 9. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes, die von einem Rückgang der Bevölkerung in Deutschland um 12–17 Millionen bis zum Jahr 2050 ausgeht (Statistisches Bundesamt 2000). Gemäß Mäding (2006: 339) führt diese Veröffentlichung „zu einem Wendepunkt in der öffentlichen Aufmerksamkeit und zu einer anhaltenden Debatte auch in den Medien über Ursachen, Quantitäten und Folgen der demographischen Prozesse und über politische Handlungsmöglichkeiten“. Für viele Planungswissenschaftler*innen markiert insbesondere der im November 2000 veröffentlichte Bericht der Kommission „Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel in den neuen Bundesländern“ (Lehmann-Grube-Kommission) (Pfeiffer et al. 2001) den Durchbruch der Debatte um Schrumpfende Städte, nicht nur in Bezug auf das Maß der Aufmerksamkeit. Auch bezüglich der inhaltlichen Lenkungswirkung bzw. des Framings ist der Bericht wirkmächtig, mit dem Ergebnis der vorübergehenden Fokussierung auf das ökonomische Problem des massenhaften Wohnungsleerstandes Anfang der 2000er Jahre (Jessen und Walther 2007: 385). Die Bedeutung der beiden genannten Publikationen spiegelt sich in den Zitationen wider (siehe Tab. 7.1).

Tab. 7.1 Meistzitierte Publikationen in planungswissenschaftlichen Artikeln zum Thema Schrumpfende Städte zwischen 2000 und 2003 (bzw. ergänzend zwischen 2004 und 2014)

Die Lehmann-Grube-Kommission ist im Februar 2000 im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (BMVBW) konstituiert worden. Sie setzt sich aus 17 Mitgliedern zusammen, darunter primär Akteur*innen der Wohnungswirtschaft und der Kommunalpolitik, mit Werner Rietdorf aber auch ein Planungswissenschaftler. Er ist Abteilungsleiter am Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) Erkner, das bereits im Vorfeld der Kommission gegenüber dem BMVBW auf die Leerstandsproblematik hingewiesen hat und der Kommission mit verschiedenen Studien zuarbeitet (vgl. Rietdorf et al. 2001).

In ihrer Analyse stellt die Lehmann-Grube-Kommission fest, dass es einen strukturellen Leerstand von rund einer Million Wohnungen in Ostdeutschland gebe und ein weiterer Anstieg des Leerstands zu erwarten sei. Zahlreiche Handlungsempfehlungen der Kommission finden innerhalb weniger Jahre Eingang in die Gesetzgebung, darunter die Abrissförderung für 300.000 bis 400.000 Wohnungen in zehn Jahren, die Anpassung der Eigenheimzulage sowie die „flankierende Entwicklung eines neuen Typus der Stadtentwicklungsplanung“ (Stubbe 2004: 65; Aehnelt 2018: 23–27). Aufbauend auf dem Lehmann-Grube-Bericht wird im Jahr 2001 der Wettbewerb „Stadtumbau Ost – für lebenswerte Städte und attraktives Wohnen“ initiiert. Er stellt ostdeutschen Kommunen bis zu 125.000 Euro für die Erarbeitung und Einreichung von integrierten Stadtentwicklungskonzepten sowie fachliche Unterstützung zur Verfügung. 259 Kommunen und 10 Stadtteile Ostberlins nehmen daran teil (BMVBS 2012b). Hieran anknüpfend wird im Jahr 2002 das gleichnamige Städtebauförderungsprogramm aufgelegt, das den ostdeutschen Städten insbesondere durch Rückbau und durch die Aufwertung innerstädtischer Quartiere wieder zu intakten Stadtstrukturen und Wohnungsmärkten verhelfen soll (Nagel und Preibisch 2001: 542). Im Rahmen des Programms werden in den Jahren 2002 bis 2005 jeweils ca. 150 Millionen Euro eingesetzt (BMVBS 2012a: 12).

Die interviewten Personen nennen einhellig die Lehmann-Grube-Kommission und das Programm Stadtumbau Ost als die wichtigsten Faktoren, die die Resonanz auf das Thema Schrumpfung und die eigenen Forschungsergebnisse in der ostdeutschen Politik schlagartig verändert haben. Eine Person schildert diesen „Moment“ folgendermaßen:

„In dem Moment als die Ergebnisse des Gutachtens da lagen und gesagt worden ist: ‚Es gibt eine Million leerstehende Wohnungen. Um den Abriss wird man hier nicht herum kommen. Wir schlagen vor Förderprogramme zu machen. Wir schlagen auch vor einen Wettbewerb zu machen, sodass alle die, die künftig mal an so einem Stadtumbauprogramm partizipieren wollen, sich auf der konzeptionellen Ebene erstmal fit machen.‘ In dem Moment war das ganze Thema Schrumpfung plötzlich öffentlich diskutierbar. Im Sinne von: Wenn ich mich zum Leerstand und damit auch zur Schrumpfung bekenne, habe ich die Möglichkeit, im nächsten Schritt an Förderungen zu partizipieren.“ (i14)

Das bislang kaum öffentlich vollzogene Eingeständnis der Schrumpfung wird nun mit einem starken finanziellen Anreiz versehen, der bei einem Großteil der Kommunen und Stadtteile ausschlaggebend für das erstmalige Bekenntnis zur Schrumpfung gewesen sein dürfte. Diese Dynamik wird dadurch verstärkt, dass viele Wohnungsunternehmen aufgrund des Leerstandes in ihrer Existenz gefährdet sind und die finanziellen Mittel der Kommunen zunehmend verknappen (Rietdorf et al. 2001: 10; Reuther 2003: 577). Reuther (2003: 577) resümiert hierzu: Ein lange „von den allgemeinen Wachstumserwartungen und erheblichen Transferleistungen zur Sanierung und Erweiterung der baulichen Substanz“ überlagertes Problem sei so „zutage gefördert“ bzw. plötzlich verstärkt wahrgenommen und mit hoher Dringlichkeit auf die Agenda gehoben worden. Weiterhin konstatiert sie:

„In einem erstaunlich kurzen Zeitraum haben sich die verschiedenen Akteure der Stadtentwicklung […] über die Grenzen ihrer eigenen Vorstellungskraft und ihrer traditionellen Ressorts hinaus neu orientiert und müssen sich nun praktisch verhalten. Die Stadtplanungspraxis in Deutschland hat einen innovativen und kreativen Moment erlebt.“ (Reuther 2003: 575)

Das Forschungsdesign dieser Arbeit ist nicht darauf ausgelegt nachvollziehen zu können, wie das Thema Schrumpfende Städte in den Medien und in der Politik aufkam (für Letzteres siehe insb. Bernt 2017). Angesichts der starken Einflussnahme dieser Systeme auf die Planungswissenschaft ist aber bemerkenswert, dass an keiner Stelle – weder in den Interviews noch in der wissenschaftlichen Literatur – geäußert wird, dass die durchaus vorhandenen planungswissenschaftlichen Erkenntnisse und Vorstöße den Durchbruch in Politik, Medien und Planungswissenschaft befördert hätten. Stattdessen wird die zentrale Rolle der Wohnungs- und Kreditwirtschaft, der Bundes- und Länderpolitik sowie der Ministerialbürokratie hervorgehoben. Für eine weitergehende Analyse in diese Richtung wäre bspw. die Rolle des IRS bei der Entstehung der Lehmann-Grube-Kommission sowie des Stadtumbauprogrammes zu untersuchen. Zweifelsfrei lieferte das IRS vor, während und nach der Lehmann-Grube-Kommission wichtige und vielbeachtete planungswissenschaftliche Erkenntnisse. Inwieweit das Institut aber darüber hinaus mitwirkte, initiale Impulse zu geben und das Thema politisch zu setzen, ist fraglich.

Die in Abschnitt 7.2 erwähnten, bereits vor dem Jahr 2000 an dem Thema interessierten, jungen Planungswissenschaftler*innen erleben die plötzlich einsetzende Dynamik im öffentlichen Diskurs sehr bewusst. Trotz ihrer Pionierrolle werden sie von der tatsächlichen Dimension der Schrumpfung noch einmal überrascht, als diese ab dem Ende der 1990er Jahre deutlich zu Tage tritt. Aufgrund der sich abzeichnenden hohen gesellschaftlichen Relevanz, bei gleichzeitig noch geringer fachinterner Aufmerksamkeit, erkennen die Pionier*innen vermutlich im Laufe des Jahres 2000, dass das Thema Schrumpfung nicht nur für die Planungswissenschaft, sondern auch für die eigene wissenschaftliche Karriere ungenutztes Potenzial besitzt. Ab dem Jahr 2000, vor Erscheinen des Lehmann-Grube-Berichts, gründen im Rahmen der ARL zuerst ostdeutsche Landesarbeitsgemeinschaften (LAGs) Arbeitsgruppen zum Thema Schrumpfung (vgl. bspw. Müller und Siedentop 2003). Im Rahmen solcher formeller Programme und Austauschformate werden erste Veranstaltungen mit explizitem Schrumpfungsbezug einberaumt, in denen ein wachsender Akteur*innenkreis einen Rahmen für die planerische und planungswissenschaftliche Verhandlung des Themas abstecken kann.

Große Teile der Fachgemeinschaft haben den Eindruck, es mit einem gänzlich neuen Phänomen zu tun zu haben. Davon zeugen nicht nur die Interviews, sondern auch die Zitationen, unter denen sich kaum Rückgriffe auf ältere planungswissenschaftliche Arbeiten findenFootnote 2. Ein weiteres Muster zeigt sich in den Zitationen: Unter den acht Publikationen, die zwischen 1997 und 2002 mehr als einmal zitiert werdenFootnote 3, ist Sieve rts „Zwischenstadt“ die einzige, die nicht auf eine*n institutionelle*n Auftraggeber*in zurückgeht (siehe Tab. 7.2). Hierbei ist anzumerken, dass „Zwischenstadt“ (1.) auch in den nicht einschlägigen Artikeln zu den meistzitierten Publikationen zählt und dass (2.) die daraus geschöpften Erkenntnisse für sich noch keinen Schrumpfungsbezug enthalten, sondern diesen erst durch die (nachträgliche) Kontextualisierung in den einschlägigen Artikeln bekommen (vgl. Winkel 2002a; Kegler 2002; Reuther 2003). Das Buch ist also eine zentrale Publikation für die gesamte Planungswissenschaft, das thematisch zwar Verknüpfungen zum Schrumpfungsdiskurs erlaubt, aber zunächst nicht selbst in diesem verortet ist.

Tab. 7.2 Meistzitierte Publikationen in planungswissenschaftlichen Artikeln zum Thema Schrumpfende Städte aus den Jahren 1997 bis 2002Footnote

Selbstzitationen ausgenommen

Nachdem in den fünf Jahren 1995 bis 1999 acht Artikel (von 1.675) einen Beitrag zum Thema Schrumpfung enthalten, sind es im Jahr 2000 und 2001 schon jeweils sieben pro Jahr (von 394 bzw. 364). Eindrücklicher ist diese Steigerung zusammen mit der Fokusverschiebung innerhalb der gezählten Artikel: Wurde Schrumpfung vor 2000 fast ausschließlich am Rande besprochen, rückt das Thema 2000 und 2001 in den Mittelpunkt der meisten gezählten Artikel. Im August 2000 widmet die Zeitschrift RaumPlanung ihre 91ste Ausgabe dem Schwerpunkt „Die schrumpfenden Städte“. Darin wird zum einen festgestellt, dass die Zeitungen immer häufiger über das Thema berichten, es aber gleichzeitig noch ein „Un-Thema“ sei, zu dem die „Professionellen der Stadtplanung, der Kommunalpolitik und der Stadtforschung“ sich nur zögerlich äußern, „weil sie nicht die Botinnen mit den schlechten Nachrichten sein wollen“ (Weiske und Schmitt 2000: 162). Während im Jahr 2000 die PLANERIN und die RaumPlanung die einzigen planungswissenschaftlichen Zeitschriften sind, in denen einschlägige Artikel erscheinen, kommen im Jahr 2001 die IzR, RAUM und disP mit je einem Artikel hinzu.

Inhaltlich handelt es sich bei den Artikeln des Jahres 2000 und 2001 primär um grundlegende Aufarbeitungen. Sie variieren zwischen wohnungswirtschaftlichen Bestandsaufnahmen, planungstheoretischen Einordnungen sowie Schilderungen ostdeutscher Stadtentwicklungen und dort bereits implementierter Planungsansätze. Wie sich unter anderem anhand der Zitationen zeigt, werden verschiedene Diskursfelder weitergeführt oder neu eröffnet, ohne dass bereits von einem kohärenten, vernetzten Diskurs die Rede sein kann. Die Autor*innen verknüpfen dabei stets, je nach Beitrag in unterschiedlich starker Ausprägung, ihre bisher verfolgten Forschungspfade (bspw. Großwohnsiedlungen oder Regionalentwicklung) mit dem Thema Schrumpfung, was sich auch in einem hohen Anteil an Selbstzitationen niederschlägt.

Über die Zeit vor bzw. nach der Veröffentlichung der Lehmann-Grube-Kommission Anfang 2001 berichtet eine Person im Interview:

„Für uns war das hier [zeigt auf Zeitraum 19982000] natürlich eine ganz intensive Arbeitsphase, ohne dass sich das tatsächlich in Produkten niederschlägt. Und eigentlich kann man sagen hier so [20012002], zeitgleich mit der Veröffentlichung der Ergebnisse der Expertenkommission, wo plötzlich das Thema in der Öffentlichkeit ist, stellt man fest: ‚Jetzt ist der Zeitpunkt, jetzt kann man sich dazu äußern, jetzt kann man die Sachen publizieren‘. Und das haben wir genutzt.“ (i15)

Die Akteur*innen berichten von Vor- und Nachteilen der plötzlich erstarkten öffentlichen Aufmerksamkeit gegenüber dem Thema. Auf der einen Seite sei man nach Jahren in der Nische nun in der erfreulichen Situation gewesen, dass ein größerer (fach-)öffentlicher Kreis die eigenen Ergebnisse verfolge und neue Kooperationen möglich werden. Genauso habe man die Beiträge der anderen Institute und Akteur*innen rezipiert und dadurch Anstöße für wiederum eigene Forschungsaktivitäten erhalten. Auf der anderen Seite habe es Spannungen und Revierdenken im Zuge einer aufkeimenden Konkurrenz um das Thema gegeben, insbesondere auf der Führungsebene. Die Befragten berichten, dass gegenüber der ursprünglichen persönlichen „Faszination“ bzw. dem „intrinsischen Interesse“ nun die strategische Dimension viel stärkeres Gewicht bekommen habe. Die fachöffentliche Aufmerksamkeit sowie die Verfügbarkeit von Drittmitteln hätten dazu geführt, dass die Protagonist*innen Druck verspürt hätten, sich durch Projekteinwerbung und Publikationen zu positionieren. So berichtet eine Person:

„BBSR, Umweltministerium, Bauministerium, Umweltbundesamt fingen dann natürlich auch an, das Thema auf die Agenda zu setzen. Da war klar, es gibt Mittel dafür, man muss sich da jetzt aufstellen. [Andere Forschungseinrichtungen] haben auch sehr früh zu erkennen gegeben, dass sie sich mit dem Thema befassen werden. Dann war natürlich eine gewisse Konkurrenz da und uns war klar, man muss sich wettbewerblich aufstellen, um dann Forschungsgelder zu akquirieren. Es kam dann ein externer Impuls dazu: Es geht jetzt auch um Geld!“ (i16)

Die Interviewaussage dokumentiert die Transformation des strukturellen Kontextes. Ab dem Jahr 2001 erzeugen einschlägige Kommunikationen nicht mehr Widerstreben und Ignoranz. Stattdessen, so legt das Zitat nahe, haben Akteur*innen das Nachsehen, die sich nicht umgehend mit eigenen Beiträgen in den fachgemeinschaftlichen Diskurs zum Thema einbringen. Etablierte Akteur*innen müssen erkennen, dass die Tabuisierung und Ausblendung des Themas nicht länger aufrechterhalten werden kann. Plötzlich erscheint es angesichts der nun offensichtlichen, hohen Bedeutung für die Disziplin sogar verwunderlich, dass das Thema seitens der Fachgemeinschaft jahrelang vernachlässigt und ignoriert werden konnte. Bei mehr und mehr individuellen und komplexen Akteur*innen innerhalb und außerhalb der Planungswissenschaft genießt das Thema zum Ende der Durchbruchphase Priorität.

Mit diesem institutionellen Wandel geht ein starker Anstieg verfügbarer Fördermittel für die einschlägige, planungswissenschaftliche Forschung einher. Der Umfang und die Laufzeit der Förderprogramme deuten an, dass das Thema langfristig zahlreiche Planungswissenschaftler*innen beschäftigen und an Bedeutung gewinnen wird. Das Anlaufen der Drittmittel-geförderten Forschungsprojekte markiert den Übergang von der Durchbruchphase in die Fokusphase. Der Phasenübergang ist darüber hinaus durch die abrupte Zunahme einschlägiger Artikel zwischen dem Jahr 2001 und 2002 dokumentiert.

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Im Jahr 2000 erarbeitet die Lehmann-Grube-Kommission ihren Bericht „Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel in den neuen Bundesländern“. In dieser Zeit werden bereits vermehrt einschlägige Konferenzen und Arbeitskreise einberaumt, um Handlungs- und Forschungsbedarfe zu ermitteln. Vereinzelt fragen öffentliche Auftraggeber*innen planungswissenschaftliche Expertise nach, bspw. im Rahmen von Begleitforschungen und Gutachten. In niedrigschwelligen Publikationssegmenten gewinnt das Thema an Raum, was sich nicht nur in der gestiegenden Häufigkeit einschlägiger Artikel zeigt, sondern auch darin, dass innerhalb der einschlägigen Artikel das Thema Schrumpfung in das Zentrum rückt.

Die Veröffentlichung des Lehmann-Grube-Berichts markiert den Durchbruch für die Debatte um das Thema Schrumpfende Städte. Zahlreiche Handlungsempfehlungen der Kommission werden innerhalb weniger Jahre umgesetzt. Es findet eine Rahmung des Themas statt, mit dem Ergebnis der vorübergehenden Fokussierung auf den massenhaften Wohnungsleerstand. Die Verfügbarkeit von Fördermitteln, bspw. im Rahmen des Stadtumbau-Ost-Programms, führt dazu, dass die in den 1990er Jahren vorherrschende Tabuisierung des Themas insbesondere in der Politik und der Wohnungswirtschaft aufgebrochen wird: Das Eingeständnis der Schrumpfung ist jetzt mit einem strukturellen Anreiz verbunden.

Die Nachfrage nach einschlägigem Wissen innerhalb und außerhalb der Wissenschaft steigt insbesondere im Jahr 2001 schlagartig. Die vormals mit strukturellen Hemmnissen konfrontierten, einschlägigen Expert*innen können nun ihren Wissensvorsprung in Wert setzen und damit soziales sowie ökonomisches Kapital generieren. Dementsprechend gewinnen strategische Interessen im Kontext des Themas an Bedeutung. Das heißt, die Hoffnung auf Reputation und finanzielle Ressourcen spielt nun eine stärkere Rolle. Gleichzeitig ist die epistemische Motivation nicht mehr die alleinige Antriebskraft für die Beschäftigung mit und die Kommunikation über Schrumpfende Städte. Damit einher geht eine veränderte Bedeutung von Zeit: Vor dem Jahr 2000 spielte es für die eigene Karriere aufgrund der kaum vorhandenen Resonanz und Konkurrenz eine geringe Rolle, wann ein einschlägiger Beitrag veröffentlicht wurde. In der Durchbruchphase werden allerdings Ressourcen verfügbar und neue Akteur*innen betreten das Feld. Als Folge dessen treten einschlägig aktive Planungswissenschaftler*innen erstmals in Konkurrenz zueinander. Sie verspüren Druck sich zu positionieren, um Sichtbarkeit in der Fachgemeinschaft zu erlangen und Ressourcen generieren zu können.

Diese Veränderung der Anreizstrukturen in der Planungswissenschaft zugunsten des Themas Schrumpfende Städte ist charakteristisch für die Durchbruchphase. Die weithin wahrnehmbaren, mehrjährigen Förderprogramme zeigen auf, dass das Thema langfristig zahlreiche Planungswissenschaftler*innen beschäftigen und an Bedeutung gewinnen wird. Das Thema wird in der Planungswissenschaft und -politik jetzt – zumindest im Diskurs um die neuen Bundesländer – nicht mehr tabuisiert, sondern es genießt Priorität.

7.4 2002 bis 2006: Fokusphase

Das Stadtumbau-Programm induziert einen starken Anstieg einschlägiger planungswissenschaftlicher Konferenzen und Veröffentlichungen. Nachdem in den Jahren 2000 und 2001 bereits jeweils sieben Artikel zum Thema Schrumpfende Städte veröffentlicht wurden, sind es im Jahr 2002 21 Artikel und im Jahr 2003 40 Artikel. Auch der Trend, dass das Thema bereits 2000 und 2001 deutlich mehr Raum innerhalb der einschlägigen Artikel einnahm als in den Vorjahren, setzt sich in den Jahren 2002 und 2003 fort, was sich nun auch in den verwendeten Begriffen niederschlägt. Im Jahr 1999 und 2000 trug noch kein Artikel die Begriffe *schrumpf* oder *stadtumbau* im Titel, im Jahr 2001 waren es zwei (1x *schrumpf* und 1x *stadtumbau*), im Jahr 2002 sind es 13 von 21 einschlägigen Artikeln (6x und 7x) und im Jahr 2003 24 von 40 (7x und 18x). Zudem erscheinen zwei Ausgaben der PLANERIN (1/2002, 2/2003) sowie eine Doppelausgabe der IzR (10–11/2003) unter dem Titelthema Stadtumbau.

2002 und 2003 ist ein erster Aufmerksamkeitspeak erreicht. Standen in den Vorjahren noch verschiedene, kaum miteinander verbundene, teilweise ältere Diskurse nebeneinander, ist nun die diskursive Herstellung eines neuen planungswissenschaftlichen Themas Schrumpfende Städte nicht zu übersehen. Hiervon zeugt, dass in mindestens 10 von 21 Artikeln im Jahr 2002 eine sehr grundlegende, abstraktere bzw. weniger fallbeispielbasierte Auseinandersetzung mit dem „neuen Phänomen“ stattfindet, wie bspw. an den Titeln „Veränderte Rahmenbedingungen der Raumentwicklung“ (Siebel 2002), „Raumplanung unter neuen Vorzeichen“ (Winkel 2002a) oder „Herausforderung Schrumpfende Stadt“ (Klatt und Meyer 2002) abzulesen ist. Neben dieser Aufarbeitung der Grundlagen verbindet viele Artikel die Forschung nach Maßnahmen und Strategien für den Stadtumbau.

Es finden nun „in kaum noch zu überschauender Zahl Veranstaltungen zur Thematik statt“ (Fuchs und Wiechmann 2004: 1). Innerhalb der ARL sind seit 2000 mehrere einschlägige Arbeitsgruppen und überregionale Arbeitskreise zu Auswirkungen des demografischen Wandels auf die Raumentwicklung initiiert worden. Wegen der grundlegenden Bedeutung der Thematik, beschließt die ARL im Jahr 2003 erstmals die verschiedenen Aktivitäten in einer Verbundforschungsperspektive, das heißt erstmals als Kooperation verschiedener Arbeitskreise und Landesarbeitsgruppen, zu intensivieren (Strubelt und Zimmermann 2005: VIII). Aus Sicht einiger befragter Personen fungiere die ARL dabei als die „vorhandene Netzwerkstruktur“, auf die planungswissenschaftliche und -praktische Auseinandersetzungen mit dem Thema Schrumpfung aufgesetzt werden könnten (i17). Auch international bilden sich – unter maßgeblicher Beteiligung deutscher Planungswissenschaftler*innen – Netzwerke, darunter 2004 das „Shrinking Cities International Research Network (SCiRN)“, das die international vergleichende Erforschung von Regenerierungsstrategien in schrumpfenden Städten verfolgt (Wiechmann 2015a: 97).

Bis ins Jahr 2003 dominieren ostdeutsche und vereinzelt internationale Städte als Fallbeispiele für Schrumpfungsdynamiken und darauf abzielende Maßnahmen den Diskurs. Fuchs und Wiechmann konstatieren im Jahr 2004 (S. 1), Schrumpfung sei zwar „in aller Munde“, die Thematik werde aber in den alten Bundesländern „vielfach noch tabuisiert“. Insbesondere die Vorbehalte der Lokalpolitik seien in Westdeutschland stärker ausgeprägt, als Ende der 1990er Jahre in Ostdeutschland, wie eine interviewte Person berichtet:

„56 Jahre später hatten wir die Diskussion dann sehr viel stärker im Westen […], dass in [einer westdeutschen Großstadt] der Bürgermeister gesagt hat: ‚Ihr könnt mit mir über alles reden, aber das Wort Schrumpfung wird in meinem Beisein nicht in den Mund genommen.‘“ (i18)

Abermals gibt eine politische Intervention den Anstoß dazu, der Schrumpfung – diesmal in Westdeutschland bzw. in einer gesamtdeutschen Perspektive – mehr Aufmerksamkeit beizumessen. Im Jahr 2002 wird im Rahmen des Programms „Experimenteller Wohnungs- und Städtebau“ (ExWoSt) des BMVBW das Forschungsfeld „Stadtumbau West“ mit elf Pilotstädten initiiert. Im Jahr 2004 wird das gleichnamige Städtebauförderungsprogramm aufgelegt. Die hierfür eingesetzten Mittel erreichen zunächst mit 40 Millionen Euro im Jahr 2004 und 34 Millionen Euro im Jahr 2005 nur ca. ein Viertel des Umfangs der Stadtumbau-Ost-Förderung (BMVBS 2012c: 85, 2012a: 12). Die Erweiterung des Diskurses auf die neuen Bundesländer manifestiert sich jedoch bereits schrittweise in den Titeln einschlägiger Artikel: Nachdem in den Vorjahren kein expliziter Bezug auf Westdeutschland erkennbar ist, nehmen im Jahr 2003 2 von 40 planungswissenschaftlichen Artikeln im Titel Bezug auf Westdeutschland, 13 Artikel dagegen auf Ostdeutschland. Die beiden Artikel mit West-Bezug erscheinen Ende des Jahres in der IzR und verhandeln den Start des Stadtumbau West-Programms (vgl. Goderbauer und Karsten 2003; Hunger 2003). Im Jahr 2004 haben 4 von 20 einschlägigen Artikeln einen eindeutigen Bezug auf Westdeutschland im Titel, 3 auf Ostdeutschland. Im Jahr 2005 etabliert sich erkennbar eine gesamtdeutsche Perspektive.

Nachdem sich die jährliche Anzahl einschlägiger Artikel von 40 im Jahr 2003 auf 20 im Jahr 2004 halbiert, erreicht der Diskurs um Schrumpfende Städte im Jahr 2005 einen vorläufigen Höhepunkt: 50 Artikel lassen sich dem Thema zuordnen, das sind 12,6 Prozent aller Artikel dieses Jahres in den planungswissenschaftlichen Zeitschriften. Dabei fällt auf, dass die analysierten Zeitschriften aus Österreich (RAUM) und der Schweiz (disP) in den 2000er Jahren keinen Fokus auf das Thema Schrumpfung legen. Nur 6 von 9 (RAUM) bzw. 3 von 16 (disP) einschlägigen Artikeln in den Jahren 1995 bis 2014 erscheinen zwischen 2000 und 2007 (Gesamtartikelzahl 1995–2014: 909 bzw. 699) (siehe Tab. 7.3). Ohne diese beiden Zeitschriften liegt der Anteil einschlägiger Artikel im Jahr 2005 bei 16,3 Prozent (48 einschlägige Artikel gegenüber 307 Artikeln insgesamt).

Die 2002 und 2003 dominanten, grundlegenden Aufarbeitungen der Schrumpfungsthematik entfallen 2004 und 2005 nahezu vollständig. Zudem trägt im Jahr 2005, im Kontrast zu den Vorjahren, nur noch ein Artikel den Begriff Stadtumbau im Titel. Das weist zum einen auf die Etablierung und zum anderen auf die Diversifizierung des Themas jenseits des politischen Programms hin. Zwar ist der Stadtumbau weiterhin der dominierende Bezugsrahmen, nun rücken aber Detailfragen in den Fokus. Insbesondere die Auswirkungen der Schrumpfung auf verschiedene Räume sowie auf verschiedene Gesellschaftsbereiche wie bspw. Verkehr, Gesundheit oder Tourismus werden verstärkt untersucht (vgl. Gans und Schmitz-Veltin 2006; Strubelt und Zimmermann 2005). Durch die damit einhergehende Verknüpfung etablierter raumplanerischer Inhalte mit dem Thema Schrumpfung werden neue Anknüpfungspunkte geschaffen, sodass sich nicht nur das Themenspektrum, sondern auch der Kreis der wissenschaftlichen Akteur*innen, bspw. um Verkehrsplaner*innen, noch einmal deutlich erweitert. Publizierten beim ersten Aufmerksamkeitshoch (2002–2003) noch 67 Akteur*innen zum Thema Schrumpfende Städte, waren es beim zweiten Peak (2005–2006) mit 113 Akteur*innen fast doppelt so viele.

Auch Jessen und Walther (2007: 386) erkennen nach der zwischenzeitlichen Fokussierung auf den Wohnungsleerstand Anfang der 2000er Jahre eine thematische Erweiterung, in der sich verschiedene Konnotationen der Schrumpfung – bspw. Wohnungsmarkt, Deindustrialisierung, politische Transformation, Alterung – überlagern. Es erfolgt eine zunehmende Thematisierung der Schrumpfung als Gesamtphänomen städtischen Wandels, für welche die auf breite öffentliche Wirkung angelegte Ausstellung „Shrinking Cities“ (Oswalt 2004; Oswalt 2005) exemplarisch steht (Jessen und Walther 2007: 386). Brandstetter et al. resümieren im Jahr 2005 (S. 55), der Begriff Schrumpfung habe „innerhalb der Stadtforschung in den letzten Jahren eine erstaunliche Wandlung zum Modethema vollzogen und ist heute als Schlagwort aus den aktuellen Diskussionen zu Fragen der Stadtentwicklung nicht mehr wegzudenken“.

Da Aufmerksamkeit ein begrenztes Gut ist, bedeutet die Fokussierung auf das Thema Schrumpfung, dass weniger Kapazität für andere Themen verfügbar ist. Dies gilt für das System der Planungswissenschaft als Ganzes, weil Fördermittelgeber*innen, Zeitschriften oder Konferenzen verstärkt das Thema Schrumpfung in den Mittelpunkt rücken und dementsprechend weniger Mittel und attention space für andere Themen zur Verfügung stehen. Es gilt aber auch für einzelne Wissenschaftler*innen, für die der Zugang zu Ressourcen und das Erhalten fachöffentlicher Aufmerksamkeit von elementarer Bedeutung sind. Jede Entscheidung, sich verstärkt einem Thema zuzuwenden, bedeutet zugleich eine Abkehr von anderen Themen (siehe Abb. 7.2). Dass für die individuelle Entscheidung, welches Thema verfolgt wird, die Resonanz und damit auch die Reputationserwartung ein zentraler Faktor ist, veranschaulicht die folgende Aussage aus einem Interview:

„Vorträge und Einladungen, das ist natürlich auch ein Indikator, der einem zeigt, dass es richtig ist, was man da tut. Es gab fast eine Explosion von Tagungseinladungen zu diesem Thema Schrumpfung, Stadt, Raum. Das ist ein Resonanzboden, den man glaube ich auch braucht, also auch für die Selbstvergewisserung, dass das nicht ein toter Ast ist, auf dem man da sitzt. Das war genau die ganz diametral gegensätzliche Erfahrung zu hier [deutet auf anderen Forschungspfad], wo es ganz punktuell mal ein-, zweimal im Jahr eine Veranstaltung gab, wo ich hätte was vortragen können zu dem Thema meiner Dissertation.“ (i19)

Die interviewte Person legt folglich in den Jahren 2002 bis 2005 einen Schwerpunkt auf den Forschungspfad Schrumpfende Städte. Diese Entscheidung bedeutet eine zwischenzeitliche Abkehr von dem Forschungszweig der gerade erst veröffentlichten Dissertation. Dies ist bemerkenswert, weil die Person das über Jahre im Zuge der Dissertation angeeignete soziale und epistemische Kapital nicht weiter in dem dazugehörigen Thema investiert und vermehrt. Auch ist das intrinsische Interesse, das die Person als einen maßgeblichen Faktor bei der Themenwahl einstuft, für beide Themen in gleichem Maße vorhanden. Es ist vielmehr die fachöffentliche Resonanz, die bei dieser Themenwahl den Ausschlag gibt. Andere Akteur*innen finden sich in ähnlich gelagerten Entscheidungssituationen wieder. Eine Person erwidert auf die Frage, ob es an ihrer damaligen, ostdeutschen Forschungseinrichtung Planungswissenschaftler*innen gegeben habe, die sich trotz eines grundsätzlich anschlussfähigen Forschungsportfolios gegen die Beschäftigung mit dem Thema Schrumpfung entschieden hätten: „Nein, das haben wirklich alle gemacht“ (i20).

Abb. 7.2
figure 2

(Quelle: Eigene Darstellung)

Beispielhafter Ausschnitt eines research trail mit dem vorübergehenden Themenschwerpunkt Schrumpfende Städte

Von den befragten Akteur*innen, die bereits vor 1990 zum Thema Schrumpfung geforscht und publiziert haben, nimmt nur eine Person den Faden wieder auf. Nachdem sie zehn Jahre lang andere Schwerpunkte in ihren Publikationen gesetzt hat, veröffentlicht sie zwischen 2001 und 2005 mindestens sieben Artikel, die die Begriffe Schrumpfung, Stadtumbau oder Bevölkerungsrückgang im Titel tragen. Hierfür ist die schlagartige Zunahme einschlägiger Konferenzen ein wichtiger Faktor:

„Es kann sein […] dass ich […] mehr Veröffentlichungen hatte, weil ich zu der Zeit, ab Ende der 90er Jahre, sehr häufig auf Fachtagungen zu dem Thema als Referent eingeladen wurde. Und wenn ich jetzt ein Thema für eine Fachtagung ausarbeite, dann ist es eine Kleinigkeit, sich danach hinzusetzen und einen Fachartikel daraus zu schreiben. Das mag mit eine Rolle gespielt haben.“ (i21)

Trotz der gestiegenen Nachfrage nach ihren Erkenntnissen in der Fachgemeinschaft und darüber hinaus, beobachtet die Person den plötzlichen Anstieg der Aufmerksamkeit gegenüber dem Thema ab dem Jahr 2000 mit gemischten Gefühlen:

„Ich habe das unterschiedlich wahrgenommen. Dass das Thema mehr Beachtung erfahren hat, habe ich positiv wahrgenommen. Was ich teilweise mit ein bisschen Verdrießlichkeit wahrgenommen habe, ist, dass dann häufig Dinge als ‚neu‘ vorgetragen wurden – auf Fachtagungen [Betonung durch interviewte Person] –, sowohl an Erkenntnissen dazu, wie auch an möglichen Konzepten, die aus meiner Sicht uralte Hüte waren. Bloß die Leute wussten gar nichts von den Erkenntnissen, die längst schon da waren.“ (i21)

Der Eindruck, der erstarkende Diskurs der 2000er Jahre würde teilweise zu Erkenntnissen gelangen, die bereits in den 1970er und 1980er Jahren veröffentlicht wurden, lässt sich angesichts der in Abschnitt 7.1 genannten Publikationen bestätigen. Die Autor*innen der vorangegangenen Jahrzehnte werden kaum zitiert, wie sich wiederum auf Grundlage der erhobenen Zitationsdaten belegen lässt. Zwar wird in einigen wenigen Artikeln darauf verwiesen, dass bereits in den 1970er und 1980er Jahren einschlägige Erkenntnisse produziert wurden (insb. Weiske und Schmitt 2000; Winkel 2002b; Göschel 2003; Fuhrich 2003; Mäding 2006), allerdings werden auch hier nicht die Erkenntnisse selbst dargelegt, sondern es wird lediglich auf die Existenz älterer Publikationen verwiesen. Von allen Publikationen aus der Zeit vor 1995 werden im Schrumpfungsdiskurs zwischen 1995 und 2014 lediglich die beiden oben genannten Bücher von Häußermann und Siebel mehr als fünfmal (10x 1987, 6x 1988) zitiert. Die wenigen Bezüge auf die Debatten der 1970er und 1980er Jahre bestätigen den vielfach geäußerten Eindruck, dass es sich bei dem Schrumpfungsthema nach Ende der 1990er Jahre um einen „neuen Diskurs“ (Hannemann 2004: 97) handelt.

Einige Pionier*innen des Themas, also die Akteur*innen die zum Zeitpunkt des Durchbruchs bereits Wissen und Beziehungen in dem Feld aufgebaut hatten, können ihr wissenschaftliches Kapital im Verlauf der Fokusphase deutlich vermehren. Ihre ersten einschlägigen Veröffentlichungen erhalten verhältnismäßig viel Aufmerksamkeit und Zitationen, weil die Auswahl einschlägiger Publikationen zunächst gering ist, die Anzahl einschlägig Forschender und Zitierender aber hoch. Sie behaupten ihre herausgehobene Stellung in dem stark gewachsenen Feld der Schrumpfungsforscher*innen und erlangen hochrangige Positionen in der Wissenschaft, in der Planungspraxis oder in der Verwaltung. Das soziale Kapital der Akteur*innen hat sich mittlerweile stark erhöht, nicht nur weil durch die Resonanz auf ihre einschlägige Forschung Reputation und neue soziale Beziehungen hinzugekommen sind. Auch haben ihre ehemals in der thematischen Nische verorteten sozialen Kontakte nun ebenfalls stark an Einfluss und Reputation gewonnen. Das heißt, befreundete, früh einschlägig forschende Nachwuchswissenschaftler*innen sind nun teilweise (ebenfalls) einflussreiche Funktionsträger*innen und bekleiden bspw. Professuren, Instituts- oder Büroleitungen.

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

In der Fokusphase erreicht die Häufigkeit einschlägiger Artikel ihr bisheriges Allzeithoch. Für die planungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Schrumpfende Städte spielt die gesellschaftliche Aufmerksamkeit sowie die Fördermittelvergabe eine wichtige Rolle. So wirkt sich der Einsatz der Fördermittel in der Planungspraxis, aufgrund vielfältiger struktureller Kopplungen auf die Relevanzkriterien und Anreizstrukturen innerhalb der Planungswissenschaft aus: Die Umsetzung der politischen Förderprogramme führt bspw. zu Veränderungen der Nachfrage nach wissenschaftlicher Expertise, der Anforderungsprofile von Hochschulabsolvent*innen sowie des Forschungsgegenstandes, also der räumlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen und deren Gestaltung. Auch der sprunghafte Anstieg verfügbarer Drittmittel im Rahmen der Forschungsförderung bewirkt eine planungswissenschaftliche Fokussierung auf das Schrumpfungsthema.

Die einschlägigen Forschungsprojekte ermöglichen es den Schrumpfungsforscher*innen, sich über mehrere Jahre hinweg der Erforschung des Themas zu widmen und dafür Personal (insb. Nachwuchswissenschaftler*innen) zu rekrutieren. Gleichzeitig geht mit der Drittmittelförderung die Verpflichtung einher, Ergebnisse zu produzieren und zu veröffentlichen. Hierin ist eine Ursache für die Häufigkeit einschlägiger Artikel in den Jahren 2005 und 2006 – zwei bis vier Jahre nach Einsetzen der ersten Forschungsprogramme – zu sehen: Nachdem die Projekte eingeworben und Personal eingestellt worden ist, beginnt eine Arbeitsphase von zwei bis vier Jahren. Nach dieser Phase muss das produzierte Wissen veröffentlicht werden. Der Einfluss dieses Mechanismus auf den Aufmerksamkeitsverlauf wird durch die Auswertung der Interviews sowie der planungswissenschaftlichen Artikel bestätigt. Zum einen wird in den Artikeln 2005 und 2006 verstärkt ein Drittmittelbezug kenntlich gemacht, zum anderen nimmt das Thema nun in den aufwändigeren Zeitschriftensegmenten (insb. RuR, ARL-FB) größeren Raum ein (siehe Tab. 7.3). Hier geht der Veröffentlichung eines Artikels meist der Einsatz wissenschaftlicher Ressourcen über mehrere Jahre hinweg voraus.

7.5 2007 bis 2014: Normalisierungsphase

Das Absinken der Aufmerksamkeitskurve nach dem Hoch in den Jahren 2005 und 2006 auf ein gegenüber der Latenzphase deutlich erhöhtes Niveau markiert den Übergang von der Fokus- zur Normalisierungsphase (siehe Abb. 7.1). Es werden nun durchschnittlich 16,6 einschlägige Artikel pro Jahr veröffentlicht (siehe Tab. 7.3). Innerhalb dieser Artikel wird die bereits in der Fokusphase beobachtete Ausdifferenzierung des Themas und Spezialisierung auf Detailfragen fortgesetzt. Wie in den Jahren vor dem Durchbruch stehen nun wieder andere Themen im Vordergrund. Im Gegensatz zur Latenzphase ist das Thema Schrumpfende Städte nun allerdings seltener ein untergeordneter Teilaspekt, sondern es fungiert als (Teil einer) Hintergrundfolie, vor der bestimmte Detailfragen bzw. Subthemen erforscht und diskutiert werden. Parallel dazu gewinnen einige Stichworte aus dem Kontext der Schrumpfungsforschung – bspw. Peripherisierung, Regenerierung, Gleichwertige Lebensverhältnisse, Alterung – erkennbar an Bedeutung.

Es ist zu vermuten, dass die Schrumpfungsthematik in den aufwändigeren Publikationssegmenten erst zum Ende der Fokusphase oder zu Beginn der Normalisierungsphase besonders großen Raum einnimmt. So ist bspw. für die Produktion von Dissertationen nicht nur ein hohes Mindestmaß an themenbezogenem wissenschaftlichem Kapital vorauszusetzen, über das nur sehr wenige Akteur*innen bereits vor der Fokusphase verfügten. Auch ist für die Produktion eine Zeitspanne von mehr als drei Jahren anzusetzen. Trotz gesunkener Artikelhäufigkeiten ist also in den ersten Jahren der Normalisierung von einem hohen wissenschaftlichen Output zum Thema Schrumpfung auszugehen. Zudem greifen weiterhin Planungswissenschaftler*innen das Thema auf und werden erst jetzt Teil der einschlägigen Fachgemeinschaft. Die befragten Personen betrachten Schrumpfende Städte deshalb auch nach dem Jahr 2007 als „Modethema“ (i22). Allerdings ist es für sie schwierig, sich über die Veröffentlichung einschlägiger Erkenntnisse innerhalb der Planungswissenschaft zu profilieren, wie Interviewaussagen belegen. Dies gilt nicht nur für aufstrebende Wissenschaftler*innen, für die es eine Herausforderung darstellt innerhalb des Themas eine Nische zu finden, in der neue, relevante Erkenntnisse zu erwarten sind. Auch etablierte Autor*innen, die jetzt teilweise aufwändige Monografien und Sammelbände zum Thema vorlegen, erhalten geringere Aufmerksamkeit für ihre jüngeren Publikationen, obwohl sie diese für wissenschaftlich besonders wertvoll halten.

Anders gelagert ist die Resonanz im englischsprachigen Diskurs, wo das Thema erst ab 2008 an Aufmerksamkeit gewinntFootnote 5. Die deutschsprachigen Schrumpfungsforscher*innen können auf der Grundlage ihres über Jahre erworbenen wissenschaftlichen Kapitals Wettbewerbsvorteile realisieren und die Erkenntnisse des deutschsprachigen Diskurses in den internationalen Diskurs einspeisen (bspw. Pallagst et al. 2013). Roth (2015) analysiert den Aufstieg englischsprachiger Schrumpfungsliteratur und das zeitgleich zurückgehende Interesse in der deutschsprachigen Forschungsliteratur. Demnach wurde der Begriff der Schrumpfung bzw. Shrinkage in dem (ost-)deutschen Diskurs der 2000er Jahre etabliert und anschließend von dort in den internationalen Diskurs eingespeist. Als wesentliche Antriebskräfte der internationalen Diffusion benennt sie das Projekt „shrinking cities“ (Oswalt 2004), das Netzwerk SCiRN und europäische Forschungsprojekte (Shrink Smart 2009–2012; Cities Regrowing Smaller 2009–2013). Den Rückgang des deutschsprachigen Diskurses führt sie unter anderem darauf zurück, dass deutschsprachige Autor*innen zunehmend in englischer Sprache publizieren. Auch werden die Prozesse und Phänomene in schrumpfenden Städten zwar weiterhin erforscht, die Schrumpfung an sich stehe dabei aber weniger im Fokus als zuvor (Roth 2015).

Das Thema ist nun in der deutschen Planungswissenschaft institutionalisiert, was sich unter anderem in allgemein bekannten Veröffentlichungen, akzeptierten Erkenntnissen, etablierten Expert*innen, prominenten Fallbeispielen sowie in universitären Lehrstühlen und Curricula zeigt. Auch in der Planungspraxis ist das Thema verankert, bspw. in Leitbildern und Plänen, in einem erprobten Instrumentenkasten sowie in der gebauten Umwelt. Für junge Planungswissenschaftler*innen gehört das Thema bereits zum unhinterfragten planungswissenschaftlichen Wissenskanon. Die mittlerweile zumindest in der Wissenschaft abgebauten strukturellen Hemmnisse und die aufgehobene Tabuisierung sind Teil der Überlieferung und jungen Universitätsabsolvent*innen dementsprechend präsent.

Die etablierten Schrumpfungsforscher*innen haben kein gesteigertes Interesse mehr, sich durch einschlägige Beiträge fachlich zu profilieren. Allerdings profitieren einige von ihnen in keinem anderen Diskurs so stark von ihrem sozialen, politischen und epistemischen Kapital. Der zu betreibende Aufwand, um einen wissenschaftlichen Beitrag zu verfassen und zu platzieren oder eine renommierte Position einzunehmen, ist für sie im Zusammenhang mit dem Schrumpfungsdiskurs geringer als in anderen Bereichen. Insbesondere internationale und daher potenziell reputationsträchtigere Publikationen und Kooperationen lassen sich mit diesem Thema besser realisieren als mit anderen. Den Protagonist*innen fällt es daher partiell schwer, das Schrumpfungsthema ruhen zu lassen, wie die folgende Interviewaussage zeigt:

„Die [Abschlusskonferenz eines Projektes] sollte eigentlich ein Cut sein. Ich wollte und will jedenfalls nicht [die Person] sein: ‚Ach [die Person, die] macht doch Schrumpfung‘; deswegen verfolge ich das Schrumpfungsthema kaum noch, aber es kommen reihenweise irgendwelche Anfragen. Jetzt gerade wieder etwas [...].“ (i23)

Keine*r der nach dem Jahr 2000 aktiven Schrumpfungsforscher*innen legt das Thema in der Normalisierungsphase gänzlich ab. Allerdings treten sie immer seltener als einschlägig forschende Akteur*innen in Erscheinung. Teilweise werden ältere Forschungspfade, die im Zuge der zwischenzeitlichen Fokussierung auf die Schrumpfungsthematik weniger oder gar nicht verfolgt wurden, wieder (verstärkt) aufgenommen. Teilweise erschließen Akteur*innen ein neues Thema, das starke Bezüge zum Schrumpfungsthema hat, sodass das im Schrumpfungsdiskurs erworbene wissenschaftliche Kapital weitestgehend auf das neue, nun ebenfalls eine Karriere erlebende Thema übertragen werden kann. Wiederum andere Akteur*innen wechseln aus der Wissenschaft in die Planungspraxis oder in die Verwaltung, sodass auch sie kaum mehr einschlägig publizieren. In den Veröffentlichungen der meisten befragten Akteur*innen rücken die Grundlagen und Mechanismen der Schrumpfung zwischen 2007 und 2018 in den Hintergrund. Auch in den Drittmittelprojekten, in denen Schrumpfung zumindest in den Jahren 2001 bis 2012 ein wichtiges Stichwort darstellt, werden andere Stichworte sowie bestimmte Detailfragen maßgeblich.

Die interviewten Akteur*innen halten das Thema weiterhin für langfristig relevant und empfinden es teilweise als „gefährlich“, dass das Thema Schrumpfung angesichts der aktuell vielerorts gesunkenen Leerstände und ausgeglicheneren Wanderungssaldi an Aufmerksamkeit verliert. So konstatiert eine Person:

„Die letzten 3–4 Jahre ist das schon immer wieder zu beobachten, dass das ganze Thema sich so wellenmäßig legt. […] Spricht auf der Bundesebene im Moment noch jemand von Schrumpfung? Es wird über Wachstumsschmerzen und wie kann ich Wachstum steuern und wie werde ich damit fertig, darüber wird gesprochen. Aber dass diese Schere zwischen wachsenden und schrumpfenden Städten und Regionen immer weiter auseinander geht, [wird vernachlässigt].“ (i24)

Weiteren Forschungsbedarf sehen die befragten Wissenschaftler*innen primär in verschiedenen Spezialdiskursen, in denen sie selbst teilweise partizipieren und für die das Thema Schrumpfende Städte lediglich ein Kontextfaktor darstellt.

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

In der Normalisierungphase sinken die Häufigkeiten einschlägiger Artikel auf ein gegenüber der Latenzphase erhöhtes Niveau ab. Innerhalb der einschlägigen Artikel wird das Thema Schrumpfende Städte zum Kontext für (ehemalige) Subthemen, die nun eine eigene Karriere erleben. In den aufwändigeren Publikationssegmenten (bspw. Monographien) ist zu Beginn der Normalisierungsphase von einem anhaltend hohen wissenschaftlichen Output auszugehen, allerdings erregen die einschlägigen Veröffentlichungen auch hier nur noch vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Anders gelagert ist die Resonanz im internationalen, englischsprachigen Diskurs, wo die Aufmerksamkeitskurve erst ab dem Jahr 2008 ansteigt. Einigen etablierten deutschsprachigen Schrumpfungsforscher*innen gelingt es, im Rahmen dieser internationalen Themenkarriere zentrale Netzwerkpositionen einzunehmen und reputationsträchtige Veröffentlichungen einzuspeisen.

Die etablierten Akteur*innen haben spätestens ab 2010 kein gesteigertes Interesse mehr, sich über den Schrumpfungsdiskurs fachlich zu profilieren. Sie profitieren allerdings in keinem anderen Diskurs so stark von ihrem wissenschaftlichen Kapital, sodass sie zumindest sporadisch einschlägige Beiträge einbringen. Junge Planungswissenschaftler*innen, die das Thema erst in der Normalisierungsphase aufgreifen, finden eine etablierte Forschungslandschaft mit verfestigten einschlägigen Akteur*innenkonstellationen und Hierarchien vor. Aus ihrer Sicht beschäftigen sich außergewöhnlich viele Planungswissenschaftler*innen mit dem Thema, was zusammen mit dem mittlerweile ausdifferenzierten Forschungsgegenstand dazu führt, dass sie mitunter Schwierigkeiten haben, eigenständig relevante Forschungen in den Diskurs einzubringen und eine eigene Nische zu finden.

Die Themenkarriere ist jetzt zum planungswissenschaftlichen Kontext geworden, innerhalb dessen sich neue Themen etablieren. Die Pionier*innen und Avantgardist*innen sind nun in der Planungswissenschaft und/oder -praxis etabliert. Die zunächst ignorierten oder abgelehnten Inhalte sind nun unhinterfragter Teil der fachgemeinschaftlichen Wissensstruktur.

7.6 1995 bis 2014: Quantitative Gesamtbetrachtung

Im Folgenden wird eine Auswahl quantitativer Datenauswertungen vorgelegt, die grundlegend für die oben dargestellte Erforschung der Themenkarriere Schrumpfende Städte waren. Sie sind mitunter methodisch voraussetzungsreich, weshalb ihre Darstellung gebündelt an dieser Stelle erfolgt, so dass der Lesefluss der obigen Kapitel gewährleistet ist. Das bis hierhin gezeichnete Bild der Themenkarriere wird durch die folgenden Tabellen und Abbildungen nicht verändert, sondern lediglich quantitativ unterlegt und präzisiert. Gleichzeitig wird gezeigt, auf welchem Datenfundament die empirische Analyse steht und welche Erkenntnisse sich daraus schöpfen lassen.

Vier aussagekräftige quantitative Indikatoren über die Themenkarriere Schrumpfende Städte 1995–2014 werden in Abb. 7.3 zusammen betrachtet:

  1. 1.

    Die Anzahl des Strings *schrumpf* im Volltext der Zeitschriften ARL-FB, disP, IzR, Raum, RuR in dem jeweiligen Jahr;

  2. 2.

    Die Anzahl der als einschlägig identifizierten Artikel in den Zeitschriften ARL-FB, disP, IzR, PLANERIN, RAUM, RaumPlanung und RuR in dem jeweiligen Jahr;

  3. 3.

    Die Anzahl der einschlägigen Artikel aus 2., die den String *schrumpf* oder *stadtumbau* im Titel tragen;

  4. 4.

    Die Anzahl der Incitations, das heißt der Zitationen aus den einschlägigen Artikeln der Folgejahre, die auf Publikationen des jeweiligen Jahres entfallen.

Abb. 7.3
figure 3

(Quelle: Eigene Erhebung auf Basis der planungswissenschaftlichen Zeitschriften 1995–2014)

Relative Häufigkeitsverteilungen der Themenkarriere Schrumpfende Städte 1995–2014

Die Werte in Abb. 7.3 werden in Prozent der jeweiligen Gesamtanzahl 1995–2014 dargestellt, sodass die Kurven die relative Häufigkeit der jeweiligen Werte bezogen auf den Gesamtzeitraum darstellen und sich besser vergleichen lassen.

Es wird deutlich, dass ab 2001 ein starker Anstieg der planungswissenschaftlichen Aufmerksamkeit zu verzeichnen ist, der im Jahr 2003 kulminiert, als alle Kurven einen signifikanten ersten Höhepunkt erreichen. Während die Incitation-Kurve (orange) bereits vor 2001 und insbesondere zwischen 1999 und 2001 einen Anstieg verzeichnet, weisen die anderen Kurven durchgängig niedrige Werte bis ins Jahr 2001 auf. Nach dem ersten Höhepunkt sinkt die Incitation-Kurve kontinuierlich ohne weiteren Peak. Die anderen Kurven erleben 2004 ein starkes Absinken, im Falle der dritten Kurve (blau) sogar um deutlich mehr als die Hälfte, das jeweils von einem erneuten Anstieg in den Jahren 2005 und 2006 gefolgt ist. Die Häufigkeit einschlägiger Artikel (rosa) erreicht erst hier ihr vorläufiges Allzeit-Hoch (15,4 Prozent), während die erste Kurve (String im Volltext, rot) einen ähnlichen Wert wie 2003 erreicht und die dritte Kurve (String im Titel) nach 2004 nur noch geringfügig ansteigt (2003: 22,3 Prozent, 2004: 5,8 Prozent, 2005 und 2006 8,7 Prozent). Nach 2005/2006 sinken alle Kurven in Wellenbewegungen, wobei sowohl Kurve 1 als auch Kurve 3 2008 bzw. 2009 ein erneutes Zwischenhoch erreichen, das jenes aus 2005/2006 übertrifft (siehe Abb. 7.3).

Die Entwicklung der Anzahl einschlägiger Artikel ist in Tab. 7.3 dargestellt und anhand der Zeitschriften aufgeschlüsselt, sodass sich die Datengrundlage sowie die Häufungen in den jeweiligen Jahren und in den jeweiligen erhobenen Zeitschriften nachvollziehen lassen. Im Gegensatz zur dritten (blauen) Kurve aus Abb. 7.3 enthält die letzte Spalte nicht die Häufigkeiten einschlägiger Artikel im Verhältnis zur Gesamtzahl einschlägiger Artikel 1995–2014, sondern den Anteil einschlägiger Artikel an der Gesamtzahl veröffentlichter Artikel des jeweiligen Jahres. Folglich lassen sich auf Basis dieser Spalte Aussagen darüber treffen, welche Bedeutung und Dominanz das Thema innerhalb der Planungswissenschaft vorübergehend eingenommen hat. So war im Jahr 1999 einer von 386 Artikeln einschlägig, im Jahr 2005 waren es dagegen 50 von 397, also ca. einer von acht Artikeln (siehe Tab. 7.3).

Tab. 7.3 Absolute Häufigkeiten von Artikeln zum Thema Schrumpfende Städte 1995–2014

In Abb. 7.4 sind die absoluten Häufigkeiten einschlägiger Artikel aufgeschlüsselt nach Zeitschriften abgetragen. Es wird deutlich, dass die RAUM und die disP mit 9 bzw. 16 einschlägigen Artikeln im gesamten Zeitverlauf eine vernachlässigbare Rolle spielen. Auch innerhalb der beiden Zeitschriften nehmen einschlägige Artikel mit 1,0 Prozent bzw. 2,3 Prozent der Gesamtartikelzahl 1995–2014, verglichen mit den anderen Zeitschriften, geringen Raum ein (siehe Tab. 7.3). Mit Ausnahme dieser beiden Zeitschriften zeigt jede Zeitschrift im Zeitraum 2002 und 2006 insgesamt eine Fokussierung sowie jeweils im Jahr 2003 oder 2005 ein Allzeit-Hoch. Die PLANERIN und die RaumPlanung veröffentlichen bis ins Jahr 2002 gemeinsam dreiviertel der einschlägigen Artikel aller Zeitschriften. Im Zeitraum 2003 bis 2006 treten erstmals die Zeitschriften IzR, RuR und ARL-FB signifikant in Erscheinung, sodass die RaumPlanung und die PLANERIN in diesem Zeitraum nur noch für 47 Prozent der einschlägigen Artikel aufkommen. Die IzR ist primär für den ersten Peak im Jahr 2003 verantwortlich, während die ARL-FB den zweiten Peak in den Jahren 2005/2006 maßgeblich bestimmen. In der RuR werden ab 2002 bis 2014 relativ gleichmäßig einschlägige Artikel veröffentlicht, mit Ausnahme eines Peaks im Jahr 2005 (siehe Abb. 7.4).

Abb. 7.4
figure 4

(Quelle: Eigene Erhebung auf Basis der planungswissenschaftlichen Zeitschriften 1995–2014)

Anzahl der Artikel zum Thema Schrumpfende Städte 1995–2014, aufgeschlüsselt nach Zeitschriften

Abb. 7.5 zeigt die relative Verteilung der einschlägigen Artikel einer Zeitschrift in einem Jahr bezogen auf die Gesamtzahl der einschlägigen Artikel derselben Zeitschrift im gesamten Untersuchungszeitraum. Bei dieser relativen Verteilung kommt die Gesamtzahl einschlägiger Artikel einer Zeitschrift (1995–2014) nur noch insofern zum Tragen, als dass eine hohe Gesamtzahl, wie im Falle der PLANERIN und der RaumPlanung, eine ausgeglichenere Verteilung begünstigt, während im Falle der RAUM schon ein einschlägiger Artikel zu starken Ausschlägen (11 Prozent) führen würde. Deshalb, sowie zur Erhöhung der Übersichtlichkeit, wurde auf die Darstellung der RAUM und der disP verzichtet, während die PLANERIN und die RaumPlanung aggregiert dargestellt werden, sodass die Besonderheiten der IzR, der RuR und der ARL-FB herausgestellt werden. Es zeigt sich auch hier, dass die IzR mit 43,6 Prozent der einschlägigen Artikel im Jahr 2003 und die ARL-FB mit zusammen 57,6 Prozent der einschlägigen Artikel im Jahr 2005 und 2006 die stärksten Fokussierungen aufweisen (siehe Abb. 7.5). Die PLANERIN zeigt mit 13,0 Prozent im Jahr 2003 den geringsten Ausschlag durch das Allzeithoch, danach die RaumPlanung mit 20,0 Prozent im Jahr 2005 (jeweils nicht separat dargestellt).

Abb. 7.5
figure 5

(Quelle: Eigene Erhebung auf Basis der planungswissenschaftlichen Zeitschriften 1995–2014)

Relative Häufigkeit einschlägiger Artikel eines Jahres bezogen auf die Gesamtzahl einschlägiger Artikel in der jeweiligen Zeitschrift 1995–2014 (Thema Schrumpfende Städte)

In Abb. 7.3 wurde dargestellt, dass die Incitation-Kurve gegenüber den anderen Kurven einen sehr viel gleichmäßigeren Verlauf nimmt. Sie zeigt zwischen 1999 und 2003 einen verstärkten Anstieg, 2003 einen Höhepunkt und anschließend ein langsames Absinken. Diese Kurve zeigt, dass bereits vor dem Durchbruch Wissen produziert worden ist, das später für relevant befunden wurde. Darüber hinaus gewinnt die Kurve allerdings erst Aussagekraft, wenn die folgenden, in Abschnitt 6.3 näher erläuterten Faktoren berücksichtigt werden:

  • Zitationen können, mit wenigen Ausnahmen, nur auf bereits veröffentlichte Beiträge entfallen, d. h. Publikationen des Jahres 1994 hätten von der Gesamtheit erhobener Artikel zitiert werden können, Publikationen des Jahrgangs 2014 allerdings nur von einem sehr kleinen Teil.

  • Die Anzahl der Outcitations pro Artikel nimmt im Untersuchungszeitraum zu, im Falle der RuR um mehr als das Doppelte zwischen 1995–1999 gegenüber 2010–2014.

  • Mehr als die Hälfte der Zitationen reicht nicht länger als vier Jahre zurück, mehr als 80 Prozent nicht länger als 10 Jahre.

Zudem häufen sich die erhobenen einschlägigen Artikel in bestimmten Jahrgängen, sodass bspw. die hohe Anzahl an Outcitations in den Jahren 2005 und 2006 wesentlich zu der Ausprägung des Maximums der Incitations im Jahr 2003 beiträgt.

In Abb. 7.6 sind daher zum besseren Verständnis und zur Einordnung drei Kurven eingezeichnet:

  1. 1.

    Die Incitation-Kurve (hier rot) zeigt die Häufigkeit der auf die Publikationen des jeweils abgetragenen Jahres entfallenen Incitations aus den einschlägigen Artikeln aller Zeitschriften 1995–2014 (Werte entsprechen denen von Kurve 4 in Abb. 7.3, allerdings bezogen auf 1975–2014, nicht 1995–2014)

  2. 2.

    Die graue Kurve zeigt die auf das jeweilige Jahr entfallenen Zitationen aus allen Artikeln (unabhängig vom Thema) der Zeitschrift RuR (1995–2014), die die einzige Zeitschrift ist, für die alle Zitationen im gesamten Untersuchungszeitraum erhoben wurden. Der starke Anstieg der Zitationen vor dem Jahr 1995 markiert den Beginn der Erhebung, das rasche Absinken der Kurve nach dem Jahr 2006 bis nahezu Null ist durch das Ende der Erhebung im Jahr 2014 zu erklären. Der zwischen 1995 und 2006 liegende leichte Anstieg deutet die von Jahr zu Jahr wachsenden Zitationszahlen an.

  3. 3.

    Die dunkelrote Kurve zeigt, wie die auf das jeweilige Jahr (1975–2014) eingehenden Incitations aus allen Artikeln (unabhängig vom Thema) der Zeitschrift RuR (1995–2014) ausfallen würden, würden sich die ausgehenden Outcitations der RuR (1995–2014) in der gleichen Form häufen, wie sie es bei den einschlägigen Artikeln tun. Das heißt, jede auf die Jahre 1975 bis 2014 eingehende Incitation aus der RuR wird mit einem Faktor belegt, der sich aus der relativen Häufigkeit von Outcitations in allen einschlägigen Artikeln des jeweiligen Jahres bezogen auf die Gesamtzahl der Outcitations 1995–2014 bemisst und der den Incitations anhand des Jahres ihrer jeweiligen Outcitation zugeordnet wird. Jede Incitation 1975–1996, die aus einem RuR-Artikel des Jahres 1996 hervorgeht, wird bspw. mit dem Faktor 0 multipliziert und entfällt dadurch, weil im Jahr 1996 keine einschlägigen Zitierungen vorliegen. Jede Incitation 1975–2006, die aus einem RuR-Artikel des Jahres 2006 hervorgeht, wird mit dem Faktor 0,12 multipliziert, weil 12 Prozent aller einschlägigen Zitationen im Jahr 2006 vorgenommen wurden.

Zusätzlich wird die Häufigkeit einschlägiger Artikel 1995–2014 in Form von rosa Balken dargestellt (Werte entsprechen denen von Kurve 2 in Abb. 7.3).

Der Vergleich der beiden roten Kurven zeigt, dass Publikationen der Jahre 1992 bis 1999 sowie 2005 bis 2009 unterdurchschnittlich häufig von einschlägigen Artikeln zitiert werden, während Publikationen der Jahre 2000 bis 2004 stark überdurchschnittlich häufig zitiert werden. Die Kurve einschlägiger Zitationen erreicht ein markantes Maximum im Jahr 2003, während die Kurve der gewichteten RuR Zitationen ihr Maximum im Jahr 2005 erreicht (siehe Abb. 7.6).

Abb. 7.6
figure 6

(Quelle: Eigene Erhebung auf Basis der planungswissenschaftlichen Zeitschriften 1995–2014)

Analyse der Zitationen einschlägiger Artikel gegenüber den Zitationen aller Artikel (Thema Schrumpfende Städte)

Die Differenz der beiden roten Kurven, also die über- bzw. unterdurchschnittlich stark zitierten Jahrgänge im Schrumpfungsdiskurs, lässt sich als ein Indikator dafür nehmen, in welchen Jahren über- bzw. unterdurchschnittlich relevantes Wissen zum Thema Schrumpfende Städte produziert wurde. Sie veranschaulicht, dass die 1990er Jahre eine geringe Bedeutung für den Schrumpfungsdiskurs haben. Im Jahr 2000 beginnt ein rascher Anstieg der Produktion einschlägig relevanten Wissens, während ab 2004 ein ähnlich starkes Absinken einsetzt. Wird nun diese Differenz (überdurchschnittlich relevantes Wissen bzw. überdurchschnittlicher Nutzen für den Schrumpfungsdiskurs) vor dem Hintergrund der Anzahl einschlägiger Artikel (wissenschaftlicher Aufwand im Schrumpfungsdiskurs) betrachtet, so lässt sich auf die Effizienz der wissenschaftlichen Arbeit schließen. Dabei zeigt sich besonders deutlich, dass der deutlich höhere Aufwand der Jahre 2005 (50 einschlägige Artikel) und 2006 (39) gegenüber 2000 (7), 2001 (7), 2002 (21) und 2003 (40) kein diesem Aufwand entsprechender überdurchschnittlicher Nutzen gegenübersteht, sondern im Gegenteil, die Bedeutung der Jahrgänge 2005 und 2006 für den Schrumpfungsdiskurs ist sogar leicht unterdurchschnittlich (siehe Abb. 7.6).

In Tab. 7.4 sind die in den einschlägigen Artikeln meistzitierten Veröffentlichungen aufgelistet (1995–2014). Es zeigt sich die große Bedeutung der Publikationen institutioneller Akteur*innen (Statistisches Bundesamt, BBR, Lehmann-Grube-Kommission). Zusammen mit Sieverts’ Zwischenstadt entfalten ihre Publikationen die größte Relevanz. Alle Publikationen zusammengerechnet weisen das BBR sowie das Statistische Bundesamt mit Abstand die meisten einschlägigen Incitations auf (siehe Tab. 7.4).

Tab. 7.4 Meistzitierte Veröffentlichungen in Artikeln zum Thema Schrumpfende Städte

In Tab. 7.5 sind die meistzitierten individuellen Autor*innen des Schrumpfungsdiskurses in den planungswissenschaftlichen Artikeln von 1995 bis 2014 sowie deren früheste im Schrumpfungsdiskurs zitierte Veröffentlichung verzeichnet. Die Incitations lassen sich aufgrund der Mehrfachautorenschaften der zitierenden sowie der zitierten Veröffentlichungen unterschiedlich abtragen, weshalb diese in vier Spalten aufgeführt sind. Anhand der Incitations Häußermanns seien die Spalten erläutert:

  • 57 Mal beziehen sich Autor*innen in planungswissenschaftlichen Artikeln auf Veröffentlichungen mit Beteiligung Häußermanns. Alle Ko-Autor*innen eines Artikels, in dem eine Veröffentlichung (u. a.) Häußermanns zitiert wird, zählen mit 1 (Beispiel: Drei Autor*innen zitieren in einem Artikel eine Veröffentlichung von Häußermann und Siebel -> 3 Autor*innen * 1 Veröffentlichung = 3);

  • 24 Mal beziehen sich planungswissenschaftliche Artikel auf Veröffentlichungsanteile von Häußermann. Jeder zitierende Artikel (unabhängig von den jeweiligen Ko-Autor*innenanzahlen) zählt jetzt nur noch mit 1, die zitierten Artikel werden im Falle von Mehrfachautorenschaften auf den jeweiligen Anteil reduziert (Beispiel (s.o.) -> 1 Artikel * 1 halbe Veröffentlichung = 0,5);

  • 41 Mal beziehen sich planungswissenschaftliche Artikel auf Veröffentlichungen mit Beteiligung Häußermanns (Beispiel (s.o.) -> 1 Artikel * 1 Veröffentlichung = 1);

  • 33,2 Mal beziehen sich Autor*innen in planungswissenschaftlichen Artikeln auf Veröffentlichungsanteile von Häußermann (Beispiel (s.o.) -> 3 Drittel Artikel * 1 halbe Veröffentlichung = 1,5) (siehe Tab. 7.5).

Tab. 7.5 Meistzitierte Autor*innen in Artikeln zum Thema Schrumpfende Städte (ohne Selbstzitationen)

Jede Spalte in Tab. 7.5 belichtet einen anderen Aspekt der Bedeutung der Autor*innen in dem einschlägigen Diskurs. Die erste Spalte zeigt die Anzahl kognitiver Bezüge zwischen Wissenschaftler*innen, so dass sich bspw. ausgehend von Häußermann ein Netzwerk mit bis zu 57 durch Häußermann direkt inspirierten Personen zeigen ließe. Analog lässt sich die zweite Spalte interpretieren, nur das jetzt Publikationen, nicht Personen, die verbundenen Knoten darstellen. Absteigend sortiert wird nach der markierten Spalte, die ausdrückt, wieviele Artikel (nicht wieviele Autor*innen) sich auf Erkenntnisse der aufgeführten Planungswissenschaftler*innen beziehen. Da Selbstzitationen ausgenommen sind, weist die Spalte immer dann keine geraden Zahlen auf, wenn mind. eine zitierende Publikation eine Ko-Autorenschaft der zitierten Person aufweist. Im Vergleich mit der ersten Spalte indiziert die letzte Spalte, inwiefern die abgetragene Person zitierte Erkenntnisse eigenständig bzw. in Kooperation mit anderen Autor*innen geschrieben hat. Während also bei Birg und Sieverts in besonderem Maße eigenständig erzeugte Veröffentlichungen durch die Fachgemeinschaft zitiert werden, sind es bei Pfeiffer, Schiller und Gatzweiler in besonderem Maße Kooperationen mit vielen Ko-Autor*innen.

Tab. 7.5 zeigt, dass viele Autoritäten (vielzitierte Planungswissenschaftler*innen) des Schrumpfungsdiskurses in den Jahren 1997 (3), 1998 (5) und 1999 (2) ihre ersten einschlägig bedeutsamen Publikationen veröffentlicht haben. Dies stützt die These, dass in diesen Jahren, trotz kaum messbarer Erhöhung der Aufmerksamkeit, eine Fundierung des Themas stattgefunden hat. Weiterhin ist auch hier auf die Bedeutung des BBR hinzuweisen. Die vielzitierten Publikationen von Bucher und Schlömer sind etwa dem BBR zuzuordnen. Auch Gutsche und Liebmann haben relevante Publikationen im Auftrag des BBR verfasst.

In Abb. 7.7 sind die wichtigsten Knoten und Kanten der Gigantischen Komponente des einschlägigen Ko-Publikationsnetzwerks visualisiert. Stark verbundene Knoten sind nahe beieinander, wichtige Knoten sind anhand ihrer betweenness-Zentralität vergrößert dargestellt. Die Farbe markiert das Jahr der ersten einschlägigen Publikation. Institutionelle Akteur*innen, wie bspw. das BBR oder das UBA, treten in dieser Analyse in den Hintergrund, weil sie zwar als alleinige Autor*innen, selten aber als Ko-Autor*innen in Erscheinung treten.

Ko-Autorenschaften dienen als Indikator für wissenschaftliche Kooperation und Kommunikation zwischen den untersuchten Akteur*innen. Sie setzen gemeinhin persönlichen Kontakt und intensive Interaktion voraus und indizieren eine gewisse intellektuelle Nähe. Besonders betweenness-zentrale Knoten fungieren häufig als Gatekeeper bzw. als Schnittstelle zwischen verschiedenen unverbundenen Bereichen des Netzwerks. In der Wissenschaft nehmen häufig hochrangige Akteur*innen (bspw. Professor*innen) eine solche Position ein, da sie zum einen innerhalb ihrer Organisation (bspw. Lehrstuhl) eine integrierende Funktion einnehmen und dort mit vielen Akteur*innen gemeinsam publizieren. Zum anderen unterhalten sie aber – häufig im Gegensatz zu ihren Mitarbeiter*innen – Beziehungen mit anderen hochrangigen Akteur*innen, die wiederum ihre Mitarbeiter*innen in das Netzwerk einbinden, und verfolgen gemeinsame Publikationsprojekte mit ihnen.

Es zeigt sich ein zentraler Bereich des Netzwerks mit vielen wichtigen Akteur*innen, von denen einige der betweenness-Zentralsten in den Jahren 1998 (rosa) und 1999 (rot) erstmals im Schrumpfungsdiskurs in Erscheinung traten. Kern dieses Bereichs ist eine Clique (Aring, Danielzyk, Blotevogel, Wiechmann, Grabow), deren Mitglieder die höchste closeness-Zentralität des gesamten Netzwerks aufweisen, also über die kürzesten Pfade zu allen übrigen Knoten verfügen. Sie nehmen teilweise selbst eine starke Gatekeeping-Funktion ein, indem sie viele weniger bedeutende Akteur*innen in das Netzwerk einbinden, und sind jeweils mit weiteren Gatekeepern (bspw. Siedentop, Beckmann) in (einer) Teilgruppe(n) verbunden (siehe Abb. 7.7).

Abb. 7.7
figure 7

(Quelle: Eigene Erhebung auf Basis der planungswissenschaftlichen Zeitschriften 1995–2014)

Ko-Publikationsnetzwerk der Themenkarriere Schrumpfende Städte

Hintergrundinformation zu Abb. 7.7

Datengrundlage:

Kanten::

Alle 3.765 Ko-Autorenschaften einschlägiger Artikel sowie in einschlägigen Artikeln zitierter Publikationen, jeweils gewichtet nach Anzahl der Ko-Autor*innen,

Knoten::

Alle 1.672 einschlägig zitierenden oder zitierten Ko-Autor*innen

Filter::

Gigantische Komponente

Knotenfarbe::

Jahr der ersten einschlägigen Veröffentlichung (einschl. Alleinautorenschaft)

Knotengröße::

Betweenness Zentralität ohne Gewichtung der Kanten

Kantenstärke::

Summiertes Gewicht der Ko-Autorenschaften adjazenter Knoten

(von 2 Ko-Autor*innen->Faktor 1, bis 20 Ko-Autor*innen-> Faktor 0,05)

Darstellung::

Gephi, Algorithmen Force Atlas und Noverlap

Das Konzept der betweenness-Zentralität wird durch die Anbindung vieler Ko-Autor*innen Fassmanns (insb. im Jahr 2010) an die zentrale Clique veranschaulicht. Es zeigt sich ein Kürzester Pfad Fassmann-Dangschat-Herfert-Aring, dessen gewichtete Gradzentralitäten (in diesem Fall verfasste Publikationen mit Ko-Autor*innen) (Fassmann 8, Herfert 9, Dangschat 7, Aring 5) hinter denen einiger kaum sichtbarer Knoten zurückfällt (insb. Kabisch, Liebmann, Gans mit jeweils 16), allerdings stellen letztere nur für wenige Akteur*innen eine zu passierende Schnittstelle dar, sodass sie selten eine Maklerfunktion einnehmen (siehe Abb. 7.7 und Tab. 7.6).

Bemerkenswert ist auch das strukturelle Loch zwischen der betweenness-zentralen Teilgruppe um die genannte Clique auf der einen und der Grad-zentralen Teilgruppe um die Akteur*innen Liebmann, Haller, Kabisch, Haase und Bernt auf der anderen Seite (rote, blaue und gelbe Knoten zwischen Gestring und Kühn) (siehe Abb. 7.7). Letztere verfügt über starke Verbindungen untereinander, während erstere mit vergleichsweise schwachen (aber vielen) Verbindungen eine strategisch günstige Position im Netzwerk einnehmen kann. Dieser Unterschied wird auch anhand des Vergleichs zwischen dem Grad (Anzahl der Ko-Autor*innen) und dem gewichteten Grad (Anzahl der Publikationen mit Ko-Autor*innen) deutlich (siehe Tab. 7.6). Die beiden Cluster lassen sich weiter differenzieren, wie anhand der Modularitätsklassen deutlich wird: Das IRS um die Jahrtausendwende (Liebmann, Haller, Kühn und weitere) stellt eine Teilgruppe, die mit dem IFL in Leipzig (Kabisch, Haase, Bernt und weitere) enge Beziehungen aufbaut. In der gegenüberliegenden Teilgruppe bilden Siedentop, Müller, Wiechmann, Iwanow und Schiller, die um die Jahrtausendwende dem IÖR angehören, zusammen mit Gutsche eine Modularitätsklasse. Ebenfalls fällt die erweiterte, betweenness-zentrale Teilgruppe (mit Danielzyk, Aring, Blotevogel, Beckmann und weitere) durch eine starke Präsenz innerhalb der ARL auf. Eine sichtbare Maklerposition nimmt insbesondere Kühn ein, der dem IRS angehört und seit 2003 korrespondierendes Mitglied der ARL ist (siehe Abb. 7.7 und Tab. 7.6).

Insgesamt sticht in Abb. 7.7 die starke Repräsentanz der erstmals 1998 (rosa) und 1999 (rot) einschlägig veröffentlichenden Autor*innen ins Auge. 12 der 20 wichtigsten Akteur*innen zählen zu dieser GruppeFootnote 6. Sie sind offenbar mittlerweile etabliert im deutschsprachigen Schrumpfungsdiskurs und nehmen eine Schnittstellenfunktion ein. Viele wichtige Akteur*innen promovieren um die Jahrtausendwende (u. a. Danielzyk 1997, Wiechmann 1998, Aring 1999, Knieling 1999, Siedentop 2002, Liebmann 2004), einige weitere Akteur*innen sind bereits promoviert, erhöhen aber ebenfalls um die Jahrtausendwende ihren wissenschaftlichen Output.

Tab. 7.6 Modularität und Zentralitätsindikatoren der zentralsten Akteur*innen des Ko-Publikationsnetzwerks zum Thema Schrumpfende Städte (Rangfolge gemäß DurchschnittswertFootnote

Ermittlung des Durchschnittswertes: Innerhalb jeder Spalte wird das Maximum ermittelt. Alle Werte der Spalte werden durch dieses Maximum dividiert. Die so errechneten Quotienten jeder Zeile werden addiert.

)

Blotevogel nimmt eine Sonderrolle im Ko-Publikationsnetzwerk ein, indem er mit einschlägig zitierten Publikationen ab 1989 in den Schrumpfungsdiskurs eingebunden ist, gleichzeitig aber über eine hohe betweenness-Zentralität verfügt (siehe Abb. 7.7 und Tab. 7.6). Im Gegensatz zu den meisten anderen Gatekeepern des Schrumpfungsnetzwerks gehörte er bereits in den 1990er Jahren zu den etablierten Akteur*innen. Es lässt sich vermuten, dass Blotevogel seine hohe betweenness-Zentralität primär seiner bereits vor dem Schrumpfungsdiskurs vorhandenen guten Vernetzung verdankt. Im Vergleich zu den jüngeren Forscher*innen spielt also seine einschlägige Expertise eine geringere Rolle. Allerdings ist sein Forschungsportfolio im Schrumpfungsdiskurs anschlussfähig – zitiert werden primär seine Beiträge zu zentralen Orten und Stadt-Umland-Wanderung. Das eigentlich Bemerkenswerte an Blotevogels Ausnahmestellung ist jedoch der Umstand, dass kein anderer der bereits vor 1996 einschlägig zitierten Wissenschaftler*innen eine wichtige Stellung im Ko-Publikationsnetzwerk einnimmt. Grundsätzlich sind Akteur*innen, die bereits Mitte der 1990er Jahre in der (Planungs-) Wissenschaft etabliert sind, weniger wichtig, als angesichts ihrer zumindest damals vorliegenden Schnittstellenfunktion vermutet werden könnte. Dies legt den Schluss nahe, dass es insbesondere die junge, wenig kapitalgebundene Generation ist, die das neue Thema aufgreift und damit Karriere macht. Die älteren Planungswissenschaftler*innen investieren nicht mehr in das Thema und haben kein gesteigertes Interesse an Kooperationen mit anderen einschlägigen Akteur*innen. Die Wenigen, die bereits vor 1995 das Thema aufgegriffen haben und nach 2000 weiterverfolgen, nehmen eine relativ isolierte Position ein. Es bestätigt sich eine Schlussfolgerung aus den Interviews: Ende der 1990er Jahre treibt eine in den Startlöchern stehende, junge Wissenschaftler*innengeneration ein Thema voran, vernetzt sich und macht Karriere. Dabei greift sie kaum auf ältere Beiträge und Zusammenarbeiten mit etablierten Akteur*innen zurück.

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Die ausschnitthaft dargestellte quantitative Gesamtbetrachtung bildet den Ausgangspunkt für die in Abschnitt 7.2 bis 7.5 ausgewerteten qualitativen Ergebnisse. Gleichzeitig spiegelt und bestätigt sie die qualitativ erhobenen Aspekte. Es handelt sich um das Ergebnis eines iterativen Vorgehens: Ausgehend von bibliometrischen Daten wurden unterschiedlich positionierte Akteur*innen befragt, deren Aussagen ein Gesamtbild entstehen lassen, welches wiederum durch quantitative Auswertungen überprüft und ergänzt wurde. Die Rückkopplung und Verschneidung quantitativer und qualitativer Daten ist zudem aufgrund der in Abschnitt 6.2 und 6.3 geschilderten, unvermeidbaren Einschränkungen der Datenverfügbarkeit von zentraler Bedeutung für die Validierung von Erkenntnissen (siehe auch Kp. 6).

Der quantitativ erhobene Aufmerksamkeitsverlauf zeigt eine Doppelpeakstruktur: Nach der äußerst geringen Aufmerksamkeit in den 1990er Jahren erreicht die Kurve einschlägiger Veröffentlichungen einen ersten Peak im Jahr 2003 und einen zweiten Peak im Jahr 2005, bevor eine Normalisierung eintritt. Die beiden Peaks haben unterschiedliche Qualitäten: An dem ersten Peak hat insbesondere die vergleichsweise stark auf die Politik ausgerichtete IzR einen maßgeblichen Anteil, während für den zweiten Peak die vergleichsweise stark theoriegeleitete RuR und die ARL-FB bedeutend sind. Im zweiten Peak – dem Allzeithoch – nimmt der Schrumpfungsdiskurs 12,6 Prozent der veröffentlichten Artikel ein. Die Zitationskurven zeigen an, dass das besonders relevante – also das in der nachfolgenden Wissensproduktion besonders häufig verwendete – Wissen in den Jahren des Durchbruchs bis zum ersten Peak (insb. 2001–2003) veröffentlicht wird. In den darauf folgenden Jahren sind die einschlägigen Erkenntnisse vergleichsweise wenig relevant, was angesichts des in diesen Jahren betriebenen hohen Aufwands auf eine relativ geringe Effizienz bzw. hohe Redundanz der Erkenntnisproduktion hindeutet.

In verschiedenen Auswertungen wird der große Einfluss politischer Akteur*innen erkennbar. Der Einfluss der Veröffentlichungen des BBR ist besonders hoch. Bezüglich der einschlägig forschenden Wissenschaftler*innen ist hervorzuheben, dass insbesondere jene Akteur*innen eine hohe Zentralität im Ko-Publikationsnetzwerk erreichen, die unmittelbar vor dem Durchbruch begannen, zu Themen zu forschen, die sich anschließend in den Schrumpfungsdiskurs eingliedern lassen. Akteur*innen dagegen, die während und nach dem ersten Peak begonnen haben einschlägig zu veröffentlichen, nehmen keine zentralen Positionen im Diskurs ein. Auch Akteur*innen, die schon vor 1997 einschlägig relevante Erkenntnisse produziert haben, erreichen mit wenigen Ausnahmen keine hohe Zentralität. Dies bestätigt den Eindruck einer jungen, thematisch vergleichsweise ungebundenen Forscher*innengeneration, die in Teilgruppen gut vernetzt ist und gemeinsam das Thema vorantreibt, wodurch sie schließlich wissenschaftliches Kapital in erheblichem Umfang generiert. Es zeigt sich darüber hinaus die hohe Bedeutung kollektiver und korporativer Akteur*innen, insbesondere anhand der untereinander eng vernetzten Teilgruppen des IRS, IFL, IÖR, BBR und der ARL. Sie bestätigen, dass persönliche Kontakte und räumliche Verortungen entscheidenden Einfluss auf die Wissensproduktion haben. Der fachöffentliche Austausch durch (ubiquitär verfügbare) wissenschaftliche Publikationen ist hingegen weit weniger ausschlaggebend für die Wahl von Themen und die Aufnahme von Kooperationsbeziehungen.

7.7 Zwischenfazit zur Themenkarriere Schrumpfende Städte

Inhaltlich vereint das Thema Schrumpfende Städte eine Vielzahl von Subthemen, von den unterschiedlichen Facetten des demografischen Wandels über räumliche Disparitäten, bis hin zum ökonomischen Strukturwandel. Bereits in den 1970er und 1980er Jahren werden einige dieser Themen – darunter Bevölkerungsrückgang, Entdichtung oder Strukturwandel – umfassend im Rahmen von Arbeitskreisen und Publikationen analysiert. Nach der Wiedervereinigung kommen die Vorstöße nahezu vollständig zum Erliegen. Anfang der 2000er Jahre leiten der Lehmann-Grube-Bericht sowie das Stadtumbau-Programm einen starken Anstieg der Aufmerksamkeit gegenüber dem Thema Schrumpfende Städte ein. Damit einher geht eine vorübergehende Verengung des Diskurses auf die politisch lösbar erscheinenden Probleme, insbesondere auf die Reduzierung des Leerstands und die Stabilisierung von Stadtquartieren durch städtebauliche und wohnungswirtschaftliche Maßnahmen. Bereits während dieser inhaltlichen Fokussierung werden jedoch (neue) Subthemen des Schrumpfungsdiskurses angestoßen oder weiterentwickelt. Insbesondere ab 2005, als der zweite Aufmerksamkeitspeak erreicht wird, werden diese verstärkt veröffentlicht und diskutiert. Die Aufmerksamkeit gegenüber dem Thema legt sich seitdem in Wellen, bleibt aber auf einem erhöhten Niveau. Das Abklingen des Schrumpfungsdiskurses geht einher mit einer – im Vergleich zur Themenkarriere Schrumpfende Städte moderaten – Steigerung der Aufmerksamkeit gegenüber (ehemals) untergeordneten oder verwandten Themen des Diskurses, wie bspw. Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse oder Peripherisierung.

Der strukturelle Kontext vermittelt den Planungswissenschaftler*innen bis ins Jahr 2000 geringe Resonanz, Ablehnung und Tabuisierung für einschlägige Vorstöße. Ab 2000, als die Lehmann-Grube-Kommission ihre Arbeit aufnimmt, steigt der Wissensbedarf in Politik, Praxis und Wissenschaft rapide. Institutionelle Hemmnisse kehren sich in ihr Gegenteil um: Schrumpfungsforschung wird bei Ressourcenallokationen nicht mehr vernachlässigt, sondern bevorzugt. Dies sorgt dafür, dass die einschlägig aktiven Planungswissenschaftler*innen ihre Publikationstätigkeit deutlich erhöhen, um Wissensansprüche geltend zu machen und den Wissensbedarf zu befriedigen. Zusätzlich werden weitere Planungswissenschaftler*innen auf das Thema aufmerksam. Sie prüfen die Anschlussfähigkeit ihres wissenschaftlichen Kapitals, um gegebenenfalls den Diskurs aufzugreifen und von den verfügbaren Drittmitteln sowie der steigenden Aufmerksamkeit zu profitieren. Die Bedeutung der Fördermittel für den planungswissenschaftlichen Diskurs lässt sich unter anderem daran erkennen, dass das Framing des Lehman-Grube-Berichts und des darauf aufbauenden Stadtumbau-Programms in zahlreichen Artikeln explizit oder implizit übernommen wird. Auch ist insbesondere für den zweiten Peak einschlägiger Veröffentlichungen charakteristisch, dass die Fachbeiträge vermehrt im Kontext von Forschungsprojekten entstehen. Als Mitte der 2000er Jahre die erste Generation der Stadtumbauprojekte abgeschlossen ist, sind nicht nur die Problemwahrnehmung, sondern auch Lösungsstrategien etabliert und erforscht. Der Umgang mit Schrumpfungsprozessen verstetigt sich, der Wissensbedarf nimmt ab und der „Reiz des Neuen“ geht verloren (vgl. Christmann et al. 2020: 501).

Die Akteur*innen erleben das Thema auf unterschiedliche Art und Weise, je nachdem in welcher Phase der Themenkarriere und ihrer eigenen wissenschaftlichen Karriere sie das Thema aufgreifen. Für die interviewten Akteur*innen der 1970er und 1980er Jahre stellt die Beschäftigung mit dem Thema primär eine intensive Episode von jeweils drei bis fünf Jahren der eigenen Forschungsbiografie dar, an die nur in einem Fall nach 2000 angeknüpft wird. Ende der 1990er Jahre werden einige junge Planungswissenschaftler*innen in Ostdeutschland durch verschiedene Faktoren auf das Thema aufmerksam. Die Pionier*innen sind, wie auch schon die Vorläufer*innen in den 1970er und 1980er Jahren, zunächst mit strukturellen Barrieren konfrontiert: Sie erleben Schwerpunktsetzungen zugunsten anderer Themen in Ausschreibungen, Veranstaltungen und der institutsinternen strategischen Ausrichtung, Ablehnung und Desinteresse gegenüber eigenen einschlägigen Vorträgen, bis hin zur absichtsvollen Behinderung der Schrumpfungsforschung durch Vorgesetzte. Diese Pionier*innen haben einen Wissensvorsprung, als das Thema Anfang der 2000er Jahre in das Zentrum der planungswissenschaftlichen Aufmerksamkeit gelangt. Sie können im Zuge des Durchbruchs und der daran anschließenden Fokussierung mit diesem Wissen weiteres wissenschaftliches Kapital in Form von Beziehungen, Drittmittelprojekten, Zitationen und Einfluss aufbauen. Spätestens ab 2010 haben sie kein gesteigertes Interesse mehr, sich über den Schrumpfungsdiskurs fachlich zu profilieren. Sie profitieren allerdings in keinem anderen Diskurs so stark von ihrem Status, ihrem Netzwerk und ihrem Wissen, sodass sie zumindest sporadisch einschlägige Beiträge einbringen. Junge Planungswissenschaftler*innen, die das Thema erst in der Normalisierungsphase aufgreifen, finden eine etablierte, vertikal (Hierarchien) und horizontal (Subthemen) ausdifferenzierte Forschungslandschaft vor. Sie haben mitunter Schwierigkeiten eine eigene Nische zu finden und eigenständig relevante Forschungen in den Diskurs einzubringen.

Nicht nur die befragten Akteur*innen resümieren einhellig, die Themenkarriere Schrumpfende Städte habe wichtige Erkenntnisse und Impulse für die planungswissenschaftliche Disziplin sowie die Planungspraxis geliefert. Grundlegende Errungenschaften des Schrumpfungsdiskurses seien primär die breite (fach-)öffentliche Thematisierung dieses zunächst mit Tabus behafteten Themas sowie der „Paradigmenwechsel“ weg von der Fokussierung auf die Generierung erneuten Wachstums hin zur Bewältigung und Gestaltung der unabwendbaren Schrumpfungsprozesse.