Zusammenfassung
Seit Beginn der Geschichte der Soziologie als Fachdisziplin haben sich Sozialwissenschaftler:innen mit gesellschaftlichen Krisen beschäftigt. Waren gesellschaftliche Spannungen und Krisen treibende Motoren der Soziologie? Ist die Soziologie gar aus gesellschaftlichen Krisen entstanden, also eine Krisenwissenschaft? Wie ist das Verhältnis zwischen Krisenwahrnehmung und Theorie- bzw. Methodenproduktion sowie zwischen soziologischer Krisendiagnose und Krisenüberwindung? Die vorliegende Einleitung präsentiert erste Überlegungen zur Begrifflichkeit von „Krise“, dem Verhältnis von Soziologie und Krisen sowie einen Überblick über die einzelnen Beiträge des Bandes. Wir wollen uns darin der Frage widmen, inwieweit ökonomische, politische, soziale, kulturelle und/oder individuelle Krisen oder als krisenhaft wahrgenommene gesellschaftlich-geschichtliche Prozesse die wissenschaftliche Produktivität von Soziolog:innen beeinfluss(t)en und inwieweit solche Krisen die Produktion soziologischen Wissens möglicherweise auch vorantreiben können.
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Notes
- 1.
So hat Koselleck auch mehrfach auf die enge Verbindung zwischen Krise und Kritik aufmerksam gemacht, die sich etymologisch ergibt, leiten sich beide Begriffe doch vom griechischen κρίνειν ab, was (unter)scheiden, trennen, urteilen, sichten und entscheiden bedeutet.
- 2.
Die „medizinische Katastrophe“ der Corona-Krise (z. B. Dörre 2020) und die mit der Pandemie einhergehenden zivilgesellschaftlichen Spannungen antizipierte zum Zeitpunkt der Kongressplanung bis einschließlich 2019 wohl kaum jemand – zumindest waren medizinische Krisen im Kongresspapier kein Thema. Für gesundheitliche Bedrohungsszenarien und den gesellschaftlichen Umgang mit denselben gilt jedenfalls, dass sie in den vergangenen drei Jahren – wenigstens temporär – zu einem zentralen, nicht zuletzt auch gesellschaftswissenschaftlichen Thema avancierten (siehe z. B. der gemeinsame DGS & ÖGS Soziologiekongress 2021). Am Beispiel der Corona-Krise werden auch länger bestehende gesellschaftliche Krisenthemen und Probleme diskutiert resp. bearbeitet (z. B. Lessenich 2020; Frei et al. 2021; Görgen et al. 2020). Bei dieser Krise handelt es sich also zweifelsohne um eine, die mindestens in zeitlich begrenztem Umfang den Untersuchungsgegenstand bzw. die Forschungslandschaft in der Soziologie und vielen anderen Wissenschaften stark beeinflusst und eindeutige Effekte im wissenschaftlichen Feld gezeitigt hat. Beispielsweise wurden sowohl von politischen Akteur:innen wie auch von wissenschaftlichen Institutionen zahlreiche finanzielle Förderlinien rund um das Thema geschaffen. Gleichzeitig wurden und werden bedingt durch die Corona-Krise und die auf den Russland-Ukraine-Krieg zurückzuführende wirtschaftliche Krise bei vielen Drittmittelgebern Mittel gekürzt. Das führt dazu, dass soziologische Forschungsthemen im Jahr 2022 noch mehr als zuvor durch die Finanzierung von Wissenschaft gesteuert werden. Es zeigt sich also in der aktuellen Situation, dass gesellschaftliche Krisen auch auf institutioneller Ebene direkte und indirekte Auswirkungen auf die Wissenschaft haben).
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Holzhauser, N., Moebius, S., Ploder, A. (2023). Soziologie und Krise – Ein produktives Spannungsverhältnis?. In: Holzhauser, N., Moebius, S., Ploder, A. (eds) Soziologie und Krise. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-35204-2_1
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