Im Rahmen der explorativen Untersuchung der organisationalen Wissensgenese anhand von Social-Media-Analysen und der Wissensverwendung in der Automobilindustrie, die diese Studie thematisiert, wurde Praktikerwissen analysiert.Footnote 1 Letzteres ist über eine praktische Anwendung der Methode entstanden und beruht somit auf dieser. Die Studie gründet auf der Annahme, dass anhand des Wissens der Praktiker, die Social-Media-Analysen derzeit anwenden oder aber die Methode in der Vergangenheit genutzt haben, die Wissensgenese und Wissensverwendung bei einem deutschen Automobilhersteller rekonstruiert werden kann. Vorab wurden die der Forschungsarbeit zugrunde liegende Fragestellung und der untersuchte Gegenstand, die organisationale Wissensgenese über Social-Media-Analysen und Wissensverwendung, in theoretischer Hinsicht umfassend betrachtet. Daran schließt dieses Kapitel an und behandelt Untersuchungsmaterial und methodisches Vorgehen, denn

[w]enn es die Neugier ist, die uns zu wissenschaftlichem Arbeiten antreibt, dann sind es die Methoden, die uns befähigen, nach Erkenntnissen zu graben. Ob wir fündig werden, hängt nicht zuletzt vom richtigen Werkzeug ab. [. . . ] Wir können Methoden begreifen als den Weg, den ein Forscher zurücklegt, um zu seinem Ziel, der Lösung eines wissenschaftlichen Problems, zu gelangen. Oft ist der Weg vorgezeichnet, doch gelegentlich muß er neu gebahnt werden, mit Werkzeugen oder Verfahren, die ebenso wichtig sind für die Lösung des Problems wie der Weg, den es zurückzulegen gilt (Alemann, 2001, S. 11).

Methodisch angesiedelt ist die Untersuchung innerhalb des interpretativen Paradigmas der qualitativen Sozialforschung. Die Entscheidung für eine empirische Untersuchung unter Nutzung der entsprechenden Methoden liegt in der Gegenstandsangemessenheit begründet. Das bedeutet, dass qualitative Sozialforschung oder exploratives Vorgehen gemäß dem interpretativen Paradigma der Erforschung des Untersuchungsgegenstands, der aus der grundlegenden Fragestellung abgeleitet wurde, angemessen erschien oder vielmehr nach wie vor erscheint (Kelle, 2008, S. 32 ff.; Keller, 2012).Footnote 2

Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um soziologische Forschung, welche in mehrfacher Hinsicht mit der Automobilindustrie zwar verbunden ist, aber dennoch für sich beansprucht, unabhängig und objektiv zu sein. Zwei Berührungspunkte mit der Automobilindustrie sind zu nennen: Erstens hat die wissenschaftliche Betrachtung von Social-Media-Analysen als sozialwissenschaftliche Methode ein der Automobilindustrie angehörendes Unternehmen, genauer ein deutscher Automobilhersteller angeregt und im Rahmen seines Doktorandenprogramms über drei Jahre hinweg, insbesondere in finanzieller Hinsicht gefördert. Das Ziel des Unternehmens bestand in der Erweiterung und Digitalisierung seines Repertoires an Marktforschungsmethoden; im Gegenzug hat das Unternehmen einen systematisierten, reflektierten Überblick über die praktische Anwendung von Social-Media-Analysen erbeten. So galt es im Zuge der Entwicklung der Forschungsfrage und Ableitung des Untersuchungsgegenstands dieser Arbeit sowie deren Verortung in der Soziologie und letztlich auch der Durchführung der explorativen Untersuchung selbst sicherzustellen, dass dieser Erwartung entsprochen werden konnte. Jedoch standen die wissenschaftliche Unabhängigkeit und Objektivität der Studie sowie deren explorativer Charakter stets an erster Stelle. Zweitens wurde das Datenmaterial, auf dessen Auswertung die Ergebnisse dieser Forschungsarbeit beruhen, in eben diesem Unternehmen gewonnen. Der deutsche Automobilhersteller hat seine Pforten für eine Datenerhebung geöffnet und den Feldzugang ermöglicht, der für die empirische Untersuchung des aus der zugrunde liegenden Fragestellung abgeleiteten Gegenstands notwendig war. Damit nimmt der Automobilhersteller im Rahmen dieser Arbeit zwei Rollen ein, die sich wechselseitig bedingen: Zum einen die des Gate Keeper oder auch Pfortenöffners zum Feldzugangs, zum anderen die des Fallbeispiels.Footnote 3

Gemäß der Fragestellung dieser Arbeit wurde Praktikerwissen, das zu Social-Media-Analysen in einem Unternehmen der deutschen Automobilindustrie kursiert, explorativ untersucht. Sofern qualitative Sozialforschungsstudien überhaupt Operationalisierungen vornehmen beziehungsweise diese als solche benennen, wurde die Forschungsfrage und damit auch der Forschungsgegenstand über Praktikerwissen operationalisiert.

Eine eigene Primärdatenerhebung von Praktikerwissen bezüglich der Anwendung von Social-Media-Analysen hat das erforderliche Untersuchungsmaterial hervorgebracht. Methodisch ist diese im Rahmen einer qualitativen Interviewstudie, in Form offener und leitfadengestützter Experteninterviews sowie in Orientierung am Forschungsstil der Grounded Theory Methodologie erfolgt. Gegenstand der Analyse waren letztlich die geführten qualitativen Experteninterviews in transkribierter Form und damit textförmige Daten (Charmaz, 2006; Glaser, & Strauss, 1967/2006; Glaser, & Strauss, 1967/2008).

Ebenso wie die Datenerhebung hat sich die auf sie folgende Datenauswertung an der Grounded Theory Methodologie orientiert. Deren explorativer Vorgehensweise gemäß dem interpretativen Paradigma entsprechend und im Rückgriff auf dessen Bestandteil der hermeneutischen Wissenssoziologie wurde das Datenmaterial einer rekonstruktiven Reflexion unterzogen (Keller, 2012, S. 231 ff.).

Die explorative und damit in diesem Fall zugleich hermeneutische Untersuchung von Praktikerwissen des Unternehmens diente der Herstellung eines systematisierten und reflektierten Überblicks über die praktische Anwendung von Social-Media-Analysen in der deutschen Automobilindustrie. Erarbeitet wurde dieser anhand einer qualitativen Interviewstudie. Der Forschungsstand, den das letzte Kapitel behandelt hat, ergänzt die Zusammenfassung des Praktikerwissen zu Social-Media-Analysen aus dem Bereich der Automobilindustrie. Ein Überblick über die praktische Anwendung von Social-Media-Analysen dient der Systematisierung und Reflexion der Methode oder macht Letztere erst möglich. Aufgrund der soziologischen Forschungsperspektive, die diese Arbeit einnimmt, waren in erster Linie jedoch die Fragen nach der Erzeugung und der Verwendung von Wissen im Kontext von Social-Media-Analysen und anhand des Fallbeispiels des deutschen Automobilherstellers von Interesse. Daher standen diese auch beständig im Fokus der explorativen oder eben hermeneutischen Untersuchung.

Im weiteren Verlauf dieses Kapitels über das Untersuchungsmaterial und methodische Vorgehen geht es um die beiden wesentlichen, aufeinander beruhenden Aspekte der empirischen Sozialforschung; zum einen wird die umgesetzte Datenerhebung und zum anderen die realisierte Datenauswertung nachgezeichnet. Bevor dies jedoch geschehen kann, ist ein Exkurs in den zentralen Theorierahmen, der die empirische Ausgestaltung der durchgeführten Untersuchung maßgeblich beeinflusst hat, ebenso erforderlich wie ein Einblick in den angewandten Forschungsstil der Grounded Theory Methodologie sowie ein weiterer Exkurs zu Expertenwissen.

4.1 Exkurs: Sozialkonstruktivismus

Im Jahr 1966 erschienen, wurde das Werk Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie (1966/2009) von Peter L. Berger und Thomas Luckmann für diese Forschungsarbeit als umfassender wissenssoziologischer Theorierahmen oder adäquater Ausgangs- oder auch Einstiegspunkt in deren empirische Umsetzung herangezogen. Damit ist ein an die zuvor schon erfolgte Thematisierung ihrer wissenssoziologischen Konzeption anschließender Exkurs: Sozialkonstruktivismus unabdingbar (Keller, & Truschkat, 2012, S. 13).Footnote 4 Noch einmal sei die Bedeutung des Werks von Berger und Luckmann herausgestrichen; Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie zählt gegenwärtig noch immer zu den international meistrezipierten Arbeiten der Sozialwissenschaften überhaupt:

Dieses Buch half nicht nur, den phänomenologischen Ansatz wieder bekannt zu machen; es trug auch zur Verbreitung des „interpretativen Paradigmas“ bei, das sich allmählich gegen die zuvor dominierende strukturfunktionalistische Soziologie durchsetzte. Und nicht zuletzt begründete es eine Denkrichtung mit, die als (Sozial-)Konstruktivismus weltweit für Aufsehen sorgte (Knoblauch, 2005, S. 128).

Die Untersuchung des Verhältnisses von Wissen und Gesellschaft bewertet Reiner Keller (2012, 2011) als immanent wichtig und er merkt an, dass bereits die klassische Soziologie damit ihren Anspruch als wissenschaftliche Disziplin erhoben hat. Einen zentralen Neuanstoß habe diese Unternehmung durch Berger und Luckmann erfahren; deren herausragende Leistung bestehe – auch dies wird hier bewusst wiederholt – in der Zusammenführung der Sozialphänomenologie, dem Symbolischen Interaktionismus und Traditionen wie auch Fragestellungen der Wissenssoziologie (Keller, 2012; Keller, 2011a, S. 127; Keller, 2011b, S. 60; Keller, 2011c, S. 39). Zur Bedeutung ihres Werks hat jedoch neben der Neuinterpretation der Wissenssoziologie nicht zuletzt das von Berger und Luckmann entfaltete Verständnis von Soziologie als humanistische Wissenschaft beigetragen (Thönnessen, 2001, S. 64 f.):

Die Wissenssoziologie sieht die menschliche Wirklichkeit als eine gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeit. [. . . ] Unsere Konzeption der Wissenssoziologie impliziert eine bestimmte Konzeption der Soziologie überhaupt. Sie impliziert nicht, daß Soziologie keine Wissenschaft wäre, daß ihre Methoden anders als empirisch sein sollten oder daß sie nicht „wertfrei“ zu sein vermöge. Sie impliziert wohl, daß Soziologie zu jenen Wissenschaften gehört, deren Forschungsgegenstand der Mensch als Mensch ist. In diesem speziellen Sinne ist Soziologie eine humanistische Wissenschaft. Eine Konsequenz aus dieser Konzeption, der gar nicht genug Wert beigemessen werden kann, ist, daß Soziologie [. . . ] ihren eigenen Forschungsgegenstand nicht aus den Augen verlieren will. Dieser Forschungsgegenstand ist Gesellschaft als Teil einer menschlichen Welt, geschaffen von Menschen, bewohnt von Menschen und in unaufhörlichem historischem Prozeß wiederum an Menschen schaffend. Es wäre nicht die geringste Frucht einer humanistischen Soziologie, unser Staunen über dieses staunenswerte Phänomen neu zu wecken (Berger, & Luckmann, 1966/2009, S. 200f., Hervorheb. i. O.).

Unter anderem basiert das Werk Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie auf Erkenntnissen von Hellmuth Plessner, Arnold Gehlen, Karl Marx, Max Weber, Emile Durkheim und Alfred Schütz. Auf diesen aufbauend konzipierten Berger und Luckmann

[. . . ] eine Theorie der sozialen Konstruktion von Deutungs- und Handlungswissen, das gesellschaftlich institutionalisiert und in Sozialisationsprozessen an Individuen vermittelt wird (Keller, 2011c, S. 41).Footnote 5

Zu deren Begründung beriefen sie sich auf die

[. . . ] beiden berühmtesten und folgenreichsten „Marschbefehle“ für die Soziologie [. . . ] (Berger, & Luckmann, 1966/2009, S. 20),

die sie bei Durkheim und Weber verorten, und leiteten von diesen ihre Grundfrage soziologischer Theorie ab:

Wie ist es möglich, daß subjektiv gemeinter Sinn zu objektiver Faktizität wird? Oder, in der Terminologie Webers und Durkheims: Wie ist es möglich, daß menschliches Handeln (Weber) eine Welt von Sachen hervorbringt? So meinen wir denn, daß erst die Erforschung der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit – der „Realität sui generis“ – zu ihrem Verständnis führt. Das, glauben wir, ist die Aufgabe der Wissenssoziologie (Berger, & Luckmann, 1966/2009, S. 20, Hervorheb. i. O.).

Einen Vorschlag zur Lösung dieses bisher ungeklärten Grundproblems der klassischen Soziologie bietet das kommunikative Paradigma der neuen Wissenssoziologie:

Das kommunikative Paradigma der ‚neuen‘ Wissenssoziologie – die Öffnung der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie für die menschliche Kommunikation, für ihre Formen und ihre gesellschaftlichen Funktionen beim Aufbau der gesellschaftlichen Wirklichkeit – offeriert für Luckmann damit einen Lösungsvorschlag für das bislang noch immer ungeklärte Grundproblem der ‚klassischen‘ Soziologie, das er zusammen mit Berger bereits zum Ausgangspunkt ihrer Theorie der Wissenssoziologie machte [. . .] (Knoblauch, 2005, S. 142).

Darin erkennt wiederum Keller eine

[. . . ] Spezifizierung der [. . . ] Wende der Wissenssoziologie hin zur Analyse der sozialen Konstruktion des Wissens (Keller, 2011c, S. 60).

Die Bedeutung von Wissen und seiner Genese definiert Keller so:

Wissen ist – in der Formulierung von Berger/Luckmann – nunmehr all das, was in der Gesellschaft als Wissen gilt, und mehr: die gesamte symbolische Ordnung der Wirklichkeit, von der Sinnstiftung im privaten Alltag bis zur Wissenskonstruktion im Labor wird zum Gegenstand der Wissenssoziologie. Die Perspektivenverschiebung von der sozialen Bedingtheit über die soziale hin zur kommunikativen Konstruktion stellt eine Konkretisierung der Wissenssoziologie als empirisches Forschungsprogramm dar. Sie verlagert die „existentielle Basis der geistigen Produktion“ (Karl Mannheim) in die sprachvermittelten Interaktions- und Aushandlungsprozesse, in sozial strukturierte gesellschaftliche Kommunikationsprozesse und in Praktiken als Kommunikationen. Institutionen sind Kristallisationen solcher Prozesse, Ordnungen des Wissens mit begrenzter Geltung. Damit ist auch die ‚neue‘ Grundfunktion der Konstruktion von Wissen beschrieben: es geht nicht im Sinne einer Repräsentationsperspektive um die Abbildung von Welt [. . . ]. Die soziale und kommunikative Konstruktion verweist vielmehr auf die Orientierungsleistungen symbolischer Ordnungen für menschliches Handeln in der Welt, die sich gewiss praktisch zu bewähren haben, aber dafür nicht auf den Anspruch wahrer Weltabbildung verwiesen sind (Keller, 2011c, S. 94, Hervorheb. i. O.).

In diesem Sinne charakterisiert Keller die wissenssoziologische Konzeption von Berger und Luckmann nicht als abgeschlossenes Grundlagenprogramm, sondern vielmehr als

[. . .] Entwurf mit zahlreichen Anregungen, Möglichkeiten der Ergänzung und auch der Revision, wie sie in Teilen bereits in den verschiedenen Entwicklungen des interpretativen Paradigmas vorgenommen wurden [. . . ] (Keller, 2011c, S. 48).

Doch die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie nach Berger und Luckmann ist nur eine Theorie- und Forschungsperspektive, die dem interpretativen Paradigma angehört (Keller, 2012). Es gibt weitere und alle haben einen gemeinsamen Nenner:

In den verschiedenen Ansätzen des Interpretativen Paradigmas wird Soziologie als Kulturwissenschaft im Sinne Webers betrieben. Der Begriff des „Interpretativen Paradigmas“ deutet dies in der doppelten Weise an [. . . ]: Menschen sind „von Natur aus Kulturwesen“, sie leben immer und notwendig „kulturell“ und in „Kulturen verstrickt“. Sie deuten (interpretieren) die Welt, in der sie sich bewegen, und die entsprechende Soziologie deutet (interpretiert) ihrerseits ihr Tun (Keller, 2012, S. 5).Footnote 6

Sämtliche Untersuchungen, die innerhalb des interpretativen Paradigmas durchgeführt werden, beruhen also auf derselben Annahme, nämlich derjenigen, die menschliche Fähigkeiten und Notwendigkeiten des Erschließens von Welt durch Deutungen und Handlungen annimmt. Eine empirische Forschung, welche innerhalb des interpretativen Paradigmas stattfindet oder daran anschließt, ist somit zugleich auch immer qualitative Sozialforschung:

Eine Soziologie, die sich [. . . ] für die Situations-Deutungen der handelnden Akteure interessierte, musste auch ihren soziologischen Zugang entsprechend auf die Erfassung der Interpretationsprozesse ausrichten, ja ihr eigenes Tun selbst als Interpretationsvorgang verstehen und methodisch umsetzen. Dafür schienen die etablierten Methoden der quantitativen empirischen Sozialforschung [. . . ] ungeeignet. Stattdessen galt es „qualitative“ oder „interpretative“ Vorgehensweisen zu entwickeln und einzusetzen, die in der Lage waren, die Komplexität der Deutungsprozesse im soziologischen Gegenstandsbereich zugänglich zu machen (Keller, 2012, S. 12).

In diesem Sinne kann das interpretative Paradigma selbst mitunter als „entschiedenes Plädoyer für qualitative Forschungsmethoden“ verstanden und der interpretative oder deutende Prozess, welcher auf das Verständnis von sozialer Interaktion zielt, als dessen Grundintention ausgemacht werden (Keller, 2012, S. 12 ff.). Damit erfolgt ein Anschluss an Webers Definition der Soziologie:

Soziologie [. . . ] soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will (Weber, 1921/1972, S. 1).

Mit dieser berühmten, auch heute noch gebräuchlichen und daher im Rahmen dieser Studie bewusst wiederholten Begriffsbestimmung hat Weber den Gegenstandsbereich der Soziologie umrissen. Er stellt Soziologie als eine „Wirklichkeitswissenschaft“ dar, die es beabsichtigt, Kulturphänomene als in sozialen Prozessen des Handelns und der Strukturierung verankert und damit wiederum als sozial ‚konstruiert‘ zu begreifen. Indem er deutendes Verstehen und ursächliches Erklären einander gegenüberstellt, beschreibt Weber die beiden Richtungen, vielmehr noch grundlegenden Intentionen empirischer Sozialforschung, wobei er mit Ersterem deren qualitatives, mit Letzterem hingegen deren quantitatives Spektrum charakterisiert. Qualitative Sozialforschung und damit Empirie innerhalb des interpretativen Paradigmas möchte Verständnis für den subjektiven Sinn über dessen Rekonstruktion in einem interpretativen oder deutenden Prozess erzeugen (Dimbath, 2011a, S. 34 ff.; Keller, 2012, S. 1 ff.):

Denn für die Positionen des Interpretativen Paradigmas ist Soziologie selbstverständlich und seit etwa 100 Jahren immer Analyse der sozio-kulturellen Sinngebungen, ihrer Stabilisierung und Transformation auf unterschiedlichsten gesellschaftlichen Ebenen, in den verschiedensten situativen, medialen und organisatorischen Kontexten. Doch im Unterschied zu einem Poststrukturalismus [. . . ] arbeiten diese Positionen seit langem an der Erforschung der Gebrauchsweisen von Sinn durch gesellschaftliche Akteure, die mit (kreativen) Handlungsfähigkeiten ausgestattet sind, deren Identitäten lebenslang in sozialen Prozessen konstituiert und verändert werden, und die sich innerhalb von relativ stabilen, relativ flüchtigen Sinnkontexten bewegen, deren Veränderungen durch sie selbst hergestellt werden, ohne dass angenommen wird, dass sie diese Prozesse vollständig intendieren oder kontrollieren (Keller, 2012, S. 8 f.).Footnote 7 Footnote 8

Im deutschen Sprachraum erfährt die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie nach Berger und Luckmann und damit das interpretative Paradigma seit den 1990er Jahren eine Weiterentwicklung in Richtung einer hermeneutischen Wissenssoziologie. Diese umfasst Forschungsperspektiven, die an das Werk Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie sowie insbesondere an deren sozialphänomenologischen Grundlegungen anschließen und eine deutlich empirische beziehungsweise qualitative Orientierung aufweisen (Keller, 2012, S. 231 f.).Footnote 9

4.2 Forschungsstil: Grounded Theory Methodologie

Sowohl die Datenerhebung als auch die Datenauswertung sind im Rahmen dieser Arbeit in Anlehnung an den von Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss in den 1960er Jahren als Gegenbewegung zu der damals vorherrschenden positivistischen oder deduktiven Forschungspraxis begründeten Forschungsstil: Grounded Theory Methodologie erfolgt. Seit ihrer Abfassung ist die Grounded Theory Methodologie quer durch diverse wissenschaftliche Disziplinen zu einem Standardbegriff qualitativer Sozialforschung, ja sogar zu einer der am weitesten verbreiteten Vorgehensweisen des interpretativen Paradigmas geworden; die Arbeit von Glaser und Strauss ist zu einem bedeutenden Klassiker der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik avanciert (Charmaz, 2006; Clarke, 2005; Glaser, & Strauss, 1967/2008; Glaser, & Strauss, 1967/2006; Goulding, 2002; Heiss, 2009, S. 135; Hildenbrand, 2012, S. 40 f.; Legewie, 1996, S.VII; Locke, 2001, S. 1; Lueger, 2009, S. 191; Strübing, 2008, S. 7):Footnote 10

Die Grounded Theory[. . . ] ist ein Verfahren sozialwissenschaftlicher Hermeneutik – der Lehre vom Verstehen, Deuten, Auslegen von Texten und anderen sozialweltlichen Artefakten und Symbolisierungen. Auf der Basis von Erfahrungsdaten aus alltagsweltlichen Kontexten werden [. . . ] theoretische Konzepte und Modellierungen entwickelt und dabei fortwährend rekursiv an die Erfahrungseben zurückgebunden. Die entsprechende Theorie eines sozialen Weltausschnitts bzw. eines Problemthemas wird „gegenstandsbegründet“ herausgearbeitet („grounded“) (Breuer, 2010, S. 39).

Die Grounded Theory Methodologie ist allerdings nicht als Methode, sondern eher als Forschungsstil oder auch Forschungsprogramm zu verstehen. Es handelt sich um eine Methodologie und damit um eine bestimmte Art, analytisch über soziale Phänomene nachzudenken (Legewie, & Schervier-Legewie, 2004, S. 58):

Die Grounded Theory ist eine qualitative Forschungsmethode bzw. Methodologie, die eine systematische Reihe von Verfahren benutzt, um eine induktiv abgeleitete, gegenstandsverankerte Theorie über eine Phänomen zu entwickeln. Die Forschungsergebnisse konstituieren eine theoretische Darstellung der untersuchten Wirklichkeit, anstatt aus einer Anhäufung von Zahlen oder einer Gruppe locker verbundener Themen zu bestehen. Durch diese Methodologie werden die Konzepte und ihre Beziehungen zueinander nicht nur erzeugt, sondern sie werden auch vorläufig getestet [. . . ]. Das Ziel der Grounded Theory ist das Erstellen einer Theorie, die dem untersuchten Gegenstand gerecht wird und ihn erhellt (Strauss, & Corbin, 1996, S. 8 f., Hervorheb. i. O.).

Theoriegenerierung begreifen Glaser und Strauss als einen fortlaufenden Prozess. Eine wesentliche Strategie zur Entdeckung von gegenstandsverankerter Theorie besteht für die beiden Begründer der Methodologie in der komparativen Analyse. Des Weiteren sprechen sie sich verstärkt für den flexiblen Gebrauch von Daten aus (Glaser, & Strauss, 1967/2008, S,11 ff.).

Datenerhebung, Datenauswertung und gegenstandsverankerte Theorie stehen in einer wechselseitigen Beziehung. Induktiv geht eine gegenstandsverankerte Theorie aus der Untersuchung des Phänomens hervor, das sie abbildet. Durch systematisches Erheben und Auswerten von Daten, die sich auf eben dieses Phänomen beziehen, wird die gegenstandsverankerte Theorie entdeckt, ausgearbeitet und vorläufig bestätigt. Zu Beginn von Untersuchungen, die in Anlehnung an die Grounded Theory Methodologie erfolgen, liegen weder Theorie noch Hypothesen vor, die bewiesen werden sollen; am Anfang steht nur ein Untersuchungsbereich. Was in diesem Untersuchungsbereich von Interesse ist, kristallisiert sich erst im Lauf des Forschungsprozesses heraus (Glaser, & Strauss, 1967/2008, S. 12 ff.; Strauss, & Corbin, 1996, S. 7 ff.). Aus diesem Grund fordert die Grounded Theory Methodologie von den sich an ihr orientierenden Forschern auch die Fähigkeit sowie Bereitschaft zur Reflexion und Selbstreflexion:

Jeder von uns bringt Verzerrungen, Vorannahmen, Denkmuster und Wissen aufgrund von Erfahrung und Literaturstudium in die Datenanalyse ein. Diese können unsere Sicht dessen, was in den Daten bedeutsam ist, blockieren oder und daran hindern, von deskriptiven zu theoretischen Ebenen der Analyse fortzuschreiten (Strauss, & Corbin, 1996, S. 73)

Strauss erwartet neben einem reflektierten wie selbstreflektierten Umgang des Forschers mit seinem Kontextwissen eine „theoretische Sensitivität“ (Strauss, 1998, S. 36 f.):

Eine Gespür dafür, wie man über Daten in theoretischen Begriffen nachdenkt (Strauss, 1998, S. 50).

„Theoretische Sensitivität“ oder auch „theoretische Sensibilität“ wird beschrieben als die Fähigkeit des Forschers,

[. . . ] zu erkennen, was in den Daten wichtig ist, und dem einen Sinn zu geben (Strauss, & Corbin, 1996, S. 30).

Einfälle und Einsichten des Forschers markieren die Hauptquelle jedweder bedeutsamen gegenstandsbegründeten Theorieentwicklung:

Wie jeder weiß, können diese sich morgens oder nachts, plötzlich oder langsam dämmernd, während der Arbeit oder beim Spiel (selbst während des Schlafs) einstellen; des Weiteren können sie unmittelbar aus (eigener oder anderer) Theorie herrühren oder sich unabhängig von ihr ergeben; und sie können den Beobachter überfallen, während es seine eigenen Reaktionen oder das Handeln anderer beobachtet (Glaser, & Strauss, 1998, S. 255).

Wegen fundamentaler sozialtheoretischer und erkenntnislogischer Differenzen haben Glaser und Strauss ab den 1990er Jahren die gemeinsam begründete Grounded Theory Methodologie fortan divergent weiterentwickelt:

Sukzessive sind so aus dem von Glaser und Strauss 1967 gemeinsam unterbreiteten Vorschlag zur Grounded Theory zwei in wichtigen Punkten gravierend voneinander verschiedene Verfahrensvorschläge auf der Basis weit gehend divergenter methodologischer und sozialtheoretischer Positionen entstanden (Strübing, 2008, S. 65).

Ohne diese bedeutende Divergenz der Grounded Theory Methodologie im Rahmen dieser Forschungsarbeit detailliert thematisieren zu können, sei erwähnt, dass Strauss eine eher pragmatistisch-interaktionistische Variante vertritt, Glaser hingegen einer kritisch-rationalistischen Orientierung folgt:

Vor diesem divergenten Hintergrund basiert das Discovery-Buch im Grund auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner der beiden Autoren, ihrer pointierten und wohlbegründeten Kritik an einer positivistisch-funktionalistischen, an den Kriterien objektiver Wissenschaften orientierten Sozialforschung (Strübing, 2008, S. 68, Hervorheb. i. O.)

Unter Einbezug der von Glaser und Strauss gemeinsam begründeten Grounded Theory Methodologie, lehnt sich diese Forschungsarbeit an die Variante von Strauss an. In einem Interview hat er drei Punkte als konstitutiv für seinen Forschungsstil der Grounded Theory Methodologie zusammengefasst: Erstens die Art des Codierens oder deren Codierparadigma, zweitens die theoriegeleitete Materialsuche sowie drittens das Anstellen von Vergleichen (Legewie, & Schervier-Legewie, 2004, S. 59).

Ein Forschungsprozess, der sich an der Grounded Theory Methodologie orientiert, weist einen iterativ-zyklischen Charakter auf, bei dem sich die Phasen der Erhebung und Auswertung der Daten überschneiden. Dieser Charakter steht mit dem hermeneutischen Zirkel, einem Grundkonzept sozialwissenschaftlicher Hermeneutik, in Einklang:

Erkenntnis vollzieht sich in einem Kreisprozess zwischen Vor-/Verständnis und (den Präkonzepten) des Erkenntnissubjekts einerseits und den Phänomenen (Ereignissen, Handlugen, empirischen Daten), mit denen das Subjekt in seinem Aufmerksamkeitsfeld konfrontiert wird, andererseits. Bei mehrmaligem Durchlaufen dieses Zirkels ergibt sich eine spiralförmige Erkenntnisbewegung (Breuer, 2010, S. 48).

Der iterativ-zyklische Charakter der Grounded Theory Methodologie korrespondiert mit der Idee der Spiralförmigkeit von Erkenntnisgewinnung, wie sie der hermeneutische Zirkel zum Ausdruck bringt (Breuer, 2010, S. 55; Strauss, 1998, S. 45 ff.).

So ist auch diese Forschungsarbeit in Anlehnung an den Forschungsstil der Grounded Theory Methodologie entstanden und hat sich damit in Form einer Spirale vollzogen. Einzelne Windungen dieser Spirale, die in methodischer Hinsicht im Kontext von Datenerhebung und Datenauswertung durchlaufen wurden behandelt dieses Kapitel.

Die den Forschungsstil der Grounded Theory Methodologie konstituierenden Konzepte „theoriegeleitete Materialsuche“, „Codieren“ und „komparative Analyse“ kamen für diese Studie jedoch nicht ausnahmslos zum Tragen. Zwar prägten die beiden zuletzt genannten Konzepte die Datenauswertung maßgeblich, doch die Datenerhebung konnte aus ressourcenökonomischen und zugangsstrategischen Gründen nicht in Gestalt einer theoriegeleiteten Materialsuche nach der Grounded Theory Methodologie realisiert werden. Da der Erkenntniszugang nicht über das Konzept der „theoriegeleiteten Materialsuche“ erfolgte, ist im Rahmen dieser Arbeit auch die Rede von Forschung „in Anlehnung an die“ oder aber „in Orientierung an der“ Grounded Theory Methodologie. Jedoch wurde über den gesamten Forschungsprozess hinweg und damit gemäß dem Forschungsstil mit Memos im Sinne schriftlicher Analyseprotokolle zur Ausarbeitung der Theorie gearbeitet (Strauss, & Corbin, 1996, S. 169):

Memos enthalten die Ergebnisse des tatsächlichen Kodierens einschließlich theoretisch sensibilisierender und zusammenfassender Notizen. Sie geben darüber hinaus eine Richtung für die weitere Datenerhebung vor (Strauss, & Corbin, 1996, S. 192).

Memos sind ebenso wie auch Diagramme, mit denen allerdings nicht gearbeitet wurde, Verfahren, denen wesentliche Bedeutung in der Forschungsarbeit zukam. Über Memos wurde der gesamte Forschungsprozess detailliert protokolliert (Strauss, & Corbin, 1996, S. 192). Kathy Charmaz (2006) fasst die essentielle Bedeutung von Memos im Rahmen der Grounded Theory Methodologie wie folgt zusammen:

Memo-writing is the pivotal intermediate step between data collection and writing drafts of papers. When you write memos, you stop and analyze your ideas about the codes in any- and every-way that occurs to you during the moment [. . . ]. Memo-writing constitutes a crucial method in grounded theory because it prompts you to analyze your data and codes early in the research process. [. . . ]. Memos catch your thoughts, capture the comparisons and connections you make, and crystallize questions and directions for you to pursue. Through conversing with yourself while memo-writing, new ideas and insights arise during the act of writing. Putting things down on paper makes the work concrete and manageable – and exciting. Once you have written a memo, you can use it now or store it for later retrieval. In short, memo-writing provides a space to become actively engaged in your materials, to develop your ideas, and to fine-tune your subsequent data-gathering (Charmaz, 2006, S. 72).Footnote 11

4.3 Exkurs: Expertenwissen

Ein nächster Schritt, den diese Forschungsarbeit tun muss, besteht in einem Übergang von der soeben erfolgten Thematisierung ihrer grundlegenden Methodologie zu einer konkreten Darlegung der in der empirischen Untersuchung angewandten Methodik. Vorab ist jedoch ein weiterer, vergleichsweise kurzer, jedoch nicht minderbedeutender Exkurs: Expertenwissen vonnöten. Dieser knüpft an den Forschungsgegenstand der organisationalen Wissensgenese mit Social-Media-Analysen und Wissensverwendung beziehungsweise an dessen Operationalisierung und damit an das empirisch untersuchte Praktikerwissen an; dieses wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit oder vielmehr in dem Unternehmen, auf die sich diese bezieht, mit Expertenwissen gleichgesetzt. Der Exkurs zeichnet es aus einer wissenssoziologischen Perspektive nach und ergänzt diese Forschungsarbeit damit um einen ebensolchen Expertenbegriff. Somit erfolgt der unabdingbare Brückenschlag zwischen der auf dem Sozialkonstruktivismus beruhenden methodologischen Grundlage der Grounded Theory Methodologie und der in ihrem Rahmen zur Anwendung gebrachten Variante der Datenerhebung, den im Anschluss an diesen Exkurs noch näher zu betrachtenden Experteninterviews.

Eine wissenssoziologische Auseinandersetzung mit dem Expertenbegriff findet sich im Sammelband Expertenwissen. Die institutionalisierte Kompetenz zur Konstruktion von Wirklichkeit von Ronald Hitzler, Anne Honer und Christoph Maeder (1994):

‚Experte‘ wird [. . .] im wesentlichen als eine soziale Etikettierung begriffen, die – von wem auch immer – aufgrund spezieller Kompetenzansprüche und/oder Kompetenzunterstellungen vorgenommen wird. Ansprüche wie Unterstellungen verweisen auf – wie auch immer aus- und nachgewiesene – besondere Wissensbestände. Expertenwissen, als Sammelbegriff dieser Wissensbestände, bezeichnet somit – grosso modo – das Wissen, über das zu verfügen jemand glaubhaft zu machen versteht, der jemandem anderen gegenüber als Experte gilt (Hitzler, Honer, & Maeder, 1994, S. 6, Hervorheb. i. O.).

Konkret fragen die einzelnen Beiträge des genannten Sammelbands zum einen nach der sozialen ‚Konstruktion‘ von Experten und zum anderen nach der ‚Konstruktion‘ von ‚Wirklichkeit‘ durch Experten. Gegenüberstellungen von Experten mit Professionellen und Spezialisten werden ebenso angestellt wie herausgearbeitet wird, wovon Experten abzugrenzen sind. Somit nehmen die Autoren eine wissenssoziologische Perspektive ein und thematisieren die bedeutenden Merkmale von Expertenwissen und Expertenschaft (Hitzler, Honer, & Maeder, 1994, S. 6).

Eine zusammenfassende Definition von Hitzler (1994) scheint geeignet, um den benötigten wissenssoziologischen Expertenbegriff in dieser Arbeit einzuführen:

Wenn man naiv fragt, warum denn jemand als ‚Experte‘ angesehen wird, dann stößt man auf Qualitäten wie: große Erfahrung haben, sich auskennen, die Welt kennen, etwas Besonderes hinter sich haben, Risiken eingegangen sein, Zusammenhänge verstehen, etwas ‚übersetzen‘ können, besondere, in seinen Dimensionen ‚von außen‘ unabsehbare Fähigkeiten haben, immer aber läuft es darauf hinaus, daß man dem, der einem als Experte gilt, attestiert, mehr und anderes zu wissen (und zu können) als man selber weiß (und kann), ja als man selber überhaupt noch kompetent verorten und einordnen kann. Als Experte gelten folglich (vorzugsweise) solche Akteure, die über relative Produktions- und Deutungsmonopole (bzw. -oligopole) für Expertisen verfügen. D. h. Experten glauben an und/oder bekunden die Existenz von ihnen gewußter objektiver Kriterien des Erstellens und des Beurteilens von Expertisen (Hitzler, 1994, S. 26f., Hervorheb. i. O.).

Weiter empfiehlt Hitzler jedoch, zu fragen, aufgrund welcher Merkmale einer Person Expertenschaft zugesprochen wird. Selbst fasst er diese als die Inszenierungsleistungen von Experten zusammen:

Dann erscheint der Experte eben nicht als jemand, der besondere Kompetenzen hat, sondern als jemand, der es versteht, sozial zu plausibilisieren, daß er über besondere Kompetenzen verfügt. Expertenwissen wäre demnach vor allem das Wissen, wie man sich als Experte, und mithin als ‚unterweisungsbefugt‘ für ein Wissensgebiet, darstellt – und wie man Weisungsansprüche anderer auf diesem Gebiet erfolgreich zurückweist. Dramatologisch gesehen ist der Experte also der Prototyp des als ‚kompetent‘ und ‚legitimiert‘ – wofür auch immer – anerkannten Akteurs. Kompetenz – wofür auch immer – ist dabei zu verstehen als eine soziale Zuschreibung aufgrund wahrgenommener bzw. wahrnehmbarer Verhaltensmerkmale und unterstellter Eigenschaften. [. . . ] Nun heißt zwar ‚kompetent-sein-für-etwas‘ nicht notwendig auch ‚befugt-sein-zu-etwas‘ (und umgekehrt), aber Kompetenz und Legitimation korrelieren typischerweise durchaus miteinander [. . . ]. Kompetenz und Legitimation für etwas zugeschrieben zu bekommen, ist in der Regel also hochrelevant für die Positionierung des Akteurs im sozialen Raum (Hitzler, 1994, S. 27, Hervorheb. i. O.).

In Anlehnung an Hitzler beziehungsweise Hitzler, Honer und Maeder sind Experten aus wissenssoziologischer Perspektive zunächst also als soziales ‚Konstrukt‘ zu begreifen. Als solches zeichnen sie sich ferner dadurch aus, dass sie über ein besonderes oder auch über ein Mehr an Wissen im Vergleich zu Nicht-Experten verfügen beziehungsweise es durch entsprechende Inszenierungsleistung verstehen, den Anschein zu erwecken, als würden sie dies tun. Wegen dieser sozialkonstruktivistischen Perspektive, aus der hier Expertenschaft und Expertenwissen betrachtet werden, rekurriert auch die vorliegende Arbeit auf eben diesen wissenssoziologischen Expertenbegriff; insbesondere bei der Anwendung von Experteninterviews zur Datenerhebung.

Im Kontext der im weiteren Verlauf dieser Forschungsarbeit noch näher dargestellten Praxis von Social-Media-Analysen des deutschen Automobilherstellers und somit auch innerhalb des betrachteten Unternehmens gelten Praktiker von Social-Media-Analysen meist zugleich als Experten für die von ihnen angewandten Verfahren. Praktiker von Social-Media-Analysen werden somit sozial als oder zu Experten für diese Methode ‚konstruiert‘. Eine Unterscheidung von Praktikern und Experten findet weder begrifflich statt noch erfolgt diese anderweitig inhaltlich. Im wissenssoziologischen Verständnis nach Hitzler spricht daher der deutsche Automobilhersteller, dem das für diese Arbeit untersuchte Datenmaterial entstammt, den eigenen, internen Praktikern der Verfahren einen Expertenstatus für Social-Media-Analysen zu.Footnote 12

4.4 Datenerhebung

In Bezug auf die durchgeführte Datenerhebung, aus welcher das im Rahmen dieser Forschungsarbeit untersuchte Datenmaterial hervorgegangen ist, werden im Folgenden die wesentlichen Aspekte betrachtet, die diese geprägt haben. Zunächst wird die angewandte sozialwissenschaftliche Methode der Experteninterviews beleuchtet, um im Anschluss daran deren praktische Umsetzung darzulegen. In diesem Sinne richtet sich der Blick auf das entwickelte und auch genutzte Erhebungsinstrument. Im Anschluss daran ist der gewählte Erhebungszeitraum Gegenstand der Betrachtung. Das Ende des Abschnitts markiert ein Bericht über den Feldzugang und die Fallauswahl.

Wie schon erwähnt, orientiert sich die Datenerhebung der hier vorliegenden Arbeit am Forschungsstil der Grounded Theory Methodologie. Zwar erfolgte die Materialsuche nicht theoriegeleitet bis hin zu einer theoretischen Sättigung, doch die zu befragten praktischen Anwender wurden in Anlehnung an die beiden Verfahren maximaler und minimaler Kontrastierung ausgewählt. Dadurch konnte trotzdem eine komparative Untersuchung realisiert werden. Wie bei Studien, die gemäß der Grounded Theory Methodologie durchgeführt werden, üblich, wurden Entscheidungen in Bezug auf die konkrete Stichprobenkonfiguration prozessbegleitend, also konsekutiv, in Abhängigkeit von Erkenntnisstand und Theorieentwicklung getroffen (Breuer, 2010, S. 58).

Einer vertieften Thematisierung der methodischen Umsetzung der Datenerhebung geht eine Erläuterung der wesentlichen, in deren Kontext relevanten Konstitutionsmerkmale der Grounded Theory Methodologie voran, die jedoch nur teilweise Anwendung fanden. Dabei handelt es sich zum einen um den, in dieser Forschungsarbeit nicht realisierten Prozess der theoriegeleiteten Materialsuche und den damit verbundenen Aspekt der theoretischen Sättigung, dem aber dennoch Bedeutung zukam, wenn auch vor allem bei der Datenauswertung; zum anderen werden die Prinzipien „maximale Kontrastierung“ und „minimaler Kontrastierung“ im Zuge einer komparativen Analyse angesprochen.

Wie bereits angeführt, ist es eine auf Wechselseitigkeit beruhende Beziehung, in der sich die Datenerhebung und Datenauswertung sowie die gegenstandsverankerte Theorie befinden. Im Forschungsprozess der Grounded Theory Methodologie, der einen iterativ-zyklischen Charakter aufweist, gehen die Phasen der Erhebung und Auswertung von Daten ineinander über:

Zum größten Teil muß theoretisches Sampling gut durchdacht werden: eher geplant als zufällig, aber immer mit einem gewissen Maß an Flexibilität. Starrheit beim Sampling behindert die Theorieentwicklung, die letztlich das Hauptziel der Grounded Theory darstellt. Sampling und Analyse müssen aufeinander folgen, wobei die Analyse die Datensammlung leitet. Ansonsten verletzt der Forscher eine der grundlegenden Kriterien der Grounded Theory: Sampling auf der Basis der sich entwickelnden theoretischen Relevanz der Konzepte (Strauss, & Corbin, 1996, S. 150, Hervorheb. i. O.).

Sämtliche Verfahren der Grounded Theory Methodologie zielen darauf ab, Konzepte zu identifizieren, zu entwickeln und in Beziehung zu setzen. In diesem Sinne werden Daten erhoben,

[. . . ] die eine bestätigte theoretische Relevanz für die sich entwickelnde Theorie besitzen (Strauss, & Corbin, 1996, S. 149).

Bezeichnet wird dieser Selektionsprozess als „theoriegeleitete Materialsuche“ oder auch „Theoretical Sampling“. Bestimmte Daten oder eben Konzepte werden als bedeutsam erachtet, da diese erstens im Vergleich einzelner Fälle wiederholt auftauchen oder aber offenkundig fehlen und zweitens da diesen anhand der Codierverfahren der Status von Kategorien zugewiesen wird. Mit einer theoriegeleiteten Materialsuche wird die Absicht verfolgt, Vorkommnisse, Ereignisse, Handlungen et cetera auszusuchen, die im Sinne von theoretisch relevanten Konzepten Indikatoren für Kategorien sowie für deren Eigenschaften und Dimensionen sind. Danach werden einzelne Kategorien dann anhand der erhobenen Daten entwickelt und konzeptuell in Beziehung gesetzt (Strauss, 1998, S. 49; Strauss, & Corbin, 1996, S. 149).

Die Datenerhebung rekurriert in Orientierung an der Grounded Theory Methodologie auf Vergleiche, was wiederum darauf zielt, Kategorien auszuarbeiten. Barney Glaser und Anselm Strauss haben die Grounded Theory Methodologie als

[. . . ] Methode des ständigen Vergleichens in der qualitativen Analyse (Glaser, & Strauss, 1967/2008, S. 107)

konzipiert. Komparation findet im Rahmen der Grounded Theory Methodologie jedoch nicht erst im Zuge der Datenauswertung statt, sondern prägt bereits maßgeblich die Phase der Datenerhebung. Im Rahmen der theoriegeleiteten Materialsuche werden zu untersuchende Vergleichsgruppen ausgewählt. Da die Möglichkeiten des Vergleichs gewissermaßen unbegrenzt sind, erfolgt deren Auswahl anhand theoretischer Kriterien (Glaser, & Strauss, 1967/2008, S. 55):

Das Basiskriterium, welches die Auswahl von Vergleichsgruppen zur Entdeckung von Theorie bestimmt, ist deren theoretische Relevanz für die Ausarbeitung emergenter Kategorie. Der Forscher wählt so viele Gruppen, wie ihr Vergleich ihm dabei hilft, möglichst viele Eigenschaften von Kategorien zu generieren und diese aufeinander zu beziehen. Das heißt also, [. . . ] dass Gruppenvergleiche von den Konzepten abhängen; man führt sie durch, indem man verschiedene oder ähnliche empirische Sachverhalte, die dieselben konzeptuellen Kategorien und Eigenschaften anzeigen, miteinander vergleicht [. . . ]. Die komparative Analyse nutzt dabei den Vorteil der wechselseitigen Austauschbarkeit von Indikatoren aus; d. h. ein Indikator kann durchaus mehrere Kategorien und Eigenschaften anzeigen (Glaser, & Strauss, 1967/2008, S. 57, Hervorheb. i. O.).

Anhand von Vergleichsgruppen können Unterschiede und Ähnlichkeiten der für die analysierten Kategorien relevanten Daten maximiert oder auch minimiert werden. Für die Entdeckung von Kategorien ist eine derartige Überprüfung der Ähnlichkeiten und Unterschiede ebenso unabdingbar wie für die Entwicklung und Relationierung ihrer theoretischen Eigenschaften (Glaser, & Strauss, 1967/2008, S. 63):

Mittels der Maximierung oder Minimierung von Differenzen zwischen Vergleichsgruppen kann der Soziologe die theoretische Relevanz seiner Datenerhebung kontrollieren. So viele Unterschiede und Ähnlichkeiten der Daten wie möglich zu vergleichen [. . . ], zwingt den Forscher bei seinem Versuch, die Daten zu verstehen, tendenziell dazu, Kategorien, ihre Eigenschaften und ihre Beziehungen zueinander zu entfalten [. . . ] (Glaser, & Strauss, 1967/2008, S. 63).

Daher kamen auch innerhalb dieser Arbeit die Verfahren der maximalen und minimalen Kontrastierung zum Einsatz; dies jedoch vor allem im Kontext der Datenauswertung, da aus forschungsökonomischen und -strategischen Gründe im Zuge der Datenerhebung eine Realisierung nicht möglich war (Glaser, & Strauss, 1967/2008, S. 53 ff.).

Wie bereits gezeigt, begreift die Grounded Theory Methodologie empirische Daten als Ausgangspunkt von Forschung und Theoriegenerierung und nicht als Bezugspunkt empirischer Prüfung:

Damit wird das in der quantitativen Empirie übliche Verfahren, nämlich die aus den Fragestellungen abgeleiteten Hypothesen zu testen, gleichsam umgedreht: Theorie steht nicht am Beginn, sondern am Ende der Forschung (Lueger, 2009, S. 194).

Eine Erhebung möglichst unterschiedlicher Phänomene stellt sicher, dass diese in ihrer ganzen Vielfalt, atypische Fälle eingeschlossen, in den erhobenen Daten repräsentiert sind. Datenerhebung gemäß der Grounded Theory Methodologie gestaltet sich maximal flexibel und ist von großer Offenheit geprägt (Glaser, & Strauss, 1967/2008, S. 53ff; Heiss, 2009, S. 139; Strauss, & Corbin, 1996, S. 149 ff.):

In der Grounded Theory sampelt man Ereignisse und Vorfälle, die Indikatoren für theoretisch relevante Konzepte sind. Personen, Orte und Dokumente stellen lediglich die Mittel dar, diese Daten zu erhalten. Sampling-Verfahren unterscheiden sich entsprechend den Typen des Kodierens, mit denen man es zu tun hat. [. . . ] Das Sampling wird solange fortgesetzt, bis eine theoretische Sättigung der Kategorien erreicht ist (Strauss, & Corbien, 1996, S. 164 f.).

Die theoretische Sättigung gilt im Kontext der Grounded Theory Methodologie als das Kriterium, anhand dessen beurteilt wird, ob eine Datenerhebung abgeschlossen werden kann. Eine theoretische Sättigung liegt vor, wenn sich keine zusätzlichen Daten mehr finden, aus denen weitere Aspekte der sich entwickelnden Theorie abgeleitet werden können, oder aber eine ergänzende Auswertung der Daten nicht mehr dazu beiträgt, dass noch etwas Neues an einer Kategorie aufgetan wird. Aufgrund des iterativ-zyklischen Charakters der Grounded Theory Methodologie überschneiden sich die Datenerhebung und die Datenauswertung; beide Phasen finden teilweise auch parallel statt. Diese Vorgehensweise macht das Erreichen einer theoretischen Sättigung möglich (Glaser, & Strauss, 1967/2008, S. 68 ff.; Strauss, 1998, S. 49 ff.):

Theoretisches Sampling gibt der Forschung also kontinuierlich die Richtung vor, gibt dem Soziologen Schwung. [. . . ] Der Soziologe wird merken, dass theoretisches Sampling als eine aktive, absichtsvolle Methode der Datenerhebung aufregend und belebend ist. Dieser Punkt ist besonders wichtig, wenn man sich die langweilenden, abstumpfenden und entblödenden Effekte derjenigen Methoden vor Augen führt, die, wie in deskriptiven und verifikatorischen Studien häufig der Fall, Datenerhebung, -kodierung und -analyse routinieren und voneinander trennen. Konventionelle Feldforschung ist zwar auch aufregende Arbeit, aber wie wir ausgeführt haben, fehlt ihr ein weitergehendes Engagement für die Entdeckung von Theorie, so wie es die von theoretischem Sampling geleitete Forschung aufbringt (Glaser, & Strauss, 1967/2008, S. 83).

4.4.1 Experteninterviews

Um Praktikerwissen in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand zu gewinnen, kamen als Erhebungsinstrument offene, leitfadengestützte Experteninterviews zur Anwendung. Was unter dieser Methode der Datenerhebung verstanden wird, warum diese Technik als für die vorliegende Arbeit geeignet scheint und wie deren praktische Umsetzung innerhalb der Studie erfolgte, wird im Folgenden skizziert. Alexander Bogner, Beate Littig und Wolfgang Menz (2014) greifen in ihrem Lehrbuch Interviews mit Experten. Eine praxisorientierte Einführung die bis dahin vor allem von Michael Meuser und Ulrike Nagel (2006, 2005) sowie von Jochen Gläser und Grit Laudel (2010) geführte Diskussion auf und führen sie weiter. Das nun thematisierte Verständnis der Methode der Experteninterviews hat deren Durchführung im Rahmen dieser Arbeit maßgeblich geprägt.

Experteninterviews erscheinen in der sozialwissenschaftlichen Methodenliteratur nach wie vor als unübersichtliches Feld und gelten nicht selten als

[. . . ] hemdsärmelig angewandte Instrumente zur schlichten Informationsgewinnung vom Typ ‚Quick and Dirty‘ (Bogner, Littig, & Menz, 2014, S. 2).

In dieser Perspektive erscheinen sie als pragmatisches Erhebungsverfahren, für das man sich insbesondere aus forschungsökonomischen Gründen entscheidet. Leitfadenbasierte Experteninterviews werden von zahlreichen Vertretern qualitativer Methoden zudem oft als zu standardisiertes Verfahren eingestuft. Unter den Begriff „Experteninterview“ wird Einiges subsumiert. Wegen der Heterogenität von Experteninterviews können lediglich zwei Punkte als gesetzt angesehen werden. Zum einen:

Das Experteninterview gibt es nicht (Bogner, Littig, & Menz, 2014, S. 3, Hervorheb. i. O.).

Zum anderen ist die Debatte um die Methode ausschließlich im qualitativen Paradigma angesiedelt (Bogner, Littig, & Menz, 2014, S. 3).

In den sozialwissenschaftlichen Fokus geraten Experten in erster Linie als Objekte empirischer Forschung:

Experten werden nicht nur als abstrakte Funktionsinhaber und Träger bestimmter Herrschaftsstrukturen betrachtet, sondern als konkrete soziale Akteure mit spezifischen Handlungs- und Professionslogiken (Bogner, Littig, & Menz, 2014, S. 4, Hervorheb. i. O.).

Im Allgemeinen ist daher die Situation um Experten und deren Wissen als paradox einzustufen: Einerseits nimmt die Bedeutung von Expertenwissen zu, andererseits wird der Status der Experten relativiert:

Man darf annehmen, dass die gesteigerte Bedeutung der Methode des Experteninterviews mit dieser nachhaltigen Entmystifizierung des Experten zusammenhängt. Zu einem Zeitpunkt, an dem die „natürliche“ Autorität der Experten immer stärker untergraben wird, werden Experten als Gegenstand der empirischen Forschung zunehmend wichtiger – und damit auch das Experteninterview (Bogner, Littig, & Menz, 2014, S. 4).

Die im deutschsprachigen Raum geführte Debatte zum Thema „Experteninterview“ weist eine wissenssoziologische Prägung auf. Damit verbunden ist eine tiefgehende Reflexion bezüglich des Status der durch Interviews generierten Daten:

Ob Äußerungen des Experten als Tatsache oder als subjektive Deutung verstanden werden, hängt vom Standpunkt des Interpreten ab und bezeichnet keine Eigenschaft des Expertenwissens. Man sieht: Aus dieser Tradition ergibt sich eine große Nähe zu konstruktivistischen Auffassungen über das Verhältnis von Wissen und sozialer Wirklichkeit (Bogner, Littig, & Menz, 2014, S. 6).

Laut Bogner, Littig und Menz macht erst der Umweg über die Wissenssoziologie deutlich, worin das eigentliche Erkenntnisinteresse besteht, wenn Experteninterviews zum Zweck der Theorieentwicklung und jenseits der bloßen Informationsbeschaffung eingesetzt werden. Der wissenssoziologische Zugang baue auf das Alltagsverständnis des Experten auf und nehme zugleich wichtige Präzisierungen vor:

In der Methodendebatte zum Experteninterview haben verschiedene Autoren darauf aufmerksam gemacht, dass der Experte – wenigstens bis zu einem gewissen Grad – das Konstrukt unseres Forschungsinteresses ist [. . . ]. Das heißt: Experte-Sein ist keine personale Eigenschaft oder Fähigkeit, sondern eine Zuschreibung. Diese Zuschreibung findet in der Praxis statt, wenn wir aufgrund unseres spezifischen Forschungsinteresses bestimmte Menschen mittels unserer Interviewfragen als Experten adressieren (Bogner, Littig, & Menz, 2014, S. 11).

Dabei werde ferner immer auch auf soziale Konventionen rekurriert. Gemeinhin gelten als Experten Personen, die in herausgehobenen sozialen Positionen sowie in Kontexten handeln, die sie als Experten kenntlich machen. Aus diesem Grund werden Experten zur Funktionselite gezählt. Zur Vermeidung der Gefahr eines unkritischen Verlassens auf geltende Konventionen, spezifizieren Bogner, Littig und Menz:

Wer der gesuchte Experte ist, definiert sich immer über das spezifische Forschungsinteresse und die soziale Repräsentativität des Experten gleichzeitig – der Experte ist ein Konstrukt des Forschers und der Gesellschaft (Bogner, Littig, & Menz, 2014, S. 11, Hervorheb. i. O.).

In der hier vorliegenden Studie werden, mitunter aufgrund der Etikettierung interner Praktiker von Social-Media-Analysen als Experten für diese Verfahren von Seiten des Unternehmens der Automobilindustrie, in welchem das Datenmaterial erhoben wurde, diejenigen praktischen Anwender als Experten betrachtet und befragt, die sich schon mit Social-Media-Analysen beschäftigt haben und daher über ein Praktikerwissen oder ein Mehr an Wissen zu diesen Verfahren verfügen als dies andere tun, die sich bislang noch nicht damit befasst haben. Die Auseinandersetzung der Praktiker mit Social-Media-Analysen ist dabei ebenso wie deren Anwendung der Verfahren in dem Unternehmen erfolgt, das diese Arbeit gefördert und den Feldzugang zu einer unternehmensinternen Datenerhebung eröffnet hat. Begreift man den deutschen Automobilhersteller, dem in dieser Studie eine Schlüsselrolle zukommt, im sozialwissenschaftlichen Verständnis als eine Organisation, so sind die dem Unternehmen angehörenden Praktiker, die sich bereits mit Social-Media-Analysen beschäftigt oder die Verfahren eingesetzt haben, als Experten für die Methode innerhalb der Organisation zu verstehen; das gilt zumindest gemäß der sozialen ‚Konstruktion‘ von Seiten des betrachteten Automobilherstellers.

Im Rahmen ihrer Diskussion der Besonderheit von Expertenwissen, in die sie mitunter den Machtaspekt des Expertentums mit einfließen lassen, begründen Bogner, Littig und Menz die Durchführung von Experteninterviews so:

Wir interviewen Experten nicht allein deshalb, weil sie über ein bestimmtes Wissen verfügen. Von Interesse ist dieses Wissen vielmehr sofern es in besonderem Ausmaß praxiswirksam wird. Wir befragen Experten, weil ihre Handlungsorientierungen, ihr Wissen und ihre Einschätzungen die Handlungsbedingungen anderer Akteure in entscheidender Weise (mit-)strukturieren. Das Expertenwissen, mit anderen Worten, erhält seine Bedeutung über seine soziale Wirkmächtigkeit (Bogner, Littig, & Menz, 2014, S. 13, Hervorheb. i. O.).

Aufbauend auf dieser Überlegung wird ein Experte folgendermaßen definiert:

Experten lassen sich als Personen verstehen, die sich – ausgehend von einem spezifischen Praxis- oder Erfahrungswissen, das sich auf einen klar begrenzbaren Problemkreis bezieht – die Möglichkeit geschaffen haben, mit ihren Deutungen das konkrete Handlungsfeld sinnhaft und handlungsleitend für Andere zu strukturieren (Bogner, Littig, & Menz, 2014, S. 13, Hervorheb. i. O.).

Für sozialwissenschaftliche Untersuchungen sind Experten demnach relevant,

[. . . ] weil sie in einer sozialen oder organisationalen Position stehen, in der sie ihr Wissen und ihre Deutungen für einen breiteren sozialen Kontext relevant oder prägend machen können (Bogner, Littig, & Menz, 2014, S. 17).

In Anlehnung an die zuvor angeführten Definitionen werden also die für diese Arbeit Befragten, welche in dem in dieser Untersuchung eine Schlüsselrolle einnehmenden Unternehmen bereits mit den Verfahren der Social-Media-Analysen gearbeitet haben, als Praktiker von Social-Media-Analysen und damit eben, wie dargelegt, als Experten für diese Verfahren betrachtet. Dieser Ansicht liegt zudem die Annahme zugrunde, dass die praktischen Anwender mit ihrem Praktikerwissen über Social-Media-Analysen und damit zugleich mit ihren subjektiven Deutungen und Interpretationen der Verfahren dazu in der Lage sind, die unternehmensinterne Diskussion in Bezug auf Social-Media-Analysen zu prägen. Es sei hier angemerkt, dass eine Strukturierung des Handlungsfelds für andere auch in negativem Sinne beziehungsweise über die Darstellung negativer Erfahrungen geschehen kann.

Werden für eine empirische Untersuchung Experteninterviews als Erhebungsinstrument genutzt, gilt es anfangs zu klären, welches Wissen überhaupt von Interesse ist. Bogner, Littig und Menz nennen drei Wissensarten: Technisches Wissen, Prozesswissen und Deutungswissen. Technisches Wissen verstehen sie als ein solches Wissen, von dem angenommen wird, es sei objektiv, wie zum Beispiel Daten, Fakten und Tatsachen. Der Experte wird hier als ein Überbringer von Informationen konzeptualisiert. Als Stärke von Experteninterviews gilt nicht die Erhebung von technischem Wissen, sondern die Nutzung dieser Experteninterviews als Abkürzungsstrategie, beispielsweise wegen der Unzugänglichkeit benötigter Informationen. Prozesswissen wird als eine Form von Erfahrungswissen dargestellt. Es meint zum Beispiel die Einsicht in Handlungsabläufe, Interaktionen, Organisationskonstellationen und Ereignisse, in die der Experte involviert war oder ist. Das Expertenwissen beruht in diesem Verständnis auf einer persönlichen Nähe zu Ereignissen oder auf Erfahrungen. Dies wiederum bedeutet für Bogner, Littig und Menz auch, dass Prozesswissen deutlich gebundener an Standorte und Personen ist als technisches Wissen. Bei Deutungswissen geht es um die subjektive Perspektive der befragten Experten. Zu diesem Wissenstyp zählen einerseits subjektive Relevanzen, Sichtweisen, Interpretationen, Deutungen, Sinnentwürfe und Erklärungsmuster sowie andererseits normative Dispositionen wie Zielsetzungen und Bewertungen (Bogner, Littig, & Menz, 2014, S. 17 ff.):

Subjektiv heißt nicht automatisch individuell – die Deutungsperspektiven, die wir in einzelnen Interviews erheben, können durchaus kollektiv geteilt werden, z. B. innerhalb bestimmter Expertenkulturen oder Organisationen. Und häufig interessiert uns in unseren Erhebungen gerade diese geteilte, kollektive Dimension. Deutungswissen ist aber explizit perspektivistisch und es wird als eine solche, von den Subjekten nicht abtrennbare Perspektive methodisch wahrgenommen. Deutungswissen ist immer an die subjektiven Träger gebunden, und es ist auch als eine in diesem Sinne „subjektive“ Deutung interessant (Bogner, Littig, & Menz, 2014, S. 19).

Mit welcher Wissensart man es in einem konkreten Experteninterview zu tun hat, kann zumeist nicht an dem Wissen des Experten selbst abgelesen werden, sondern wird durch den Forscher zugewiesen. Ob etwas als Faktum, Erfahrung oder Deutung einzuordnen ist, entscheidet dieser aus der Forschungsperspektive heraus. Es ist davon auszugehen, dass in jedem Forschungsprozess und Experteninterview immer alle drei Wissensarten eine Rolle spielen, wobei eine oder mehrere von besonderem Interesse sind. Die Stärke von Experteninterviews als qualitatives Erhebungsverfahren liegt jedoch im Bereich des Deutungswissens. Für diese Forschungsarbeit, die die organisationale Wissensgenese durch Social-Media-Analysen und die Wissensverwendung in der Automobilindustrie explorativ untersucht hat, war vor allem das Praktikerwissen der internen praktischen Anwender des Unternehmens, die als Experten gelten, von Bedeutung. Dieses besteht in erster Linie aus deren Erfahrungen mit und Deutungen von den Verfahren der Social-Media-Analyse (Bogner, Littig, & Menz, 2014, S. 19 ff.).

Bogner, Littig und Menz diskutieren verschiedene Varianten von Experteninterviews. Neben explorativen gibt es fundierende; beide können das erhobene Expertenwissen sowohl als sachliche Informationen als auch als Deutungen interpretieren. Durch Korrelation dieser Dimensionen ergeben sich vier Varianten: Experteninterviews zur explorativen Datensammlung, Experteninterviews zur Exploration von Deutungen, systematisierende Experteninterviews und theoriegenerierende Experteninterviews. Insbesondere die beiden Letztgenannten sind für diese Arbeit von Relevanz. Mitunter hatte der deutsche Automobilhersteller eine Systematisierung in Bezug auf die Methode der Social-Media-Analysen erwartet. Theoriegenerierung ergibt sich aus der Grounded Theory Methodologie, in Anlehnung an die die Datenerhebung wie Datenauswertung umgesetzt wurden (Bogner, Littig, & Menz, 2014, S. 22 ff.).

Mit systematisierenden Experteninterviews wird systematische Informationsgewinnung im Sinne einer umfassenden Erhebung von Sachwissen bezweckt. Dieses kann sich sowohl auf technisches Wissen sowie auf Prozesswissen beziehen, das dem Experten jederzeit reflexiv verfügbar ist. Somit ist es möglich, dieses Wissen mehr oder weniger direkt über ein Interview entlang eines relativ ausdifferenzierten Leitfadens abzufragen. Theoriegenerierende Experteninterviews legen ihr Hauptaugenmerk auf die subjektive Dimension von Expertenwissen und zielen auf die Erhebung von Deutungswissen, wie Handlungsorientierungen, implizite Entscheidungsmaximen, handlungsanleitende Wahrnehmungsmuster, Weltbilder und Routinen. Nicht nur das vollständig reflexiv verfügbare Wissen ist von Bedeutung, sondern ebenso das implizite Wissen. Die Materialauswertung erfordert daher einen systematischen Prozess der Interpretation und Rekonstruktion. Für diesen bietet sich der Rückgriff auf Codierverfahren an (Bogner, Littig, & Menz, 2014, S. 24 f.):

„Theoriegenerierend“ heißt es deshalb, weil es darauf abzielt, in analytischer und interpretativer Auseinandersetzung mit dem empirischen Material Zusammenhänge zu erarbeiten und Theorien zu entwickeln, beispielsweise über die interpretative Generalisierung einer Typologie. In dieser Hinsicht kann das theoriegenerierende Interview an die Methodologie der „Grounded Theory“ anschließen [. . . ] (Bogner, Littig, & Menz, 2014, S. 25).

Ein Unterschied zum systematisierenden Experteninterview bezüglich Datenerhebung besteht darin, dass der Interviewleitfaden beim theoriegenerierenden Experteninterview kein engmaschiges Netz zur Informationsgewinnung, sondern offener und lockerer ist, dennoch aber eine gewisse thematische Strukturierung beinhaltet (Bogner, Littig, & Menz, 2014, S. 25).

4.4.2 Erhebungsinstrument

Für eine Rekonstruktion von Expertenwissen haben sich offene, leitfadengestützte Interviews als Erhebungsinstrument bewährt. Ein solches wurde auch für diese Arbeit entwickelt und zum Zweck der Erhebung von Praktikerwissen in Bezug auf Social-Media-Analysen eingesetzt (Meuser, & Nagel, 2006, S. 58).

Leitfäden stellen eine Technik der Datenerfassung dar und dienen der Strukturierung qualitativer Interviews. Die Nutzung eines Leitfadens darf aber keinesfalls mit einer Standardisierung der Erhebungssituation verwechselt werden. Ein Leitfaden dient dem Interviewer lediglich als flexible Gedächtnisstütze (Lamnek, 2005, S. 333 f., S. 347; Nohl, 2012, S. 15):

Der Leitfaden wird flexibel und nicht im Sinne eines standardisierten Ablaufschemas gehandhabt, um unerwartete Themendimensionierungen durch den Experten nicht zu unterbinden. Diesem wird Gelegenheit gegeben, zu berichten, wie er Entscheidungen trifft, anhand von Beispielen zu erläutern, wie er in bestimmten Situationen vorgeht, zu extemporieren usw. (Meuser, & Nagel, 2006, S. 58).

Auch die Datenerhebung im Rahmen der vorliegenden Forschungsarbeit erfolgte über qualitative Experteninterviews in offener und leitfadengestützter Form. Der Erhebung von Praktikerwissen zu der Methode der Social-Media-Analysen ging die Entwicklung eines Interviewleitfadens voraus. Dieser beinhaltete letzten Endes zwölf obligatorische und fünf optionale Fragen, die im Bedarfsfall ergänzt werden konnten. Da sich der Interviewleitfaden bereits in den ersten Interviews als geeignet erwiesen und sich diese Eignung im weiteren Verlauf der Datenerhebung bestätigt hat, wurde er während der Datenerhebungsphase nicht modifiziert, sondern lediglich um zwei zusätzliche Fragen erweitert.

Um eine maximale Offenheit der Interviews sicherzustellen und außerdem ein allzu standardisiertes Ablaufschema zu umgehen, wurde der Leitfaden durchweg flexibel und der jeweiligen Interviewsituation entsprechend gehandhabt. Wenn sich im Laufe eines Interviews noch weitere Fragen ergeben oder gar aufgedrängt haben, wurde jeweils individuell entschieden, diese zu stellen oder davon abzusehen. Eine derartige Entscheidung fiel allerdings immer in Begleitung einer Reflexion im Hinblick auf die bestehende Interviewsituation sowie den jeweiligen Praktiker, der befragt wurde.Footnote 13

4.4.3 Erhebungszeitraum

Das Datenmaterial, auf das die hier vorliegende Forschungsarbeit gründet, besteht aus Praktikerwissen hinsichtlich der Durchführung von Social-Media-Analysen und wurde über zwei Zeiträume in dem Unternehmen der deutschen Automobilindustrie gewonnen. Der erste Erhebungszeitraum belief sich auf die Zeitspanne von Juli bis Oktober 2015; der zweite Zeitraum der Datenerhebung war Juni bis September 2016.

Forschungspragmatische Gründe sowie der Umstand, dass bereits die Datenerhebung in Anlehnung an die Grounded Theory Methodologie erfolgte, haben die Entscheidung für zwei Erhebungszeiträume anstatt einen bedingt. Die erste Erhebungswelle stand unter der Prämisse, den von dem deutschen Automobilhersteller eröffneten Feldzugang unmittelbar zu nutzen und schnellstmöglich in diesem Forschungsfeld, dessen Pforten den Sozialwissenschaften nur selten offenstehen und der Wissenssoziologie bisher wohl noch nie offenstanden, Datenmaterial zu erheben. Die zweite Erhebungswelle fand selbst wiederum aus zwei Gründen statt. Zum einen wurde diese realisiert, um eine gemäß der Grounded Theory Methodologie anzuvisierende theoretische Sättigung zu erlangen. Da zwischen den beiden Erhebungszeiträumen das im Rahmen der ersten Erhebungswelle gewonnene Datenmaterial bereits einer ersten Analyse im Kontext der Datenauswertung unterzogen wurde, konnte dieses Ziel einer theoretischen Sättigung angegangen und auch erreicht werden. Zum anderen fand eine zweite Erhebungswelle statt, weil der Feldzugang nach wie vor uneingeschränkt bestand und die im Vorfeld der erfolgten Datenerhebung festgelegte Anzahl der durchzuführenden Experteninterviews noch nicht erreicht war. Eine solche Bestimmung der Anzahl von zu führenden Interviews im Vorfeld der Erhebung ist in der qualitativen Sozialforschung nicht üblich; vor allem dann nicht, wenn diese in Anlehnung an die Grounded Theory Methodologie erfolgt. Das praktizierte Vorgehen widerspricht dieser sogar. Allerdings sollte von Beginn an ausgeschlossen werden, dass die Aussagekraft der Ergebnisse einzig aufgrund einer zu geringen Fallzahl geschmälert werden kann; insbesondere in deren Bezug auf das besondere Forschungsfeld der deutschen Automobilindustrie und die darin vorherrschende ‚quantitative Denkweise‘.

4.4.4 Feldzugang und Fallauswahl

Die Erhebung des Datenmaterials fand in einem der Automobilindustrie angehörenden Unternehmen in Deutschland statt. Ein deutscher Automobilhersteller hat seine Pforten für die Datenerhebung geöffnet und damit zum einen den Feldzugang hergestellt sowie zum anderen sich selbst als Fallbeispiel angeboten. Feldzugang und Fallauswahl wurden so unter anderem auch von dessen Erwartungen bestimmt, denen mit der vorliegenden Forschungsarbeit in gewisser Weise entsprochen werden sollte.

Zu Beginn der Forschungsarbeit hat das Unternehmen ein paar Mitarbeiter als interne Experten für beziehungsweise Praktiker von Social-Media-Analysen genannt und ferner Unternehmensbereiche angegeben, die sich schon mit den Verfahren beschäftigt hatten oder von denen vermutet wurde, dass sie sich damit auseinandergesetzt haben könnten. Mit Nennung dieser praktischen Anwender hat der Automobilhersteller die ersten Anlaufstellen für eine Kontaktaufnahme und das Aufspüren weiterer potentieller Interviewpartner geboten. Im Rahmen dieser Arbeit ist dies als die Eröffnung des Zugangs zu dem spezifischen Forschungsfeld der deutschen Automobilindustrie zu verstehen. Des Weiteren wurde das Forschungsprojekt zu Beginn in einem relevanten Fachkreis des Unternehmens präsentiert und um Kontaktaufnahme der anwesenden Praktiker gebeten. Über beide Wege haben sich zu interviewende unternehmensinterne praktische Anwender von Social-Media-Analysen herauskristallisiert.

Sämtliche Befragungen fanden persönlich statt und wurden von derselben Interviewerin durchgeführt. In Einzelinterviews wurden ausschließlich Praktiker des Unternehmens befragt, die in dessen deutscher Zentrale oder in geographisch unmittelbarer Nähe arbeiteten beziehungsweise zum Interviewzeitpunkt dort anwesend waren. Zwar wäre es dieser Studie zuträglich gewesen, den Horizont durch Aufnahme von Praktikern anderer Unternehmensstandorte, wie zum Beispiel der USA oder China, als Interviewpartner über Deutschland hinaus zu erweitern, doch bestand in diesen Ländern kein direkter Feldzugang. Da die finanziellen Ressourcen, die für eine persönliche Datenerhebung an diesen Standorten erforderlich gewesen wären, nicht zur Verfügung standen und eine Kombination von Telefon- und Face-to-Face-Interviews vermieden werden sollte, wurde davon abgesehen, das Untersuchungsfeld über Deutschland hinaus auszudehnen. Außerdem ist anzunehmen, dass in den USA und China mit Social-Media-Analysen aufgrund anderer kultureller, politischer und rechtlicher Rahmenbedingungen, welche Auswirkungen auf soziale Medien haben, mitunter gänzlich anders verfahren wird als in Deutschland. Somit liegt die Beschränkung der Datenerhebung auf Deutschland auch in einer, in Anlehnung an die Grounded Theory Methodologie getroffenen Entscheidung für deren Variante des Vergleichs über eine minimale Kontrastierung im Hinblick auf das Land, in welchem das Datenmaterial erhoben wurde, begründet. So konnte eine maximale Ähnlichkeit der einzelnen Elemente des Datenkorpus erzielt werden. Erzeugt wurde damit beispielsweise eine Vergleichbarkeit der einzelnen Interviews hinsichtlich der den befragten Experten und praktischen Anwendern zur Verfügung stehenden Arten von Social-Media-Analysen.

Die Fallauswahl erfolgte allerdings nicht ausschließlich anhand des Prinzips „minimale Kontrastierung“, sondern ebenso anhand des Prinzips „maximale Kontrastierung“. Gemeint ist hiermit, dass zwar nur Praktikerwissen, zu dem an dem deutschen Standort des betrachteten Unternehmens Zugang bestand, Eingang in das Datenkorpus gefunden hat, dass jedoch auch auf eine maximale Unterscheidung der einzelnen Interviews voneinander geachtet wurde; sowohl im Hinblick auf die angewandte Praxis, die beschrieben wurde, als auch bezüglich des Unternehmensbereichs, in dem die Social-Media-Analysen umgesetzt wurden. Somit wurden letzten Endes Praktiker aus 18 Unternehmensbereichen mit folgenden thematischen Schwerpunkten beziehungsweise Funktionen befragt: Design, Digitales, Entwicklung, Forschung, Kommunikation, Kundenzentrierung, Marketing, Mobilitätsdienstleistungen, Produktmanagement, Qualität, Strategie, Vertrieb.

Nachdem erste Kontakte zustande gekommen waren, wurden die Interviews vereinbart. Dies geschah zunächst telefonisch, wobei in dem Telefonat sowohl Zielsetzung als auch angewandte Methode des Projekts erläutert wurden. Nach ihrer Zustimmung zu einem Interview erhielten die praktischen Anwender direkt im Nachgang des Telefonats per E-Mail ein Memo, welches das Forschungsprojekt prägnant zusammenfasste und eine Anonymitätszusicherung sowie eine von den Befragten im Vorfeld des Interviews zu unterzeichnende Einwilligungserklärung enthielt.

Damit erfolgte die Ermittlung der zu untersuchenden Fälle über ein Schneeballsystem. Dieses wurde durch Kontaktaufnahme mit Personen und Organisationsbereichen, die das Unternehmen als potentielle Interviewpartner oder auch Anlaufstellen bei der Suche nach Praktikern von Social-Media-Analysen genannt hatte, sowie zudem durch die Präsentation des Forschungsvorhabens in einem Fachkreis ausgelöst. Fortgeführt wurde die ‚Schneeballschlacht‘ durch die Interviews selbst, an deren Ende stets nach weiteren potentiellen unternehmensinternen Interviewpartnern gefragt wurde, zudem im Zuge zahlreicher Telefonate nach den Interviews und über persönliche Kontakte, die sich durch Anwesenheit der interviewenden Forscherin in dem Unternehmen und ihr persönliches soziales Netzwerk aufgetan haben.

Insofern ist die Datenerhebung in Anlehnung an die Grounded Theory Methodologie erfolgt. Unter Einsatz ihrer Verfahren von minimaler wie maximaler Kontrastierung und des beständigen Vergleichens wurden die zu befragenden Praktiker rekrutiert; mit Erreichen einer theoretischen Sättigung war die Datenerhebung abgeschlossen. Im Vorfeld der Datenerhebung war eine Anzahl von 30 Interviews veranschlagt worden. Diese Anzahl wurde übertroffen. In der ersten Erhebungswelle waren 14 Interviews, in der zweiten Welle der Datenerhebung 19 Interviews geführt worden. Hinzu kamen circa 17 Gespräche, die keine Interviewform hatten, sondern eher als Austausch zu verstehen und damit im Kontext dieser Forschungsarbeit als ‚Schneebälle‘ einzuordnen sind. Von den insgesamt 33 geführten Interviews gingen letztlich 32 in das Datenmaterial ein, das auch ausgewertet wurde. Zwar enthielt auch das eine nicht ausgewertete Interview durchaus interessante Inhalte, jedoch keine neuen Aspekte, die das bereits bestehende Datenkorpus von 32 Interviews in Anlehnung an die Verfahren der Grounded Theory Methodologie und in Bezug auf eine theoretische Sättigung um neuen Gehalt ergänzt hätten. Daher und aus forschungsökonomischen wie -pragmatischen Gründen fand die Datenerhebung nach 33 Interviews ihr Ende. Orientiert an der Grounded Theory Methodologie wurden somit 32 Interviews im Rahmen der während der Phase der Datenerhebung bereits begonnenen und nach ihrem Abschluss dann fortgeführten Datenauswertung explorativ beziehungsweise hermeneutisch untersucht.

4.5 Datenauswertung

Zuvor wurden bereits die Grounded Theory Methodologie sowie die Entstehung der vorliegenden Studie in Orientierung an diesem Forschungsstil thematisiert. Dessen iterativ-zyklischer Charakter bedingt es, dass Datenerhebung und Datenauswertung gewissermaßen fließend ineinander übergehen und in einer wechselseitigen Beziehung mit der gegenstandsverankerten Theorie stehen.

Obwohl schon mehrfach angesprochen, sei nochmals darauf hingewiesen, dass auch die Datenauswertung im Rahmen dieser Forschungsarbeit in Anlehnung an die Grounded Theory Methodologie durchgeführt wurde. Im Folgenden wird nun deren Umsetzung betrachtet. Zunächst geht es um die Datenaufbereitung, ein notwendiger Schritt, der als methodisches Bindeglied zwischen Datenerhebung und Datenauswertung zu verstehen ist. Daran schließt die Darlegung des „Herzstücks“ einer Datenauswertung, die sich an der Grounded Theory Methodologie orientiert, an; es wird der Codierprozess entlang des Codierparadigmas thematisiert. Abschließend wird auf die dem Forschungsstil nahestehende Typenbildung, derer sich diese Arbeit ebenfalls bedient hat, eingegangen.

4.5.1 Datenaufbereitung

Größtenteils erfolgte die Datenaufbereitung des erhobenen Materials unmittelbar im Anschluss an ein Interview. Aus forschungspragmatischen Gründen wurden manche Daten jedoch auch in Zeitspannen zwischen den einzelnen Interviews beziehungsweise zwischen den beiden Wellen deren Erhebung aufbereitet.

Zum Zweck der Dokumentation wurde nach jedem Interview ein Post-Interview-Memo verfasst. In einem nächsten Schritt folgte eine wörtliche Transkription aller Interviews unter Nutzung von F5, einer Software zur qualitativen Datenanalyse. Dabei kamen die Transkriptionsregeln von Uwe Flick (2011) sowie von Thorsten Dresing und Thorsten Pehl (2015) zur Anwendung. Begleitend zur Verschriftlichung sämtlicher Interviews wurde zudem jeweils ein Transkriptions-Memo verfasst. Die in Textform überführten Interviews durchliefen sodann zwei Korrekturschleifen, in denen diese mit ihrem Audioformat abgeglichen und, wenn nötig, daran angepasst wurden. Es folgte eine Pseudonymisierung sämtlicher Interviews unter Zuhilfenahme der Empfehlungen von Tobias Gebel, Matthis Grenzer, Julia Kreusch, Stefan Liebig, Heidi Schuster, Ralf Tscherwinka, Oliver Watteler und Andreas Witzel (2015, 2014), Susanne Kretzer (2013) sowie Alexia Meyermann und Maike Porzelt (2014) (Dresing, & Pehl, 2015, S. 17 ff.; Flick, 2011, S. 379 ff.; Gebel, Grenzer, Kreusch, Liebig, Schuster, Tscherwinka, Watteler, & Witzel, 2015; Kretzer, 2013; Liebig, Gebel, Grenzer, Kreusch, Schuster, Tscherwinka, Watteler, & Witzel, 2014; Meyermann, & Porzelt, 2014).

Zeitlich weisen die einzelnen Interviews eine Dauer von circa 30 bis 90 Minuten auf. Insgesamt liegt, bezugnehmend auf die 32 Interviews, die nach ihrer Aufbereitung auch ausgewertet wurden, eine Gesamtdatenmenge im Audioformat von 1308 Minuten vor. Im Textformat besteht, nach Transkription sowie Pseudonymisierung, das erhobene Datenmaterial aus 488 Seiten.

4.5.2 Codierprozess entlang des Codierparadigmas

Unter Codieren sind regelgeleitete und erlernbare Vorgehensweise zu verstehen, anhand derer aus einer, mitunter großen Menge qualitativer Daten theoretische Konzepte und Strukturen herausgearbeitet oder auch konzeptualisiert werden (Breuer, 2010, S. 69):

Die Prozeduren des Kodierens entfalten ihren Sinn und ihre Potenzen erst im Rahmen der ausgebauten konsekutiv-iterativ-rekursiven Strategie des Hin und Her, des Vor und Zurück zwischen Datenerhebung, Konzeptbildung, Modellentwurf und Modellprüfung sowie der Reflexion des Erkenntniswegs. Auf diese Weise entsteht eine datengegründete Theorie in einer hermeneutischen Spiralbewegung (Breuer, 2010, S. 69).

Die Datenauswertung im Rahmen dieser Forschungsarbeit war an der Grounded Theory Methodologie, an deren Codierprozess entlang des Codierparadigmas ausgerichtet und erfolgte damit durch Rückgriff auf deren Verfahren des offenen, axialen und selektiven Kodierens; diese wurden jedoch offen und flexibel gehandhabt. Mitunter wurde mit MAXQDA, einer Software für qualitative Datenanalyse, gearbeitet. Eine Untersuchung des Datenmaterials anhand des prozessualen Codierparadigmas unter Anwendung dessen Codiertechniken hat Kategorien zutage gefördert:

Nun sind wir beim Herzstück des Buches angekommen – die Kapitel über die Analyse oder das Kodieren, wie es oft genannt wird. Kodieren stellt die Vorgehensweisen dar, durch die die Daten aufgebrochen, konzeptualisiert und auf neue Art zusammengesetzt werden. Es ist der zentrale Prozeß, durch den aus den Daten Theorien entwickelt werden. Was ist das Besondere am Kodier-Prozeß beim Entwickeln einer Grounded Theory? Was unterscheidet ihn von anderen Analysemethoden? Wie wir schon [. . . ] bemerkt haben, geht die Zielsetzung weit darüber hinaus, dem Forscher zu ermöglichen, einige Themen aus den Daten zu extrahieren oder ein deskriptives, theoretisches Netz von locker verwobenen Konzepten zu entwickeln. Nicht deskriptives Schreiben, sondern die systematische Entwicklung einer Theorie ist die Zielsetzung der Grounded Theory (Strauss, & Corbin, 1996, S. 39).

Codieren gilt als das „Herzstück“ der Grounded Theory Methodologie und kann als Konzeptualisieren von Daten verstanden werden. Ausgangspunkt beim Codieren sind meist empirische Daten in sprachlicher oder versprachlichter Form. So auch im Rahmen dieser Forschungsarbeit, in der Transkripte der geführten Interviews codiert wurden. Aus den nach der Transkription in Textform vorliegenden Interviews beziehungsweise aus einer detaillierten Analyse entsprechender Textpassagen wurden Codes und Kategorien herausgearbeitet. Ein Gruppenprozess mit mehreren Codierern, wie ihn die Grounded Theory Methodologie zur Herstellung von Offenheit, Assoziationsreichtum und Vielperspektivität im Zuge von Deutungen und Konzeptbildungen empfiehlt, konnte aus forschungspragmatischen Gründen nicht realisiert werden. Die vorliegende Studie beruht jedoch durchweg auf dem Bemühen, über den gesamten Codierprozess hinweg offen, flexibel, kritisch sowie reflektiert und dabei immer auch wertschätzend mit den erhobenen Daten umzugehen. Die Konzeptualisierungen sind zwar nicht anhand des Codierens in einer Gruppe entstanden, wurden jedoch im Anschluss ihrer Genese in fachlichen Gesprächen diskutiert, hinterfragt und gegebenenfalls auch modifiziert (Breuer, 2010, S. 71; Strauss, 1998, S. 48).

Einen Code beschreibt Anselm Strauss selbst als das Ergebnis der Untersuchung oder Auswertung der Daten anhand des Codierens unter Zuhilfenahme des Codierparadigmas der Grounded Theory Methodologie (Strauss, 1998, S. 48). Basierend auf den Codes entstehen Konzepte beziehungsweise Kategorien, die im Prozess der Datenauswertung zahlreicher, differenzierter und dichter sowie auch abstrakter werden:

Mit dem Kodieren beginnt sich eine konzeptuell dichte Theorie abzuzeichnen, die natürlich noch weitaus dichter wird, sobald weitere Verbindungen gezogen und ausgearbeitet werden (Strauss, 1998, S. 44, Hervorheb. i. O.).

Danach werden die Kategorien mitsamt ihren Dimensionen oder auch Eigenschaften in einen Zusammenhang gebracht und zueinander in Beziehung gesetzt. Strauss spricht hier von einer „Integration“ der Kategorien, die mit dem Verlauf einer Untersuchung sicherer sowie kompakter wird und mit einer Schlüsselkategorie oder auch mehreren am Ende den Kern der gegenstandsverankerten Theorie hervorbringt. Letztere entsteht, indem unterschiedliche Kategorien einschließlich ihrer Dimensionen über beständiges Vergleichen integriert werden. Diese Technik zwingt den Forscher selbst dazu, in jedem Vergleich auch einen geschlossenen theoretischen Sinn zu finden (Glaser, & Strauss, 1967/2008, S. 115; Strauss, 1998, S. 45):

Die Schlüsselkategorie (-kategorien) herauszuarbeiten, die alle übrigen Kategorien am ehesten zusammenhält (miteinander verknüpft) – gemeint ist der Bezug der Kategorien untereinander und zu den Schlüsselkategorien –, bedeutet harte Arbeit und erfordert vielleicht spezielle Techniken, wie die Stränge zusammenzuführen sind, damit letztlich der Forscher selbst wie auch der an den Forschungsergebnissen interessierte Leser von der Integration überzeugt sind (Strauss, 1998, S. 45, Hervorheb. i. O.).

Für den Codierprozess, der im Rahmen der Grounded Theory Methodologie aus drei Codierschritten besteht, sind zwei Techniken grundlegend: das Stellen von Fragen und das Anstellen von Vergleichen. Dadurch erhält eine gegenstandsverankerte Theorie ihre Präzision und Spezifik. Mit Fragen werden die Daten aufgebrochen; mit Vergleichen werden Konzepte identifiziert und kategorisiert (Glaser, & Strauss, 1967/2008, S. 107 ff.; Strauss, 1998, S. 56 ff.; Strauss, & Corbin, 1996, S. 44 ff., S. 63 ff.). Folgende, auch für diese Studie essentielle Grundannahme wiederholt diese Arbeit bewusst:

Jeder von uns bringt Verzerrungen, Vorannahmen, Denkmuster und Wissen aufgrund von Erfahrung und Literaturstudium in die Datenanalyse ein. Diese können unsere Sicht dessen, was in den Daten bedeutsam ist, blockieren oder und daran hindern, von deskriptiven zu theoretischen Ebenen der Analyse fortzuschreiten. Dazu gehören: das Stellen von Fragen; die Analyse eines einzelnen Wortes, einer Phrase oder eines Satzes; die Flip-Flop-Technik; das Ziehen von Vergleichen, sowohl Binnenvergleiche als auch weithergeholte; und das Schwenken der roten Fahne. Alles was man dazu braucht ist Praxis – je mehr desto besser – und kreative Vorstellungskraft (Strauss, & Corbin, 1996, S. 73).

Auf eine detaillierte Darstellung der drei Codierschritte – das offene, das axiale und das selektive Codieren –, die den Codierprozess der Grounded Theory Methodologie prägen oder deren Codierparadigma bestimmen, wird an dieser Stelle verzichtet. Zum einen aus forschungsökonomischen Gründen, zum anderen aufgrund der Anlehnung dieser Arbeit an die Grounded Theory Methodologie. Die Datenauswertung entsprach nicht ganz dem Codierparadigma mit den drei Codierschritten, sondern bediente sich dessen. Im Zuge der Datenauswertung wurde zwar in Orientierung an dem Codierprozess der Grounded Theory Methodologie codiert, doch die drei Codierschritte wurden nicht in Reinform umgesetzt, sondern offen und flexibel gehandhabt.Footnote 14

4.5.3 Typenbildung

Mithilfe von Typen oder auch durch die Entwicklung einer Typologie wurde in dieser Forschungsarbeit der Phänomenbereich der Social-Media-Analysen systematisiert und reflektiert. Mit der explorativen Untersuchung der organisationalen Wissensgenese durch diese Methode und der Wissensverwendung in der Automobilindustrie war von Beginn an eine Taxonomie dessen anvisiert, in welcher Form und auf welche Weise die Verfahren Wissen generieren und weiter welcher Art dieses Wissen ist beziehungsweise welchem Zweck es dient. Eine Taxonomie der bei dem deutschen Automobilhersteller vorzufindenden und anhand des gewonnenen Datenmaterials rekonstruierten Typen der Wissenserzeugung und Wissensverwendung stand im Fokus der gesamten explorativen Untersuchung. Realisiert wurde dieses Vorhaben anhand einer Typenbildung:

Die in der Auseinandersetzung mit Daten herausgebildeten Kategorien lassen sich häufig als Typen charakterisieren – und sie sowie ihre Darstellung als Ordnungssystematiken bzw. Taxonomien können sich zu Typologien formieren. Derartige Konzepte stellen eine Möglichkeit wissenschaftlicher Abstraktion und Generalisierung dar, wie sie für qualitative Sozialforschung sehr charakteristisch ist. Typen bzw. Typologien liefern eine systematische Ordnung bzw. Sortierung des (Merkmals-)Variationenspektrums in einem Phänomenbereich durch die Anwendung bestimmter theoretischer Gesichtspunkte. Bei dieser Vorgehensweise geht es [. . . ] um die Herausarbeitung gegenstandsbezogener Systematisierungen, die für die Beschreibungs-, Erklärungs- und Selbst- bzw. Handlungsreflexions-Zwecke tauglich sind. Typen und Typologien sind methodologische Instrumente [. . . ] (Breuer, 2010, S. 90, Hervorheb. i. O.).

Typen und Typologien kommt innerhalb des Codierparadigmas der Grounded Theory Methodologie beim Erarbeiten der Kategorien gegenstandsbegründeter Theorie zentrale Bedeutung zu. Zwar thematisieren Strauss (1998) und auch Strauss und Juliet Corbin (1996) die diesen zugrunde liegende Logik nicht systematisch, doch im Rahmen der Entwicklung einer gegenstandsbegründeten Theorie werden manche Varianten von Typologien erzeugt (Breuer, 2010, S. 89):

In Typologien wird ein Merkmal oder ein Merkmalscluster von gewissem Abstraktionsgrad für theoretisch gegenstandsrelevant erklärt und zur Beschreibung bzw. Unterscheidung von Mitgliedern bzw. Fällen einer bestimmten Grundgesamtheit herangezogen. Auf diese Weise kommt eine Sortierlogik für den fokussierten Phänomenbereich zustande. Jeder dort subsummierte Einzelfall behält gegenüber seiner Typifizierung allerdings einen Merkmalsüberschuss, der auch eine andere Eingruppierung [. . . ] erlaubt. Typenkonzepte bzw. Typologien können die Einzelfälle, auf die sie angewendet werden, also niemals vollständig beschreiben (Breuer, 2010, S. 90).

In Bezug auf Typologisierungen oder Typisierungen lassen sich diverse Versionen unterscheiden: Prototypen, Idealtypen, Durchschnittstypen, Extremtypen, Strukturtypen und Prozesstypen (Breuer, 2010, S. 90 f.).

Eine Antwort auf die Frage, wie Typen oder Typologien zustande kommen, liefern beispielsweise Udo Kelle und Susan Kluge (2010).Footnote 15 Kelle und Kluge haben sich der Systematisierung von Regeln für eine empirisch begründete Typenbildung angenommen und eine normative Prozess-Typologie in Form eines Vierstufenmodells entwickelt. Eine Erarbeitung von relevanten Vergleichsdimensionen, im Sinne einer Definition von Merkmalen, welche der Typologie zugrunde liegen, markiert dabei den ersten Schritt. Es folgt eine Gruppierung der Fälle und Analyse empirischer Regelmäßigkeiten, was bedeutet, dass die Fälle anhand ihrer Merkmale gruppiert werden. Auf der dritten Stufe des Modells findet sich eine Analyse inhaltlicher Sinnzusammenhänge, die meist mit einer Reduktion der Gruppe auf wenige Typen einhergeht. Eine Charakterisierung der gebildeten Typen anhand deren umfassender Beschreibung unter Einbezug einer Kombination ihrer Merkmale und inhaltlicher Sinnzusammenhänge bildet die vierte und abschließende Stufe (Breuer, 2010, S. 91; Dimbath, 2003, S. 180; Kelle, & Kluge, 2010, S. 91 f.):

Bei diesem Modell handelt es sich allerdings nicht um ein starres und lineares Auswertungsschema. Die einzelnen Stufen bauen zwar logisch aufeinander auf [. . . ] die Stufen können jedoch mehrfach durchlaufen werden und werden dies in der Regel auch, wenn mehrdimensionale Typologien entwickelt werden sollen (Kelle, & Kluge, 2010, S. 92, Hervorheb. i. O.).

Mit ihrem Ansatz der Typenbildung knüpfen letztlich auch Kelle und Kluge an die Grounded Theory Methodologie an. Zwar erkennen sie in ihr ein „induktivistisches Selbstmissverständnis“, auf das in dieser Arbeit aus forschungsökonomischen Gründen nicht näher eingegangen werden kann, doch bedienen sie sich, beispielsweise im Hinblick auf eine komparative Untersuchung einiger Anleihen der Grounded Theory Methodologie, sowohl bei der Datenerhebung unter Anwendung der theoriegeleiteten Materialsuche als auch bei der Datenauswertung im Kontext deren Codierparadigmas (Kelle, & Kluge, 2010, S. 18 ff). Somit lassen sich Gemeinsamkeiten wie Unterschiede zwischen dem Ansatz von Kelle und Kluge sowie der Grounded Theory Methodologie feststellen:

Während also der erste Typenbildungszyklus – in klarem Kontrast zum induktivistischen Selbstmissverständnis der Grounded Theory nach Glaser/Strauss (1969) – noch stark von theoretischem Vorwissen abhängig gemacht wurde, kann in weiteren Zyklen vermehrt auf sinnrekonstruktive empirische Ergebnisse zurückgegriffen werden, die dann die Typenbildung leiten. Der Prozess der Typenbildung wird dann durch eine „Charakterisierung der gebildeten Typen“ [. . . ] abgeschlossen, wobei zu ihrer Darstellung auch prototypische Fälle herangezogen werden können. Die Ausrichtung, die Kelle und Kluge der Typenbildung geben, weist also deutliche Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten mit der Grounded Theory [. . . ] auf. [. . . ] Dabei handelt es sich bei dem Ansatz von Kelle/Kluge aber um eine ganz allgemein und sehr formal gehaltene Beschreibung der Typenbildung, die offen lässt, wie die empirischen Daten im Einzelnen interpretiert werden und was mithin genau typisiert wird (Nohl, 2013, S. 36 f.).

Sowohl die Kategorienbildung nach der Grounded Theory Methodologie als auch die Typenbildung nach Kelle und Kluge setzt nicht an einem gesamten Fall an, sondern beginnt an gewissen Aspekten oder Dimensionen des Falls. Anhand der Kontrastierung mit anderen Fällen wird es so möglich, mehrere Kategorien oder Typen eines Falls herauszuarbeiten. Was also den Ansatz der Typenbildung und die Grounded Theory Methodologie eint, ist die Komparation oder auch das Anstellen von Vergleichen:

In dieser Hinsicht kommt dem Vergleich bereits bei der Fallinterpretation eine erkenntnisgenerierende Funktion zu. Denn die Besonderheiten eines Falls werden gerade vor dem Hintergrund anderer Fälle deutlich; die spezifische Art und Weise, wie mit Themen und Problemen praktisch umgegangen wird, hebt sich in dem einen Fall vor dem Kontrast anderer Fälle ab (Nohl, 2013, S. 40).

Innerhalb dieser Forschungsarbeit über die organisationale Wissensgenese durch Social-Media-Analysen und die Wissensverwendung in der Automobilindustrie erfolgte ein Rückgriff auf die von Kelle und Kluge entwickelte normative Prozess-Typologie. Auch dies geschah nicht durch deren Übernahme, sondern, ebenso wie beim Forschungsstil der Grounded Theory Methodologie durch die methodische Orientierung oder auch Anlehnung daran.