1 Einleitung

Mit der zunehmenden Heterogenität der Gesellschaft gehen vermehrte soziale und wirtschaftliche Herausforderungen einher. Dennoch birgt die effiziente Nutzbarmachung der Vielfalt von Menschen enorme Potenziale. Im Kontext einer zunehmend diversen Gesellschaft ist es daher ein maßgebliches Erfolgskriterium für Individuen und Organisationen Diversität explizit zu berücksichtigen, wertzuschätzen und nutzbar zu machen (Van Dick & Stegmann, 2016). Viele deutsche Hochschulen versäumen es jedoch bisher, dieses Potenzial voll auszuschöpfen oder Studierende dabei zu unterstützen. Personen mit Migrationshintergrund sind im deutschen Bildungssystem außerdem noch immer systematisch benachteiligt und können ihre intellektuellen Fähigkeiten oft nicht vollständig entfalten (Miyamoto et al., 2017). Dieser Umstand wirkt sich wiederum auf die Wirtschaft aus, in der ein Fachkräftemangel in den Bereichen Medizin, Ingenieurwesen im Maschinen- und Fahrzeugbau, Elektrotechnik, IT und Softwareentwicklung/Programmierung (MINT) vorherrscht. Anstatt in dieser Situation Menschen, die einer Außengruppe angehören, einzubeziehen, wird eher das Anpassen an die Mehrheitsgruppe verfolgt (Linde & Auferkorte-Michaelis, 2017). Eine Angleichung der Chancen im Bildungssystem ist notwendig, um qualifizierte Arbeitskräfte angemessen auszubilden und individuelle Potenziale nutzbar zu machen. Dafür sind eine stärkere Öffnung von Hochschulen, die Erreichbarkeit für neue Zielgruppen und der effiziente Umgang mit Diversity (Lee et al., 2012) sowie die Fokussierung auf Inklusion (Thomas & May, 2010) entscheidend. Das Konzept der „engaging diversity“ (Lee et al., 2012) beschreibt die Verknüpfung vorhandener Diversity-Ressourcen einer Hochschule. Bestehende theoretische und praktische Konzepte werden kombiniert und in konkrete Situationen mit der betroffenen Gruppe integriert (Roukonen-Engler, 2013). Gleichzeitig ist noch unklar, auf welche Weisen Studierende Diversität in ihrem Alltag erleben und welche Einstellungen und Fähigkeiten sie auf dieser Grundlage ausbilden.

Um diese Forschungslücke zu schließen, wurden in der folgenden Studie die Einstellung zu kultureller Diversity von MINT-Studierenden, Barrieren für Studierende mit Migrationshintergrund und Förderungsmöglichkeiten von interkultureller Kompetenz exploriert. Diese Untersuchung soll neue Handlungspotenziale für deutsche Hochschulen im MINT-Bereich in Bezug zum Diversity Management hervorbringen.

2 Theoretischer Hintergrund

Diverse Arbeitsgruppen sind, sofern ihre Vielfalt erkannt, wertgeschätzt und genutzt wird, leistungsfähiger und kreativer als homogene Gruppen und bieten auf diese Weise Potenzial für Wirtschaft und Gesellschaft. Unter dem Konzept Diversity werden unveränderliche Merkmale, die sowohl offensichtlich als auch subtil sein können, wie kulturelle Werte, gemeinsam mit veränderlichen, subtilen Aspekten, beispielsweise Sprache, zusammengefasst (Milliken & Martins, 1996). Diversity Management beschreibt die Nutzung der vorhandenen Diversität inklusive jener Potenziale, die für die Zusammenarbeit diverser Personen zielführend und effizient sind. In Deutschland liegt der Fokus vor allem auf den Dimensionen Geschlecht, Alter und kultureller Hintergrund (Genkova & Ringeisen, 2017; Krell, 2008).

Kultur wird als Orientierungssystem definiert, welches die Gesellschaftszugehörigkeit der Mitglieder durch eine bestimmte Form der Wahrnehmung, des Denkens und Handelns prägt. Die Erfahrung, dass das eigene Orientierungssystem mit seinen Handlungsoptionen und Bewertungsstrategien in einer neuen kulturellen Umgebung nicht vollständig anwendbar ist, kann sich in ausgeprägtem Stress bei den Interagierenden niederschlagen (Thomas, 2003; Genkova, 2019a).

Um Stresssituationen in Bezug auf kulturelle Vielfalt zu vermeiden, kann die Förderung interkultureller Kompetenzen innerhalb kulturell diverser Gesellschaften und Gruppen Abhilfe schaffen. Obwohl ein einheitliches Gesamtmodell zur interkulturellen Kompetenz nicht besteht (Genkova, 2019b), kann interkulturelle Kompetenz als die Fähigkeit bezeichnet werden, sich in interkulturellen Situationen effektiv und angemessen zu verhalten. Außerdem lässt sich interkulturelle Kompetenz in die Dimensionen der metakognitiven, kognitiven, motivationalen und verhaltensbezogenen Kompetenz untergliedern (Deardorff, 2006; Van Dyne et al., 2008).

Dabei besteht zwischen interkultureller Kompetenz und interkultureller Interaktion eine Wechselwirkung: Einerseits wird interkulturelle Kompetenz für interkulturelle Interaktionen vorausgesetzt, andererseits fördert dieser Kontakt die interkulturelle Kompetenz (Ng et al., 2017). Für interkulturelle Interaktionen sind neben der Fähigkeit, mit Personen aus anderen Kulturen zu interagieren, ebenfalls das Wissen und Bewusstsein für unbekannte Kulturen relevant (Genkova & Ringeisen, 2017). Darüber hinaus sind persönliche Erfahrungen mit Interkulturalität förderlich, da auf diese Weise unmittelbar interkulturelle Kompetenzen entwickelt werden können (Wolff & Borzikowsky, 2018).

Kulturelle Unterschiede, aber auch andere offensichtliche oder subtile Merkmalsausprägungen (zum Beispiel Hautfarbe, Einkommen, Geschlecht) lassen Menschen sich und andere in Kategorien einteilen, sogenannte soziale Gruppen, mit denen Menschen sich identifizieren und an denen sie sich orientieren. Diesen Gruppen sind typische Eigenschaften zugeordnet, Stereotype, die bei der Einschätzung von Einzelpersonen herangezogen werden, beispielsweise das Frauen sozialkompetenter und Männer durchsetzungsfähiger sind. Durch diesen Prozess der Stereotypisierung kann im weiteren Verlauf eine wahrgenommene Aufteilung der Gesellschaftsmitglieder in Majoritätsgruppen (mit durchschnittlich mehr Rechten, Möglichkeiten, Privilegien) und Minoritätsgruppen (mit durchschnittlich schlechteren Voraussetzungen) eintreten. Mit diesen Gruppierungen sind oft diskriminierendes Verhalten vonseiten der Majoritätsgruppe verbunden. Hinzukommt eine insgesamt negative Intergruppenbeziehung, die die vorhandene Gruppendifferenz und negative Einstellungen aufseiten der Minoritäts- und Majoritätsgruppe katalysiert (s. Diversity Kompetenz und Führungspersönlichkeit). Wenn zusätzlich zu Stereotypisierung und den potenziellen, negativen Folgen weitere Hürden, wie das Ankommen in einer neuen Kultur, überwunden werden müssen, ist es für Individuen oft sehr schwer sich nachhaltig anzupassen und erfolgreich zu sein. Eine Studie konnte zeigen, dass für Personen, die aus der Türkei nach Deutschland immigriert sind, das Leben in Deutschland oft nur schwer zu durchschauen ist. Häufig wird der Alltag als unkontrollierbar und mit wenig Mitspracherechten erlebt, was zu Verunsicherung führt. Dies wird unabhängig von der Aufenthaltsdauer in Deutschland berichtet und kann als Indiz für fehlende Akzeptanz und geringe Anerkennung durch die Mainstream-Kultur gedeutet werden, was wiederum zu subjektiv erlebtem Stress führen kann (Uslucan & Brinkmann, 2013).

In den heutigen heterogenen, diversen Gesellschaften ist diese Benachteiligung nicht aufgehoben, aber Menschen mit unterschiedlichen Diversitätsmerkmalen kommen trotzdem in den verschiedensten Situationen immer stärker miteinander in Kontakt. Für die erfolgreiche Zusammenarbeit diverser Arbeitsgruppen, ist die Wertschätzung der vorhandenen Vielfalt eine notwendige Bedingung (Van Knippenberg et al., 2004). Durch eine negative affektive Reaktion können Stereotypisierungsprozesse salient werden (Social Identity Theory; Tajfel, 1981), die mit der Bildung sogenannter informeller Subgruppen innerhalb eines Teams oder einer Organisation einhergehen.

Durch diese Gruppierung kann eine Situation entstehen, die vom Individuum als bedrohlich wahrgenommen wird („wir gegen die anderen“), was zu negativen affektiven Reaktionen, einem geringeren Zusammenhalt und insgesamt einem verminderten Zugehörigkeitsgefühl zur Gesamtgruppe führt. Zwischen diesen Subgruppen werden außerdem tendenziell weniger Informationen ausgetauscht und es treten öfter Konflikte auf. Insgesamt kann sich dieser Prozess negativ auf die gesamte Organisation auswirken. Ein starker Indikator für die Bildung von Subgruppen innerhalb einer Organisation ist die Bildung von Faultlines, sogenannte Bruchkannten zwischen Subgruppen, die sich darin äußern, dass man sich selbst als in relevanter Weise unterschiedlich von anderen Mitgliedern einer Gruppe wahrnimmt (Van Knippenberg et al., 2011).

Neben Stereotypen können in vielfältigen Gruppen Vorurteile eine Rolle spielen. Eine einflussreiche Theorie ist, dass Vorurteile basierend auf dem Konstrukt der illusorischen Korrelation entstehen: Ein Zusammenhang zwischen der Gruppenzugehörigkeit und unterschiedlichen Merkmalen wird angenommen, ohne hinreichende Informationen zu haben. Vor allem in Stresssituationen, die zusätzlich von Komplexität geprägt sind, wenden Individuen unbewusst Vorurteile gegenüber anderen Personen an (Degner et al., 2009). Der Umstand, unfreiwillig einer Gruppe mit negativen Vorurteilen zugeschrieben zu werden, wird von den betroffenen Individuen jedoch häufig bewusst erlebt. Es wurde beobachtet, dass Personen, die sich einer potenziellen stereotypen Betrachtung ihrer Person bewusst sind, weniger Leistungsfähig sind. Dies wird durch die Beanspruchung kognitiver Ressourcen erklärt. Man bezeichnet dieses Phänomen als Stereotypenbedrohung (engl. stereotype threat) (Aronson et al., 2008). Das Vorhandensein von Faultlines innerhalb einer Organisation macht es wahrscheinlicher, dass Personen sich als anders und als stereotypisiert wahrnehmen (Massey & Fischer, 2005).

Verschiedene Studien zeigen, dass heterogene Gruppen dann erfolgreicher sind, wenn ihre Mitglieder die vorhandene Vielfalt als einen Beitrag zur Gruppe, beziehungsweise zur Gruppenleistung, wertschätzen. Diese Einstellung bezüglich der Funktionalität von Vielfalt bezeichnet man als Diversity Beliefs (Van Dick & Stegmann, 2016).

Die Überzeugungen sind dabei an eine Dimension oder ein Merkmal, zum Beispiel dem Geschlecht gekoppelt. Ist die Diversitätsüberzeugung hoch ausgeprägt, führt ein hohes Ausmaß an Vielfältigkeit zu einer stärkeren Identifikation mit der Gruppe (Stegmann, 2011; Van Dick et al., 2008). Des Weiteren hängen positive Diversitätseinstellungen negativ mit Vorurteilen zusammen und fördern den Abbau von Vorurteilen bei Kontakten zwischen verschiedenen Gruppen (Adesokan et al., 2011).

Das Diversity Management in Unternehmen versucht daher einerseits Benachteiligung von Personen mit Diversitätscharakteristika zu reduzieren und andererseits Mitarbeitende und vor allem Führungskräfte vom Nutzen der Vielfalt zu überzeugen. Dabei stoßen sie oft auf erheblichen Widerstand, wenn sich Einstellungen und gegenseitige Animositäten durch schlechte Erfahrungen bereits verfestigt haben. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass Hochschulen sich der Vermittlung von Kompetenzen und positiven Diversity Beliefs widmen, um Studierende adäquat für die Arbeitswelt vorzubereiten und zu qualifizieren (Linde & Auferkorte-Michaelis, 2017).

In der Praxis ist jedoch oft nicht klar, an welchen Stellen die Hochschulsysteme für eine Verbesserung ansetzen könnten, damit eine adäquate Ausbildung von Fertigkeiten und Fähigkeiten der Studierenden gewährleistet werden kann.

Darüber hinaus werden Individuen mit Migrationshintergrund der ersten und zweiten Generation durch das deutsche Bildungssystem (auch das Hochschulsystem) noch immer benachteiligt (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2018). Der effektive Umgang mit Vielfalt stellt mittlerweile eine überaus wichtige Kompetenz in der heutigen diversen Gesellschaft dar. Allerdings bestehen weiterhin Barrieren und Bildungsungerechtigkeit für Studierende mit Migrationshintergrund, die vor allem mit Blick auf den Fachkräftemangel dringend reduziert werden sollten.

Zusammengefasst deutet die psychologische Forschung auf mehrere Handlungsmöglichkeiten hin: Um erfolgreich mit kultureller Diversity umgehen zu können, sind laut Uslucan und Brinkmann (2013) die Diversitätsüberzeugung sowie das sensible Verständnis für kulturelle Unterschiede Schlüsselfaktoren. Diese Faktoren sind Produkte des individuellen Akkulturationsprozesses und der Einstellung der Person sowie der vorhandenen Strukturen (Genkova & Riecken, 2020). In der Forschung fehlt es jedoch an Klarheit darüber, inwieweit Studierende überhaupt interkulturelle Kompetenzförderung benötigen (Linde & Auferkorte-Michaelis, 2017).

3 Fragestellung, Methode und Stichprobenbeschreibung

In dieser Studie wird untersucht, inwiefern die vorgestellten theoretischen Konzepte auf die konkrete Situation von MINT-Studierenden übertragen werden können und welche Aspekte für das Diversity Management in MINT-Fachbereichen besonders relevant sind. Im Fokus stehen das Bewusstsein der MINT-Studierende für Vielfalt sowie ihre Einstellungen gegenüber kultureller Vielfalt. Des Weiteren wird eruiert, ob und welche Barrieren für Studierende mit Migrationshintergrund existieren und inwiefern ein genereller Förderungsbedarf von interkultureller Kompetenz besteht. Darüber hinaus werden regionale Unterschiede und potenzielle Beziehungen zwischen den Fragestellungen in Betracht gezogen. Die Fragestellungen lauten demnach wie folgt:

  1. 1.

    A. Sind sich die befragten MINT-Studierenden der Relevanz des Themas Diversity bewusst?

    B. Welche Einstellungen zu kultureller Vielfalt zeigen die Befragten?

  2. 2.

    Welche Barrieren werden für die Studierenden mit Migrationshintergrund deutlich?

  3. 3.

    Zeigen die Befragten Potenziale zur Förderung interkultureller Kompetenz?

3.1 Interviewkonstruktion

Mittels strukturierter Interviews sollten die subjektiven Theorien (Hilmer, 1969) der Studierenden mit und ohne Migrationshintergrund zu Einstellungen zur kulturellen Vielfalt, zu Barrieren und zur interkulturellen Kompetenz erfasst werden. Dabei wurde ein Interview-Leitfaden mit 47 Fragen zuzüglich Spezifizierungsfragen erstellt. Die Einstellung zu Diversity wurde mit Fragen zu den Themen Diversität im Allgemeinen sowie Wirkung und Umgang mit Diversität erfasst. Fragen zu kulturellen Merkmalen, Stereotypenbedrohung und Faultlines dienten der Erfassung von Barrieren für Studierende mit Migrationshintergrund. Abschließend wurden Fragen zur interkulturellen Kompetenz konzipiert, wobei die Einstellungen zu Diversity ebenfalls wichtige Informationen zu diesem Themengebiet liefern könnten. Zehn Fragen waren geschlossene Fragen (z. B.: „Gelingt es Ihnen alles in allem mit Menschen aus anderen Kulturen gut und erfolgreich zu kommunizieren?“), die übrigen Fragen wurden als offene Fragen formuliert beziehungsweise anhand der Methode des semantischen Differenzials erfasst (Osgood, 1964).

Im letzten Schritt der Fragebogenkonstruktion wurde die konzeptuelle Äquivalenz und Vergleichbarkeit (Genkova 2019b) über die beteiligten Gruppen hinweg sichergestellt. Hierzu evaluierten und diskutierten mehrere Expertinnen und Experten für Diversity, mit und ohne Migrationshintergrund, den Fragebogen-Leitfaden. Nachdem minimale Änderungsvorschläge umgesetzt wurden, gaben die Expertinnen und Experten den Leitfaden für die Untersuchung frei.

Die Interviews wurden im Rahmen des Projektes „Diversität Nutzen und Annehmen“ der Innovations- und Technik-Analyse des Bundesministeriums für Bildung und Forschung von Mai bis Dezember 2019 durchgeführt. Die Rekrutierung der Teilnehmenden fand auf zwei Hochschul- und zwei Universitätsgeländen in München und Osnabrück statt. Um die Fragen, die sich auf die Strukturen der Hochschulbildung bezogen, beantworten zu können, sollten sich die Teilnehmenden in diesem Kontext auskennen. Daher wurden ausschließlich Studierende berücksichtigt, die seit mehr als einem Jahr in einem MINT-Fach eingeschrieben waren. Ausgebildete Mitarbeitende führten die Interviews durch. Zu Beginn der Interviews erhielten die Teilnehmenden Informationen zur Audioaufzeichnung der Gespräche. Außerdem unterzeichneten sie eine Einverständniserklärung, die nach geltenden Datenschutzrichtlinien gestaltet wurde, in der sie der Verwendung der anonymisierten Aufzeichnungen zu wissenschaftlichen Zwecken zustimmten. Die Dauer eines Interviews variierte zwischen 20 und 60 min. Basierend auf den Audioaufzeichnungen wurden die Interviews im Nachhinein transkribiert. Diese Transkriptionen wurden induktiv ausgewertet, wobei die Methode der qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring, 2010) Anwendung fand. Diese Methode arbeitet sehr nah an den gemachten Aussagen von Teilnehmenden und erlaubt quantitative sowie qualitative Analysen (Bengtsson, 2016), wodurch wiederum eine tief greifende Interpretation ermöglicht wurde (Krippendorf, 2004). Um darüber hinaus latente Inhalte zu erfassen, wurden die Transkriptionen von einem der Interviewenden ausgewertet. Die Kategorien, die während der Auswertung zustande kamen, wurden anschließend mit drei Expertinnen und Experten für Diversity an Hochschulen besprochen. Auf diese Weise wurde für die anschließende Interpretation eine objektive Grundlage geschaffen (Bengtsson, 2016). Angelehnt an Krippendorf (2004) wurden die Ergebnisse sowohl durch quantitative Vergleiche als auch durch qualitative Betrachtungen interpretiert.

3.2 Stichprobenbeschreibung

Insgesamt wurden 90 Studierende interviewt, wovon 16 an der Hochschule Osnabrück, 15 an der Universität Osnabrück, zwei an der Technischen Universität München und 57 an der Hochschule München studierten. Von ihnen waren 65 % (59) im Bachelor und 35 % (31) im Master eingeschrieben. Die Probanden studierten ausnahmslos ab dem dritten Semester ein MINT-Fach. Es nahmen 55 % (50) Männer und 45 % (40) Frauen teil, die im Durchschnitt 24 Jahre alt waren (SD = 3.42) und von denen 47 % (42) einen Migrationshintergrund hatten. Von ihnen sind 43 % (18) Migrierte der ersten und 57 % (24) Migrierte der zweiten Generation. Die erste Generation beschreibt Menschen, die selbst nach Deutschland eingewandert sind, wohingegen die zweite Generation Menschen bezeichnet, bei denen mindestens ein Elternteil nach Deutschland migriert ist (Kemper, 2010).

4 Ergebnisse und Diskussion

Im Folgenden werden die Ergebnisse der Interviews vorgestellt und anhand der zentralen Fragestellungen diskutiert.

1. A. Sind sich die befragten MINT-Studierenden der Relevanz des Themas Diversity bewusst?

Um diese Frage zu klären, wurden die Antworten der Studierenden zu ihrem Verständnis von Diversität genauer betrachtet. Es wurde ersichtlich, dass sich die Studierenden mit Migrationshintergrund in ihren Antworten von den Studierenden ohne Migrationshintergrund unterschieden. Dieser Unterschied manifestierte sich in der Art und Weise der Differenzierung, in der Zahl der Antworten pro Person und in der Priorisierung der wichtigsten Nennungen. Differenzen zwischen Individuen mit Migrationshintergrund erster und zweiter Generation zeigten sich nicht.

In Abb. 1 werden die Ergebnisse veranschaulicht. Teilnehmende ohne Migrationshintergrund hatten sich tendenziell weniger mit dem Begriff auseinandergesetzt, antworteten weniger differenziert, langsamer und insgesamt unsicherer. Studierende mit Migrationshintergrund scheinen vertrauter mit dem Konzept Diversität, da sie relevante Begriffe häufiger und schneller anwenden. Im Vergleich: Studierende mit Migrationshintergrund nannten durchschnittlich 2.2 und Studierende ohne Migrationshintergrund durchschnittlich 1.7 Aspekte. Letztere beziehen sich jedoch häufiger auf eigene Erlebnisse und Erfahrungen, auf die Aspekte kultureller Diversität sowie Unterschiede in der Herkunft.

Abb. 1
figure 1

Was verstehen Sie persönlich unter Diversity?

Das folgende Diagramm veranschaulicht den Anteil der Teilnehmenden, die eine bestimmte Antwort gaben.

Des Weiteren ist erwähnenswert, dass von acht Studierenden ohne Migrationshintergrund die Akzeptanz als wichtigstes Kriterium genannt wurde, im Gegensatz zu zwei Nennungen vonseiten der Teilnehmenden mit Migrationshintergrund. Diesen acht Personen fiel es schwer, weitere Kategorien zu nennen und sie äußerten mehr negative implizite Einstellungen im Verlauf des Interviews („…Aber es gibt halt einfach Regeln hier, an die muss man sich halten!“). Eine naheliegende Schlussfolgerung ist, dass das Vorhandensein von politischen Vorurteilen mit einem geringeren Ausmaß an Bewusstsein für Vielfalt zusammenhängt. Die politische Relevanz des Themas scheint bei manchen Teilnehmenden präsenter zu sein als das Thema der Vielfalt selbst. Ein weiterer Aspekt, der von Personen mit Migrationshintergrund genannt wurde, für Individuen ohne Migrationshintergrund jedoch nicht relevant war, sind Unterschiede zwischen sozialen Schichten.

Hinsichtlich der Frage „Welche der folgenden Merkmale sind Ihrer Meinung nach für die Diversität von Bedeutung?“ (Bewertung von 1 (nicht wichtig) bis 7 (sehr wichtig)), wurden keine bedeutenden Unterschiede zwischen den Befragten, bezogen auf die Stadt, den Migrationshintergrund oder das Geschlecht, gefunden. Nennenswert ist allerdings, dass die ethnische Herkunft im Gegensatz zur Religion und Weltanschauung deutlich wichtiger eingeschätzt wurde. Demgegenüber werden das Alter und Geschlecht als am unwichtigsten wahrgenommen. Dies zeigt Abb. 2.

Abb. 2
figure 2

Subjektive Wichtigkeit der Diversity Merkmale

Auf die Frage, ob Vielfalt in der Gesellschaft ausreichend berücksichtig wird, konnten Unterschiede zwischen den Studierenden in München und Osnabrück gefunden werden. In München gaben 36 % der Teilnehmenden mit Migrationshintergrund an, dass Diversität ausreichend berücksichtig werden würde. Ein gleichgroßer Anteil von ihnen war gegenteiliger Meinung. Studierende aus München ohne Migrationshintergrund waren zu 25 % davon überzeugt, dass Diversität ausreichend Berücksichtigung findet, wobei 43 % diese Meinung nicht teilten. In Osnabrück wurde ein anderes Bild zurückgemeldet: Nur 9 % der Studierenden mit Migrationshintergrund berichteten, dass Diversität ausreichend berücksichtigt wird. Jedoch 63 % der Befragten mit Migrationshintergrund stimmten dem nicht zu. In Bezug auf die Studierenden ohne Migrationshintergrund waren 25 % der Meinung, dass Diversität ausreichend Aufmerksamkeit zukommt und 35 % verneinten diese Aussage. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass die soziale Erwünschtheit eine Rolle bei den Antworten spielte. Demnach antworteten die Teilnehmenden ohne Migrationshintergrund wahrscheinlich politisch korrekter. Zugleich mangelte es diesen Befragten an spezifischen Ideen darüber, was nicht ausreichend an der Umsetzung von Diversity sei. Somit scheinen sich die Erkenntnisse zu Diversität eher basierend auf vagen Vorstellungen, als auf konkretem Wissen über politische oder gesellschaftliche Themen zu entwickeln.

Im nächsten Schritt werden damit einhergehende Einstellungen zur kulturellen Vielfalt anhand der Leitfrage 1.B. Welche Einstellungen zu kultureller Vielfalt zeigen die Befragten? analysiert.

Es konnten keine Unterschiede zwischen den Münchner Studierenden und denen aus Osnabrück mit Blick auf die Beurteilung von Diversität in unterschiedlichen Bereichen (Gesellschaft, Hochschule, Unternehmen) gefunden werden. Generell deuten die Antworten jedoch darauf hin, dass Studierende sich hinsichtlich ihrer Einschätzung durch konkrete Erfahrungen der Zusammenarbeit differenzieren.

Insgesamt gaben 95 % der Teilnehmenden an, dass ein hohes Maß an Diversität sich positiv auf die Gesellschaft auswirken würde. Hinsichtlich Unternehmen äußerten 33 % der Studierenden mit Migrationshintergrund diesbezüglich allerdings eine Unsicherheit beziehungsweise waren der Meinung, dass der Effekt auch vom Betrieb abhängig wäre. Demgegenüber gaben 20 % der Studierenden ohne Migrationshintergrund an, dass eine ausgeprägte Diversität in Betrieben sich eher negativ auswirkt („Man fühlt sich wie im Orient“; „Es gibt dann mehr Gruppenbildung“). Die Aussage, dass man eigene kulturelle Eigenschaften nicht zeigen oder beachten sollte, wurde von 10 % der Studierenden mit und von 30 % der Studierenden ohne Migrationshintergrund getätigt. Als Argument hierfür wurde von den Studierenden mit Migrationshintergrund angegeben, dass sie versuchten, kulturelle Unterschiede auszugleichen beziehungsweise sie im Vergleich zu individuellen Kompetenzen als unwichtig erachteten. Etwa die Hälfte der Studierenden ohne Migrationshintergrund lehnte einen verstärkten Austausch zwischen sozialen Gruppen ab. Kein Einziger der Studierenden mit Migrationshintergrund lehnte einen verstärkten Austausch ab. In Abb. 3 werden diese Unterschiede grafisch veranschaulicht.

Abb. 3
figure 3

Antworten von Studierenden mit und ohne Migrationshintergrund auf die Frage: „Wünschen Sie sich gelegentlich, dass die einzelnen Gruppen stärker miteinander vernetzt sind und zusammenarbeiten?“

Betrachtet man die Ergebnisse der ersten Fragestellungen, ist eine Gegensätzlichkeit zwischen politisch korrekten, positiven Antworten bezüglich allgemeiner Themen und negativen Antworten hinsichtlich konkreter Fragestellungen zu erkennen. Bei letzteren Themen wurde meist Skepsis oder Unsicherheit gegenüber der eigenen Positionierung zu diesem Thema deutlich. Eine mögliche Erklärung ist unter anderem eine mangelhafte Informationslage zum Thema Diversität. Sind nicht genügend Informationen vorhanden oder ist eine schnelle Verarbeitung erforderlich, steigt die Tendenz, Stereotype schnell und unreflektiert als Entscheidungshilfe heranzuziehen (Aronson et al., 2008).

Diversitätsüberzeugungen stellen eher generische Prädispositionen gegenüber Vielfalt dar, die, vergleichbar mit Stereotypen, auf sozialen Kategorisierungen beruhen (Dick & Stegmann, 2016). In einer Studie von Adesokan et al. (2011) konnte gezeigt werden, dass Diversitätsüberzeugungen als Moderator auf den Zusammenhang zwischen dem Vorhandensein von Diversität, dem Vorhandensein anderweitiger Informationen und negativen Reaktionen beziehungsweise Vorurteilen wirkt. Die Ergebnisse dieser Studie deuten darauf hin, dass ein ausgefeiltes Urteil aufgrund von fehlender Information nicht gebildet werden konnte. Teilnehmende reagierten auf die erste Frage vornehmlich verunsichert. Während des Interviews kristallisierten sich aufseiten der Studierenden ohne Migrationshintergrund an mancher Stelle offene und an anderer Stelle durch politische Korrektheit verdeckte Vorurteile heraus.

Gleichzeitig zeigte sich, dass hierarchiebezogene Intergruppeneinstellungen keine Rolle für die Teilnehmenden spielten, obwohl die soziale Dominanzorientierung im Allgemeinen als eine der zentralen Ursachen von Vorurteilen und Diskriminierung betrachtet wird (Sidanius et al., 2017). Es schien vielmehr entscheidend zu sein, ob kulturelle Vielfalt einen individuellen oder einen kollektiven (Gruppennutzen) bedeutete oder nicht.

Negative Einstellungen gegenüber kultureller Vielfalt in Teams wurden eher geäußert, wenn unzureichende Informationen bei gleichzeitigem Hinterfragen zum Thema der kulturellen Vielfalt vorlagen. Das lässt wiederum Rückschlüsse auf eine potenzielle Identitätsbedrohung zu.

Abschließend kann für die erste Forschungsfrage zusammengefasst werden, dass relevante Ansatzpunkte für das Diversity Management bei MINT-Studierenden zum einen das Wissen und Bewusstsein für das Thema kulturelle Vielfalt sind. Zum anderen ist eine positive Einstellung ausschlaggebend und somit zu unterstützen. Dadurch können positive affektive Reaktionen auf das Thema kulturelle Vielfalt in unterschiedlichen Kontexten gefördert werden.

Nicht nur das Bewusstsein für kulturelle Vielfalt weist Lücken auf, sondern andere wichtige Diversitätsmerkmale sind nur wenig präsent. Alters- und Geschlechtervielfalt wird generell eine entscheidend geringere Relevanz zugeschrieben als der interkulturellen Vielfalt, da in diesen Dimensionen Unterschiede nicht erlebt werden. Es ist daher anzunehmen, dass der Start ins Berufsleben dies ändern kann, wenn mit Personen unterschiedlichen Alters zusammengearbeitet oder aber geschlechterspezifische Diskriminierung erlebt wird (Genkova & Ringeisen, 2017). Zukünftige Forschung sollte diese Ergebnisse und die geäußerten Annahmen in Bezug auf Unternehmen überprüfen.

2. Welche Barrieren werden für Studierende mit Migrationshintergrund deutlich?

Fragen zum eigenen Freundeskreis und Interaktionen im sozialen Umfeld dienten der Aufdeckung von Barrieren für Studierende mit Migrationshintergrund. Auf die konkretere Frage, welche Gemeinsamkeiten innerhalb des eigenen Freundeskreises wahrgenommen werden, gaben Studierende mit Migrationshintergrund andere Antworten als Studierende ohne Migrationshintergrund. Von beiden Gruppen wurde ein gemeinsamer fachlicher Kontext beziehungsweise das gemeinsame Studium als relevanter Zusammenhalt geäußert. Studierende ohne Migrationshintergrund nannten zusätzlich noch gemeinsame Interessen und Freizeitaktivitäten, wohingegen Studierende mit Migrationshintergrund den gemeinsamen Migrationshintergrund fokussierten.

Für 40 % der letztgenannten Gruppe stellt dies einen Grund für erlebte Unterschiede zwischen den eigenen und anderen Freundeskreisen dar. Diese Aussagen deuten auf die Wahrnehmung von ausgeprägten Faultlines zwischen sich und Studierenden ohne Migrationshintergrund hin. Dem gegenüber scheinen Faultlines bei Teilnehmenden ohne Migrationshintergrund kaum vorhanden.

Studierende ohne Migrationshintergrund berichteten meist von größeren Freundeskreisen als Studierende mit Migrationshintergrund. Von der letztgenannten Gruppe gaben 42 % außerdem an, dass sie einer Gruppe gerne angehören würden, in diese jedoch nicht aufgenommen werden. Keiner der Studierenden ohne Migrationshintergrund äußerte sich in ähnlicher Weise.

Studierende mit Migrationshintergrund waren deutlich weniger in sozialen Gruppen an der Hochschule eingebunden und ihre kulturelle Andersartigkeit wurde als distinkter wahrgenommen. Obwohl 63 % der Studierenden mit und 59 % der Studierenden ohne Migrationshintergrund angaben, dass sie sich regelmäßig als „anders“ erfahren, konnten unterschiedliche Quellen für dieses Gefühl identifiziert werden.

Teilnehmende mit Migrationshintergrund gaben an, dass kulturelle Merkmale, wie der ethnische oder der Migrationshintergrund, die Sprache, Umgangsformen sowie teilweise das Aussehen entscheidend für das Gefühl der Andersartigkeit sind. Im Gegensatz hierzu nannten Studierende ohne Migrationshintergrund Identifizierungsmerkmale, wie Umgangsformen, Höflichkeit und Freizeitgestaltung. Bei Befragten aus München zeigte sich diese Perspektive stärker als in Osnabrück. Es gaben 35 % der Münchner Studierenden mit Migrationshintergrund an, die eigene kulturelle Individualität eher als Nachteil wahrzunehmen, aufgrund des Aussehens oder des Namens. Vier Teilnehmende erwähnten ihren Migrationshintergrund als allgemeinen Grund. Es wird abermals deutlich, dass sich für die Studierenden mit Migrationshintergrund ein stärkeres Ausmaß an Stereotypenbedrohung abzeichnet.

Mit Blick auf die Erfahrung von Diskriminierung gibt es Differenzen zwischen Osnabrück und München. Studierende aus Osnabrück berichteten von keinen Situationen, in denen sie diskriminierendes Verhalten von Dozierenden oder der Hochschuldirektion erlebt haben. Dem gegenüber teilten 20 % der Studierenden aus München mit Migrationshintergrund allgemeine sowie persönliche Diskriminierungserfahrungen. Diskriminierendes Verhalten gegenüber Frauen sowie der sogenannte „Mädchenbonus“ wurden von jeweils 7 %, gleichermaßen bestehend aus Frauen und Männern, angegeben. Die Ausgewogenheit der Geschlechter erschwert an dieser Stelle die Interpretation. Um eine fundierte Aussage bezüglich des Unterschiedes der erfahrenen Diskriminierung zwischen Osnabrück und München zu machen, benötigt es eine Langzeit-Beobachtung.

An dieser Stelle kann nur festgehalten werden, dass Studierende mit Migrationshintergrund in München, im Gegensatz zu denen aus Osnabrück, ein höheres Bewusstsein für diskriminierendes Verhalten haben. Diese erhöhte Sensibilisierung bezüglich Diskriminierung lässt sich ebenfalls mit einer ausgeprägteren Stereotypenbedrohung erklären. Da sich diese Verbindung nicht in Bezug zu Osnabrück gezeigt hat, liegt es nahe, einen Zusammenhang mit einer erhöhten Sensibilität für diskriminierendes Verhalten zu vermuten. Das Gefühl, zu einer Gruppe zu gehören, die verstärkt stereotypisiert wird, hat eine Abnahme der eigenen Leistungsfähigkeit zur Folge (Massey & Fischer, 2005). Auslösende oder verstärkende Faktoren wurden jedoch nicht genauer analysiert.

Stereotypisierung wird, laut den Studienergebnissen, von Personen mit unterschiedlichsten Migrationshintergründen erlebt. Durch die Theorie der sozialen Identität kann dieses Phänomen erklärt und empirisch (Pearsall et al., 2008) bestätigt werden. Je stärker die Faultlines zwischen sozialen Gruppen empfunden werden, desto größer die erfahrene Stereotypisierung der eigenen Gruppe. Gleichermaßen wurde in der vorliegenden Studie der eigene Migrationshintergrund von Studierenden als eher hinderlich empfunden, je bewusster sie sich den eigenen Unterschieden waren. Diese Erkenntnis trifft vor allem auf die Studierenden aus München zu, weshalb sie ausgeprägtere Signale von Stereotypenbedrohung berichteten.

Die Ergebnisse zeigen, dass generell wahrgenommene Faultlines sowie spezifische Erfahrungen mit Diskriminierung Verstärker für Stereotypenbedrohung darstellen können. Hinzu kommt, dass Studierende mit Migrationshintergrund ein kleineres und weniger enges soziales Umfeld berichteten. Als Erklärung nannten manche Studierende die individuellen Unterschiede zu den anderen Personen beziehungsweise Gruppen. Blasco und Paunova (2018) beschreiben, dass nicht nur die Aufnahmebereitschaft der „Gastkultur“, sondern die individuellen Normen und Wahrnehmungen der Migrierenden letztendlich die Integrationsbereitschaft beeinflussen. Bei den Befragten wurden die Normen durch eine eher skeptische und verdrängende Einstellung gegenüber der kulturellen Vielfalt geprägt. Die Annahme, dass die eigene Situation festgefahren und unveränderbar ist, beeinflusst diese Entwicklung zusätzlich. Die Thematik der Vielfalt wird im Lehrplan von MINT-Fächern nur wenig oder gar nicht behandelt. Daher ist es umso wichtiger, durch Diversity Management eine offene Atmosphäre zu schaffen, in der Kommunikation zwischen Gruppen sowie die Partizipation von diversen Gruppen ermöglicht wird.

3. Zeigen die Befragten Potenziale zur Förderung interkultureller Kompetenz?

Es konnten keine regionalen Unterschiede zwischen Studierenden aus München und Osnabrück bezüglich des Bedarfs zur Förderung der interkulturellen Kompetenz gefunden werden. Studierende aus beiden Städten sind sich darüber einig, dass interkulturelle Kompetenz zukünftig (sehr) relevant sein wird. Spezifische Ideen, wie und unter welchen Umständen sie sich diese Kompetenz aneignen können, fehlten jedoch. Davon abgesehen gaben 95 % der Teilnehmenden an, dass ihre interkulturelle Kompetenz (sehr) gut ist (s. Tab. 1). Dabei fokussierten sich die Studierenden auf die folgenden Aspekte von interkultureller Kompetenz: Relevanz von Offenheit und Akzeptanz im Umgang mit anderen Kulturen und Sprachkompetenzen der jeweiligen Gastkultur. Dies verdeutlicht die eingeschränkte Perspektive der Studierenden bezüglich allgemeiner Kompetenzen und konkreten Erfahrungen. Fünf Studierende zogen ihre eigenen Erfahrungen für die Ausbildung der eigenen interkulturellen Kompetenz heran.

Tab. 1 Interkulturelle Kompetenz

Die vorliegende Studie weist darauf hin, dass bezogen auf die Definition der interkulturellen Kompetenz nach Van Dick et al. (2008), die Befragten eher eine mangelhafte positive affektive Prädisposition gegenüber Diversität mitbrachten. Außerdem konnten Defizite in den Dimensionen der kognitiven und metakognitiven Kompetenz, also dem Wissen über kulturelle Unterschiede und dem reflektierten Umgang mit interkulturellen Interaktionen, aufgedeckt werden.

5 Limitationen, Implikationen und Zusammenfassung

Obwohl die vorliegende Untersuchung relevante Erkenntnisse für die Förderung von Diversität in MINT-Fachbereichen liefert, weist sie einige Limitationen auf. Die Generalisierbarkeit der Ergebnisse für MINT-Studierende aus verschiedenen Städten ist nicht gegeben. Die detaillierte Analyse von Zusammenhängen zwischen den relevanten Konzepten liefert jedoch wertvolle Erkenntnisse bezüglich deren Funktionsweisen, was durch eine quantitative Studie nicht möglich gewesen wäre. Da ein strukturierter Interviewleitfaden mit standardisierten Fragestellungen implementiert wurde, wurden die Antwortmöglichkeiten der Teilnehmenden eingegrenzt. Die strukturierte Befragung zu konkreten subjektiven Theorien ermöglicht jedoch ein detailliertes Verständnis über die Anwendbarkeit von bereits verifizierten Ansätzen auf den Kontext von MINT-Studierenden. Ob sich diese Erkenntnisse ebenfalls auf andere Fachbereiche anwenden lassen, bleibt fragwürdig, da in manchen Fachbereichen Schulungen zu (kultureller) Vielfalt bereits flächendeckender eingesetzt werden. Auch ist die Anerkennung von Diversität in vielen Branchen weiterverbreitet als in der MINT-Branche, was sich auf die Einschätzung der Studierenden auswirken könnte, ob Diversität für sie relevant ist, oder nicht. Um diese Forschungslücke zu schließen, sollten Studien in Zukunft verstärkt die Wirkung von Diversitäts-Förderkonzepten aus einer praxisorientierten Sichtweise untersuchen.

Die vorliegende explorative Studie verdeutlicht einen Änderungsbedarf beim Umgang mit Diversität in MINT-Fächern. Den befragten Studierenden dieser Fächer mangelt es an Bewusstsein für die Wichtigkeit von Diversität und der Kenntnis über relevante Inhalte. Es zeigte sich, dass obwohl einige Erfahrungen mit Vielfalt gemacht werden, sich die Studierenden der kulturellen Vielfalt in ihrem Umfeld nicht explizit bewusst sind. Die meisten der befragten Studierenden haben eine tendenziell negative Einstellung zu kultureller Vielfalt, insbesondere dann, wenn sie ein geringes Bewusstsein für Diversity aufweisen. Entgegen gängiger Annahmen war der Hierarchieaspekt von Intergruppenbeziehungen für die Studierenden ohne Migrationshintergrund jedoch viel weniger präsent, als individuelle und gruppenbezogene Vor- oder Nachteile durch Vielfalt. Studierende mit Migrationshintergrund sind mit Schwierigkeiten in der kulturellen Anpassung und einer reservierten oder gar feindlichen Haltung vonseiten des sozialen Umfeldes konfrontiert. Obwohl die deutsche Gesellschaft von wachsender interkultureller Interaktion geprägt ist, mangelt es den Teilnehmenden an interkultureller Kompetenz.

Hinsichtlich der Barrieren, denen sich Studierende mit Migrationshintergrund stellen müssen, sind eine Diversity-orientierte Leitkultur und Weiterbildungen von Lehrkräften (Linde & Auferkorte-Michaelis, 2017) von besonderer Relevanz. Maßnahmen, die sich auf Interaktionen konzentrieren, können den Abbau von Vorurteilen und Faultlines unterstützen. Direkt umsetzbar wären beispielsweise Einführungsveranstaltungen, Sprachangebote sowie Informationen auf Englisch, wodurch strukturelle Barrieren bereits bedeutend vermindert werden können (Reisch, 2013). Da sich die vorliegende Studie nur indirekt mit der Diversity-Kultur innerhalb der Hochschulen auseinandergesetzt hat, sollten zukünftig ebenfalls Lehrende und Mitarbeitende befragt werden. Dietrich (2008, S. 24) sagt diesbezüglich, dass „ohne entsprechend formulierte und systematisch verfolgte organisationsbezogene Veränderungsziele [.] Trainings bestenfalls imagepflegende Alibiveranstaltungen“ sind.

Das Landeszentrum für Kompetenzentwicklung für Diversity Management in Studium und der Lehre an Hochschulen in NRW (KomDiM, 2013) veröffentlichte ein Konzept, welches die Integration von Diversity-Aspekten in die Curricula von Hochschulen befürwortet. Innerhalb des Konzepts wird auf fachspezifische sowie fachübergreifende Inhalte, die Gestaltung von Strukturen sowie die Entwicklung von Kompetenzen bei den relevanten Akteuren eingegangen. Fachspezifische Inhalte gehen auf die Implementierung von Diversität in verschiedenen Modulen eines Fachbereichs ein, indem Informationen zu Theorien sowie aktueller Wissenschaft aus anderen Regionen vermittelt werden. Zusätzlich sollen wissenschaftliche Arbeiten zu Diversity-nahen Themen verfasst werden können und verwandte Literatur und weiterführende (Lern-)Materialien verfügbar gemacht werden. Auf diese Weise soll das Interesse für das Thema Diversität bei Studierenden geweckt, Wissen vermittelt und das Reflektieren zu anderen Standpunkten möglich gemacht werden. Somit kann die eigene standortspezifische Perspektive besser wahrgenommen und reflektiert werden (Linde & Auferkorte-Michaelis, 2017).

Fachübergreifende Inhalte hingegen fokussiert das Bewusstsein für Diversität, indem die Bandbreite der Diversity-Dimensionen als Schlüsselqualifikationen in Seminaren vermittelt werden. Hinsichtlich der Gestaltung von Strukturen stehen vor allem Themen der Organisationsentwicklung im Vordergrund. Auf diese Weise könnte eine Hochschule bereits in ihrem Leitbild auf das Diversity Management hinweisen oder es in der Organisationsstruktur integrieren. Zu guter Letzt wird auf die Förderung der einzelnen Akteure bezüglich ihrer Diversity-Kompetenzen eingegangen. Als Akteure der Hochschulen zählen Studierende, Lehrende und Verwaltungsapparate (Linde & Auferkorte-Michaelis, 2017).

Um eine erfolgreiche Förderung von Diversity-Kompetenzen zu gewährleisten, ist ein ganzheitlicher Ansatz notwendig (Reisch, 2013). Diversity-Ansätze in Hochschulen sollten sowohl die Sensibilisierung, den Wissenserwerb als auch die Ausarbeitung von Handlungskompetenzen integrieren. Bezogen auf MINT-Studierende bedeutet dies, dass fachbereichsspezifische Konzepte entwickelt und angewendet werden müssen, da sich MINT-Fächer selbst untereinander noch stark unterscheiden. Informationen zu Vielfalt, die Konsequenzen von Vielfalt sowie verwandte Themen sollten im Zuge dieser Konzepte behandelt werden, um eine Sensibilisierung zu ermöglichen. Diese Maßnahmen sollten sowohl Studierende mit, als auch Studierende ohne Migrationshintergrund erreichen. Ziel ist es, die Entwicklung einer differenzierten Haltung zu kultureller Vielfalt sowie die Sammlung von relevanten Erfahrungen zu ermöglichen. Studierende ohne Migrationshintergrund zeigen darüber hinaus Defizite in zielführenden Handlungskompetenzen, was vor allem auf ein mangelndes Bewusstsein für Differenzen und für die eigene Perspektive sowie auf fehlende Erfahrungen zurückzuführen ist.

Eine interaktionsorientierte Maßnahme wird diesbezüglich als Chance gesehen, eigene interkulturelle Erfahrungen zu sammeln und somit relevante Kompetenzen auszubauen (Reisch, 2013). Daher bieten sich solche Trainings im Kontext der Sensibilisierung und Schulung von MINT-Studierenden an und sollten im Verlauf des Studiums periodisch neben informationsorientierten Seminaren der MINT-Fächer angeboten werden. Diese Empfehlung trifft vor allem dann zu, wenn das Thema Diversität nicht einfach in Module integriert werden kann, da der Anwendungsbezug nicht gegeben ist.