Zusammenfassung
Die Unterscheidung von privater und öffentlicher Sphäre gehört zu den basalen Kategorisierungen moderner Gesellschaften. Sie markiert ein spannungsreiches Verhältnis, das von Anfang an auch die Geschlechterverhältnisse bestimmte, denn die Grenze zwischen den beiden Bereichen steht für die Separierung der Geschlechter und den Ausschluss der Frauen von den Bereichen öffentlicher Wirksamkeit. In dieser Einleitung werden grundlegende Aspekte dieses Problemfeldes diskutiert. Wir fragen, wie relevant die Begrifflichkeit heute noch ist und gehen auf terminologische Probleme ein. Wir zeichnen die historische Entwicklung nach und skizzieren theoretische Deutungsversuche. In feministischen Debatten wurde die Unterscheidung vehement kritisiert, doch neben der Forderung, die Sphärentrennung abzuschaffen, gibt es auch Positionen, die sie bewahren wollen. Diskussionen um Entgrenzungstendenzen zwischen den beiden Bereichen findet man vor allem in der Medien- und Digitalisierungsforschung. Im letzten Abschnitt wird die Grundidee des Bandes erläutert. Es geht darum, etablierte Sozialtheorien kritisch zu prüfen, ob und wie sie das Geschlechterverhältnis berücksichtigen (bezogen auf das Verhältnis der Sphären) und welche Anschlussmöglichkeiten sie für eine geschlechtertheoretisch fundierte Sozialtheorie bieten.
Abstract
The distinction between private and public spheres is part of the basic categorial structures of modern societies. It marks a tense relation which from the very beginning determined gender relations. The boundary between the two realms defined the separation of genders and the exclusion of women from areas of public empowerment. In this introduction, we discuss some basic elements of the debates related to the distinction. We ask how relevant this terminology is in contemporary society, showing how confusing it can be. Further on, we sketch the historical emergence of the two spheres and theoretical attempts to understand this development. In the next section of the paper, we recapitulate critical feminist debates on the dichotomy. While some feminists argued for eliminating the distinction, others looked for its retaining and redefining. Discussions on the blurring of boundaries are well established in media studies and the research area related to digitalization processes. In the last section, we outline the basic idea behind this collection of papers which is to evaluate the sensibility of established social theories for gender relations, referred to the public/private distinction.
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Notes
- 1.
Die Ergebnisse dieser Arbeit sind in Kahlert und Weinbach (2022) nachzulesen.
- 2.
https://support.startpage.com/index.php?/de/Knowledgebase/List/Index/56/privatsphare; https://support.mozilla.org/de/kb/privater-modus. (Zugegriffen 20. Sept. 2020).
- 3.
In der Abteilung I dieses Handbuchs werden insgesamt 16 Dualismen bzw. Debatten bearbeitet, die für die Frauen- und Geschlechterforschung relevant waren, zum Beispiel Natur/Kultur oder Produktion/Reproduktion. Privat/öffentlich ist nicht dabei. Auch in Abteilung V, die sich mit Lebensphasen und privaten Lebensformen (Liebe, Paare) befasst, fehlt eine systematische Diskussion von Privatheit.
- 4.
Und sie wird oft ganz unideologisch genutzt, eigene Interessen durchzusetzen. Es gibt beispielsweise Influencerinnen, die sich als Feministinnen bezeichnen, weil sie zeigen, dass Frauen erfolgreiche Online-Unternehmerinnen ihrer selbst sein können.
- 5.
Zu unserem Verständnis dieser Begriffe: Gesellschaftstheorie bezieht sich auf die Analyse gesellschaftlicher Grundprinzipien bzw. auf das Ganze der Gesellschaft; der Begriff soll allerdings nicht ahistorisch verstanden werden; insofern grenzt er sich von eher abstrakten, universell angelegten Sozialtheorien ab. Zeitdiagnostische Entwürfe gesamtgesellschaftlicher Analysen setzen an aktuellen Problemlagen an und heben eine bestimmte Entwicklungsdynamik besonders hervor.
- 6.
Zur Vielfalt der Begriffsverwendungen siehe Benn und Gaus (1983, S. 3–12); Rössler (2001, S. 11–26). Weintraub (1997) versucht, die verwirrende Begriffsgeschichte zu systematisieren und identifiziert vier große Bereiche, in denen die Unterscheidung verwendet wird: 1) Das liberal-ökonomische Modell, wo privat meist mit Marktwirtschaft und/oder Privatrecht verbunden ist und öffentlich (public) eher mit dem Staat; 2) Öffentlichkeit im Sinne von Zivilgesellschaft, zwischen Markt und Staat; 3) Die öffentliche Sphäre als Ort der Sozialität, abgegrenzt von der privaten Sphäre des Hauses und der Intimität; 4) Kritik der Unterscheidung im Feminismus.
- 7.
Von Privatsphäre, Privatheit oder privaten Lebensformen ist natürlich in der Paar- und Familienforschung häufig die Rede – doch selten in Relation zur Öffentlichkeit. Umgekehrt gibt es in der Medien- und in der Demokratieforschung eine Fülle von Literatur zur Öffentlichkeit ohne Bezug auf Privatheit.
- 8.
Es geht also nicht nur um privat/öffentlich, sondern um eine Reihe eng miteinander verzahnter fragwürdiger Dichotomien wie Natur versus Kultur oder Familie vs. Arbeit (vgl. Bock 2014). Wir müssen auch nicht zwingend von einer Dichotomie ausgehen, es gibt auch relationale Bestimmungen: Was aus einer Perspektive privat sein kann, ist aus einer anderen öffentlich, das ist zum Beispiel bei der Familie recht deutlich, bei den bürgerlichen Salons oder bei Vereinstreffen. Auch Stufenmodelle können sinnvoll sein: Was auf der ersten Stufe öffentlich ist, wird auf der nächsten privat (vgl. Burkart 2002; Ettinger 2019).
- 9.
In feministisch-marxistischer Sicht „the market economy has migrated from the heart of the ‚private sector‘ to the heart of the ‚public realm‘“ (Weintraub 1997, S. 33).
- 10.
Knobloch (2011) zum Beispiel diagnostiziert eine Expansion von Geheimnissen in der Politik, die nicht legitimiert sind, aufgrund der Ausbreitung von Politiker_innennetzwerken. Die Gegenbewegung ist Whistleblowing.
- 11.
Siehe die Beiträge von Burkart und Straßenberger.
- 12.
Siehe auch den Beitrag von Stefanie Ernst in diesem Band.
- 13.
Siehe auch den Beitrag von Rainer Schützeichel in diesem Band.
- 14.
Siehe auch den Beitrag von Christine Weinbach in diesem Band.
- 15.
Siehe auch den Beitrag von Gabriele Michalitsch in diesem Band.
- 16.
- 17.
Zur Kritik dieser Engführung von Autonomie und Privatheit siehe auch Matzner (2018). Vorbehalte gegenüber der theoretischen Idee eines autonomen Subjekts, das seine persönlichen Daten kontrollieren kann (und dadurch Privatheit besitzt), kommen nicht nur von der Soziologie, sondern auch aus Medienwissenschaft und Netzwerkforschung. Entsprechende Arbeiten weisen darauf hin, dass autonome Kontrolle der persönlichen Daten kaum noch möglich ist, weil alle diese Daten mit denen anderer vernetzt sind (Boyd 2012). Rössler selbst hat inzwischen ihr Konzept mit einer stärker soziologischen Sichtweise ergänzt (Rössler und Mokrosinska 2013).
- 18.
Wir verstehen unter feministisch bzw. Feminismus sowohl Praxis (Frauenbewegung) als auch Theorie/Empirie (Frauen-, Geschlechterforschung, gender studies).
- 19.
Eine monographische Gesamtdarstellung dieser Debattengeschichte steht noch aus (falls dies überhaupt möglich ist). Ansätze finden sich bei Pateman (1983), Landes (1998a), Ackelsberg und Shanley (1996), Wischermann (2003). Es geht, wie schon gesagt, nicht nur um die Unterscheidung privat/öffentlich, sondern um weitere eng miteinander verzahnte fragwürdige Dichotomien, Natur vs. Kultur und Familie vs. Arbeit (bzw. unbezahlte vs. bezahlte Arbeit (vgl. Bock 2014). Pateman verlängert die Liste noch um weitere Geschlechter-Dualismen: „personal/political, emotional/reason, love/justice, intuition/philosophy, morality/power, ascription/achievement, particular/universal, subjection/freedom“ (Pateman 1983, S. 287).
- 20.
Elshtain (1974, [1981] 1993), Pateman (1983), Benn und Gaus (1983), Landes (1998a), Scott und Keates (2004). Auch die Auseinandersetzungen mit Arendt (Honig 1995) und Habermas (Meehan 1995) schärften den Blick der feministischen Kritik an der Dichotomie. In der deutschsprachigen Frauen- und Geschlechterforschung waren es vor allem Historikerinnen und historisch arbeitende Soziologinnen, die sich mit den Folgen der Aufteilung der Geschlechter in die beiden Sphären befassten (Hausen 1990, 1992; Bock 2014; Klinger 2014).
- 21.
Lembke (2017) untersucht, am Beispiel der Ereignisse in der Silvesternacht 2015 in Köln, die intersektionelle Problematik. Sie spricht von einer Orientalisierung von Sexismus, d. h., der böse und gefährliche Mann ist jetzt nicht mehr primär der weiße Mann. Siehe auch Temel (2017) für Aushandlungsprozesse um Zugang bzw. Ausschluss von Lesben aus der Öffentlichkeit.
- 22.
Zu einem ähnlichen Ergebnis – in allgemeiner Form: hinter einer Fassade des Guten verbirgt sich die Unterdrückung der Frau – kommt eine ganz andere Diskussionslinie, bei der die Fassade nicht Vertrag, sondern Liebe ist. Schon Simone de Beauvoir ([1949] 1951) hat die heterosexuelle Liebe als patriarchales Instrument kritisiert, mit dem die Frauen dazu gebracht werden, sich dem Mann freiwillig zu unterwerfen.
- 23.
Pateman selbst hält weiterhin an ihrem Konzept fest (vgl. Thompson et al. 2018).
- 24.
„Das Private ist politisch“ bzw. „the personal is political“ – der Slogan tauchte etwa 1970 auf (vgl. Bock 2014, S. 6) – steht sowohl für die Kritik an der Dichotomie als auch für die produktive Aneignung und Umdeutung.
- 25.
Beide Richtungen haben mit einem Problem zu kämpfen. Die Vertreterinnen eines Differenz-Feminismus stoßen bei jenen auf offene Ohren, die aus der Differenz eine Bestätigung weiblicher Minderwertigkeit ablesen. Der Gleichheitsfeminismus hat es mit dem Problem zu tun, dass die männliche Perspektive als das Maß der Dinge erscheint und dass Gleichheit nur durch weibliche Assimilation an jene Perspektive erreicht wird (vgl. Bock 2014, S. 17).
- 26.
Auch Elshtain ([1981] 1993, S. 320) warnt mit dieser Metapher davor, den Wert der Privatsphäre – der Familie – zu vernachlässigen. Sie betont die Eigenlogik der Privatsphäre (vgl. Elshtain [1981] 1993, S. 322–337), der nicht einfach die Prinzipien des Öffentlichen und Politischen aufgedrückt werden könnten (vgl. Elshtain [1981] 1993, S. 357). Ihr Ideal ist nicht eine Auflösung der Grenze (Politisierung des Privaten), sondern die Aufrechterhaltung einer Spannung zwischen den beiden Sphären (vgl. Elshtain [1981] 1993, S. 351). Ähnlich argumentiert auch Young (2008) mit der Idee einer Eigenlogik der beiden Sphären, die nicht einfach vermischt werden könnten. Sie verdeutlicht das am Beispiel der Ehe und mit dem Bezug auf Gerechtigkeit. Im Unterschied zur öffentlichen Sphäre könne es in der Ehe nicht um Verteilungsgerechtigkeit gehen. In beiden Sphären sollten unterschiedliche Versionen von Gerechtigkeit gelten.
- 27.
Ermert (2017) diskutiert verschiedene Konzepte von Gegenöffentlichkeit und unterscheidet dabei zwei Richtungen: Die erste setze sich direkt mit der hegemonialen Öffentlichkeit auseinander und versuche, in ein kommunikatives Verhältnis zu ihr zu treten. Die andere gehe eher privativ vor, d. h. sie grenze sich von der hegemonialen Öffentlichkeit ab und suche zum Teil auch private Schutzräume auf.
- 28.
Performanz bezieht sich unter anderem auf das Theater der Revolution. Die Formel soll verdeutlichen, dass die bürgerliche Revolution keine kühle Arena des rationalen Diskurses war, sondern eher ein öffentliches Kampf- und Schlachtfeld. Judith Butler (2016) betont den performativen Charakter von öffentlichen Versammlungen, die nicht in erster Linie eine diskursive Angelegenheit seien; vielmehr sei von Belang, dass sich „Körper versammeln. Verkörperte Handlungen unterschiedlicher Art tun etwas auf eine Weise kund, die genau genommen weder diskursiv noch vordiskursiv ist“ (Butler 2016, S. 15). Damit stellt sie auch die Spaltung des Körpers „in einen, der öffentlich erscheint, spricht und handelt, und einen anderen, sexuellen, arbeitenden, weiblichen, fremden und stummen Körper, der im Allgemeinen in die private und vorpolitische Sphäre verwiesen wird“, infrage (Butler 2016, S. 116–117).
- 29.
Vgl. dazu auch den Beitrag von Straßenberger in diesem Band.
- 30.
Mit den Massenmedien (schon dem Kino, vor allem aber dem Fernsehen und später dem Internet) sei das puritanische Erbe der USA weitgehend erodiert, bis hin zu einer nahezu völligen Auflösung der Privatsphäre in einer Kultur der Schamlosigkeit. Während man vor kurzem noch hart arbeiten musste, um private Informationen von sich zu verbreiten, müsse man heute hart arbeiten, um zu verhindern, dass Unternehmen und staatliche Institutionen private Informationen von uns sammeln, ohne dass wir es merken (Meyrowitz 2002, S. 197–200).
- 31.
Beck (2017) untersuchte diese Frage am Beispiel von SPD-Spitzenpolitikerinnen. Sie stellte fest, dass die mediale Thematisierung des Privaten früher eher zur Abwertung der Politikerinnen geführt habe, wohingegen später private Kontexte zunehmend zu einem Erklärungsfaktor für politische Handlungsmacht geworden seien.
- 32.
Ein erstes Produkt der gemeinsamen Arbeit war das Buch Zeitgenössische Gesellschaftstheorien und Geschlechterforschung. Einladung zum Dialog (Kahlert und Weinbach 2022).
- 33.
Es gibt, im Unterschied zum Dualismus der Geschlechter, keinen etablierten Oberbegriff für die Einheit der Differenz von privat und öffentlich. Wir behelfen uns hier probeweise mit dem Begriff Sphären der Lebenspraxis.
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Burkart, G., Cichecki, D., Degele, N., Kahlert, H. (2022). Einleitung: Zur geschlechter- und gesellschaftstheoretischen Relevanz von Privatheit und Öffentlichkeit. In: Burkart, G., Cichecki, D., Degele, N., Kahlert, H. (eds) Privat – öffentlich – politisch: Gesellschaftstheorien in feministischer Perspektive. Gesellschaftstheorien und Gender. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-35401-5_1
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