Zusammenfassung
In weiten Teilen der Geschlechterforschung ist die Unterscheidung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit von großer analytischer Bedeutung für das Verständnis moderner Geschlechterverhältnisse. Dennoch weisen ihre Analysen vielfach begriffliche Unschärfen im Gebrauch der Unterscheidung auf: Zum einen wird Familie mit Privatheit, Erwerbsarbeit mit Öffentlichkeit identisch gesetzt; zum anderen werden beide Unterscheidungen parallel verwendet. Der Beitrag setzt die beiden Unterscheidungen Privatheit/Öffentlichkeit und Familie/Erwerb mithilfe der Luhmann’schen Systemtheorie auf neue Weise ins Verhältnis. Dazu greift er den Forschungsansatz Doing Family auf, der Familie als Herstellungsleistung versteht. Vorgeschlagen wird, familiale Privatheit als staatlich geschützte familiale Selbststeuerungsebene zu begreifen, auf der sich die Familie gegenüber als öffentlich begriffenen Umwelterwartungen wie dem (dynamischen) Arbeitsmarkt sowohl abgrenzt als auch auf sie antwortet. Entsprechend besitzt jedes einzelne Familiensystem seine eigene Privatheit und Öffentlichkeit. Damit einhergehend, lassen sich die Individualisierung der Familienmitglieder als auch die zunehmende Irrelevanz von Gender für die familiale Binnenstruktur beobachten: Da jedes Familiensystem die Unterscheidung auf unterschiedliche Weise handhabt, findet eine Heterogenisierung von Familienformen statt.
Abstract
In large areas of gender studies the distinction between the private and the public spheres has been given great analytical importance for the understanding of modern gender relations. Nevertheless, their analyses often lack conceptual clarity whilst using the distinction: On the one hand, family is used equivalent to privacy, gainful employment equivalent to the public sphere; on the other hand, both distinctions are used congruently. Against this background and with reference to Luhmann’s systems theory, the present text puts the two distinctions privacy / public sphere and family/employment into a fresh relationship. For this purpose, the text makes reference to a research approach, which conceives the family as the result of Doing Family. The text suggests seeing familial privacy as a level of self-organisation protected by the state. On this basis, the family system isolates itself from what it recognizes as expectations of the public sphere and responds to them accordingly. As a consequence, every single family system keeps its own privacy and its own public sphere. Conjointly, the extensive individualisation of the family members can be observed: As every family system uses the distinction at its own discretion, a heterogenisation of family forms takes place.
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Notes
- 1.
Der Text stützt sich dabei auf einen Vorschlag von Dirk Baecker (1996), wonach es eine „Öffentlichkeit der Politik, […] eine Öffentlichkeit des Sports, der Religion, der Wirtschaft, der Familie“ (Baecker 1996, S. 89) gebe, wobei die „Öffentlichkeit des einen Kontextes mit der des anderes Kontextes kaum noch etwas zu tun habe“ (Baecker 1996, S. 90).
- 2.
Mit herzlichem Dank an Günter Burkart für hilfreiche Anmerkungen und Kritikpunkte.
- 3.
Vergleiche hierzu die Einleitung zu diesem Band.
- 4.
Und dieser Gedanke ließe sich auf andere Sozialsysteme übertragen, die demnach auch über eigene Privatheit und Öffentlichkeit verfügen.
- 5.
Der hier nicht als historische Phase in Abgrenzung zum Beispiel vom Workfare State begriffen wird, sondern im Sinne eines übergreifenden Staatsverständnisses.
- 6.
Die Familie (Oikos), ehemals als Herrschafts- und Wirtschaftseinheit entworfen, differenziert sich nun gegen die selbstreferentiellen Funktionsbereiche Wirtschaft und Politik.
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Weinbach, C. (2022). Eigenlogik und Druck von außen. Systemtheoretische Perspektiven auf das Verhältnis privat/öffentlich im Familiensystem. In: Burkart, G., Cichecki, D., Degele, N., Kahlert, H. (eds) Privat – öffentlich – politisch: Gesellschaftstheorien in feministischer Perspektive. Gesellschaftstheorien und Gender. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-35401-5_10
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