Zusammenfassung
In der bürgerlichen Gesellschaft erleben Lesben und Schwule die Trennung und den Wandel von Öffentlichkeit und Privatheit anders als heteronormativitätskonforme Subjekte. Ausgehend von dieser These, die im ersten Teil anhand der Epistemologien des closet und des coming out veranschaulicht wird, rekonstruiert der Text im zweiten Teil den queertheoretischen Beitrag für eine gesellschafts- und ideologiekritische Analyse von privat/öffentlich. Im Zentrum steht hierbei das Konzept der Heteronormativität, welches eine Paradoxie der heterosexuellen Kultur zum Vorschein bringt: Heterosexualität wurde in der bürgerlichen Gesellschaft paradoxerweise nicht trotz, sondern durch ihre Privatisierung zum Inbegriff des öffentlichen Lebens und der allgemeinen Kultur. Eine queertheoretisch fundierte Erklärung und Kritik dieser Paradoxie und ihrer negativen Folgen für queere wie heterosexuelle Subjekte wird systematisch auf drei Ebenen entwickelt: auf einer politisch-öffentlichkeitstheoretischen, einer klassen- und reproduktionstheoretischen und einer existenz-ästhetischen Ebene der Heteronormativitätskritik. Im dritten Teil werden queere Theorie- und Kritikperspektiven auf die aktuelle Vergesellschaftung von Lesben und Schwulen im neoliberalen Strukturwandel von Öffentlichkeit und Privatheit diskutiert. Ausgehend davon werden abschließend aktuelle Herausforderungen für queere Theorien und Politikansätze erörtet, die der gegenwärtig dominanten Formation von privat/öffentlich im Spätkapitalismus entwachsen.
Abstract
In bourgeois society, lesbians and gays experience the separation as well as the transformation of the public and the private differently from subjects who conform to heteronormativity. In the first part of the text this thesis is illustrated with regard to the epistemologies of the closet and the practice of coming out. In the second part, the text systematically reconstructs the queer contribution to a critical analysis of the societal and ideological conditions of private/public. The focus is on the concept of heteronormativity, which reveals a paradox of heterosexual culture: Paradoxically, in bourgeois societies heterosexuality could become the embodiment of public life and general culture not despite of, but rather through, its privatization. A queer-theoretically founded explanation and critique of this paradox, and its negative consequences for queer and heterosexual subjects, is systematically developed on three levels: on a political-public-theoretical, a materialistic, and an aesthetic level of the critique of heteronormativity. In the third part, queer theoretical and critical perspectives on the current socialization [Vergesellschaftung] of lesbians and gays in the context of neoliberal transformation of the public and the private are examined. On this basis, new challenges for queer theories and politics that emerge from the currently dominant formation of private/public in late capitalism are discussed.
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Notes
- 1.
Zwischen Schwulen, Lesben, Bisexuellen und trans* Menschen gibt es hinsichtlich von Diskriminierungserfahrungen und der damit verbundenen Bedeutung von Grenzziehungen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit teilweise Parallelen und teilweise gravierende Differenzen. Eine systematische Betrachtung dieser Differenzen und Parallelen kann der vorliegende Text nicht leisten. Um zu vermeiden, dass Bisexualität und trans* in unangemessener Weise lediglich additiv bedacht werden, konzentriert sich dieser Text explizit auf die Differenz von (cis-)Hetero/Homosexualität.
- 2.
Nach Foucault (1983) war die Erlernung eines rationalen und kontrollierten Verhältnisses zum ‚eigenen‘ Sex und Begehren ein wichtiges Terrain für die Konstitution bürgerlicher Subjektivität. Feministische und postkoloniale Theoretiker*innen haben hieran anschließend aufgezeigt, dass diese Subjektivität nicht nur eine klassenspezifische, sondern zudem eine dezidiert weiße und männliche war. Das vernünftige und zivilisierte Verhältnis zur Sexualität und damit zu sich selbst bildete sich kontrastierend zu den ‚Anderen‘ der Vernunft in den Kolonien, den Arbeitervierteln sowie den Küchen und Kinderstuben heraus.
- 3.
Das große Defizit von Richard Sennetts Tyrannei der Intimität (1977) besteht darin, diese, für die bürgerliche Öffentlichkeit konstitutive, Dialektik von Privatisierung und Veröffentlichung zu verkennen. Seine kulturpessimistische These, die Intimisierung der Öffentlichkeit führe zu deren Verfall und Ende, nimmt entsprechend ein vorbürgerlich-repräsentatives Idealbild von Öffentlichkeit zum Ausgangspunkt, ohne den von Habermas aufgezeigten Strukturwandel zur Kenntnis zu nehmen (vgl. die Kritik an Sennett in Habermas 1990, S. 17).
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Laufenberg, M. (2022). Queere Theorien im Strukturwandel von Öffentlichkeit und Privatheit. In: Burkart, G., Cichecki, D., Degele, N., Kahlert, H. (eds) Privat – öffentlich – politisch: Gesellschaftstheorien in feministischer Perspektive. Gesellschaftstheorien und Gender. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-35401-5_12
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