Zusammenfassung
Die Gesellschaftsanalyse von Jürgen Habermas, insbesondere Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962), wird befragt, welche Anschlussmöglichkeiten sie für eine geschlechtertheoretisch fundierte Gesellschaftstheorie (GGT) bietet, obwohl sich Habermas kaum zur Geschlechterfrage äußert. Für Habermas liegt ein wesentlicher Grund für den Niedergang der bürgerlichen Öffentlichkeit in der Auflösung einer klaren Grenze zwischen den Sphären (privat/öffentlich; Gesellschaft/Staat). Im Gegensatz dazu wird diese Auflösung im Feminismus teilweise positiv bewertet. Zwei zeitdiagnostische Thesen werden diskutiert: Rationalisierung der Privatheit und Entpolitisierung der Öffentlichkeit. Sie sind bei Habermas bereits angelegt, müssen aber aktualisiert und modifiziert werden. Beide Thesen verlängern die Krisendiagnose von Habermas bis in die Gegenwart. Aus der Perspektive der Geschlechterforschung gibt es allerdings Gegentendenzen: Rationalisierungsprozesse sind für Frauen nicht per se negativ, und die zweite Frauenbewegung hat eine Repolitisierung der öffentlichen Sphäre erreicht. Der Beitrag stellt Aufstieg und Niedergang der bürgerlichen Öffentlichkeit nach Habermas dar, geht auf die feministische Kritik an seiner Konzeption ein, diskutiert die beiden Thesen und versucht schließlich abzuschätzen, welche Einsichten die Auseinandersetzung mit Habermas für eine GGT bringt.
Abstract
The paper examines the social theory of Jürgen Habermas, especially The Structural Transformation of the Public Sphere (originally published in 1962), in an attempt to explore its relevance for a gendered social theory, notwithstanding that Habermas hardly mentions questions of gender. For Habermas, a central reason for the decline of bourgeois public sphere lies in the dissolution of the boundaries between the private and the public and between society and the state. In contrast, some feminist scholars have attached a positive valuation to this blurring of boundaries. The paper discusses two theses concerning contemporary social developments: first, the rationalization of privacy, and second, the depoliticization of the public sphere. These theses are inspired by Habermas but need to be brought up to date to take account of current developments. While they extend his diagnosis of a societal crisis to the present, they also have to take account of some countervailing tendencies. The rationalization of privacy is not per se a negative development for women, and the women’s movement has succeeded in repoliticizing the public sphere. The paper outlines Habermas’s account of the rise and fall of the bourgeois public sphere, addresses the feminist critique, discusses the two theses and, in conclusion, tries to assess what insights a discussion of Habermas’s work can yield for a social theory that is informed by issues of gender.
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Notes
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Ich verzichte darauf, diesen und die folgenden Begriffe in eine geschlechtergerechtere Sprache zu transformieren, da diese Regel 1962 noch nicht existierte und da die Status- und Berufsgruppen, um die es hier geht, im 18. Jahrhundert fast ausschließlich männlich waren.
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Es gibt bei Habermas also zwei unterschiedliche Begriffe des Privaten (Privatbesitz und Intimität) und zwei Begriffe des Öffentlichen, wobei der eine Begriff, die bürgerliche Öffentlichkeit, unter den Privatbereich fällt, weil es eine Öffentlichkeit von Privatleuten ist, und der zweite Begriff die Staatsgewalt meint. – Vgl. dazu auch die Einleitung zu diesem Band. – Zur Entwicklung des Begriffspaars im Werk von Habermas vgl. auch Heming (1997), Arnauld (2009) und Hölzing (2012).
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Eine Parallele zu Hannah Arendts Begriff der Gesellschaft als „Arbeitsgesellschaft“ (Arendt [1958] 2016, S. 58–61), die sie noch kritischer sieht.
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Um zu untersuchen, was Habermas’ Kritische Theorie in Bezug auf die Geschlechterfrage dennoch bieten könnte, schlägt Nancy Fraser folgende Methode vor: explizieren, was Habermas ausspart; von seinen Aussagen auf das schließen, wozu er nichts sagt; und analysieren, wie die Themen, die er ausspart, in seinem Theorierahmen erscheinen würden (Fraser 1994, S. 174).
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Das gilt selbstverständlich nicht für alle feministischen Strömungen, sondern vor allem für die hier besprochene Kritik an Habermas. Vgl. für eine differenziertere Einschätzung auch die Einleitung zu diesem Band.
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Vgl. auch Anicker (2017), der eine Übereinstimmung in der Zielsetzung sieht. Ebenso wie der Feminismus wolle auch Habermas das emanzipatorische Potenzial von Öffentlichkeit deutlich machen und gleichzeitig auf empirische Defizite hinweisen, auf Verzerrungen des Diskurses bzw. auf vermachtete Öffentlichkeit, die zu Ausschlüssen bestimmter Gruppen führen oder zumindest ihre Artikulations- und Durchsetzungschancen reduzieren.
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Die Formulierungen dieses Abschnitts sind weitgehend identisch mit einer Passage aus Burkart (2022).
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Burkart, G. (2022). Rationalisierung der Privatheit – Entpolitisierung der öffentlichen Sphäre. Zeitdiagnostische Überlegungen im Anschluss an Jürgen Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit. In: Burkart, G., Cichecki, D., Degele, N., Kahlert, H. (eds) Privat – öffentlich – politisch: Gesellschaftstheorien in feministischer Perspektive. Gesellschaftstheorien und Gender. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-35401-5_2
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