1 Einleitung

Die MINT-Branche (Mathematik, Ingenieurwesen, Naturwissenschaften und Technik) ist einer der wichtigsten Bereiche der deutschen Wirtschaft. Seit Beginn der Industrialisierung hat sie zu vielfältigen gesellschaftlichen Entwicklungen beigetragen und einen entscheidenden Beitrag zum heutigen Wohlstand in Deutschland geleistet. Derzeit ist Deutschland mit einem Mangel an qualifiziertem Fachpersonal in vielen Berufen der MINT-Branche konfrontiert (DAAD, 2021). Nachdem ein geringer Frauenanteil im MINT-Bereich als nicht mehr zeitgemäß erkannt wurde, wurden gezielte Maßnahmen ergriffen, um das Interesse von Frauen am MINT-Fächern zu erhöhen. In den letzten Jahren rückt darüber hinaus die Erkenntnis ins Bewusstsein, dass trotz des hohen Anteils internationaler Arbeitskräfte im MINT-Bereich eine Förderung der Anerkennung und Nutzung von kultureller Diversität notwendig ist. Dies drückt sich unter anderem in öffentlichen Programmen, wie dem Bundesprogramm Studieren in Deutschland (DAAD, 2021) oder den Projektförderungen des Stifterverbands (2021), aus.

Infolge der zunehmenden (kulturellen) Diversität ist sowohl die Vermittlung von als auch der eigene angemessene Umgang mit kultureller Vielfalt (Thomas, 1991) zu einer wichtigen Aufgabe für Lehrkräfte geworden. Gleichzeitig hat die Globalisierung die internationale Geschäftstätigkeit angekurbelt, weshalb viele Unternehmen heutzutage erwarten, dass die Absolventinnen und Absolventen bei ihrem Einstieg in das Berufsleben adäquat auf kulturelle Diversität vorbereitet sind. Aufgrund dessen ist es wichtig, dass Studierende an Hochschulen lernen, kulturelle Vielfalt im Umgang miteinander bewusst zu handhaben und sich nicht nur hinsichtlich des Fachwissens, sondern auch hinsichtlich sozialer Kompetenzen wie Teamfähigkeit, Verantwortungsbewusstsein und Zuverlässigkeit optimal auf das Berufsleben vorbereiten. Interaktion in sozial heterogenen Gruppen ist neben selbstständigem Handeln und Umgang mit Instrumenten und Werkzeugen die dritte Schlüsselkompetenz, die Studierende laut OECD explizit an Hochschulen erwerben sollten (Lange, 2012).

Um die Bewusstheit für die kulturelle Vielfalt und das Maß der Stereotypenbedrohung und die Durchlässigkeit der Gruppengrenzen bei Studierenden an zwei Hochschulen in Deutschland zu untersuchen, wurden in der vorliegenden Studie qualitative und quantitative Methoden verwendet. Dazu wurden deutsche Studierende mit und ohne Migrationshintergrund sowie internationale Studierende befragt. Das Ziel war es, herauszufinden, ob sich Studierende der MINT-Branche der kulturellen Diversität in ihrem jeweiligen Umfeld bewusst sind und ob sie ihre eigenen kulturellen Merkmale reflektieren (vgl. Gardenswartz & Rowe, 2021). Darüber hinaus wurde der Zusammenhang von kulturellen Merkmalen und Stereotypenbedrohung (stereotype threat) untersucht. Stereotypenbedrohung bezieht sich auf die Angst, aufgrund kultureller Klischees beurteilt zu werden (Nelson, 2009). Schließlich wurden die Studierenden zu ihrer Gruppenzugehörigkeit befragt sowie zu Inter-Gruppengrenzen (Faultlines).

Faultlines bezeichnen imaginäre Grenzen oder unsichtbare Barrieren, die zwischen sozialen Gruppen bestehen. Stark ausgeprägte Faultlines zeigen sich darin, dass Mitglieder unterschiedlicher sozialer Gruppen weniger miteinander interagieren und sich als unterschiedlich wahrnehmen. Für Minderheitengruppen oder Einzelpersonen kann dies dazu führen, dass sie sich ausgeschlossen fühlen und weniger soziale Unterstützung erhalten (Lau & Murningham, 1998). Eine Untersuchung von Diversity-Bewusstsein, Stereotype Threat und Faultlines soll es ermöglichen, Aspekte zu identifizieren, die verstärkte Aufmerksamkeit und Unterstützung durch Fakultäten und Lehrkräfte benötigen.

Dazu wurden zwei Hochschulen für angewandte Wissenschaften untersucht. München und Osnabrück unterscheiden sich sowohl anhand der Einwohnerzahlen (München: 1,5 Mio., Osnabrück: 160.000) als auch durch den Anteil internationaler Studierender an beiden Hochschulen. Die Hochschule München (HSM) zählte im Wintersemester 2019/2020 14 % internationale Studienbeginnende (Hochschule München, 2020), während an der Hochschule Osnabrück (HSO) im Studienjahr 2019 nur 2 % der neuen Studierenden aus dem Ausland kamen (Hochschule Osnabrück, 2021a). Zugleich investieren beide Hochschulen in internationale Studien und Austauschprogramme, bieten Kurse in englischer Sprache an und unterstützen globale Zusammenarbeit in der Wissenschaft (Hochschule München, 2021; Hochschule Osnabrück, 2021b). Zudem sind die HSM sowie die HSO Mitglieder der UAS7, einem Netzwerk von sieben deutschen Hochschulen für angewandte Wissenschaften, durch das Konnektivität und Internationalität gefördert wird (UAS7, 2021).

2 Fragestellung, Methode und Stichprobenbeschreibung

2.1 Fragestellung

In der vorliegenden Studie wurde das Bewusstsein für kulturelle Diversität, Stereotypenbedrohung sowie Gruppengrenzen bei MINT-Studierenden sowie ihre Einstellungen gegenüber diesen Aspekten untersucht. Des Weiteren wurde eruiert, ob es Maßnahmen zur Förderung von kultureller Kompetenz bedarf. Um etwaige Erkenntnisse zum Einfluss des Studienortes zu erlangen, wurden Studierende aus zwei unterschiedlichen Städten (München und Osnabrück) befragt. Konkret wurden die folgenden Fragestellungen abgeleitet:

  1. 1.

    Sind sich MINT-Studierende der kulturellen Diversität, Stereotypenbedrohung und Gruppengrenzen an Hochschulen bewusst?

  2. 2.

    Werden diesbezüglich Unterschiede zwischen den Studierenden einer Kleinstadt (Osnabrück) und einer Großstadt (München) ersichtlich?

  3. 3.

    Gibt es Bedarf für Fördermaßnahmen in Bezug auf interkulturelle Kompetenzen bei MINT-Studierenden?

2.2 Methode

Mittels strukturierter Interviews sollten subjektive Theorien, Einstellungen der Studierenden mit und ohne Migrationshintergrund zur kulturellen Vielfalt, zu Barrieren und zur interkulturellen Kompetenz erfasst werden. Dabei wurde ein Interview-Leitfaden mit 47 Fragen zuzüglich Spezifizierungsfragen erstellt. Die Einstellung zu Diversität wurde mit Fragen zu den Themen Diversität im Allgemeinen, sowie zu Wirkung und Umgang mit Diversität erfasst. Fragen zu kulturellen Merkmalen, Stereotypenbedrohung und Faultlines dienten der Erfassung von Barrieren für Studierende mit Migrationshintergrund. Abschließend wurden Fragen zur interkulturellen Kompetenz gestellt. Zehn Fragen waren geschlossene Fragen (zum Beispiel: „Gelingt es Ihnen alles in allem mit Menschen aus anderen Kulturen gut und erfolgreich zu kommunizieren?“), die übrigen Fragen wurden als offene Fragen beziehungsweise mittels semantischer Differenziale erfasst.

Im letzten Schritt der Konstruktion des Interviewleitfadens wurden die konzeptionelle Äquivalenz und Vergleichbarkeit (Genkova, 2019) über die beteiligten Gruppen hinweg sichergestellt. Hierzu evaluierten und diskutierten mehrere Expertinnen und Experten für Diversität mit und ohne Migratinshintergrund den Leitfaden. Nachdem minimale Änderungsvorschläge umgesetzt wurden, bewerteten die Expertinnen und Experten den Leitfaden als angemessen für den Einsatz in der Untersuchung.

Die Interviews wurden im Rahmen des Projektes „Diversität Nutzen und Annehmen“ der Innovations- und Technikanalyse des Bundesministeriums für Bildung und Forschung von Mai bis Dezember 2019 durchgeführt. Die Rekrutierung der Teilnehmenden fand auf zwei Hochschul- und einem Universitätsgelände in München und Osnabrück statt.

Um die Fragen, die sich auf die Strukturen der Hochschulbildung bezogen, beantworten zu können, sollten sich die Teilnehmenden in diesem Kontext auskennen. Daher wurden neben Bachelor-Studierenden in Abschlusssemestern nur Master-Studierende berücksichtigt, die seit mehr als einem Jahr in einem MINT-Fach eingeschrieben waren. Speziell geschulte Mitarbeitende führten die Interviews durch.

Zu Beginn der Interviews erhielten die Teilnehmenden Informationen zur Audioaufzeichnung der Gespräche. Außerdem unterzeichneten sie eine Einverständniserklärung, die nach geltenden Datenschutzrichtlinien gestaltet wurde, in der sie der Verwendung der anonymisierten Aufzeichnungen zu wissenschaftlichen Zwecken zustimmten. Die Dauer eines Interviews variierte zwischen 60 und 90 Minuten. Basierend auf den Audioaufzeichnungen wurden die Interviews transkribiert. Die Transkriptionen wurden induktiv ausgewertet, wobei die Methode der qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring, 2015) Anwendung fand. Diese Methode arbeitet sehr nah an den Aussagen von Teilnehmenden und erlaubt quantitative sowie qualitative Analysen, wodurch wiederum eine tiefgreifende Interpretation möglich wird. Um darüber hinaus latente Inhalte besser zu erfassen, wurden die Transkriptionen von den Interviewenden selbst ausgewertet. Die Kategorien, die während der Auswertung zustande kamen, wurden anschließend mit drei Expertinnen und Experten besprochen.

2.3 Stichprobe

Die Zusammenstellung der Stichprobe soll im Folgenden beispielhaft anhand der Prozedur an der Hochschule München beschrieben werden. Die Rekrutierung der Stichprobe an der Hochschule Osnabrück und Universität Osnabrück verlief analog. Um eine bessere Lesbarkeit zu gewährleisten, werden die Standort der Hochschule München als HSM und die Standorte der Hochschule und Universität Osnabrück zusammenfassend als Hochschule Osnabrück (HSO) bezeichnet.

Im Sommersemester 2019 wurden 3207 Studierende der Abschlusssemester für Bachelor und Master der MINT-Studiengänge per E-Mail angeschrieben. Sie wurden gebeten, an einer kurzen Befragung teilzunehmen und für ein einstündiges Interview zur Verfügung zu stehen. Insgesamt antworteten 143 Studierende auf die Anfrage (Rücklaufquote 5,9 %). Von den 143 Studierenden, die auf die E-Mail antworteten, wurden 59 Studierende ausgewählt, sodass vier Gruppen in etwa gleichermaßen repräsentiert waren: internationale Studierende, die erste postmigrantische Generation (Vater/Mutter oder beide stammten aus dem Ausland), die zweite postmigrantische Generation (Großvater/Großmutter oder beide stammten aus dem Ausland) und lokale Studierende, die keine Migration in ihrer Familie erlebt haben.

In der Annahme, dass auch das Geschlecht der Studierenden einen Einfluss haben könnte, wurde der Anteil an Männern und Frauen kontrolliert. Der Anteil von Frauen hat sich zwischen dem ersten Anschreiben (25 %) bis zur Teilnahme am Interview (34 %) etwas verschoben. Insgesamt wurden 90 Studierende interviewt, von denen 31 an der Hochschule Osnabrück und 59 an der Hochschule München studierten.

Nach dem Interview zählte die Untergruppe der internationalen Studierenden an der Hochschule München (HSM) 13 Teilnehmende, während diese Gruppe an der Hochschule Osnabrück (HSO) aus 6 Studierenden bestand. Die Anzahl Studierender, bei denen ein oder beide Elternteile zugewandert sind, betrug an der HSM 18 und an der HSO 7 Studierende.

An der HSO gab es keine Teilnehmenden mit einem Postmigrationshintergrund in der zweiten Generation, während an der HSM 12 Studierende befragt wurden, deren Großeltern nach Deutschland eingewandert waren. Die Gruppe der einheimischen Studierenden, die keine Migration in ihrer Familiengeschichte innerhalb der zwei letzten Generationen erlebten, bestand aus 16 Studierende an der Hochschule München und aus 18 Studierende an der Hochschule Osnabrück.

3 Ergebnisse

3.1 Bewusstheit für Kulturelle Diversität

Die Studierenden beider Hochschulen unterscheiden sich deskriptiv nur marginal hinsichtlich ihrer selbsteingeschätzten kulturellen Diversität (Abb. 1). Die internationalen Studierenden der HSM bewerteten ihre Diversität im Vergleich zu anderen Studierenden mit M = 4.0 (SD = 0.85) und zeigten damit ähnliche Ergebnisse wie die internationalen Studierenden der HSO (M = 3.9, SD = 0.99). Die erste und zweite Generation nach der Einwanderung zeigt jedoch immer noch ein relativ hohes Bewusstheitsniveau für ihre eigene kulturelle Diversität. Die Studierenden der ersten postmigrantischen Generation der HSM gaben im Schnitt einen Wert von M = 3,5 (SD = 0.75) subjektiver kultureller Unterschiede und die Studierenden der HSO mit Migrationshintergrund einen Mittelwert von M = 3.0 (SD = 0.91) an. Die Studierenden ohne Migrationshintergrund der HSM bewerten ihre Diversität mit M = 2.7 (SD = 0.86), wohingegen die Studierenden der HSO ihre Diversität mit M = 2.2 (SD = 0.58) einschätzen. Um Unterschiede zwischen den Gruppen genauer zu betrachten, wurde ein t-Test gerechnet. Es konnte gezeigt werden, dass sich lediglich Studierende ohne Migrationshintergrund an der HSM und der HSO signifikant in ihren Einschätzungen zur eigenen Diversität voneinander unterschieden (t(13) = 2.32, p = .05).

Abb. 1
figure 1

Selbsteinschätzung der kulturellen Diversität an beiden Hochschulen

Die Ergebnisse zeigten darüber hinaus, dass an der HSM Studierende mit Migrationshintergrund eine stärker ausgeprägte Bewusstheit für kulturelle Vielfalt aufwiesen als Studierende ohne Migrationshintergrund (Abb. 1). Es scheint, dass sich die Bewusstheit für kulturelle Diversität mit jeder Generation verändert. Diesbezüglich konnte bei den Studierenden der HSM ein signifikanter Unterschied zwischen internationalen und Studierenden ohne Migrationshintergrund hinsichtlich ihrer Einschätzung zur eigenen Diversität gefunden werden (t(13) = 3.45, p < .001). Der Vergleich zwischen der ersten postmigrantischen Generation und einheimischen Studierenden erwies sich als nicht signifikant. Insgesamt ist eine Tendenz zu einer verringerten kulturellen Bewusstheit erkennbar, je länger die eigene oder die familiäre Migrationserfahrung zurückliegt.

Basierend auf dem Modell Four Layers of Diversity von Gardenswartz und Rowe (2021) wurden 14 verschiedene kulturelle Merkmale aus den internen und externen Dimensionen untersucht. Dazu wurden die Studierenden gefragt, ob sie sich bei jedem dieser Merkmale von ihren Mitstudierenden unterscheiden und wenn ja, als wie stark sie die Diskrepanz empfinden.

Es zeigte sich, dass die Studierenden mit Migrationshintergrund und die internationalen Studierenden sich als deutlich unterscheidbar von ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen erlebten, beispielsweise durch das Auftreten und die Art der Kommunikation:

„Sehr stark, genau, weil ich dennoch, auch wenn ich hier aufgewachsen bin, immer auch diesen kulturellen Aspekt meiner Eltern mitbekommen habe.“ (Interview ID_83_HSM)

„Da habe ich einen Kommilitonen von mir gefragt, er ist deutscher Staatsbürger und, genau auch ursprünglich. Ich habe ihn gefragt so, hey hört man bei mir irgendeinen Akzent heraus oder so? Er hat gesagt nein, aber irgendwie hatte ich das Gefühl im Laufe der vergangenen Zeit, dass ich doch eine andere, manchmal andere Ausdrucksweise, und genau Art zu reden habe, wie manche anderen.“ (Interview ID_131_HSM)

Andere Merkmale, wie die Religion und das Aussehen, werden in der ersten postmigrantischen Generation wichtiger. Diese Veränderungen wurden von den Studierenden beispielsweise so formuliert:

„Ich habe alles beigebracht bekommen, trinke trotzdem Alkohol beispielsweise, aber ich würde mich schon trotzdem als Moslem bezeichnen.“ (Interview ID_83_HSM)

„Ich habe ja früher auch einen Nebenjob gehabt, und da kamen auch viele Leute zu mir, und haben zum Beispiel direkt eine andere Sprache mit mir geredet. […] Und, also, da wird mir vor allem bewusst, dass man auch durch mein Aussehen denkt, dass ich noch irgendeinen Hintergrund habe.“ (Interview_ID_13_HSM)

Wieder andere Merkmale, wie der Lebensunterhalt oder die Lebensbedingungen, gewinnen in der zweiten Generation an Bedeutung und die Geschlechterrollen werden neu interpretiert:

„Ja, auf jeden Fall […], dass ich einfach halt, davor schon gearbeitet habe, und aufgrund dessen meine eigene Wohnung habe, und das auch die ganze Zeit gehalten habe, so weit weiter, und halt einfach selbstständig bin, mich um alles selbst kümmere im Vergleich zu teilweise anderen Studenten, die ja dann doch noch viel entweder im Wohnheim wohnen, wo doch wieder andere Leute dabei sind, oder halt bei den Eltern.“ (Interview ID_32_HSM)

„Dadurch, dass bei uns, es immer noch so ist, dass die Frau den Haushalt schmeißen muss! […] also, der Vater kümmert sich um die Arbeit, die Mutter um den Haushalt, arbeitet auch nebenbei ein bisschen, und, kümmert sich um die Kinder, kocht, macht die Wäsche und alles Mögliche, und hier in Deutschland ist es doch normal, dass man sich die Aufgaben aufteilt.“ (Interview ID_14_HSM)

3.2 Stereotypenbedrohung

Kulturelle Vielfalt führt oft zu Gruppendifferenzierung, die sich in Stereotypenbedrohung äußert (Nelson, 2009). Bei den Teilnehmenden München war eine Stereotypenbedrohung allerdings nicht vorherrschend, was ein Hinweis auf einen bewussten Umgang mit kultureller Diversität sein könnte. Internationale und deutsche Studierende zeigten eine Stereotypenbedrohung auf ähnlichem Niveau (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Stereotypenbedrohung an den Hochschulen in Prozent

Aus den qualitativen Antworten der Studierenden geht hervor, dass Stereotypisierung an der HSM nicht unbedingt als negativ oder nachteilig angesehen wurde. Vielmehr wurden viele Beispiele genannt, die darauf hinweisen, dass bestimmte kulturell geprägte Eigenschaften als Vorteil gesehen und genutzt werden können:

„Also zum Beispiel, wenn ich als Ausländer [bei einem] Dozent was nachfragen wollte, dann manchmal [finde] ich [es] einfacher, leichter etwas zu fragen.“ (Interview_ID_15_HSM)

„Ich bin halt offener gegenüber zum Beispiel ausländischen Studierenden oder Studierenden aus der Türkei, […] ich spreche die Leute einfach ganz normal an, also beim Lernen oder so etwas, und […] also ich habe die persönliche Erfahrung noch nie gemacht, dass […] einer meiner Kommilitonen das getan hat, dass der so offen war, die Leute einfach mal anzusprechen.“ (Interview_ID_91_HSM)

„Die Art zu leben, zu verhandeln, zu Reden. Also man lernt das von den Eltern und wie die Eltern sich unterhalten, das ist schon was anderes, hat [eine] ganz anderen Dynamik.“ (Interview_ID_129_HSM)

Deutsche Studierende der Hochschule Osnabrück offenbarten weniger Stereotypenbedrohung als die gleiche Studierendengruppe der Hochschule München (Abb. 2). Zugleich zeigten an der Hochschule Osnabrück internationale Studierende ein höheres Maß an erlebter Stereotypenbedrohung. Mit 61.4 % ist die Angst, stereotypisiert zu werden, bei internationalen Studierenden an der HSO signifikant höher als bei deutschen Studierenden (χ2 (1) = 7.75, p = .01). Internationale Studierende an der HSO formulierten dieses Gefühl folgendermaßen:

„Ich sage nicht immer meine Meinung, weil man mich nicht verstehen würde.“ (Interview M_30_HSO)

Diese anfängliche Stereotypenbedrohung, die von internationalen Studierenden berichtet wird, scheint sich an der HSM in der ersten Generation der Studierenden mit Migrationshintergrund abzuschwächen, die eine Stereotypenbedrohung von 46.4 % berichteten. Der Unterschied zu Studierenden ohne Migrationshintergrund erscheint deskriptiv jedoch noch immer vorhanden. Deutsche Studierende der HSO zeigen eine Stereotypenbedrohung von 37.7 %, der unter dem Wert der Studierenden an der HSM mit Migrationshintergrund liegt.

Auffällig ist, dass die Stereotypenbedrohung der internationalen beziehungsweise einheimischen deutschen Studierenden an der HSO komplementär ist. Die hohen Werte für internationale Studierende und die niedrigen Werte für einheimische Studierende deuten auf eine unterschiedliche Stereotypenbedrohung hin (Abb. 2).

3.3 Gruppengrenzen

Die folgende Untersuchung der Gruppengrenzen (Faultlines) (Tajfel & Turner, 1986) zeigt eine weitere Facette der kulturellen Diversität. Wie schon in Bezug auf die Stereotypenbedrohung variieren die Ergebnisse von HSO und HSM auf einem deskriptiven Niveau und werden daher im Folgenden getrennt voneinander berichtet (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Gruppengrenzen und Durchlässigkeit an beiden Hochschulen in Prozent

An der HSM lässt sich insgesamt ein Trend zu niedrigen Faultlines erkennen. Während einheimische Studierende eine hohe Durchlässigkeit zwischen den Gruppen aufweisen (22.0 %), was niedrige Barrieren und einen guten Zugang zu Hilfen im Studium impliziert, steigt der Grad der unsichtbaren Grenzen bei Studierenden mit postmigrantischem Hintergrund an, von 29.5 % bei der zweiten postmigrantischen Generation, über 36.9 % bei der ersten postmigrantischen Generation bis hin zu 45.9 % bei den internationalen Studierenden.

An der HSO tendierten nur die internationalen Studierenden (65.6 %) zu sehr hohen Faultlines und sind die einzige Untergruppe mit einer Durchlässigkeit unter 50 %. Alle anderen Gruppen wiesen eine höhere Durchlässigkeit als Undurchlässigkeit auf. Auf die Frage nach ihrer sozialen Gruppe an der HSO, zeigten die Antworten folgendes Bild:

„Grundsätzlich mit einigen anderen im Master [Studiengang], die nicht aus Deutschland sind, die z. B. auch versuchen, die deutsche Kultur zu verstehen.“ (Interview M_7_HSO)

Der Unterschied zu einheimischen Studierenden ist hoch signifikant (p = .01). Der Grad der Gruppengrenzen an der HSO ist generell recht hoch und liegt mit 42.1 % bei den deutschen Studierenden der ersten postmigrantischen Generation und 38.9 % bei den einheimischen Studierenden über den Gruppengrenzen der deutschen Studierenden an der HSM. Dennoch zeigt sich an der HSM erneut das Bild, dass der Abbau dieser Gruppengrenzen bis in die zweite postmigrantische Generation andauert. Zwischen den Studiengängen scheint es an der HSO weniger Durchlässigkeit zu geben, wie es ein Studierender beschreibt:

„Wir studieren auch alle Gesundheitswissenschaften, auch ich habe jetzt sonst keine Freunde außerhalb meines Studiengangs.“ (Interview D_29_HSO)

4 Diskussion

Hinsichtlich der Bewertung der eigenen kulturellen Vielfalt zeigten die Ergebnisse signifikante Unterschiede zwischen Studierenden mit und ohne Migrationshintergrund an beiden Hochschulen. Internationale Studierende sind, aus dem Ausland kommend, mit einer anderen Kultur konfrontiert und bewerten daher ihre eigene Diversität in Bezug auf diese neue Kultur. Lokale Studierende scheinen sich ihrer eigenen kulturellen Merkmale weniger bewusst zu sein oder sehen sie als Teil der Mehrheitsgruppe als weniger wichtig an. Gleichzeitig nimmt die Relevanz kultureller Diversität mit den Generationen nach der Einwanderung tendenziell ab, aber die Studierenden berichten auch in der zweiten postmigrantischen Generation (Großeltern sind nach Deutschland migriert) von einem Gefühl des Andersseins. Auf Grundlage dieses Ergebnisses stellt sich die Frage, warum das Gefühl des Andersseins in Deutschland über Generationen erhalten bleibt. Auch andere Studien fanden Anzeichen dafür, dass Integration bei jungen Personen mit Migrationshintergrund zweiter Generation oft nur teilweise erfolgreich verläuft und ein Gefühl von Andersartigkeit verbleibt (Mchitarjan & Reisenzein, 2014).

Dies könnte ein Hinweis auf eine diskriminierende Haltung der Gesellschaft sein, wie sie Witte in seiner Dissertation über die Besonderheiten der Einbürgerung in Deutschland beschreibt (Witte, 2018). Er diskutiert insbesondere die Relevanz von Symbolen der Integration und Gruppenzugehörigkeit (zu Deutschland) bei türkischstämmigen Migrierten. Die Ergebnisse dieser Studie deuten darauf hin, dass vor allem durch das Etablieren widerspruchsfreier Symbole der Zugehörigkeit (zum Beispiel rechtliche Gleichstellung von Migrierten) und regionale gruppenübergreifende Einbindung diese Differenzen adressiert werden können. (Witte, 2018).

Abgesehen von diesem allgemeinen Trend sehen wir Unterschiede zwischen den untersuchten Hochschulen an den verschiedenen Standorten (München und Osnabrück). An der weniger internationalen HSO zeigten die Studierenden tendenziell weniger Bewusstsein für kulturelle Vielfalt als an der HSM. Die hohe Anzahl an internationalen Studierenden an der HSM ist möglicherweise mit einer stärkeren Bewusstheit für kulturelle Eigenheiten bei den Studierenden in München verbunden. In Anlehnung an Gordon Allports Kontakthypothese (Allport, 1954) geben unsere Ergebnisse Hinweise darauf, dass höhere Interaktions- und Konfrontationshäufigkeiten gegenseitige Akzeptanz und Verständnis fördern können. Unsere Ergebnisse spiegeln aber auch die Beobachtung von Tropp und Pettigrew (2005) wider, dass positive Kontakterlebnisse vor allem bei Mehrheitsgruppen zu einer Bewusstheitssteigerung führen. Minderheitengruppen, wie Personen mit Migrationshintergrund, werden von Kontakterlebnissen wesentlich weniger beeinflusst (Tropp & Pettigrew, 2005). Diese Ergänzung zu Allports Theorie korrespondiert ferner mit unseren Ergebnissen, dass internationale Studierende an beiden Hochschulen ähnlich bewusst mit kulturellen Merkmalen umgehen, während einheimische Studierende an der HSM und der HSO sich unterscheiden.

Beide Hochschulen sind Teil der UAS7, einem Netzwerk von sieben deutschen Fachhochschulen, das für Internationalität und globale Vernetzung einsteht. Allerdings scheint die Wirkung dieser Maßnahmen an beiden Hochschulen eher gering zu sein, während die Wirkung der Kontakte und der Selbstreflexion, die in internationalen Großstädten gegeben sind, recht stark zu sein scheint.

Das Ausmaß der Stereotypenbedrohung variierte an den Hochschulen, wobei an der HSM ein gleichmäßiges Niveau und an der HSO große Unterschiede zwischen den Teilgruppen zu verzeichnen waren. An der HSO fühlten sich internationale Studierende sehr stark von Stereotypen bedroht, während deutsche Studierende mit und ohne postmigrantischen Hintergrund geringere Werte der Stereotypenbedrohung aufwiesen. Beide Hochschulen bieten verschiedene Programme, wie Willkommensdienste, internationale Clubs oder Sprachtandems zur Unterstützung internationaler Studierender an. Da sich der organisationale Umgang mit international Studierenden nicht nennenswert unterscheidet, hängt die Stereotypenbedrohung bei den Studierenden möglicherweise eher von der reinen Anzahl internationaler Studierender in den jeweiligen Studiengängen ab.

Neben der kulturellen Heterogenität der sozialen Umgebung zeigen verschiedene Studien, dass auch der Umgang der Aufnahmegesellschaft mit Vielfalt entscheidend für den Akkulturationsprozess und die Wahrnehmung von Stereotypisierung von Migrierenden ist (Howarth et al., 2014; Hurtado & Carter, 1997). Die Bewusstheit für kulturelle Diversität sollte vor allem bei Studierenden ohne Migrationshintergrund in Form von Aufklärung und Workshops verbessert werden. Die Ergebnisse dieser Studie zeigen dabei, dass besonders die Sensibilisierung gegenüber Integrationshemmnissen und Stereotypen ein relevanter Aspekt für die Ausbildung von MINT-Studierenden sein müsste.

Bei der Frage nach der Durchlässigkeit zwischen den Gruppen zur Ermittlung der Intergruppengrenzen wurde deutlich sichtbar, dass Studierende ohne Migrationshintergrund weniger Schwierigkeiten wahrnahmen, mit anderen studentischen Gruppen zu interagieren. Studierende nicht-deutscher Herkunft, auch in Postmigrationskohorten, sind mit höheren Grenzen konfrontiert und erleben Schwierigkeiten, andere Gruppen um Hilfe oder Rat zu bitten. Internationale Studierende und Studierende mit Migrationshintergrund fühlen sich darüber hinaus öfter ausgegrenzt. Dies kann ein Prädiktor für eher separierende oder assimilierende Akkulturationsstile sein, wenn das Gefühl vorherrscht die Herkunfts- und Heimatkultur seien unvereinbar. Für die Integration an deutschen Hochschulen, insbesondere im Fachbereich MINT ist es daher wichtig, integrative Formen der Akkulturation zu fördern und die Marginalisierung oder Ablehnung einer Kultur zu verhindern (Sam & Berry, 2010). Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Integration als Akkulturationsstrategie die erfolgversprechendere Strategie ist und zeigen verschiedene Einflussfaktoren dieses Prozesses, die das Konzept der Akkulturation in Bewegung (acculturation in movement) widerspiegeln (Howarth et al., 2014). Smolcic und Arends (2017) legen diesbezüglich dar, dass durch die Zusammenstellung gemischter Projektteams und die Unterstützung vielfältiger Gruppenprojekte die Intergruppen-Interaktion erhöht und die Einbindung von Studierenden mit Migrationshintergrund und unternationalen Studierenden verbessert werden können.