Zusammenfassung
Das Schreiben von Beobachtungsprotokollen stellt hohe Anforderungen an Beobachter*innen und insbesondere an Lehramtsstudierende, die das Beobachten erlernen. Dazu gehört nicht nur, zu entscheiden, was aus der Vielfalt des Gesehenen unter dem gewählten Beobachtungsfokus für das Protokoll relevant ist. Auch der Prozess der Verschriftlichung selbst, von der Feldnotiz hin zum ausformulierten Beobachtungsprotokoll, stellt Anforderungen, die vor dem Hintergrund der Schreibforschung kontextualisiert und in ihrer Komplexität entfaltet werden. Am Beispiel eines Beobachtungsprotokolls zu einer Vorlesesituation werden acht Stolperstellen vorgestellt, die sich beim Schreiben der ersten Beobachtungsprotokolle in der langjährigen Arbeit mit Studierenden als typisch erwiesen haben. Zudem wird aus fachdidaktischer Perspektive herausgearbeitet, welchen Unterschied das Aussparen relevanter Informationen im Beobachtungsprotokoll für die Rekonstruktion aufgabenbezogener Zugänge von Schüler*innen macht.
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Notes
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In dem Bilderbuch ‚Der Tigerprinz‘ von Chen Jianghong (2005) verwüstet eine wilde Tigermutter Dörfer und tötet Menschen, denn ihre Jungen sind von Jägern getötet worden. Auf Rat einer Wahrsagerin schickt der König des Landes seinen kleinen Sohn Wen in das Tigerreich, um den Zorn der Tigerin zu besänftigen. Der Plan geht auf, ihr Mutterinstinkt ist geweckt und sie bringt Wen alles bei, was kleine Tiger können und wissen müssen. Eine gefährliche Situation entsteht, als Wen eine Pfeilspitze aus dem Fell der Tigermutter entfernen will. Für einen kurzen Moment ist sie durch den Schmerz an ihre Tiger-Babies erinnert, doch sie erkennt in den Augen von Wen die Furcht in den Augen ihrer Kinder wieder.
Viele Jahre später schickt der König seine Truppen aus, um nach Wen zu suchen. Als diese die Tigerin finden und angreifen wollen, stellt Wen sich schützend vor seine „Tigermutter“. Die Wiedersehensfreude zwischen Wen und seinen Eltern ist groß. Er kehrt zurück in den Palast und besucht die Tigermutter fortan einmal im Jahr. Als er selbst König ist, bringt er seinen Erstgeborenen zur Tigermutter, damit er, genau wie er selbst, von ihr lernen kann, ein guter König zu sein.
- 2.
Hier besteht eine begriffliche Nähe zur ‚dichten Beschreibung‘, die v. a. mit dem Ethnologen Clifford Geertz (1987) verbunden ist. Kennzeichnend für die ‚dichte Beschreibung‘ ist eine Verschränkung aus Beschreibung und Deutung im Beobachtungsprotokoll, mit dem Ziel, in der Analyse latente Sinnstrukturen im beobachteten Feld aufzudecken, d. h. auch das Nicht-Sagbare zu verstehen. Was die Beobachtung im fachdidaktischen Kontext unterscheidet, ist, dass es hier nicht darum geht, ein Feld zunehmend in seiner Komplexität zu verstehen. Im Fokus steht vielmehr die Rekonstruktion aufgabenbezogener Bearbeitungsprozesse. Insofern enthalten die Beobachtungsprotokolle deutlich mehr beschreibende als deutende Anteile und die Beobachter*in steht mehr im Hintergrund, als das bei ethnologischen oder auch ethnographischen Beobachtungen der Fall ist.
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„Die besondere Bedeutung des Schreibens in der Ethnographie liegt jedoch darin, dass im schreibenden Beobachten zugleich eine sprachliche Erschließung von Phänomenen stattfindet, die noch gar nicht in sprachlicher Form vorliegen, sondern erst durch die Beschreibungen zur Sprache gebracht werden“ (Breidenstein et al. 2020: 40).
Literatur
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Merklinger, D. (2022). Beobachtungsprotokolle schreiben: Anforderungen und Stolperstellen. In: de Boer, H., Merklinger, D., Last, S. (eds) Beobachten im fachdidaktischen Kontext. Edition Fachdidaktiken. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-35355-1_3
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