Den in dieser Arbeit untersuchten Schulen ist gemeinsam, dass sie sich auf den Weg gemacht haben, ihren Unterricht in Richtung einer stärkeren Personalisierung der Lehr- und Lernprozesse weiterzuentwickeln. Erkennbar wird dies daran, dass alters- und/oder leistungsdurchmischte Lerngruppen gebildet werden, Unterrichtsstunden in geführte und offene Unterrichtsphasen unterteilt werden, das Spektrum von Lehr- und Lernformen sowie die Formen der Lernunterstützung erweitert werden und die Aufgabenkultur weiterentwickelt wird. Ziel ist jeweils die Bereitstellung eines Lernangebots mit kooperativen und individuellen Lernphasen, das auf personale Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler abgestimmt ist. Diese lernen vermehrt selbstständig und eigenverantwortlich und sollen auf diese Weise sowohl fachliche als auch überfachliche Kompetenzen erwerben.

In dieser Arbeit wurde untersucht, wie elf Schulen aus dem perLen-Projekt ihre Entwicklungsprozesse in Richtung Personalisierung gestalten (Studie 1) und welche Rolle die Lehr- und Lernebene bzw. Qualitätsmerkmale guten und lernwirksamen Unterrichts dabei spielen (Studie 2). Studie 1 zielte darauf ab, im ersten Teil die Entwicklungsprozesse in den Schulen nachzuzeichnen (Studie 1/Teil 1; siehe Abschnitt 7.1) und im zweiten Teil Gegenstände zu eruieren, die in allen Schulen weiterentwickelt wurden (Studie 1/Teil 2; siehe Abschnitt 7.2). Folgende Forschungsfrage war für Studie 1 leitend:

  1. 1.

    Forschungsfrage: Wie, aus welchem Anlass, mit welchen Mitteln, mit welchem Ziel und unter Bearbeitung welcher Themen und Gegenstände gestalten Schulleitende und Lehrpersonen ihre unterrichtszentrierte Schulentwicklung in Richtung personalisierten Lernens?

    Während in Studie 1 der gesamte Entwicklungsprozess analysiert wurde, standen in Studie 2 die Qualitätsmerkmale guten Unterrichts im Fokus. In Studie 2 wurden aus den Interviews deshalb Entwicklungstätigkeiten zu Unterrichtsmerkmalen extrahiert, die erstens personalisiert gestaltete Lehr- und Lernprozesse fördern (Studie 2/Teil 1; siehe Abschnitt 7.3) und zweitens der pädagogisch-psychologischen Unterrichtsebene zugeordnet werden können (Studie 2/Teil 2; siehe Abschnitt 7.4). Daraus ergab sich die zweite Forschungsfrage:

  2. 2.

    Forschungsfrage (Studie 2/Teil 1): Welchen Dimensionen und Merkmalen auf zwei Qualitätsebenen des Unterrichts (Oberflächen- und Tiefenstrukturebene) personalisierten Lernens lassen sich die identifizierten Entwicklungstätigkeiten zuordnen?

    Da insbesondere Qualitätsmerkmale der Tiefenstruktur einen großen Effekt auf den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler haben (u. a. Hattie, 2009) und ein verbesserter Lernerfolg das Ziel von Schul- und Unterrichtsentwicklung ist (u. a. Maag Merki, 2017), wurde für den dritten und letzten Teil von Studie 2 Folgendes angenommen: Entwicklungsprozesse sind dann erfolgreich, wenn die Schülerinnen und Schüler in Konzepten personalisierten Lernens Lerninhalte tiefgehend bearbeiten und verstehensorientiert lernen können. Hierfür sind Entwicklungstätigkeiten erforderlich, in deren Rahmen pädagogisch-psychologische Merkmale guten Unterrichts – die sogenannte Tiefenstruktur – bearbeitet werden (siehe Abschnitt 4.5.1). Dies führte zur Hypothese, dass Lehrpersonen und Schulleitende ihre Schul- und Unterrichtsentwicklung als erfolgreich einschätzen, wenn es ihnen gelingt, mit ihren Konzepten personalisierten Lernens kognitive, motivational-emotionale und soziale Dynamiken des Lernens positiv zu beeinflussen. Durch das Bewusstwerden und das Erfassen sowie die kompetente Gestaltung dieser Tiefenstrukturebene des Lehrens und Lernens können Lehrpersonen an die psychologischen Tiefenschichten des Lernens ihrer Schülerinnen und Schüler herankommen und verstehensbezogenes Lernen auslösen. Anhand der dritten und der vierten Fragestellung von Studie 2 wurde vor diesem Hintergrund untersucht, wie sich die elf Schulen in ihren Entwicklungstätigkeiten auf Unterrichts- und Schulebene sowie in der Einschätzung des Entwicklungsstands unterscheiden (Studie 2/Teil 3; siehe Abschnitt 7.5):

  3. 3.

    Forschungsfrage (Studie 2/Teil 2): Gibt es eine Beziehung zwischen der Selbsteinschätzung des Entwicklungsstandes der Schulen und dem von ihnen verfolgten Verständnis von Lehr- und Lernqualität?

  4. 4.

    Forschungsfrage (Studie 2/Teil 3): Zeigen sich dabei Muster, nach denen sich die Schulen gruppieren lassen?

    Datengrundlage für beide Studien bildeten die in der perLen-Studie erhobenen teilstrukturierten Leitfadeninterviews mit Schulleitenden im ersten Erhebungsjahr und mit Lehrpersonen in allen drei Erhebungsjahren (siehe Abschnitt 6.3). Die insgesamt 45 Interviews wurden in Studie 1 und in Studie 2 mittels strukturierender Inhaltsanalyse ausgewertet (siehe Abschnitt 6.4.1 und 6.4.2). Bei allen dargestellten Ergebnissen ist zu beachten, dass Erläuterungen und Beschreibungen sowohl der Schulleitenden als auch der Lehrpersonen analysiert wurden. Tatsächlich im Unterricht stattfindende Handlungen können auf der Grundlage der in dieser Arbeit analysierten Daten nicht rekonstruiert werden. Für Studie 2/Teil 3 wurde zusätzlich zu den Interviewdaten ein Item aus dem Fragebogen des dritten Erhebungszeitpunkts in die Analyse mitaufgenommen, anhand dessen Schulleitende und Lehrpersonen einschätzten, wie gut sie in ihrer Schulentwicklung „unterwegs“ sind.

Nachdem die Ergebnisse der Studien in den vorangegangenen Kapiteln (Abschnitt 7.1.3, 7.2.3, 7.3.7, 7.4.3 und 7.5.4) je einzeln zusammengefasst wurden, sollen sie nachfolgend mit Fokus auf drei inhaltliche Aspekte miteinander verbunden und zusammengeführt werden: erstens hinsichtlich der Gestaltung personalisierter Lehr- und Lernprozesse in den elf Schulen, zweitens hinsichtlich des wechselseitigen Zusammenspiels von Entwicklungstätigkeiten auf Schul- und Unterrichtsebene und drittens hinsichtlich von Qualitätsmerkmalen in der Gestaltung von Entwicklungsprozessen in Richtung personalisierten Lernens (Abschnitt 8.1). Anschließend werden die Ergebnisse diskutiert (Abschnitt 8.2) und das uSpL-Modell (unterrichtszentrierte Schulentwicklung in Richtung personalisierten Lernens; siehe Abschnitt 4.2), welches die theoretische Grundlage und zugleich das Analyseinstrument dieser Arbeit bildete, wird in Bezug auf sein Potenzial zur Gewinnung von Erkenntnissen und in Bezug auf seine Grenzen betrachtet (Abschnitt 8.3). Danach wird das methodische Vorgehen (Abschnitt 8.4) kritisch reflektiert, bevor abschließend ein Ausblick mit weiterführenden Forschungsfragen und Forschungsdesideraten formuliert wird (Abschnitt 8.5).

8.1 Zusammenführung der Ergebnisse von Studie 1 und Studie 2

Im Folgenden werden Hauptbefunde der Datenanalysen von Studie 1 und Studie 2 zusammengeführt und in der Summe ihrer Ergebnisse dargestellt. Zuerst werden aus beiden Studien von Lehrpersonen und Schulleitenden beschriebene Elemente personalisiert gestalteten Unterrichts und Herausforderungen aufgeführt (Abschnitt 8.1.1). Hierfür werden Ergebnisse der Analyse von Interviewaussagen hinsichtlich der Unterrichtsentwicklung aus Studie 1 (1. Forschungsfrage) und Studie 2/Teil 1 sowie Studie 2/Teil 2 (2. Forschungsfrage) beigezogen. In Abschnitt 8.1.2 folgen Ergebnisse, die aufzeigen, dass für die Einführung und die Weiterentwicklung der Konzepte personalisierten Lernens in den elf untersuchten Schulen Entwicklungstätigkeiten sowohl auf Unterrichtsebene als auch auf Schulebene bedeutsam sind. Abschließend werden Erkenntnisse zur Prozessgestaltung einer unterrichtszentrierten Schulentwicklung in Richtung personalisierten Lernens in vier Gelingensbedingungen (Prozessqualitäten) zusammengefasst (Abschnitt 8.1.3). Diese Prozessqualitäten folgen größtenteils aus den Ergebnissen von Studie 2/Teil 3 (3. und 4. Forschungsfrage), wobei erklärend weitere Ergebnisse aus den vorhergehenden Analysen hinzugenommen werden.

8.1.1 Gestaltung von personalisierten Lehr- und Lernprozessen an den elf Schulen

In diesem Kapitel werden Ergebnisse zu pädagogischen und didaktischen Unterrichtsgestaltungen aus Studie 1 und Studie 2 zusammengeführt und diesbezügliche Herausforderungen dargelegt. Hierfür sind die folgenden vier Themenbereiche leitend: (1) erweiterte Entscheidungsspielräume für Schülerinnen und Schüler für selbstständiges und eigenverantwortliches Lernen, (2) individuelle und kooperative Lernphasen, (3) Lernunterstützung und Lernbegleitung sowie (4) fachlicher und überfachlicher Kompetenzaufbau.

Erweiterte Entscheidungsspielräume für Schülerinnen und Schüler für selbstständiges und eigenverantwortliches Lernen

Allen elf untersuchten Schulen ist gemeinsam, dass sie geführte und offene Unterrichtsphasen kombinieren: In geführten Unterrichtsphasen werden neue Lerninhalte häufig in einem eng geführten Klassenunterricht vermittelt. In offenen Unterrichtsphasen üben und vertiefen die Schülerinnen und Schüler in Ergänzung dazu selbstständig und eigenverantwortlich neue Lerninhalte. Lehrpersonen ermöglichen selbstständige und eigenverantwortliche Lernprozesse, indem sie den Schülerinnen und Schülern Entscheidungsspielräume hinsichtlich der zu bearbeitenden Lerninhalte und Lernaufgaben sowie hinsichtlich der aufzuwenden Lernzeit, der Lernformen und der Lernpartnerinnen und Lernpartner gewähren, und zwar im Einzelnen wie folgt:

Lerninhalte: Die Lehrpersonen ordnen Lerninhalten in Stoffplänen für leistungs- und/oder altersheterogene Lerngruppen neu an. Sie unterscheiden zwischen Pflicht- und Wahlinhalten. Bei Letzteren können die Schülerinnen und Schüler auswählen, welche Lerninhalte sie bearbeiten und vertiefen möchten (z. B. Schule H).

Lernaufgaben: Lehrpersonen erstellen Aufgabensammlungen, die thematisch passende Lernaufgaben beinhalten und von den Schülerinnen und Schülern in den offenen Unterrichtsphasen selbstständig und eigenverantwortlich bearbeitet werden. Auch hier wird das Lernangebot differenziert, indem Aufgabensammlungen mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden und mit Wahl- und Pflichtaufgaben erstellt werden (z. B. Schule A). Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass die Lehrpersonen Aufgaben für einzelne Schülerinnen und Schüler ergänzen oder streichen (z. B. Schule F). Neben Lernaufgaben enthalten die Aufgabensammlungen auch Informationsblätter, die Hinweise zur Aufgabenbearbeitung geben (z. B. Schule A), oder vorgegebene Lernziele, die teilweise mit einem schulinternen Kompetenzraster verknüpft sind (z. B. Schule D). Bei der Erarbeitung solcher Aufgabensammlungen übernehmen die Lehrpersonen häufig Lernaufgaben aus den offiziellen Lehrmitteln. Teilweise werden die Lernaufgaben aber auch selbst entwickelt. Hierbei legen Schule G und Schule M einen Fokus auf qualitätsvolle Lernaufgaben, die verstehens- und problemorientiertes Lernen fördern. Sie sammeln und entwickeln qualitativ hochwertige (Problemlöse-)Lernaufgaben für geführte und offene Unterrichtsphasen, die tiefgreifende Verstehensprozesse evozieren sollen. Herausforderungen bei der Bearbeitung der Aufgabensammlungen sehen Lehrpersonen aller Schulen darin, dass die Schülerinnen und Schüler Lernaufgaben lediglich abarbeiten, ohne sich dabei intensiv mit den Lerninhalten auseinanderzusetzen. Das Ziel würde demgegenüber darin bestehen, dass sich die Schülerinnen und Schüler auf die Lerninhalte einlassen und sich tiefenverstehend damit befassen. Dies ist in selbstständigen und eigenverantwortlichen Lernphasen anspruchsvoll und wird mit den Schülerinnen und Schülern entsprechend trainiert (z. B. Schule G). Die Korrektur der gelösten Aufgaben übernehmen nicht nur die Lehrpersonen (z. B. Schule L), sondern auch die Schülerinnen und Schüler selbst (z. B. Schule B und K).

Lernzeit: Die Schülerinnen und Schüler planen in den offenen Unterrichtsphasen ihren Lernprozess selbst und bestimmen, wann sie welche Lernaufgabe bearbeiten. Dadurch haben sie die Möglichkeit, Aufgaben im eigenen Lerntempo zu lösen. Ziel ist es, die Aufgaben der Lehrperson bis zu einer festgelegten Frist abzugeben (z. B. Schule E und H). Darüber hinaus können die Schülerinnen und Schüler in Schule L und Schule K mitbestimmen, wann Gelerntes überprüft wird.

Lernformen: Auch die Lernformen können die Schülerinnen und Schüler selbst bestimmen. Sie entscheiden, ob sie Lernaufgaben allein am persönlichen Arbeitsplatz in einem ruhigen Lernraum mit „Flüsterkultur“ lösen wollen oder kooperativ in Partner- oder Gruppenarbeit. Für kooperative Lernphasen stehen den Schülerinnen und Schülern entsprechende Lernorte wie Gänge oder kleinere Gruppenräume, in denen miteinander geredet werden kann, zur Verfügung (z. B. Schule J).

Lernpartnerin/Lernpartner: Ebenfalls selbst wählen können die Schülerinnen und Schüler in kooperativen Lernphasen ihre Lernpartnerinnen und Lernpartner. Sie helfen sich bei Verständnisschwierigkeiten und bearbeiten gemeinsam Lernaufgaben (z. B. Schule H). Für Lehrpersonen ist es diesbezüglich herausfordernd, wenn kein auf schulische Themen bezogenes Lernen stattfindet. Wenn sie dies bemerken, teilen sie die Schülerinnen und Schüler neu ein (z. B. Schule M).

Individuelle und kooperative Lernphasen

Lehrpersonen passen Lernangebote den individuellen Lerninteressen und -voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler an. Zu diesem Zweck wird die Anzahl der zu bearbeitender Lernaufgaben reduziert, individuelle Lernziele werden definiert oder die Schülerinnen und Schüler können Lerninhalte individuell vertiefen (z. B. Schule M). Neben individuellen Lernphasen wird auch kooperatives Lernen gefördert. In kooperativen Settings findet ein Lernen miteinander und voneinander statt, indem sich die Schülerinnen und Schüler gegenseitig helfen und unterstützen. Einige von ihnen werden, wenn sie sich in einem Lerngegenstand sehr gut auskennen und diesen verstanden haben, zu Hilfslehrpersonen ernannt, die den Mitschülerinnen und Mitschülern bei Schwierigkeiten helfen können (z. B. Schule F). Des Weiteren helfen sie sich in der Organisation des selbstständigen und eigenverantwortlichen Lernens. In Sublerngruppen unterstützen sich die Schülerinnen und Schüler in der Planung der offenen Unterrichtsphasen, indem sie gemeinsam oder allein die nächsten Aufgaben planen und bestimmen, wann sie auf Prüfungen lernen müssen. Danach geben sie sich gegenseitig Feedback zu ihren Plänen (z. B. Schulen D und K).

Als herausfordernd thematisiert wird an allen Schulen das Verhältnis zwischen individuellem und kooperativem Lernen in der Lerngemeinschaft. Würde ein stark individuelles Lernen zugelassen und alle Lernenden würden an je eigenen Inhalten, Lernaufgaben und Lernzielen arbeiten, gäbe es kaum noch inhaltlich relevante Lerngegenstände, an denen die Lerngruppe gemeinsam arbeiten würde. Das Abwägen zwischen individuellen Lernwegen und dem Lernen in der Gemeinschaft ist daher ein steter Balanceakt, wie dies Lehrpersonen der Oberstufe von Schule M beschreiben. Zudem muss insbesondere in öffentlichen Schulen ein Lehrplan eingehalten werden und es müssen teils verpflichtende Lehrmittel bearbeitet werden, die ein individuelles Lernen einschränken.

Lernunterstützung und Lernbegleitung

Lehrpersonen sind Teil der kooperativen Lerngemeinschaft und unterstützen in offenen Unterrichtsphasen, in denen die Schülerinnen und Schüler selbstständig und eigenverantwortlich Lernaufgaben bearbeiten, aktiv das schulische Lernen. Hierzu wurden folgende Tätigkeiten beschrieben: Lehrpersonen beraten bei Fragen und Schwierigkeiten und helfen in der Organisation und Strukturierung selbstständigen Lernens (z. B. Schule G). Lehrpersonen ermutigen die Schülerinnen und Schüler, fachliche Verständnisschwierigkeiten zu überwinden (z. B. Schule M), und fordern sie mit kognitiv anspruchsvollen Lernaufgaben und Lerninhalten heraus (z. B. Schule F). Zudem werden in Einzelgesprächen Lernprozesse reflektiert und Highlights wie auch Stolpersteine besprochen. Dies findet während der Unterrichtsgespräche oder in eigens für die Lernaktivität durchgeführten Coaching-Gesprächen statt (z. B. Schule A, D, E, G). Darüber hinaus sind Lehrpersonen gefordert, lernwirksame Lehr- und Lernbeziehung zwischen den Schülerinnen und Schülern und sich selbst sowie zwischen den Schülerinnen und Schülern untereinander zu gestalten und zu fördern.

Eine Besonderheit in offenen Unterrichtsphasen besteht darin, dass die Schülerinnen und Schüler häufig Aufgaben eines für die anwesende Lehrperson fachfremden Fachs bearbeiten. Verstehen die sie fachliche Inhalte einer Aufgabe nicht, sind die Lehrpersonen daher gefordert, in fragegeleiteten Lerndialogen Wissensbestände bei den Schülerinnen und Schülern zu aktivieren, die es ihnen ermöglichen, das Verstehensproblem selbst zu lösen (z. B. Schule E).

Zentrales Element der Lernunterstützung sind Lerndialoge. Dies sind vertrauensvoll geführte Gespräche, in denen Arbeitsfortschritte und Lernprozesse realistisch und tiefgreifend reflektiert werden und die Schülerinnen und Schüler Rückmeldungen zur Unterrichtsgestaltung geben können (z. B. Schule M). In einer produktiven Lernatmosphäre fühlen sich die Schülerinnen und Schüler wohl, werden bei Fehlern oder Verständnisfragen nicht bloßgestellt und arbeiten in einem ruhigen Lernklima (z. B. Schule E).

Für die Lernbegleitung setzen die Lehrpersonen unterstützende Arbeitsinstrumente ein, zum Beispiel Software zur Verwaltung von zu lösenden und bereits erarbeiteten Lernaufgaben (z. B. Schule L) oder Instrumente für Schülerinnen und Schüler, mit denen sie ihre eigenen Lernwege planen, verwalten und reflektieren können (z. B. Wochenplan, Agenda). Ebenfalls eingesetzt werden Kompetenzraster (z. B. Schule G), mit denen Lehrpersonen den fachlichen und den überfachlichen Kompetenzerwerb überprüfen, dokumentieren und reflektieren.

Lehrpersonen sind in der Lernunterstützung herausgefordert, lernförderliches Verhalten zu unterstützen und bei lernhinderlichem Verhalten zu intervenieren. Als herausfordernd erachten Lehrpersonen in diesem Zusammenhang Situationen, in denen Schülerinnen und Schüler vortäuschen, zu arbeiten, oder Lernaufgaben über eine längere Zeit falsch bearbeiten und die Lehrperson dies erst spät erkennt, weil sie mit anderen Schülerinnen und Schülern beschäftigt war respektive ist oder die betreffende Schülerin oder der betreffende Schüler die Fehler nicht bemerkt (z. B. Schule D). Herausfordernd ist auch, dass leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler in offenen Unterrichtsphasen mehr Unterstützung in der Organisation und der Strukturierung des Lernens benötigen, bevor sie mit dem Bearbeiten von Lernaufgaben beginnen können, als leistungsstärkere Schülerinnen und Schüler. In solchen Fällen kommunizieren Lehrpersonen mit Nachdruck ihre Erwartungen an das Lernverhalten, reduzieren die zu bearbeitenden Lernaufgaben und überwachen die Lernprozesse der betreffenden Schülerinnen und Schüler häufiger (z. B. Schule F). Dadurch bleibt jedoch weniger Zeit für die Lernbegleitung anderer Schülerinnen und Schüler. In Schule L wird deswegen darüber diskutiert, wie trotz der ressourcenintensiven Lernunterstützung leistungsschwächerer Schülerinnen und Schüler auch die Leistungsstärkeren unterstützt werden können. Lehrpersonen von Schule H führen des Weiteren aus, dass nicht alle Lehrpersonen ihre Lernunterstützung so wahrnähmen wie bisher beschrieben. Hier gibt es Lehrpersonen, welche die offenen Unterrichtsphasen zum Korrigieren von Lernaufgaben nutzen oder eine Art „Pause“ machen.

Fachlicher und überfachlicher Kompetenzaufbau

Damit die Schülerinnen und Schüler selbstständig und eigenverantwortlich – sei dies allein oder mit Mitschülerinnen und Mitschülern und/oder der Lehrpersonen – lernen können, benötigen sie ein fachliches Verständnis der Lerninhalte. Dieses führen Lehrpersonen in den geführten Unterrichtsphasen ein, während die Schülerinnen und Schüler neu gewonnenes Wissen in den offenen Unterrichtsphasen üben und vertiefen. Darüber hinaus werden überfachliche Kompetenzen vermittelt und mit den Schülerinnen und Schülern geübt, z. B. im Hinblick darauf, wie sich die Schülerinnen und Schüler wirkungsvoll gegenseitig unterstützen und helfen können (z. B. Schule F). Zusätzlich trainieren die Lehrpersonen mit ihren Schülerinnen und Schülern Lernstrategien und -techniken, damit die Schülerinnen und Schüler ihre Lernprozesse selbstständig und eigenverantwortlich steuern können, indem sie beispielsweise Lernpläne erstellen und umsetzen, konzentriert an ihren Lernaufgaben arbeiten, sich motivieren etc. Überfachliche Kompetenzen werden auch durch Reflexionsteile in den Aufgabensammlungen, in Planungsbüchern (z. B. Schule L), in Sublerngruppen (z. B. Schulen D und K) oder in Coaching-Gesprächen eingeübt (z. B. Schule M). Hier werten sie ihre Arbeitsfortschritte aus und formulieren neue Lernziele.

Im Zusammenhang mit überfachlichen Kompetenzen werden Herausforderungen in der Lernnutzung von offenen Unterrichtphasen beschrieben: Selbstständiges und eigenverantwortliches Lernen erfordert einen gewissen Grad an Eigenmotivation und den Willen, auch in herausfordernden Lernphasen an den Lernaufgaben weiterzuarbeiten. Es kommt jedoch wie oben bereits ausgeführt vor, dass Schülerinnen und Schüler lediglich vortäuschen, zu arbeiten, während sie untätig an ihrem Platz sitzen oder voneinander abschreiben. Zielstrebige Schülerinnen und Schüler können gut eigenverantwortlich lernen. Sie fordern Aufgabensammlungen und stecken sich selbst Lernziele (z. B. Schule D und L). Andere Lehrpersonen berichten, dass die Lernmotivation der meisten Schülerinnen und Schüler seit der Einführung des neuen Lernkonzepts gestiegen sei. So beobachten die Lehrpersonen von Schule M, dass die Lernmotivation insbesondere am Ende des Schuljahres hoch ist, obwohl bereits alle Noten feststehen und die Ferien nahe sind. Sie führen dies darauf zurück, dass die Schülerinnen und Schüler ihre Lernaufgaben selbst wählen und diese in ihrem eigenen Lerntempo selbstständig bearbeiten können. Ähnliche Beobachtungen hinsichtlich der Motivationssteigerung durch die Auswahlmöglichkeiten von Lehrinhalten führen Lehrpersonen von Schule H aus. In Schule G steige die Motivation durch den Einsatz von Kompetenzrastern, weil die Lernziele und die Leistungsfortschritte dadurch transparent und sichtbar gemacht würden.

8.1.2 Mehr als die Entwicklung des eigenen Unterrichts: unterrichtszentrierte Schulentwicklung

Um Lehr- und Lernprozesse vermehrt zu personalisieren, werden wie im vorhergehenden Kapitel dargestellt umfassende Veränderungen auf der Unterrichtsebene vorgenommen. Hierbei zeigt sich in allen untersuchten Schulen, dass die Kooperation zwischen den Lehrpersonen untereinander und mit der Schulleitung (innerschulische Kooperation) sowie diejenige zwischen Lehrpersonen und Schulleitenden mit Eltern, Schulbehörden etc. (außerschulische Kooperation) für den erfolgreichen Entwicklungsverlauf bedeutsam sind. Darüber hinaus ist allen Schulen gemeinsam, dass neben der Unterrichtsebene ebenso umfangreiche Veränderungen auf der Schulebene stattfinden. Ein Grund hierfür ist, dass in den untersuchten Schulen Konzepte personalisierten Lernens nicht nur in einzelnen Klassen, sondern in der gesamten Schule flächendeckend eingeführt wurden. Damit einhergehend werden zum einen die organisationalen Strukturen (Stundenplan, Einteilung der Lerngruppen etc.) angepasst und zum anderen wird die Professionalisierung unterstützt, geeignetes Personal rekrutiert und das gemeinschaftliche Schulleben gefördert.

Innerschulische Kooperation

Um die Strukturmerkmale sowie die Merkmale didaktischen Handelns in der gesamten Schule einheitlich weiterzuentwickeln, kooperieren Lehrpersonen und Schulleitende miteinander. Sie tauschen Unterrichtsmaterialien wie etwa Aufgabensammlungen über eine Datenbank (z. B. Schulen D und L) aus und besprechen das Lern- und Sozialverhalten der Schülerinnen und Schüler. Berufliche Aufgaben werden arbeitsteilig oder in intensiveren Kooperationsformen zusammen bearbeitet: Unterricht wird miteinander und füreinander vorbereitet, es wird gemeinsam im Team-Teaching unterrichtet und Lehr- und Lernprozesse werden gemeinsam reflektiert (z. B. Schulen J und F). Zudem erarbeiten sich die Lehrpersonen einen Konsens hinsichtlich der pädagogischen und didaktischen Gestaltung von offenen Unterrichtsphasen, zum Beispiel Kriterien qualitätsvoller Lernaufgaben (Schule H).

In allen Schulen wird betont, wie bedeutsam innerschulische Kooperation einerseits für einen gelingenden Entwicklungsprozess und andererseits für die didaktische und pädagogische Arbeit vor allem in den offenen Unterrichtsphasen sei. Die Lehr- und Lernarrangements sind so komplex, dass diese von Einzelpersonen kaum mehr bearbeitbar sind und die Lehrpersonen darauf angewiesen sind, mit ihren Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen zum Beispiel Unterrichtsbeobachtungen auszutauschen, diese zu interpretieren und daraus weitere Konsequenzen abzuleiten.

Wie bei der Gestaltung personalisierter Lehr- und Lernprozesse lassen sich auch im Bereich der Kooperation Herausforderungen feststellen. Herausfordernd sind u. a. Meinungsverschiedenheiten und Konflikte hinsichtlich der pädagogischen und didaktischen Gestaltung des jeweiligen Unterrichtskonzepts (z. B. Schulen B, F und L). Als ebenso herausfordernd werden Wechsel im Team wahrgenommen, weil das Einarbeiten von neuen Lehrpersonen sehr zeitaufwendig ist und bis zu zwei Jahren dauern kann (z. B. Schule D, F und G). Zudem muss mit den neuen Lehrpersonen wieder ein Konsens über pädagogische und didaktische Grundvorstellungen erarbeitet werden (z. B. Schulen E und J).

Außerschulische Kooperation

Nicht nur die innerschule Kooperation wird als bedeutsam beschrieben, sondern auch die Zusammenarbeit mit außerschulischen Akteurinnen und Akteuren. In der vorliegenden Arbeit konnten vier bedeutsame Akteursgruppen eruiert werden: lokale Schulbehörde, Eltern, Beratende und Schulen mit ähnlichen Unterrichtskonzepten. Mit Beratenden und Schulen mit ähnlichen Unterrichtskonzepten tauschen die untersuchten Schulen vor allem Ideen und Anregungen sowie mit Letzteren auch Unterrichtsvorbereitungen aus und reflektieren mit ihnen eigene Entwicklungsprozesse (z. B. Schule H). Solche Austauschprozesse werden mit lokalen Schulbehörden und Eltern kaum beschrieben. In diesem Fällen informieren Schulleitende und Lehrpersonen über ihren Entwicklungsprozess in Richtung einer vermehrt personalisierten Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen und leisten Überzeugungsarbeit. Einige Schulen binden Eltern auch gezielt in die Entwicklung mit ein und lassen sie Arbeitsdokumente kommentieren (z. B. Schule M).Footnote 1 Dass lokale Schulbehörden und Eltern für eine erfolgreiche Schul- und Unterrichtsentwicklung wichtig sind, zeigt sich in umgekehrter Weise in Schule B, in der der Entwicklungsprozess u. a. infolge des Intervenierens der Eltern und der fehlenden Unterstützung der lokalen Schulbehörde gestoppt wurde.

Organisationale Strukturen

Zu den organisationalen Strukturen werden die Gruppierung der Lernenden in Lerngruppen und Lehrpersonen in Teams, aber auch Stundenpläne sowie Lernräume gezählt. Diese Aspekte werden nachfolgend beschrieben. Sie sind mit wenigen Ausnahmen, die am Schluss ausgeführt werden, innerhalb jeder Schule einheitlich gestaltet.

Lerngruppen und Teams von Lehrpersonen: In allen Schulen werden die Lerngruppen durchmischt und je nach Fach flexibel neu zusammengesetzt. In den offenen Unterrichtsphasen gibt es leistungsdurchmischte (z. B. Schule L), altersdurchmischte (z. B. Schule F) sowie alters- und leistungsdurchmischte Lerngruppen (z. B. Schule A). In den geführten Unterrichtsphasen sind die Lerngruppen im Gegensatz dazu leistungs- und/oder altershomogen zusammengesetzt. In Abhängigkeit davon, wie die Lerngruppen strukturiert werden, setzen sich auch die Teams von Lehrpersonen verschieden zusammen. In Schulen, in denen die Jahrgänge getrennt sind, organisieren sich die Lehrpersonen in Jahrgangsteams (z. B. Schule E). In Primar- und Gesamtschulen gibt es Stufenteams (z. B. Schule J). In solchen Subteams werden konkrete Entwicklungstätigkeiten umgesetzt.

Stundenplan: In den Stundenplänen von großen Schulen sind feste Zeitspannen für geführte und offene Unterrichtsphasen vorgesehen (z. B. Schule H und L). In anderen, insbesondere kleineren Schulen (z. B. Schule F, J und K) werden diese Phasen auch situativ eingesetzt. Merken die Lehrpersonen im Unterricht, dass einige Schülerinnen und Schüler mit einer Lernaufgabe Schwierigkeiten haben oder einen kurzen Input zu einem Lerninhalt benötigen, um diesen besser zu verstehen, können solche Inputsequenzen im selben Lernraum durchgeführt werden. In dieser Zeit arbeiten die anderen Schülerinnen und Schüler an ihren Lernaufgaben weiter. Während der Unterricht mit geführten und offenen Unterrichtsphasen in den Fächern Mathematik und Deutsch überall auf diese Weise strukturiert ist, werden weitere Fächer, zum Beispiel Geschichte, Geografie, Naturwissenschaften oder Fremdsprachen (z. B. Schule D und F), nur vereinzelt so unterrichtet. Für Lektionen, die länger dauern als die üblichen 45 Minuten, werden Stunden dieser Fächer zeitlich aneinandergereiht (z. B. Schule B).

Lernräume: Wie bei den Stundenplänen lassen sich die Schulen hinsichtlich ihrer Lernräume unterteilen. In Schulen mit festen Zeitgefäßen für geführte und offene Unterrichtsphasen gibt es große Lernräume, sogenannte „Lernlandschaften“, in denen jede Schülerin und jeder Schüler über einen persönlichen Arbeitsplatz verfügt und in denen mehr als 30 Schülerinnen und Schüler Platz finden (z. B. Schule H und L). Die geführten Unterrichtsphasen finden in separaten, kleineren Lernräumen statt. In Schulen mit situativem Einsatz von geführten und offenen Unterrichtsphasen findet alles in einem Raum statt, der in unterschiedliche Lernzonen unterteilt ist (z. B. Schule J).

Zusammenfassend zeigt sich, dass die die organisationale Struktur von Lernzeit, Lernräumen und Lerngruppen in neun der untersuchten Schulen gleich ist. In zwei Schulen zeigen sich jedoch Unterschiede: In Schule K werden zwei Lerngruppen zusammen in einem großen Lernraum unterrichtet, zwei Lerngruppen sind durch eine Wand mit Tür getrennt und zwei weitere Lerngruppen liegen zu weit auseinander, als dass sie für gemeinsamen Unterricht zusammengelegt werden könnten. In Schule B wiederum gibt es zwei Gruppen von Lehrpersonen, die in unterschiedlichen organisationalen Strukturen (Raum, Zeit und Lerngruppen) arbeiten: zum einen die Entwicklungsgruppe, welche die Umstrukturierungen vorgenommen hat, und zum andern die restlichen Lehrpersonen, welche in den vorhergehenden Strukturen unterrichten.

Professionalisierung und Personalrekrutierung

Professionalisierungsprozesse können sich in intensiven Kooperationsformen zwischen Lehrpersonen ergeben, zum Beispiel bei der gemeinsamen Unterrichtsvorbereitung, -durchführung und -reflexion. Weitere Lernmöglichkeiten für Lehrpersonen ergeben sich durch den Besuch von Weiterbildungen. Mögliche Weiterbildungsthemen sind u. a. kooperative Lehr- und Lernformen (z. B. Schule L) oder Lerncoaching (z. B. Schule E).

Bei der Personalrekrutierung achten Schulleitende darauf, dass neue Lehrpersonen motiviert sind, in einem Unterrichtskonzept mit vermehrt personalisierter Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen zu arbeiten. Ebenso wichtig ist es den Schulleitenden, dass neue Lehrpersonen eine integrative Beschulung unterstützen und die Herausforderungen mit heterogenen Lerngruppen als berufliche Bereicherung wahrnehmen (z. B. Schule H).

Gemeinschaftliches Schulleben

Die Schulleitenden und Lehrpersonen nehmen durch die Zusammenlegung von alters- und/oder leistungsdurchmischten Lerngruppen ein verändertes Gemeinschaftsgefühl wahr. Die Schülerinnen und Schüler erhalten dadurch erweiterte Möglichkeiten bei der Auswahl von Lernpartnerinnen und Lernpartnern (z. B. Schule J). Auch im Kollegium wird das Gemeinschaftsgefühl gestärkt, indem zum Beispiel gemeinsam getragene pädagogische und didaktische Grundhaltungen erarbeitet werden (z. B. Schule A).

8.1.3 Qualitätsmerkmale der Gestaltung von Entwicklungsprozessen in Richtung personalisierten Lernens

In einem nächsten Schritt wird nachfolgend der Frage nachgegangen werden, welche Merkmale in einem Entwicklungsprozess in Richtung personalisierten Lernens bedeutsam für dessen gelingen sind. Auf der Grundlage der Datenauswertung des dritten Teils von Studie 2 (siehe Abschnitt 7.5), bei der die elf Schulen mittels Clusteranalyse in zwei Gruppen unterteilt werden konnten, und unter der Hinzunahme der bisher gewonnenen Erkenntnisse (Abschnitt 8.1.1 und Abschnitt 8.1.2) lassen sich in vier Hinsichten Gelingensbedingungen formulieren. Es sind dies

  • die partizipative und aktive Bearbeitung eines komplexen Entwicklungsprozesses (Abschnitt 8.1.3.1),

  • Entwicklung als kontinuierlicher Lernprozess von Schulleitenden, Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern (Abschnitt 8.1.3.2),

  • Merkmale der Tiefenstruktur von Unterricht erkennen und weiterentwickeln (Abschnitt 8.1.3.3) und

  • ko-konstruktive Gestaltung eines Entwicklungsprozesses im Schulteam (Abschnitt 8.1.3.4).

8.1.3.1 Partizipative und aktive Bearbeitung eines komplexen Entwicklungsprozesses

In jeder der untersuchten Schulen wird ein zu den gegebenen Rahmenbedingungen passendes Unterrichtskonzept erarbeitet. Entwicklungsideen und -vorgaben werden entsprechend an die Schul- und Unterrichtssituation angepasst, weshalb es keine standardisierte „Vorlage“ für die Entwicklung personalisierter Lernumgebungen gibt. Was allerdings bei allen Schulen gleich ist, ist die Komplexität eines solchen Entwicklungsprozesses. Diese manifestiert sich beispielsweise in den 20 Entwicklungsgegenständen (siehe Abschnitt 7.2), die in allen untersuchten Schulen bearbeitet und für eine personalisierte Lernumgebung aufeinander bezogen und miteinander abgestimmt werden.

Auch eine personalisierte Lernumgebung ist ein komplexes Handlungsfeld, weil eine Lehrperson nicht mehr – wie in einem eng geführten Klassenunterricht – 20 bis 30 mehr oder weniger leistungsähnliche Gleichaltrige unterrichtet. In den untersuchten Schulen wurde die Heterogenität in den Lerngruppen bewusst erhöht. In Schule J beispielsweise gibt es im Fach Mathematik eine altersdurchmischte Lerngruppe mit insgesamt neun Leistungsniveaus: drei Jahrgänge mit je drei Leistungsniveaus werden zusammen in einem Lernraum unterrichtet.

Da im Entwicklungsprozess verschiedene Gegenstände koordiniert und bearbeitet werden und die Komplexität hoch ist, reicht es nicht aus, wenn Schulleitende und Lehrpersonen den Prozess als passive Beobachtende einfach sich selbst überlassen. Erforderlich sind vielmehr eine aktive Einflussnahme sowie ein aktives Bearbeiten von Herausforderungen und Schwachstellen im Unterrichtskonzept. Dies wird in allen Schulen beschrieben, wobei sich die Aktivitäten zwischen Reagieren und Proagieren differenzieren lassen. In der Gruppierung der Schulen (Studie 2/Teil 3; siehe Abschnitt 7.5) zeigt sich, dass in den Schulen B und K – im Vergleich zu den anderen Schulen – vermehrt reaktive und seltener proaktive Entwicklungstätigkeiten beschrieben werden. Herausforderungen werden hier eher ad hoc bearbeitet und weniger vorausschauend angepackt.

Ein weiteres Ergebnis in der Auswertung nach den beiden Gruppen weist auf die Bedeutung der Partizipation für die unterrichtszentrierte Schulentwicklung in Richtung personalisierten Lernens hin. In Schule B und Schule K lässt sich eine fehlende Kohärenz zwischen den Interviewausführungen der Schulleitenden und jenen der Lehrpersonen konstatieren. So berichten Schulleitende umfangreicher und differenzierter über einige Entwicklungstätigkeiten, die in den Interviews mit den Lehrpersonen nur vage oder gar nicht ausgeführt werden. Zudem werden an diesen beiden Schulen häufiger individuelle Entwicklungstätigkeiten beschrieben als an den anderen neun Schulen. Beides deutet darauf hin, dass die Lehrpersonen an den Schulen B und K im Vergleich zu den Lehrpersonen der anderen neun Schulen weniger an gemeinsam getragenen Entwicklungsbestrebungen partizipieren.

Möglichkeiten, dass auch weitere Akteursgruppen – Schülerinnen und Schüler, Eltern, Schulbehörde, Beratende und andere außerschulische Gruppen – direkt und indirekt Einfluss auf die Entwicklungsprozesse nehmen können, ergeben sich beispielsweise durch Befragungen oder bei persönlichen Feedbackgesprächen zwischen der Schule und diesen Akteursgruppen. Partizipation zielt u. a. darauf ab, eine breite Akzeptanz für eine vermehrt personalisierte Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen zu erreichen und durch die mehrfache Auseinandersetzung mit dem Entwicklungsvorhaben in Gesprächen mit den verschiedenen Akteursgruppen ein gut durchdachtes und auf Lernebene wirksames Unterrichtskonzept zu erarbeiten.

8.1.3.2 Entwicklung als kontinuierlicher Lernprozess von Schulleitenden, Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern

In Studie 1 (siehe Abschnitt 7.1) wurde herausgearbeitet, dass in allen Schulen zahlreiche und umfassende Entwicklungstätigkeiten beschrieben werden. Dass das auch an den Schulen D, G, J und M der Fall ist, an denen seit mehr als acht Jahren in personalisierten Unterrichtskonzepten unterrichtet wird, mag zunächst erstaunlich wirken. Dies stützt jedoch die Annahme, dass eine unterrichtszentrierte Schulentwicklung in Richtung personalisierten Lernens nie vollumfänglich abgeschlossen ist, sondern stetiger Anpassungen und Optimierungen bedarf.

Ein Grund für die stetige Weiterentwicklung ist, dass in den Unterrichtskonzepten der untersuchten Schulen die Lernbedürfnisse und Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler im besonderen Masse berücksichtigt werden und sich diese über die Jahre verändern können, weil zum Beispiel nach jedem Schuljahr Schülerinnen und Schüler die Schule verlassen und neue hinzukommen. In Schule K betraf ein wichtiges Entwicklungsvorhaben im ersten Erhebungsjahr die Lernunterstützung leistungsschwacher Schülerinnen und Schüler, während dieses Thema im zweiten und dritten Erhebungsjahr kaum noch angesprochen wurde, weil viele leistungsschwache Schülerinnen und Schüler nicht mehr an der Schule waren und die zu dieser Zeit unterrichteten Schülerinnen und Schüler leistungsstärker waren.

Durch das regelmäßige Reflektieren über die Passung des Unterrichtkonzepts auf die Schülerinnen und Schüler befinden sich die Schulleitenden und die Lehrpersonen in einem kontinuierlichen Lernprozess. In diesem Zusammenhang eignen sich Lehrpersonen zum Beispiel neue didaktische Handlungsmöglichkeiten in der Lernorganisation und in den Inszenierungsformen an, entwickeln sich aber auch im Erkennen und Beeinflussen tiefenstruktureller Merkmale in offenen Unterrichtsphasen weiter. Darüber hinaus sind Entwicklungsprozesse auch von Rückschlägen geprägt, die in der Folge zum Lernen aus Fehlern anregen. In Studie 1 wurden Entwicklungstätigkeiten beschrieben, die den Erwartungen der Schulleitenden und Lehrpersonen nicht oder nur teilweise entsprochen hatten und deshalb überarbeitet oder ganz abgebrochen wurden. Beispielsweise war in Schule D die Einführung eines alters- und leistungsdurchmischten Englischunterrichts zu Beginn wenig erfolgreich, weil die didaktische Ausgestaltung zu wenig individuelles und kooperatives Lernen, bei dem sich die Schülerinnen und Schüler intensiv mit der Sprache auseinandersetzen sollten, umfasste. Infolgedessen wurde das Konzept überarbeitet und die eruierten Schwächen wurden beseitigt. Ein anderes Beispiel ist Schule B. Hier führten verschiedenste Gründe dazu, dass das neue Unterrichtskonzept nicht mehr umgesetzt wurde und die Entwicklungsgruppe die Schule verließ bzw. verlassen musste. Trotz der unterschiedlichen Ausganglagen und kontextuellen Umstände lässt sich in Bezug auf das Lernen aus Fehlern anhand der folgenden beiden Beispiele eine Gemeinsamkeit aufzeigen, die darin besteht, dass sich diesbezüglich Interviewaussagen finden lassen, die auf Schwächen in der Ausgestaltung tiefenstruktureller Unterrichtsmerkmale hinweisen. In Schule D wird eine kognitiv wenig aktivierende Lernumgebung beschrieben. In Schule B wiederum scheint die Lernunterstützung bei der Bearbeitung der Aufgabensammlung nur in geringem Ausmaß von Coaching und Beratung geprägt gewesen zu sein, denn die Schülerinnen und Schüler wurden häufig sich selbst überlassen. Somit kann „Scheitern“ mit Blick auf die Einführung und die Weiterentwicklung eines Konzepts personalisierten Lernens zwar negativ sein, weil das ganze Konzept abgesetzt wird. Gleichwohl haben Rückschläge und „Scheitern“ auch einen positiven Effekt, weil solche Erfahrungen auf konzeptionelle Schwächen und mangelnde Umsetzung der Lernkonzepte, zum Beispiel bezüglich tiefenstruktureller Unterrichtsmerkmale, hinweisen können.

8.1.3.3 Merkmale der Tiefenstruktur von Unterricht erkennen und weiterentwickeln

Die Interviewanalysen zeigen, dass in allen Schulen die Weiterentwicklung von tiefenstrukturellen Merkmalen beschrieben wird (siehe Abschnitt 7.3 und 7.4). Das heißt, in den Interviewaussagen ließen sich theoretisch erarbeitete Merkmale guten Unterrichts wiederfinden: Lehrpersonen gestalten anregende und motivierende Lernumgebungen mit kognitiv aktivierenden Lernaufgaben. Sie fördern eine produktive und positive Lernatmosphäre, in der sowohl die Lehrpersonen mit den Schülerinnen und Schülern als auch die Schülerinnen und Schüler untereinander vertrauensvoll und wertschätzend interagieren. Lehr- und lernbezogene Kommunikation ist geprägt von ko-konstruktiven Dialogen, in denen die Schülerinnen und Schüler zu verstehensorientierten Lernprozessen angeregt und motiviert werden. Lehrpersonen begleiten und unterstützen sie beim Lernen und knüpfen hierbei an die individuellen Lernvoraussetzungen und -bedingungen an. Lehrprozesse sind ausgerichtet auf den fachlichen und den überfachlichen Kompetenzerwerb, der die Schülerinnen und Schüler u. a. dazu befähigen soll, in offenen Unterrichtsphasen selbstständig und eigenverantwortlich zu lernen. Die Schülerinnen und Schüler können Feedbacks zum individuellen Lernen, zum Lernen in der Lerngruppe sowie zum didaktischen Handeln der Lehrperson geben. Dieses Feedback wiederum führt zu einer Anpassung des Lernangebots.

Solche Tiefenmerkmale von Unterricht werden allerdings in unterschiedlichem Masse erkannt und weiterentwickelt: Acht Schulen (Schulen A, D, E, G, H, J, L und M) berichten häufiger und differenzierter über Tiefenmerkmale von Unterricht als die anderen drei Schulen (Schulen B, F und K). Zum Beispiel schildern die Interviewten aus erstgenannter Gruppe, wie sie ihre Schülerinnen und Schüler in offenen Unterrichtsphasen motivierend und strukturierend begleiten oder unterstützen und wie sie Lernumgebungen kreieren, in denen die Schülerinnen und Schüler nicht nur die Lernaufgaben abarbeiten, sondern sich auf tiefgehender mit den Lerninhalten auseinandersetzen. So beschreiben die Interviewten in den Schulen A, G und M, wie sie gemeinsam (Problemlöse-)Lernaufgaben sammeln und entwickeln. Anhand dieser Aufgaben sollen sich die Schülerinnen und Schüler allein oder gemeinsam mit anderen Schülerinnen und Schülern tiefgehend mit einem fachlichen Problem auseinandersetzen.

Die Anteile der Aussagen, die der Qualitätsebene der Tiefenstruktur des Unterrichts zugeordnet werden können, korrelieren in der untersuchten Stichprobe jedoch nicht mit der Einschätzung des Entwicklungsstands. Somit lässt sich die Annahme nicht bestätigen, dass Schulleitende und Lehrpersonen ihren Entwicklungsstand als gut einschätzen, wenn sie in den Interviews äußern, dass sie Qualitätsmerkmale guten Unterrichts bewusst berücksichtigen, diese weiterentwickeln und versuchen, mit ihrem qualitätsvollen didaktischen Handeln kognitive, motivational-emotionale und soziale Dynamiken des Lernens positiv zu beeinflussen. Allerdings legen die Ergebnisse der Clusterbildung nahe, dass es in der Gruppe, in der häufiger über die Entwicklung von Tiefenmerkmalen gesprochen wurde (Schulen A, D, E, G, H, J, L und M), ein stärker ausgeprägtes Bewusstsein für die tiefenpsychologische Lehr- und Lernebene vorhanden ist als in der anderen Gruppe (Schulen B, F und K). In Verbindung mit dem Ergebnis, dass der Entwicklungsstand in der Gruppe mit den acht Schulen positiver eingeschätzt wird als in der Gruppe mit den drei Schulen, lässt sich vor diesem Hintergrund Folgendes schlussfolgern: Lehrpersonen und Schulleitende aus der ersten Gruppe sind zufriedener mit der Entwicklung ihres Konzepts personalisierten Lernens. Sie schaffen es durch wirksame Lernunterstützung vermehrt, dass ihre Schülerinnen und Schüler allein oder in Lerngemeinschaften selbstständig und eigenverantwortlich Lernen und sich verstehensorientiert mit Lerninhalten auseinandersetzen.

8.1.3.4 Ko-konstruktive Gestaltung von Entwicklungsprozessen im Schulteam

In allen Schulen zeigen sich intensive, ko-konstruktive Formen in der gemeinsamen Gestaltung von Entwicklungsprozessen (siehe Abschnitt 7.1). Darunter sind Formen der sozialen Interaktion zu verstehen, in denen Wissens- und Erfahrungsbestände ausgetauscht und verknüpft werden, um gemeinsam bestmögliche personalisierte Lernumgebungen zu gestalten. Nachfolgend werden Beispiele ko-konstruktiver Kooperation in den untersuchten Schulen und damit einhergehende Herausforderungen aufgeführt.

Ko-konstruktive Kooperation wird in den Interviews beispielsweise dann angesprochen, wenn über Lösungen für unterrichts- und schulrelevante Herausforderungen diskutiert wird und daraus Entwicklungsvorhaben abgeleitet werden. Ein Beispiel dafür findet sich in Schule G, in der im Erhebungszeitraum zwei Lerngruppen und damit auch zwei Lehrpersonenteams zusammengelegt wurden. Die zwei Teams erarbeiteten sich ein einheitliches pädagogisches und didaktisches Grundverständnis, und zwar vor allem für die gemeinsame Arbeit in den offenen Unterrichtsphasen. Auch die gemeinsame Unterrichtsplanung, -durchführung und -reflexion kann als ko-konstruktive Kooperation aufgefasst werden, weil ein intensiver Austausch bezüglich des Lehr- und Lerngeschehens wahrscheinlich ist und so auch Entwicklungspotenziale erkannt und besprochen werden können. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Unterrichtsvorbereitung in Schule F, bei der die Vorbereitungsgruppe für das gesamte Team Grobplanungen und Unterrichtspläne für die offenen Unterrichtphasen erstellt. Von dieser Gruppe werden auch Unterrichtssequenzen vorschriftlich, Lernziele definiert und Prüfungen vorbereitet. Die Lehrpersonen begannen im zweiten Erhebungsjahr damit, sich die Unterrichtsvorbereitungen aus den verschiedenen Fächern gegenseitig vorzustellen, um einerseits einen Einblick zu erhalten und andererseits thematische Überschneidungspunkte zu finden. Letzteres ist ein Beispiel für gemeinsame Entwicklungsarbeit, in der Unterricht reflektiert und verbessert wird. In den Schulen G und M wiederum wird die Qualität der Aufgabensammlungen im Team analysiert und verbessert.

Als Herausforderung in der Kooperation erwiesen sich Meinungsverschiedenheiten und Konflikte im Team. Hier unterscheiden sich die Schulen, was in der Clusteranalyse (Studie 2/Teil 3) aufgezeigt werden konnte. In den Schulen von Cluster 2 (Schulen B, K und F) wird herausfordernde Kooperation beschrieben, die u. a. ein Grund dafür sein kann, dass die Schul- und Unterrichtsentwicklung als nur bedingt erfolgreich eingeschätzt wird. In Schule F wird die Weiterentwicklung des Unterrichtskonzepts vom Mittelstufenteam aktiv vorangetrieben, während dies im Unterstufenteam weniger beschrieben wird. Das wird u. a. damit begründet, dass im Unterstufenteam Konflikte ausgebrochen sind, die gemeinsame Entwicklungstätigkeiten erschweren. Dies führt wiederum zu Unmut im Mittelstufenteam bei der Entwicklung von Lerngelegenheiten, bei denen Schülerinnen und Schüler beider Stufen gemeinsam lernen, weil Ideen und Impulse nicht im gewünschten Ausmaß bearbeitet werden können.

In Schule K wird eine kooperative Gestaltung von Entwicklungsprozessen im Kollegium aufgrund der unterschiedlichen Raumarchitektur erschwert, weil wegen der verschiedenen Arbeitssituationen im Hinblick auf weiterführende Entwicklungen unterschiedliche Erfahrungen gemacht werden: Zwei Lehrpersonen unterrichten durch eine Zusammenlegung von zwei Lernräumen fast alle Stunden gemeinsam. Bei zwei weiteren Lehrpersonen ist dies seltener möglich, weil eine Trennwand ihre zwei Lernräume trennt. Diese Trennwand hat allerdings eine Tür, welche die Räume verbindet. Ein weiteres Team unterrichtet sehr selten zusammen, weil die Lernräume nicht nebeneinander liegen und somit keine direkte Verbindung besteht.

In Schule B sind die Konflikte und Meinungsverschiedenheiten zwischen der Entwicklungsgruppen und der Gruppe von Lehrpersonen, die sich gegen das neue Unterrichtskonzept aussprachen, ein möglicher Grund, warum der Entwicklungsprozess in Richtung personalisierten Lernens abgebrochen wurden.

Die Beispiele zeigen, dass für einen erfolgreichen Verlauf von Entwicklungsprozessen bedeutsam sein kann, dass das Lehrpersonenteam gemeinsam Entwicklung vorantreibt sowie Konflikte und Meinungsverschiedenheiten produktiv bearbeitet werden.

8.2 Diskussion der Ergebnisse

In der vorliegenden Arbeit wurden elf Schulen des perLen-Projekts hinsichtlich der Gestaltung ihrer Unterrichts- und Schulentwicklung in Richtung personalisierten Lernens untersucht. Nachfolgend sollen die Ergebnisse diskutiert werden, die in Bezug auf fünf pädagogisch-psychologische Dimensionen personalisierten Lernens herausgearbeitet wurden (Abschnitt 8.2.1). Des Weiteren soll die Bedeutsamkeit von Merkmalen der Oberflächen- sowie der Tiefenstruktur von Unterricht im Entwicklungsprozess diskutiert werden (Abschnitt 8.2.2). In den theoretischen Ausführungen, in den Interviewanalysen wie auch in der Clusteranalyse zeigte sich, dass das Bewusstwerden von pädagogisch-psychologischen Lehr- und Lernprozessen und deren gezielte Weiterentwicklung für erfolgreiche Entwicklungsprozesse bedeutsam sind. Jedoch konnte in den quantitativen Auswertungen kein Zusammenhang zwischen diesen Aspekten gefunden werden. Es ist daher zu diskutieren, inwiefern der subjektiv eingeschätzte Entwicklungsstand ein geeignetes Maß für den Erfolg von Entwicklungsprozessen darstellt, wenn „Erfolg“ im Sinne eines verbesserten Lernerfolgs der Schülerinnen und Schüler aufgefasst wird (Abschnitt 8.2.3). Danach werden typische Herausforderungen, die mit der didaktischen Gestaltung vermehrt personalisierter Lehr- und Lernprozesse in den elf untersuchten Schulen einhergehen, erörtert (Abschnitt 8.2.4). Diese Herausforderungen werden in den Schulen in Teams von Lehrpersonen bearbeitet. Insbesondere ko-konstruktive Kooperation wird im Zusammenhang mit gemeinsam gestalteten Entwicklungsprozessen beschrieben. Potenziale und Herausforderungen dieser Form von Kooperation für den Entwicklungsprozess im Schulteam werden im anschließenden Unterkapitel diskutiert (Abschnitt 8.2.5). Teamarbeit ist in den untersuchten Schulen erforderlich, um die komplexen Konzepte personalisierten Lernens – u. a. wegen (sehr) heterogener Lerngruppen – erfolgreich weiterzuentwickeln. Auf den Entwicklungsprozess nehmen auch weitere Akteursgruppen Einfluss: Eltern, Schulbehörde, Beratende und andere außerschulische Gruppen. Diesbezüglich ließ sich feststellen, dass erfolgreich verlaufenden Entwicklungsprozessen der untersuchten Schulen gemeinsam ist, dass Schulleitende und Lehrpersonen die außerschulische Kooperation aktiv und partizipativ gestalten (Abschnitt 8.2.6). Die Diskussion abschließend wird als letzter Punkt schließlich auf Entwicklung als kontinuierlichen Lernprozess eingegangen (Abschnitt 8.2.7).

Es sei hier noch einmal darauf hingewiesen, dass sich die im Folgenden diskutierten Erläuterungen und Beschreibungen von Handlungen und Tätigkeiten ausschließlich auf Interviewaussagen der Lehrpersonen und Schulleitungen stützen. Tatsächlich im Unterricht stattfindende Handlungen waren mit den in dieser Arbeit analysierten Daten nicht erfassbar.

8.2.1 Personalisierte Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen

Unter „Personalisierung von Lehr- und Lernprozessen“ wird kein klares und einheitliches Unterrichtskonzept gefasst (siehe Kapitel 3). Orientiert man sich einerseits daran, wie der Unterricht an Schulen konkret in diese Richtung umgestaltet wurde, und anderseits an den aus der Reformpädagogik stammenden Postulaten eines stärker „kindorientierten Lernens“, zum Beispiel durch innere Differenzierung oder Individualisierung, lassen sich fünf Dimensionen formulieren, die bereits in der Einleitung in Abschnitt 1.1 eingeführt und in Abschnitt 3.2 im Detail erläutert wurden (u. a. Stebler et al., 2017; Stebler et al., 2018): Lehrpersonen passen das Lernangebot partizipativ an die personalen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler an, bauen bei den Schülerinnen und Schülern personale und soziale Kompetenzen auf und fördern sie ganzheitlich, ermöglichen selbstgesteuertes Lernen auf eigenen Wegen, machen kompetenzorientiertes Lernen zur persönlichen Sache der Schülerinnen und Schüler und wirken, wie auch die Lerngemeinschaft, bildend und unterstützend.

Alle der in dieser Arbeit analysierten Schulen bearbeiten Aspekte aus allen Dimensionen (Studie 2/Teil 1; siehe Abschnitt 7.3) und ermöglichen es ihren Schülerinnen und Schülern auf diese Weise, vermehrt Gestalterinnen und Gestalter der eigenen Lernprozesse (Bray & McClaskey, 2015) zu werden. So können die Schülerinnen und Schüler in den untersuchten Schulen – in Absprache mit der Lehrperson – über Lerninhalte, Lernaufgaben, Lernpartnerinnen und Lernpartner, Lernzeiten, Lernorte etc. mehr oder weniger selbst entscheiden (Studie 1; siehe Abschnitt 7.1 und Abschnitt 7.2; verdichtete Ergebnisse siehe Abschnitt 8.1.1).

Mit derart erweiterten Entscheidungsspielräumen geht ein Verständnis von Lernen im Sinne eines aktiven und konstruktiven Prozesses einher. Kognitive Konstruktionsprozesse werden durch ein hohes Maß an selbstregulierter Auseinandersetzung mit den Lerngegenständen verstärkt. Allerdings zeigen videogestützte Unterrichtsstudien (u. a. Reusser et al., 2010), in denen die Mikroprozesse des Unterrichts analysiert wurden, dass die Intensität solcher Prozesse mit dem lernorganisatorischen Bereitstellen von Wahl- und Autonomiespielräumen nicht automatisch zunimmt, sondern dies eher davon abhängt, ob Lehrpersonen ihr didaktisches Handeln an den Lernprozessen der Schülerinnen und Schüler ausrichten. Lehrpersonen können beispielsweise durch strukturklare und ko-konstruktive Lerndialoge verstehensbezogenes Lernen anregen, sodass die Schülerinnen und Schüler bewegliches Wissen (nach)konstruieren können.

Eine solche auf Prozessqualitäten abzielende Lernunterstützung erfolgt jedoch kaum, wenn die Schülerinnen und Schüler weitgehend sich selbst überlassen werden. Dies zeigt sich zum Beispiel in Schule B (siehe Abschnitt 7.1.2.2). Die Schülerinnen und Schüler erhalten eine Ansammlung von Lernaufgaben mit dem Auftrag, diese in einer vorgegebenen Zeit durchzuarbeiten und abschließend einen Test zu schreiben. Während der Bearbeitungsphase wird Lernunterstützung dann geboten, wenn die Schülerinnen und Schüler dies explizit verlangen. Eine von den Lehrpersonen initiierte Kontrolle, eine Auswertung der Lernfortschritte und eine Korrektur der Lernaufgaben durch die Lehrpersonen finden hingegen nur selten statt. Für die Unterrichtsqualität dürfte dies eher problematisch sein, genauso wie der Umstand, dass in Schule H erläutert wird, dass Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen die Lernphase des selbstständigen und eigenverantwortlichen Lernens als eine Art Pause nutzen oder Lernaufgaben korrigieren würden, anstatt die Schülerinnen und Schüler, wie die interviewten Personen, bei Fragen und Schwierigkeiten aktiv im Lernprozess zu unterstützen und bei disziplinarischen Problemen zu intervenieren.

8.2.2 Sichtbarwerden von Merkmalen der Oberflächen- und der Tiefenstruktur von Unterricht in den schulischen Entwicklungstätigkeiten

In dieser Arbeit wurden unterrichtsbezogene Entwicklungstätigkeiten zwei Qualitätsebenen zugeordnet: zum einen der Ebene der dramaturgische Gestaltung von Unterricht mit verschiedenen Methoden, Sozial- und Inszenierungsformen (Oberflächenstruktur des Unterrichts) und zum anderen der Ebene der Prozessqualitäten didaktischen Handelns (Tiefenstruktur des Unterrichts) (Klieme et al., 2008; Kunter & Trautwein, 2013; Lipowsky et al., 2009; Reusser & Pauli, 2013; Reusser et al., 2010). In allen elf untersuchten Schulen werden Aspekte beider Qualitätsebenen im Entwicklungsprozess bearbeitet (Studie 2/Teil 2; Abschnitt 7.4). Die Ergebnisse bestätigen den Befund von Studien zu personalized learning (RAND Corporation, 2014; Sebba et al., 2007), erweiterten Lehr- und Lernformen (Pauli et al., 2008; Pauli & Reusser, 2006; Pauli et al., 2003; Reusser et al., 2010) und Formen offenen Unterrichts (Bohl & Kucharz, 2010), dass diese Lernumgebungen sich stark von einem eng geführten Klassenunterricht unterscheiden. Im Unterricht lässt sich ein variables Zusammenspiel verschiedener Lehr- und Lernformen beobachten. Stoffpläne und Lernaufgaben werden differenziert und teils individualisiert gestaltet. Die Schülerinnen und Schüler besitzen Autonomiespielräume zum Beispiel bezüglich der Lernaufgaben und Lernorte. Zudem werden vermehrt Formen individueller Lernunterstützung, Lernberatung und individuelles Lerncoaching eingesetzt. Der Aspekt der in den Videostudien der Forschungsgruppe um Kurt Reusser und Christine Pauli (u. a. Reusser & Pauli, 2010a) festgestellten höher eingeschätzten Tiefenqualität von Unterricht mit erweiterten Lehr- und Lernformen ließ sich in dieser Arbeit nicht untersuchen, weil eine Vergleichsgruppe fehlt. Was sich im direkten Vergleich der elf Schulen jedoch gezeigt hat, ist, dass Merkmale der Tiefenstruktur in den Interviews unterschiedlich häufig angesprochen wurden.

Besonders das Erkennen und Verändern von Merkmalen der Tiefenstruktur von Unterricht ist herausfordernd, wie beispielsweise videogestützte Unterrichtsstudien (u. a. Reusser et al., 2010) zeigen. In diesem Zusammenhang liegen Beispiele vor, in denen auf lernorganisatorischer Ebene offene Unterrichtsphasen eingerichtet wurden, in denen die Schülerinnen und Schüler selbstständig Aufgaben in Gruppen oder allein bearbeiten. Jedoch passen die Lehrpersonen ihr Unterstützungsverhalten zu wenig an die offenen Lernsettings an. Sie verbleiben in der Rolle als reine Wissensvermittelnde und sind weniger Coach oder Lernberaterin und Lernberater. Dies lässt sich auch anhand der bereits in Abschnitt 8.2.1 aufgeführten Beispiele illustrieren, in denen die Schülerinnen und Schüler Aufgabensammlungen zum Abarbeiten erhalten, bei deren Bearbeitung und Kontrolle mehr oder weniger sich selbst überlassen sind (z. B. Schule B) und die Lernunterstützung während der offenen Unterrichtsphasen eher selten erfolgt (z. B. Schule H). Für die Qualität von auf tiefes Verstehen zielenden Lernprozessen dürfte dies eher problematisch sein. Lernwirksamer wäre es demgegenüber, wenn Lehrpersonen ihre Schülerinnen und Schüler im selbstständigen und eigenverantwortlichen Lernen fordern und fördern würden. Umsetzen können sie dies, indem sie das Lernen von Schülerinnen und Schülern im Lehr- und Lerndialog adaptiv mit kognitiv anregendem, stärker sokratischem (Nach-)Fragen unterstützen und Feedback oder Feedforward geben, das sich auf fachliche und überfachliche Kompetenzen bezieht (Cervone & Cushman, 2012; Perkhofer-Czapek & Potzmann, 2016; Stebler et al., 2017; Zmuda et al., 2015). Ein Best-Practice-Beispiel aus der Forschungsgruppe WissGem (2016, S. 352) illustriert Erkennungsmerkmale einer qualitativ hochwertigen Lernunterstützung in offenen Unterrichtsphasen wie folgt: „Eine Lehrkraft geht während der individuellen Lernzeit umher, verweist frühzeitig auf vereinbarte Regeln, beobachtet und unterstützt ruhig und sachbezogen, konzentriert sich auf fachliche Fragen, besteht auf eine ruhige Arbeitsatmosphäre und zeigt Interesse und Präsenz.“

Bezüglich der Weiterentwicklung von Tiefenmerkmalen von Unterricht wurden anhand der analysierten Interviewdaten Unterschiede zwischen den Schulen sichtbar: Lehrpersonen und Schulleitende in den Schulen von Cluster 1 (Schulen A, D, E, G, H, J, L und M) berichten häufiger, differenzierter und vielfältiger über Entwicklungstätigkeiten in Tiefenmerkmalen des Unterrichts als Lehrpersonen in den Schulen von Cluster 2 (Schulen B, F und K). Allerdings ließen sich auch innerhalb der Cluster Unterschiede feststellen, die darauf hindeuten, dass die beiden Cluster in weitere Gruppen unterteilt werden können. Dies wurde aufgrund des geringen Stichprobenumfangs von elf Schulen jedoch als nicht sinnvoll erachtet, weil einige Cluster danach lediglich aus einer Schule bestehen würden. Unterschiede zeigen sich in Cluster 2 zum Beispiel bei der Entwicklung von Lernaufgaben. So ließen sich in Schule A, G und M, nicht aber in den anderen Schulen Aussagen zur Entwicklung von Problemlöseaufgaben finden, anhand deren sich die Schülerinnen und Schüler über eine längere Zeit hinweg vertieft mit fachlichen Problemstellungen auseinandersetzen (Studie 2/Teil 3; siehe Abschnitt 7.5; verdichtete Ergebnisse siehe Abschnitt 8.1.3). Trotz der Varianz innerhalb der Cluster 1 und Cluster 2 lassen sich die Ergebnisse die Interpretation zu, dass in den Schulen von Cluster 1 eine höhere Sensibilität für Tiefenschichten schulischen Lernens vorhanden sein dürfte als in Schulen von Cluster 2. Die Schulen des ersten Clusters sind sich in ihren Entwicklungstätigkeiten der tiefenpsychologischen Lehr- und Lernebene stärker bewusst und gestalten diese vermehrt aktiv, um in ihren Konzepten personalisierten Lernens verstehensorientiertes Lernen zu fördern.

Eine Betrachtung der Ergebnisse darf aber auch die Qualitätsebene der Oberflächenstruktur von Unterricht nicht außer Acht lassen. Denn für die Entfaltung tiefenstruktureller Lernqualität sind unterstützende organisationale Strukturen erforderlich (Reusser, 2019): Damit die Schülerinnen und Schüler auf eigenen Wegen lernen können, braucht es entsprechend organisierte Lernumgebungen mit ausreichender Lernzeit sowie Lernräume mit Zonen für Einzel- und Gruppenarbeiten. Solche Veränderungen der Unterrichtsstruktur, die Teil der grammar of schooling (Tyack & Tobin, 1994) ist, gehen mit einem erhöhten Aufwand einher, weil seit Jahren bestehende Strukturen neu gestaltet werden müssen. Sind diese neuen Strukturen jedoch erst einmal etabliert und wissen Schulleitende, Lehrpersonen und Schülerinnen und Schüler, wie sie wann, wo und mit wem handeln sollen, können Lehrpersonen ihre Entwicklungstätigkeiten stärker auf die Tiefenqualität von Lehr- und Lernprozessen ausrichten. Diesbezüglich stellt sich die Frage, wie Lehrpersonen in offenen Unterrichtsphasen qualitätsvoll handeln können, um nachhaltige und verstehensbezogene Lernprozesse zu evozieren. Merkmale von gutem Unterricht zu erkennen und Veränderungen im Unterrichtshandeln vorzunehmen, braucht Zeit, weil handlungsleitende Kompetenzen und pädagogische Überzeugungen zwar vor dem Entwicklungsprozess erworben werden können, aber erst in der Umsetzung des neuen Unterrichtskonzepts und im didaktischen Handeln angewendet und gefestigt werden können. Die Etablierung von und das Zurechtfinden in neuen organisationalen Strukturen kann von Schule zu Schule unterschiedlich lang dauern, was eine Erklärung für die Unterschiede zwischen den in dieser Arbeit untersuchten Schulen von Cluster 1 und Cluster 2 sein könnte (Studie 2/Teil 3; siehe Abschnitt 7.5; verdichtete Ergebnisse siehe Abschnitt 8.1.3).

8.2.3 Subjektiv eingeschätzter Entwicklungsstand als Indikator für lernwirksame Unterrichtsentwicklung

Im Entwicklungsprozess ist es von Bedeutung, Tiefenmerkmale des Unterrichts zu erkennen und diese weiterzuentwickeln, damit Entwicklungstätigkeiten auf der Lernebene wirksam werden können. Wie gezeigt werden konnte, scheint die Sensibilität für Tiefenmerkmale von Unterricht in Schulen von Cluster 1 höher zu sein als diejenige in Schulen von Cluster 2 (Studie 2/Teil 3; siehe Abschnitt 7.5): In den Schulen von Cluster 1 wird vermehrt beschrieben, wie relevante Aspekte im Lehr- und Lerngeschehen bearbeitet werden, um kognitive, motivational-emotionale und soziale Dynamiken des Lernens aktiv zu fördern. Auf diese Weise dürfte der Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler als Kernziel von Unterrichts- und Schulentwicklung (u. a. Oelkers & Reusser, 2008) wahrscheinlicher werden. Vor diesem Hintergrund wurde in der vorliegenden Arbeit die Annahme formuliert, dass für Tiefenmerkmale von Unterricht sensible Schulen mit ihrer Entwicklungsarbeit zufrieden sind und ihren eigenen Entwicklungsstand positiv einschätzen (siehe Abschnitt 4.5.1). Diese Annahme traf allerdings nicht gänzlich zu. Zwar sind Schulleitende und Lehrpersonen in den Schulen von Cluster 1 mit ihrem Entwicklungsstand zufriedener als die Befragten in den Schulen von Cluster 2. Allerdings korrespondiert diese Einschätzung statistisch nicht mit den Äußerungsanteilen zu Merkmalen, die der Tiefenstruktur von Unterricht zugeordnet werden konnten (siehe Abschnitt 7.5).

Aus dem auf der Grundlage der analysierten Daten nicht etablierbaren Zusammenhang lässt sich Folgendes schließen: Es gibt auch Schulleitende und Lehrpersonen, die ihren Entwicklungsstand positiv einschätzen, obwohl sie selten über die Weiterentwicklung der Tiefenmerkmale von Unterricht berichten. Sie scheinen sich der Tiefenschichten schulischen Lernens und deren Bedeutsamkeit für schulischen Lernerfolg weniger bewusst zu sein und diese weniger wahrzunehmen (siehe Beispiel Abschnitt 8.2.1), beispielsweise deshalb, weil sie vielleicht nicht im Sinne eines kognitiv- und soziokonstruktivistischen Lernverständnisses (siehe Abschnitt 4.5.1.1) handeln. Vielmehr sind sie mit der Einrichtung einer funktionierenden lernorganisatorischen Oberflächenstruktur von Unterricht zufrieden und schätzen darauf basierend den Entwicklungsstand ein. Dies könnte so gedeutet werden, dass sich die Schulleitenden und die Lehrpersonen für die Einschätzung des Entwicklungsstands nicht am Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler – im Sinne eines verstehensorientierten Lernens – orientieren, sondern andere Kriterien zugrunde legen, beispielsweise dass die Schülerinnen und Schüler in der vorgegebenen Zeit alle Lernaufgaben abarbeiten. Ein anderer Interpretationsansatz bezieht sich auf das auf Schulebene zu verortendes Kriterium der Sicherung des Schulstandorts. In den untersuchten Schulen wurden als Auslöser für den Entwicklungsprozess in Richtung personalisierten Lernens (siehe Abschnitt 7.1) u. a. sinkende Schülerinnen- und Schülerzahlen angegeben. Zur Verhinderung einer Schulschließung wurden Lerngruppen zusammengelegt (z. B. Schule K). Es kann daher sein, dass der Entwicklungsprozess dann als erfolgreich gewertet wird, wenn die Organisationsstrukturen so verändert werden, dass die Schule weiterhin bestehen bleiben kann.

8.2.4 Herausforderungen in der didaktischen Gestaltung

In allen untersuchten Schulen werden Herausforderungen bezüglich der Gestaltung der Lernorganisation (z. B. Aufbereitung von Lerninhalten, Gleichgewicht zwischen individuellen und kooperativen Lernphasen), der qualitätsvollen Lernprozessgestaltung (z. B. Lernunterstützung) und des Lernverhaltens von Schülerinnen und Schülern beschrieben (z. B. Abschreiben, vorgetäuschtes Arbeiten etc.). Diese nachfolgend diskutierten Herausforderungen verdeutlichen, dass die untersuchten Schulen auf der einen Seite innovativ sind und versuchen, Unterricht neu zu denken. Auf der anderen Seite müssen sie aber auch Probleme lösen, die auch in anderen Schulen, die ihre Lehr- und Lernprozesse weniger personalisiert gestalten, vorkommen.

Ein in den Interviews oft aufgegriffener Punkt ist das im Unterrichtshandeln entstehende Spannungsfeld zwischen der ersten Dimension – Lernangebote an die individuellen Voraussetzungen von Lernenden anpassen – und der fünften Dimension, dem Lernen in der Gemeinschaft, beispielsweise an denselben Lerngegenständen. Diese Schwierigkeit manifestierte sich explizit in Schule M‚ in der das Ausbalancieren zwischen der Individualisierung von Lernangeboten und dem kooperativen Lernen bei der Einführung der neuen Oberstufe angesprochen wird (siehe Abschnitt 7.1.2.11; verdichtete Ergebnisse siehe Abschnitt 3.1.1). Die Lehrpersonen erläutern, wie sie zu Beginn ein stark individualisiertes Lernangebot geschaffen hätten, in dessen Rahmen jede Schülerin und jeder Schüler individuelle Lernziele verfolgen konnte. Damit einhergehend sei der Verwaltungs- und Organisationsaufwand im Unterricht und in der Unterrichtsvorbereitung jedoch immens gestiegen und langfristig nicht umsetzbar gewesen, sodass die Lehrpersonen vermehrt auf das Lernen an gemeinsamen Gegenständen umgestiegen seien.

Eine weitere Herausforderung sind Einschränkungen durch verpflichtende Lernziele und -inhalte von Lehrplänen sowie verpflichtende Lehrmittel. Diese schränken die Lehrpersonen in der Gestaltung personalisierter Lernangebote ein, weil es infolge der Vorgaben nur in begrenztem Umfang möglich ist, auf die Interessen der Schülerinnen und Schüler einzugehen. In Schule K, in der in alters- und/oder leistungsdurchmischten Lerngruppen unterrichtet wird, erarbeitete sich eine Lehrperson einen Stoffplan, gemäß dem sie die Lerninhalte im Spiralprinzip anordnet. Die Lerninhalte werden während der gesamten Schuldauer so geordnet, dass Lerninhalte in regelmäßigen Zeitabständen immer wieder behandelt werden und die Schülerinnen und Schüler Gelerntes wiederholen und dadurch vertiefen können. Die anderen Lehrpersonen tragen diese Entwicklung jedoch nicht mit, weil eine häufige Wiederholung aufgrund der vielen Lerninhalte, die der Lehrplan vorgibt, nicht umsetzbar sei.

Des Weiteren wird eine gerechte Aufteilung der für die Lernunterstützung aufgewendeten Zeit auf alle Schülerinnen und Schüler als herausfordernd beschrieben. Für die Unterstützung von Leistungsschwächeren wenden die Lehrpersonen meist mehr Zeit auf als für Leistungsstärkere, weil Erstere neben fachlichen Verständnisschwierigkeiten häufig auch Unterstützung in der Organisation und der Strukturierung der eigenen Lernprozesse benötigen (z. B. Planen der Lernaufgaben und Einhaltung des Plans). Leistungsstärkere Schülerinnen und Schüler hingegen können ihr Lernen größtenteils eigenständig organisieren und benötigen hierfür entsprechend weniger Hilfe. Zugleich wären sie jedoch auf kognitiv herausfordernde Lernunterstützung angewiesen, die sie wegen der Beschäftigung der Lehrpersonen mit anderen Schülerinnen und Schülern aber nicht erhalten. In den Schulen, in denen ein solches Ungleichgewicht thematisiert wird (z. B. Schule J), konnte keine zufriedenstellende Lösung gefunden werden. Es scheint daher sehr herausfordernd zu sein, alle Schülerinnen und Schüler stets in dem für sie erforderlichen Masse zu unterstützen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass sich in keinem Interview Ausführungen zur Lernunterstützung von Schülerinnen und Schülern im mittleren Leistungsbereich finden. Da auf der Grundlage der vorliegenden Daten nicht geklärt werden konnte, ob dieses Thema in den Interviews nicht angesprochen wurde, weil es als weniger relevant eingestuft wurde oder vergessen worden war, wäre es aufschlussreich, die Videodaten aus dem perLen-Projekt hinsichtlich der Frage nach der Dauer und der Qualität der Lernunterstützung mittelstarker Schülerinnen und Schüler zu analysieren.

Hinsichtlich der Lernunterstützung in offenen Unterrichtsphasen zeigte sich vor allem in den untersuchten Schulen der Sekundarstufe 1, dass die Schülerinnen und Schüler Aufgaben eines für die anwesende Lehrperson fremden Fachs bearbeiten. Haben sie fachliche Verständnisschwierigkeiten, ergeben sich in solchen Situationen Potenziale für qualitative Lerndialoge, in denen fragengeleitet Wissensbestände aktiviert werden, damit das Verstehensproblem gemeinsam erschlossen und ko-konstruktiv bearbeitet werden kann (z. B. Schule E). Jedoch stellt sich diesbezüglich die Frage, ob bei der Auseinandersetzung mit fachspezifischen Wissens- und Denkstrukturen aus fachdidaktischer Perspektive eine ähnliche Qualität in der Lernunterstützung erreicht werden kann, wie wenn die Interaktion mit einer Fachlehrperson erfolgt. Da die Datenlage der vorliegenden Arbeit keine Klärung dieser Frage erlaubt, würde es sich für weiterführende Analysen lohnen, die Videodaten des perLen-Projekts unter dieser Fragestellung auszuwerten.

Eine weitere Herausforderung ist destruktives Lernverhalten der Schülerinnen und Schüler in offenen Unterrichtsphasen. So beschreiben Lehrpersonen, wie Schülerinnen und Schüler voneinander abschreiben oder die Aufgabensammlungen abarbeiten, ohne dass eine tiefgehende Auseinandersetzung mit den Lerninhalten folgt (z. B. Schule A). Um solchem Verhalten entgegenzuwirken, werden gezielt überfachliche Kompetenzen, zum Beispiel das Planen und selbstständige Bearbeiten von Lernaufgaben oder gegenseitiges Helfen bei Verständnisschwierigkeiten vermittelt und eingeübt. Dies kann auch in regelmäßigen Zeitabständen erfolgen (z. B. Schule F). Weitere Möglichkeiten, die Schülerinnen und Schüler im selbstständigen und eigenverantwortlichen Lernen zu unterstützen, ergeben sich in den hoch personalisierten Coaching-Gesprächen zwischen einer Lehrperson und einzelnen Schülerinnen und Schülern, eine in der Volksschule eher neuere Form der Lernunterstützung. Solche Coaching-Gespräche finden regelmäßig statt, meist im Abstand einiger Wochen. In den Einzelgesprächen wird über Erfolge und Herausforderungen des Lernprozesses gesprochen, wobei die Schülerinnen und Schüler teils selbst Gesprächsthemen setzen können (z. B. Schule A).

Die aufgeführten Herausforderungen lassen sich als komplexe Probleme charakterisieren, in denen verschiedene organisatorische, pädagogische und psychologische Aspekte aufeinandertreffen. Um in der Bearbeitung dieser Komplexität möglichst viele Aspekte mitberücksichtigen zu können, kann Kooperation zwischen den Beteiligten zielführend sein, weil in diesem Rahmen verschiedene Wissens- und Erfahrungsbestände ausgetauscht und miteinander verknüpft werden können (Galle & Kreis, 2020).

8.2.5 Ko-konstruktive Gestaltung von Entwicklungsprozessen im Schulteam

In den untersuchten Schulen werden Entwicklungsprozesse kooperativ im Team gestaltet. Die hohen Anteile und die Vielfalt berichteter ko-konstruktiver Kooperation ist beachtlich (siehe Abschnitt 7.1 und 7.2). Weitere Studien zur Kooperation von Lehrpersonen zeigen, dass in innovativen Schulen häufiger ko-konstruktiv kooperiert wird als in regulären Schulen (Bennemann & Schönknecht, 2016; Reusser et al., 2013). Zudem konnte in weiterführenden quantitativen Analysen des perLen-Projekts gezeigt werden, dass Lehrpersonen sowohl der in dieser Arbeit untersuchten Schulen als auch der Schulen der Kernstichprobe des Projekts innerhalb des dreijährigen Erhebungszeitraums häufiger von Formen kokonstruktiver Kooperation berichten (Stebler et al., eingereicht). Oft zitierte deutsche Studien zur Lehrpersonenkooperation, die diesem Befund widersprechen und von tendenziell selten stattfindender Ko-Konstruktion berichten (Fussangel, 2008; Gräsel et al., 2006a; Pröbstel, 2008), sind im vorliegenden Kontext jedoch nur bedingt als Referenz geeignet, weil sie sich erstens auf ein anderes Bildungssystem beziehen (Deutschland) und zweitens vor rund fünfzehn Jahren durchgeführt wurden.

Intensive und qualitätsvolle Zusammenarbeit zeigt sich u. a. bei der gemeinsamen Unterrichtsplanung, die in Teams erarbeitet und hinsichtlich der Eignung für Unterricht nach personalisierten Lernkonzepten reflektiert wird (z. B. Schule J). Sie manifestiert sich aber auch in der Unterrichtsentwicklung und in der Zusammenarbeit von Schule und Eltern (Vasarik Staub et al., 2018). Wenn Lehrpersonen vermehrt als Teamplayerinnen und Teamplayer agieren, dürfte es den Schulen besser gelingen, den alters- und/oder leistungsdurchmischten Lerngruppen adäquat strukturierte Lernumgebungen, kognitiv aktivierende Lernaufgaben und individuell-adaptive Lernunterstützung für personalisiertes Lernen anzubieten. Denn durch den Einbezug und das Verknüpfen mehrerer Sichtweisen, Erfahrungs- und Wissensbestände ist es wahrscheinlicher, dass die individuellen Lernbedürfnisse und -voraussetzungen auch im Unterrichten von heterogenen Lerngruppen bewusst und gezielt berücksichtigt werden können.

Die Analysen weisen deutlich darauf hin, dass sich die Lehrpersonen in der Tat vermehrt als Teamplayerinnen und Teamplayer verstehen. Dieses Selbstverständnis steht dem eher traditionellen Rollenbild der Lehrperson als Einzelkämpferin oder Einzelkämpfer (vgl. Autonomie-Paritäts-Muster bei Lortie, 1975) konträr gegenüber. Autonomes Handeln von Lehrpersonen, bei dem sie sich kaum in die Tätigkeiten der Kolleginnen und Kollegen einmischen und nur selten Kritik oder Anregungen austauschen, lässt sich in den analysierten Daten nicht finden. Hervorzuheben sind vielmehr Beschreibungen von Unterrichtsvorbereitungen, die nicht für den eigenen Unterricht, sondern für das Kollegium erstellt werden. Diese Dokumente umfassen teils Grob, vereinzelt aber auch Feinplanungen, die von den Lehrpersonen ohne große Anpassungen im eigenen Unterricht eingesetzt werden können (z. B. Schule F).

Solche intensive innerschulische Kooperation ist ganz generell sehr bedeutsam für Schul- und Unterrichtsentwicklung (Bonsen & Frey, 2014; Haenisch & Steffens, 2017; Holtappels, 2016; Saalfrank, 2016), wie u. a. die Schulleitung von Schule L betont: „Also es bedingt eigentlich die Zusammenarbeit. Ohne Zusammenarbeit würde das gar nicht gehen“ (SL_Schule-L_t1). Zusätzlich wird ko-konstruktiver Kooperation Potenzial für Professionalisierungsprozesse zugeschrieben (u. a. Gräsel et al., 2006a; Keller-Schneider & Albisser, 2012, 2013). Das Lernen am Arbeitsplatz kann dort stattfinden, wo Lehrpersonen sich intensiv über Themen austauschen, die das Lernen und Lehren der Schülerinnen und Schüler betreffen (Maag Merki et al., 2010), so zum Beispiel beim Vorstellen und Reflektieren von Unterrichtsvorbereitungen oder Aufgaben(sammlungen).

Abschließend stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage nach Herausforderungen in der kooperativen Gestaltung von Entwicklungsprozessen. Neben organisatorischen Aspekten – zum Beispiel Raum und Zeit für Gespräche – können diesbezüglich auch psychologische Merkmale sozialer Interaktionen von entscheidender Bedeutung sein (u. a. Galle & Kreis, 2020). So können zum Beispiel fehlendes Vertrauen oder soziale Vergleiche mit gegenseitiger Abwertung konstruktiv verlaufende Prozesse stark erschweren (u. a. Achinstein, 2002; Ahlgrimm, 2012; Ulich, 1996). Gleiches gilt für „soziales Faulenzen“ oder „Trittbrettfahrerinnen“ und „Trittbrettfahrer“ (u. a. Gollwitzer & Schmitt, 2019). Darunter ist tendenziell unkooperatives Verhalten zu verstehen, bei dem aus unterschiedlichen Gründen wenig oder nicht im Entwicklungsprozess mitgearbeitet wird, obwohl die betreffende Person Teil des Entwicklungsteams ist. Solche Fälle können zum Beispiel bei Unterrichtsvorbereitungen auftreten, die für andere Lehrpersonen erstellt und in einer gemeinsamen Datenbank abgelegt werden. In Schule L merkt das interviewte Jahrgangsteam zu diesem Thema an, dass es in seiner Schule mit der Umstellung des Unterrichtskonzepts begonnen und viel Arbeit u. a. in die Unterrichtsvorbereitungen investiert habe, die auch den anderen Jahrgangsteams zugänglich gemacht worden seien. Nachdem die anderen Jahrgangsteams ihr Unterrichtskonzept ebenfalls umgestellt hätten, hätten sie die bestehenden Unterrichtsvorbereitungen zwar genutzt, selbst aber nicht in ähnlichem Umfang weitere Vorbereitungen hochgeladen. Dies wird als ungerecht empfunden.

Konflikte und soziale Spannungen zwischen Lehrpersonen dürften sich zudem teils auf unterschiedliche Vorstellungen und Haltungen darüber zurückführen lassen, wie stark Lehr- und Lernprozesse zu personalisieren seien und wie dies im Team umgesetzt werden solle. Dieser Aspekt konnte in der vorliegenden Arbeit jedoch nicht untersucht werden, weil sich solche latenten Sinnstrukturen mit dem gewählten methodischen Zugang der qualitativen Inhaltsanalyse nicht rekonstruieren lassen.

8.2.6 Partizipative und aktive Bearbeitung eines komplexen Entwicklungsprozesses

Herausfordernd in einer unterrichtszentrierten Schulentwicklung in Richtung personalisierten Lernens ist die zu bearbeitende Komplexität. Die Komplexität zeigt sich beispielsweise in den 20 Entwicklungsgegenständen (siehe Abschnitt 7.2), die in allen untersuchten Schulen bearbeitet und für eine personalisierte Lernumgebung aufeinander bezogen und miteinander abgestimmt werden. Nicht notwendigerweise zu erwarten war die hohe Anzahl der (gemeinsamen) Entwicklungsgegenstände, trotz unterschiedlicher Rahmenbedingungen (z. B. Primar-, Sekundar- oder Gesamtschule), unterschiedlicher Auslöser des Entwicklungsprozesses (z. B. Standortsicherung oder Unzufriedenheit mit der eigenen Unterrichtssituation) und verschiedener Strukturen des Unterrichtskonzepts (z. B. geführte und offene Unterrichtsphasen in einem Raum oder in separaten Räumen). Allerdings lässt sich dieses Ergebnis teils mit dem in der Datenanalyse gewählten Abstraktionsniveau der Entwicklungsgegenstände erklären: Wenn beispielsweise der Entwicklungsgegenstand „Entwicklung von Lernaufgaben und Aufgabensammlungen für selbstständiges und eigenverantwortliches Lernen“ einerseits in Aufgabensammlungen und andererseits in Problemlöseaufgaben, anhand deren sich die Schülerinnen und Schüler über eine längere Zeit hinweg vertieft mit fachlichen Problemstellungen auseinandersetzen, differenziert wird, dann zeigt sich, dass nur in den Schulen A, G und M etwas dazu berichtet wird. Auch andere Schulen arbeiten jedoch an der Aufgabenqualität und versuchen, die Verarbeitungstiefe zu erhöhen (z. B. Schulen E und L). Allerdings kann anhand der Interviewdaten nicht eruiert werden, inwiefern hier Problemlöseaufgaben eingesetzt werden. Ein Grund dafür ist die begrenzte Interviewdauer für die Erhebung komplexer Unterrichtskonzepte. Teilweise fehlte die Zeit, um bezüglich solcher Details gezielt nachzufragen. Zudem ist das Interview nicht der geeignetste methodische Zugang, um die Aufgabenqualität zu erfassen. Hierfür wäre eine Analyse der Aufgabensammlungen um einiges ergiebiger.Footnote 2

Die Komplexität des Entwicklungsprozesses manifestiert sich zusätzlich zu den vielen Entwicklungsgegenständen in zwei weiteren Aspekten: Zum einen ist eine personalisierte Lernumgebung ein komplexes Handlungsfeld. Es werden mehrere Jahrgänge und/oder Altersstufen gleichzeitig unterrichtet. Zum Beispiel betreuen Lehrpersonen in Schule J (siehe Abschnitt 7.1.2.8) während der offenen Unterrichtsphasen im Fach Mathematik insgesamt neun Leistungsniveaus (drei Jahrgänge mit je drei Leistungsniveaus). Zum anderen sind verschiedene innerschulische und außerschulische Akteursgruppen involviert und beeinflussen den Entwicklungsprozess direkt und indirekt, beispielsweise durch ein direktes Mitwirken, die Teilnahme an Informationsveranstaltungen oder durch die Teilnahme an Umfragen.

Die Wechselbeziehungen zwischen Personen auf unterschiedlichen Ebenen des Bildungssystems werden u. a. im Rahmen der Educational-Governance-Forschung (Altrichter & Maag Merki, 2016b) genauer untersucht. In diesem Zusammenhang konnte zum Beispiel aufgezeigt werden, dass die Schulbehörde Entwicklungsprozesse durch verschiedene Steuerungsstrategien (u. a. top-down oder bottom-up) fördern, aber auch hemmen kann (Fend, 2008b).

Weil dieser Aspekt weder im Zentrum des perLen-Projekts noch im Fokus der vorliegenden Studie stand, sind entsprechende Daten nur in beschränktem Masse verfügbar. Aus diesem Grund konnten die Kooperationsbeziehungen mit lokalen Schulbehörden, Beratenden und Schulen mit ähnlichen Konzepten nicht in gleicher Analysetiefe ausgewertet werden wie die innerschulische Kooperation. Gleichwohl hat sich in den Interviewanalysen gezeigt, dass außerschulische Akteursgruppen für den Entwicklungsprozess in Richtung personalisierten Lernens bedeutsam sind. Mit Beratenden und Schulen mit ähnlichen Unterrichtskonzepten tauschen die Lehrpersonen und Schulleitenden der untersuchten Schulen vor allem Ideen und Anregungen und mit Letzteren auch Unterrichtsvorbereitungen aus. Auch die Entwicklungsprozesse werden gemeinsam reflektiert. Dies findet mit lokalen Schulbehörden und Eltern kaum statt. Im Rahmen dieser Interaktionen informieren Schulleitende und Lehrpersonen über ihren Entwicklungsprozess in Richtung einer vermehrt personalisierten Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen und leisten Überzeugungsarbeit. Allerdings gibt es bezüglich des Einbezugs der Eltern in den Entwicklungsprozess Ausnahmen. Zum Beispiel wird in Schule M beschrieben, wie Eltern eingeladen werden, Feedback zu Arbeitsinstrumenten zu geben (siehe auch Vasarik Staub et al., 2018).

Das Mitwirken verschiedener Akteursgruppen im Entwicklungsprozess verweist auf den partizipativen Charakter einer unterrichtszentrierten Schulentwicklung in Richtung personalisierten Lernens. Es geht darum, Akzeptanz für eine vermehrt personalisierte Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen zu schaffen und durch die mehrfache Auseinandersetzung damit in Gesprächen und Aushandlungen mit den verschiedenen Akteursgruppen ein gut durchdachtes und auf Lernebene wirksames Unterrichtskonzept zu erarbeiten.

Insbesondere der letzte Punkt ist auch deshalb erforderlich, weil es für die Entwicklung von vermehrt personalisiert gestalteten Lehr- und Lernprozessen kein Standardrezept gibt. Das heißt, es ist nicht möglich, auf vorgefertigte Pläne und Vorlagen für nächste Entwicklungsschritte zurückzugreifen. Die Einzelschulen bilden je eine eigenständige pädagogische Handlungseinheit (Fend, 1986), in der Entwicklungsimpulse rekontextualisiert werden, indem sie an die gegebenen Rahmenbedingungen, an die verfügbaren beruflichen Kompetenzen, an die finanziellen Ressourcen und an die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler etc. angepasst werden (Studie 1/Teil 1; siehe Abschnitt 7.1). Diese Ausführungen machen deutlich, dass es für einen erfolgreichen Entwicklungsprozess nicht ausreicht, wenn Schulleitende und Lehrpersonen diesen aus einer passiven Beobachtungsposition heraus einfach ablaufen lassen. Es geht vielmehr um eine aktive Einflussnahme sowie um ein aktives Bearbeiten von Herausforderungen und Schwachstellen im Unterrichtskonzept.

8.2.7 Entwicklung als kontinuierlicher Lernprozess von Schulleitenden, Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern

In den untersuchten Schulen werden in der Unterrichtsgestaltung vermehrt personale Voraussetzungen berücksichtigt. Da sich diese infolge einer regelmäßig wechselnden Zusammensetzung der Schülerinnen und Schüler stets verändern, sind Lehrpersonen und Schulleitende kontinuierlich gefordert, ihre Unterrichtskonzepte feinzujustieren und zu optimieren (D. Hargreaves, 2006b). Der Prozess einer unterrichtszentrierten Schulentwicklung in Richtung personalisierten Lernens dürfte deshalb nie zu einem Ende gelangen. Dies ist bei den Schulen erkennbar, die bereits seit mehr als acht Jahren in vermehrt personalisierten Unterrichtskonzepten unterrichten (Schule D, G, J und M). Denn auch hier wurden im Erhebungszeitraum teilweise noch sehr umfassende Veränderungen umgesetzt (siehe Abschnitt 7.1). Weitere Impulse für eine stetige Veränderungen stellen sich ändernde Rahmenbedingungen der Schule dar. Wenn die Anzahl der Schülerinnen und Schüler sinkt oder wächst oder der Schulstandort gefährdet ist, sind die Schulleitenden und Lehrpersonen über einen längeren Zeitraum gefordert, Schul- und Unterrichtsstrukturen anzupassen sowie die pädagogische und die didaktische Gestaltung weiterzuentwickeln (z. B. Schule A und E).

Die stetigen, teils sehr umfangreichen Entwicklungstätigkeiten waren eher erwartungswidrig, weil Schul- und Unterrichtsentwicklung nur bedingt zum Kerngeschäft von Lehrpersonen gehört. Im Kanton Zürich verfügen die Lehrpersonen bei einer Anstellung von 100 % über jährlich 60 Arbeitsstunden für Schul- und Unterrichtsentwicklung (Volksschulamt Kanton Zürich, 2015). Das sind nur 1.15 Stunden pro Woche, was in Anbetracht der Fülle und Komplexität der Entwicklungstätigkeiten in den untersuchten Schulen eher wenig erscheint. In den untersuchten Schulen prägt die Entwicklungsarbeit jedoch den Arbeitsalltag der Lehrpersonen. Deswegen ist anzunehmen, dass Lehrpersonen und Schulleitende der untersuchten Schulen die Entwicklungstätigkeiten vermehrt als integralen Teil ihres Kerngeschäfts ansehen.

Stetige Entwicklungstätigkeiten bringen es mit sich, dass Schulleitende und Lehrpersonen den Unterricht und getätigte Veränderungen regelmäßig reflektieren. Insbesondere wenn dies ko-konstruktiv mit anderen Beteiligten geschieht, lassen sich Potenziale für Professionalisierungsprozesse der Lehrpersonen erkennen (Gräsel et al., 2006a; Keller-Schneider & Albisser, 2012, 2013; Kreis & Staub, 2017). Auch die Schülerinnen und Schüler lernen bei veränderten Unterrichtsabläufen ihr Handeln neu auszurichten. Lernprozesse sind bei Entwicklungstätigkeiten u. a. auch dann beobachtbar, wenn eingeführte Veränderungen nicht die gewünschte Wirkung erbringen. Entwicklungsprozesse verlaufen selten linear. Fehler geschehen und es gibt Rückschläge. In den untersuchten Schulen suchen die Schulleitenden und Lehrpersonen die Gründe und passen ihre Unterrichtskonzepte an (z. B. Schule D). In einem Fall wurde der gesamte Entwicklungsprozess sogar abgebrochen (Schule B). Hier gab es vor allem vonseiten der Eltern heftige Widerstände, die nicht aufgelöst werden konnten. Ein möglicher Grund für das „Scheitern“ lässt sich darin erkennen, dass das Entwicklungsteam den Widerstand eher ignorierte und weniger als Anlass nahm, sein Unterrichtskonzept zu verbessern, vor allem hinsichtlich der psychologischen Tiefenschichten.

8.3 Das uSpL-Modell als theoretisches und empirisches Analyseinstrument

Um die Schulen hinsichtlich der Gestaltung ihrer Entwicklungsprozesse zu analysieren, wurde in der vorliegenden Arbeit das uSpL-Modell (unterrichtszentrierte Schulentwicklung in Richtung personalisierten Lernens; siehe Abschnitt 4.2) konzipiert. Das Modell gründet auf theoretischen und empirischen Erkenntnissen aus der pädagogisch-psychologischen Unterrichtsforschung sowie der Schulentwicklungsforschung. Mit der Zusammenführung der Theoriestränge leistet das uSpL-Modell einen Beitrag dazu, den im Schulentwicklungsdiskurs postulierten ultimativen Bezugspunkt – die Lernfortschritte der Schülerinnen und Schüler (u. a. Rolff, 2013) – mit pädagogisch-psychologischen Erkenntnissen zum Lehr- und Lerngeschehen stärker zu beleuchten.

Im uSpL-Modell (siehe Abschnitt 4.2) werden neben den bedeutsamen innerschulischen und außerschulischen Akteursgruppen der Prozessverlauf sowie die Tätigkeitsfelder (Entwicklungsdimensionen) dargestellt. Die Entwicklungsdimensionen stehen in einem wechselseitigen und hierarchischen Verhältnis zueinander: Im Zentrum steht die Unterrichtsentwicklung in Richtung einer personalisierten Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen. Darum herum ordnen sich die Entwicklung organisationaler Strukturen und die Entwicklung der Kooperation zwischen Lehrpersonen an. Auf der dritten Ebene befinden sich die Professionalisierung und die Personalrekrutierung von Lehrpersonen sowie die Entwicklung eines gemeinschaftlichen Schullebens. Die hierarchische Anordnung der Entwicklungsdimensionen im Spezifischen und das gesamte uSpL-Modell im Allgemeinen gründen zwar auf theoretischen Überlegungen (siehe Kapitel 4), in der Folge wurden aber auch Ergebnisse der empirischen Analysen der Interviews (siehe Abschnitt 7.1 und 7.2). Das heißt, dass die aus den Interviewanalysen gewonnenen Erkenntnisse zum Zweck der Weiterentwicklung in das uSpL-Modell zurückgeführt wurden. Aus diesem Grund beinhaltet die Konzeption auch Elemente, die spezifisch in den untersuchten Schulen genannt werden.

Zusammenfassend beurteilt hat sich das uSpL-Modell als theoretischer Rahmen für die in dieser Arbeit durchgeführten empirischen Analysen unterrichtszentrierter Entwicklungsprozesse in Einzelschulen bewährt. Ob sich das Modell in Analysen weiterer Schulen bewährt, kann im Kontext dieser Arbeit nicht abschließend beantwortet werden. Anzunehmen ist jedoch, dass es als Orientierungsrahmen und Reflexionsinstrument für Schulleitende und Lehrpersonen auch in anderen Schulen dienen könnte. Allerdings bräuchte es hierfür beträchtliche Transferleistungen, die von Expertinnen und Experten begleitet werden müssten. Des Weiteren liefert das uSpL-Modell aufgrund des hohen Abstraktionsniveaus keine konkreten Handlungsempfehlungen für Entwicklungstätigkeiten. Diese lassen sich eher anhand der 20 gemeinsamen Entwicklungsgegenstände (siehe Abschnitt 7.2) formulieren.

8.4 Diskussion des methodischen Vorgehens

In den Ausführungen wurde bereits an mehreren Stellen auf eine generelle Einschränkung der in dieser Arbeit ausgewerteten empirischen Daten hingewiesen: Die Analyse von Interviewaussagen gibt zwar Hinweise, aber die Aussagekraft der Ergebnisse hinsichtlich der tatsächlichen Entwicklungstätigkeiten bleibt beschränkt. Aus der Rekonstruktion von Interviewaussagen – die ihrerseits auch eine Rekonstruktion der von den Interviewten wahrgenommenen sozialen Wirklichkeit sind – kann nicht abschließend auf die real stattfindenden Entwicklungsprozesse geschlossen werden. Weitere Grenzen und Potenziale des methodischen Vorgehens werden nachfolgend bezüglich Studie 1 (Abschnitt 8.4.1), Studie 2 (Abschnitt 8.4.2) und der Verfahren zur Qualitätssicherung in Studie 1 und Studie 2 (Abschnitt 8.4.3) diskutiert.

8.4.1 Strukturierende Inhaltsanalyse von teilstrukturierten Leitfadeninterviews

Eine Längsschnittanalyse der unterrichtszentrierten Schulentwicklung mittels teilstrukturierter LeitfadeninterviewsFootnote 3 (Berkemeyer et al., 2010a; Dreier et al., 2018; Flick, 2013; Pfeiffer & Püttmann, 2018) und mittels einer strukturierenden Inhaltsanalyse (Kuckartz, 2018) hat sich als ergiebig erwiesen. Das Anknüpfen an die im jeweils vorhergehenden Interview angesprochenen Veränderungen ermöglicht eine stringente Darstellung der Entwicklungstätigkeiten im Unterricht und in der Schule. Zudem ist die strukturierende Inhaltsanalyse geeignet, um große Datenmengen mit vergleichsweise wenigen Personalressourcen auszuwerten. Auch der deduktiv-induktive Codierprozess erwies sich als gutes Instrument, da er es ermöglichte, das uSpL-Modell (siehe Abschnitt 4.2) fortlaufend weiterzuentwickeln: Das Kategoriensystem wurde deduktiv anhand des Modells erarbeitet und im Codierprozess induktiv weiterentwickelt. Die hieraus gewonnen Erkenntnisse wiederum flossen in das uSpL-Modell zurück. So ergab sich ein fruchtbares Wechselspiel zwischen empirischen Daten und theoretischen Grundlagen.

Grenzen im methodischen Vorgehen zeigen sich demgegenüber darin, dass (1) die Interpretierbarkeit der Fundstellenhäufigkeiten von Kategorien aufgrund unterschiedlicher Einflussfaktoren begrenzt ist, dass (2) die Glaubwürdigkeit mancher Aussagen von Schulleitenden kritisch zu beurteilen sind und dass (3) aufgrund des Anonymisierungsgrades auf sehr spezifische Beschreibungen der Entwicklungsprozesse verzichtet wurde, weshalb so u. a. die Fallbeschreibungen an Genauigkeit verloren haben. Diese drei Punkte werden nachfolgend erörtert.

Grenzen der Interpretierbarkeit von Fundstellenhäufigkeiten

In einer strukturierenden Inhaltsanalyse werden in transkribierten Interviews je eine Sinneinheit umfassende Textstellen markiert und einer inhaltlich passenden Kategorie zugeordnet, das heißt codiert. Nach Abschluss des Codierprozesses können codierte Textstellen (Fundstellen) ausgezählt werden. In der vorliegenden Arbeit bildete diese Auszählung zusammen mit den theoretischen Überlegungen die Grundlage für die Hierarchisierung der fünf Entwicklungsdimensionen im uSpL-Modell (siehe Abschnitt 4.5). So wurde der Unterrichtsentwicklung u. a. aufgrund der häufigsten Nennungen die zentrale Position zugewiesen, während das gemeinschaftliche Schulleben mit den wenigsten Fundstellen eine Position am Rand erhielt (siehe Abschnitt 7.1).

Die Häufigkeit der Aussagen zu einer Entwicklungsdimension hängt einerseits von der inhaltlichen Relevanz ab, die einem Thema während des Interviews beigemessen wird: Wenn Lehrpersonen oder Schulleitende in einer Entwicklungsdimension viel erarbeitet haben, werden sie auch viel dazu im Interview erzählen. Andererseits, und dies ist kritisch zu beurteilen und mindert die Aussagekraft der Auszählungen, haben auch der Leitfaden und die Interviewführung einen Einfluss auf die Fundstellenhäufigkeiten.

Der Leitfaden gibt durch die Fragen und deren Abfolge vor, welche Inhalte, wann und mit welchen Zeitvorgaben thematisiert werden. Im perLen-Projekt lag der Schwerpunkt auf der Erfassung personalisierter Unterrichtskonzepte. Deswegen wurden hierzu die meisten Leitfragen gestellt und die interviewten Personen haben – mit wenigen Ausnahmen – mehr dazu gesagt als zu anderen Themen, zu denen weniger Fragen gestellt wurden (z. B. Kooperation zwischen Lehrpersonen). Mithilfe eines Leitfadens lassen sich die Datenerhebungen standardisieren und Interviewdaten können vergleichend ausgewertet werden, weil die für die Forschungsfragen relevanten Themen bei allen Interviewten mit denselben Fragen erhoben werden. Allerdings kann je nach Situation die Reihenfolge der Themenblöcke im Leitfaden getauscht werden, um eine möglichst natürliche Gesprächssituation zu erzeugen. Kritisch für den Vergleich von Fundstellenhäufigkeiten zwischen zwei Interviews ist dieser Abtausch dann, wenn die Fragen in einem Interview so gestellt werden, wie es der Leitfaden vorgibt, und in einem zweiten Interview mehrfach zwischen zwei Themenblöcken hin- und hergesprungen wird. In letzterem Falle kann es passieren, dass trotz ähnlicher Aussagen mehr Fundstellen codiert werden, weil bestimmte Sinninhalte im Interviewverlauf wiederholt aufgegriffen werden. Ein solches Interview gleicht in der Folge weniger einem teilstrukturierten Leitfadeninterview, sondern vermehrt einem problemzentrierten Interview (u. a. Witzel, 2000). Im perLen-Projekt wurden die Interviews über mehrere, teils parallel stattfindende Erhebungsphasen von verschiedenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie studentischen Hilfskräften durchgeführt. Auch wenn versucht wurde, interindividuelle Unterschiede durch eine Schulung in der Interviewführung, eine Besprechung des Leitfadens, eine einheitliche Verfahrensdokumentation und Einblick in die qualitative Inhaltsanalyse zu reduzieren, ergeben sich für die Standardisierung bei qualitativen Datenerhebungen Grenzen (Vasarik Staub et al., 2019). Interviews finden immer in einem sozialen Raum statt, in dem Personen unbewusst und bewusst miteinander interagieren. Deshalb ist jedes Interview für sich eine einzigartige, soziale Situation, in der aus unterschiedlichen Gründen (z. B. Störungen, Missverständnisse etc.) mehr oder weniger vom Leitfaden abgewichen wird (u. a. Flick, 2019).

Grenzen der Glaubwürdigkeit einiger Aussagen in Interviews mit den Schulleitenden

Im perLen-Projekt wurden Interviews mit Schulleitenden und Lehrpersonen erhoben. In den Analysen ließ sich im Vergleich der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner ein differenter Sprachduktus feststellen: Die Schulleitenden formulierten ihre Sätze meist positiver als Lehrpersonen. Dies könnte sich so deuten lassen, dass die Schulleitenden auf diese Weise ihr Unterrichts- und Schulkonzept bestmöglich „verkaufen“ wollten. Eine tiefgehende, kritische Reflexion der Schul- und Unterrichtsentwicklung war demgegenüber eher selten zu erkennen. Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, inwiefern die Schulleitenden ein „geschöntes“ Bild ihrer Schule zeichneten. Zwar lassen sich auch in den Lehrpersoneninterviews Beschreibungen positiver Aspekte in der personalisierten Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen finden. Jedoch wurde der Entwicklungsprozess häufiger kritischer reflektiert und es wurden vermehrt Entwicklungsmöglichkeiten ausgelotet.

Grenzen detaillierter Beschreibung von Entwicklungsprozessen

Eine weitere Einschränkung die in dieser Arbeit erstellten Fallbeschreibungen (siehe Abschnitt 7.1.2). Hier sind teilweise nur wenig spezifische Ausführungen und Erläuterungen der Entwicklungsprozesse nachzulesen. Dies hat drei Gründe.

Erstens musste ein gewisser Anonymisierungsgrad gewahrt bleiben, weshalb auf genaue Zeitangaben verzichtet wurde. So wurden Jahresangaben durch zeitlich nicht konkret verortbare Umschreibungen wie „wenige, einige, viele resp. sehr viele Jahre“ ersetzt. Zudem wurden fallspezifische Bezeichnungen wie „Lernlandschaft“, „Atelierunterricht“, „Lernatelier“ und „Lernteam“ unter weite Begriffen wie „offener Unterricht“ resp. „offene Unterrichtsphasen“ gefasst und „Input-Lektion“, „Fachunterricht“ und „Lerntreff“ verallgemeinernd als „geführter Unterricht“ resp. „geführte Unterrichtsphasen“ bezeichnet. Zweitens fehlten teilweise detaillierte Informationen zu Entwicklungstätigkeiten. Zum Beispiel wurde in keinem Interview die Lernunterstützung von Schülerinnen und Schülern im mittleren Leistungssegment thematisiert. Die Aussagen beziehen sich entweder auf die Leistungsstärkeren, die Leistungsschwächeren oder die gesamte Lerngruppe. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Lernunterstützung mittelstarker Schülerinnen und Schüler im Kollegium nicht besprochen und bearbeitet wird, sondern nur, dass dies im Interview nicht erläutert wurde. Drittens reichte die Interviewzeit jeweils nicht aus, um alle Bereiche einer unterrichtszentrierten Schulentwicklung in Richtung personalisierten Lernens ausführlich auszuführen.

8.4.2 Mixed-Methods-Datenanalyse

Hinsichtlich der Mixed-Methods-Datenanalyse gibt es zwei Punkte zu diskutieren: Zuerst wird darauf eingegangen, dass für die Quantifizierung der Interviewdaten auf die Verwendung von Fundstellenhäufigkeiten, wie es die Methodenliteratur empfiehlt (u. a. Kuckartz, 2018), verzichtet wurde. Stattdessen wurden die zusammengefassten Fundstellen (Summaries) ausgezählt. Anschließend werden die methodischen Grenzen der in dieser Arbeit durchgeführten Clusteranalyse diskutiert: Repräsentativität der Einschätzung des Entwicklungsstands bei einem geringen Rücklauf, Grenzen der Interpretierbarkeit von subjektiv eingeschätzten Kennwerten und exploratives Vorgehen ohne Anspruch auf Generalisierbarkeit.

Quantifizierung von Summaries

Da Interviews wie in Abschnitt 8.4.1 festgehalten immer eine einmalige soziale Situation darstellen, in der Personen unbewusst und bewusst miteinander interagieren, lassen sie sich nicht vollständig standardisieren (u. a. Flick, 2019). Im perLen-Projekt wurde mit verschiedenen Maßnahmen (z. B. Schulung in der Interviewführung, Besprechung des Leitfadens etc.) ein einheitliches Vorgehen in der Datenerhebung trainiert und umgesetzt (Vasarik Staub et al., 2019). Jedoch bleiben interindividuelle Unterschiede in der Datenerhebung bestehen und außergewöhnliche Interviewsituationen (z. B. Störungen, Personen kommen während des Interviews hinzu oder verlassen dieses) lassen sich deshalb nicht ausschließen (siehe Abschnitt 3.4.1). Beide Aspekte haben Auswirkungen auf die Fundstellenhäufigkeit. Zum Beispiel sind in einem Interview, welches strikt nach der Abfolge der Fragen im Leitfaden durchgeführt wurde, weniger Fundstellen zu erwarten als in einem Interview, in dem zwischen den Leitfragen hin- und hergesprungen wird und Inhalte zu einem Thema über das gesamte Interview verteilt sind. Um solche „Verzerrungen“ der Fundstellenhäufigkeiten durch die Interviewstile und durch außergewöhnliche Situationen zu reduzieren, wurden inhaltlich ähnliche Fundstellen zu Summaries zusammengefasst. Dies sollte die Auszählung von Inhalten aus den Interviews vergleichbar machen (siehe Abschnitt 3.4.1). Kritisch einzuwenden ist bei der Bildung von Summaries, dass trotz Maßnahmen für ein standardisiertes Vorgehen (Methodenbeschreibung [siehe Abschnitt 6.4.2.1]; Regeln für die Zusammenfassung der Fundstellen [siehe Anhang E im elektronischen Zusatzmaterial]) den Zusammenfassungen ein interpretativer Forschungszugang zugrundliegt, bei dem weitere Forschende Fundstellen durchaus anderes zusammenfassen würden. Ein solches interpretatives Moment ist in der qualitativen Sozialforschung legitim (Flick, 2014). Allerdings ist dieser Zugang mit dem Ziel einer Quantifizierung qualitativer Daten, um sie mit Fragebogendaten zu kombinieren und mittels statistischer Testverfahren auszuwerten, zu kritisieren, weil mit dem Einfluss der Forschenden auf die Datenstruktur die Qualitätsstandards quantitativer Forschung nur bedingt eingehalten werden (z. B. Objektivität). Um die Qualität der Bildung von Summaries zu überprüfen und zu sichern, bedarf es ein Verfahren ähnlich der Prüfung der Intercoder-Übereinstimmung bei der Codierung von Interviewaussagen (Kuckartz, 2018; Mayring, 2015). Möglich wäre, dass zwei Forschende unabhängig voneinander und regelgeleitet Fundstellen eines oder mehrerer Interviews zusammenfassen. Anschließend werden die Summaries hinsichtlich der zwei Fragen verglichen, ob dieselben Fundstellen für ein Summary genutzt wurden und ob die Summaries der beiden Forschenden denselben Inhalt abbilden. Unterschiede müssten, wie auch bei der Prüfung der Intercoder-Übereinstimmung, konsensual diskutiert werden (Hopf & Schmidt, 1993; Schmidt, 2013).

Clusteranalyse

Mit den quantifizierten Interviewdaten und einem Item zur Einschätzung des Entwicklungsstands aus dem Fragebogen wurde eine Clusteranalyse durchgeführt (siehe Abschnitt 6.4.2). In der Clusteranalyse wurde ein strukturentdeckendes Vorgehen gewählt. Das heißt, dass im Datenmaterial explorativ Strukturen erkundet und auf dieser Grundlage Hypothesen formuliert wurden, die in Folgestudien mit größerem Stichprobenumfang überprüft werden sollten.

Die Clusteranalyse ist eine Methode, die sich auch für kleine Stichproben eignet (Bacher, 1996; Wiedenbeck & Züll, 2010). Bei den Schulen B, E und F war der Rücklauf zur Einschätzung des Entwicklungsstands allerdings so gering – er betrug weniger als ein Drittel – dass die Repräsentativität der Daten dennoch kritisch zu beurteilen ist. Inhaltlich konnte zwar unter Verweis auf die Besonderheiten im Entwicklungsprozess erklärt werden, warum diese Schulen trotzdem in die Clusteranalyse aufgenommen worden waren (siehe Abschnitt 7.5.1). Gleichwohl ist die Aussagekraft der Ergebnisse hinsichtlich der Einschätzung des Entwicklungsstands in diesen drei Schulen gemindert.

Eine weitere Einschränkung der Ergebnisse ergibt sich durch die Selbsteinschätzung des Entwicklungsstands. Mit dieser wurde ein subjektiver Wert erhoben, dessen Referenzrahmen bei der Beantwortung nicht geklärt werden kann. In Abschnitt 8.2.3 wurde bereits diskutiert, dass zwar Lernerfolg der ultimative Bezugspunkt von Schul- und Unterrichtsentwicklung bildet und dass davon ausgegangen werden kann, dass sich die meisten Schulleitenden und Lehrpersonen daran orientierten. Es kann aber auch sein, dass andere Kriterien als Referenzpunkte entscheidend waren, zum Beispiel dass der Schulstandort durch den Entwicklungsprozess gesichert werden soll. Für eine höhere Aussagekraft eignen sich deshalb objektive Kennwerte wie beispielsweise Testleistungen von Schülerinnen und Schülern oder direkte Unterrichtsbeobachtungen hinsichtlich von Qualitätskriterien guten Unterrichts, zum Beispiel Lern- und Unterstützungsqualität oder Lernzeitnutzung.

Des Weiteren ist beim eingeschätzten Entwicklungsstand von Schule B davon auszugehen, dass die zwei Lehrpersonen ihre Antworten eher weniger auf den Entwicklungsprozess in Richtung personalisierten Lernens bezogen, weil dieser zu dem Zeitpunkt abgebrochen und teils rückgängig gemacht worden war. Angesichts dieses Umstands sollte Schule B eigentlich aus der Analyse (Studie 2/Teil 3; Abschnitt 7.5) ausgeschlossen werden. Sie wurde aber dennoch in der Stichprobe belassen, weil dadurch zum einen wichtige Erkenntnisse zu erfolgreich verlaufenden Entwicklungsprozessen gewonnen und verifiziert werden konnten. Zudem gelangte nicht nur die Clusteranalyse, sondern auch eine Korrelationsberechnung mit den Summary-Anteilen, die den Merkmalen der Tiefenstruktur von Unterricht zugeordnet werden konnten, ohne Schule B zu denselben Ergebnissen.

Ein letzter Kritikpunkt bezieht sich auf die Stichprobengröße von elf Schulen. Die Ergebnisse der Clusteranalyse können Tendenzen aufzeigen, sind aber nicht generalisierbar. Grenzen der kleinen Stichprobe manifestieren sich zudem nicht nur in der bereits erwähnten fraglichen Repräsentativität der Ergebnisse infolge des geringen Rücklaufs, sondern auch in den Hinweisen zur weiteren Differenzierung der zwei Cluster. Die Cluster konnten nicht weiter unterteilt werden, weil in einem Cluster sonst zu wenige Fälle vorhanden gewesen wären. Das Problem lässt sich anhand von Cluster 2 (Schulen B, F und K) illustrieren: So wurden in den Schulen B und K, nicht aber in Schule F vermehrt reaktive Entwicklungstätigkeiten beschrieben und es ließ sich eine fehlende Kohärenz zwischen Schulleitungs- und Lehrpersoneninterviews feststellen. Auch des Gütemaß (Silhouetten-Maß) von Schule F weist darauf hin, dass Cluster 2 zweigeteilt werden sollte. Dies ergäbe jedoch wenig Sinn, weil eines der beiden neu entstehenden Cluster danach nur noch einen Fall umfassen würde (siehe Abschnitt 7.5). Bei der kleinen und auch selektiv gezogenen Stichprobe von elf Schulen (siehe Abschnitt 6.2) bleibt des Weiteren unklar, ob die gesamte Variationsbreite der Merkmale abgedeckt wurde. Es kann sein, dass die elf Schulen einen Teil der Gesamtstreuung der Merkmale in der Grundgesamtheit repräsentieren (Bortz & Schuster, 2010).

8.4.3 Verfahren der Qualitätssicherung

Grundsätzlich konnte durch Kombination der zwei Studiendesigns – Längsschnittanalyse qualitativer Daten und Mixed-Methods-Datenanalyse – trotz methodischer Einschränkungen (siehe Abschnitt 3.4.1 und Abschnitt 3.4.2) ein Design konzipiert und umgesetzt werden, mit dem bedeutsame Erkenntnisse hinsichtlich einer unterrichtszentrierten Schulentwicklung in Richtung personalisierten Lernens gewonnen werden konnten. Im Rahmen der Datenanalysen wurden vielfältige Maßnahmen zur Qualitätssicherung eingesetzt, zum Beispiel Verfahrensdokumentation, Intercoder-Übereinstimmung oder Validierung durch Expertinnen und Experten (siehe Abschnitt 6.4.1.2 und Abschnitt 6.4.2.3). Zusätzlich dazu wäre allerdings, wie bereits im Abschnitt 8.4.2 ausgeführt, eine Prüfung der Qualität der Bildung von Summaries wünschenswert. Allerdings ist ein solches Verfahren noch nicht entwickelt worden. Ebenso erwünscht wäre eine Intercoder-Überprüfung der Zuordnung der Summaries zu Oberflächen- und Tiefenstruktur (siehe Abschnitt 6.4.2.3), weil insbesondere Tiefenmerkmale von Unterricht nur schwer beobachtbar sind (u. a. Reusser & Pauli, 2010a). Diese Form der Qualitätssicherung war jedoch nicht möglich, weil die Zuordnung bereits während der Erstellung der Summaries vorgenommen worden war. Das heißt, dass codierte Interviewaussagen zu den Dimensionen personalisierten Lernens in einem ersten Schritt hinsichtlich der jeweiligen Kategorieninhalte zusammengefasst wurden und dabei gleichzeitig zwischen Ober- und Tiefenmerkmale differenziert wurde.

Eine weitere Maßnahme, die kommunikative Validierung der Ergebnisse mit den befragten Personen (u. a. Flick, 2014), konnte ebenfalls nicht umgesetzt werden. Insbesondere zu den Ergebnissen von Studie 1, der Beschreibung des Entwicklungsprozesses, hätte der Autor bedeutsame Rückmeldungen hinsichtlich der Korrektheit und der Gewichtung von Entwicklungstätigkeiten erhalten können, wenn er diese mit den Interviewteilnehmerinnen und Interviewteilnehmern besprochen hätte. Damit eine kommunikative Validierung gewinnbringend eingesetzt werden kann, müsste sie jedoch zeitnah nach der letzten Datenerhebung geschehen. Dies würde die Wahrscheinlichkeit, dass sich die interviewten Personen auch noch an Details ihrer Entwicklungstätigkeiten genau erinnern können, beträchtlich erhöhen. Aufgrund des großen zeitlichen Abstands von drei Jahren zwischen dem Ende der letzten Datenerhebung und dem Ende der Datenauswertung wurde auf eine kommunikative Validierung verzichtet.

8.5 Forschungsdesiderate und weiterführende Fragestellungen

In der Diskussion der Ergebnisse und des methodischen Vorgehens wurde bereits auf einige Forschungsdesiderate hingewiesen, die in diesem Unterkapitel zusammengefasst und mit weiteren ergänzt werden. Die Desiderate beziehen sich erstens auf die Erfassung von tatsächlich stattfindendem Entwicklungshandeln mit Fokus auf Merkmale der Tiefenstruktur von Unterricht. Zweitens werden weiterführende Untersuchungen zu Störungen und Scheitern im Entwicklungsprozess als ertragreich eingeschätzt. Ebenfalls sinnvoll erscheinen drittens eine vertiefte Analyse von Kooperation zwischen Akteursgruppen im gesamten Bildungssystem und viertens eine Analyse von ko-konstruktiver Kooperation in Entwicklungsteams. Abschließend werden fünftens Fragen zur Mitwirkung von Schülerinnen und Schülern im Entwicklungsprozess, sechstens Fragen zur Übertragbarkeit der 20 gemeinsamen Entwicklungsgegenstände der elf untersuchten Schulen auf andere Schulen sowie siebtens Fragen zum Belastungserleben und zur Gesundheit von Lehrpersonen im Entwicklungsprozess für weitere Forschungen formuliert.

Erfassung tatsächlich stattfindender Handlungen

Um zu erfahren, wie Schulleitende und Lehrpersonen tatsächlich handeln, ist teilnehmende Beobachtung zum Beispiel mithilfe von Videos nötig. Es ist denkbar, dass zu diesem Zweck Besprechungen der Lehrpersonen und Schulleitenden aufgenommen werden könnten, in denen erstens strategische Entscheidungen getroffen und zweitens konkrete Unterrichtsmerkmale weiterentwickelt werden. Drittens sind Beobachtungen direkt im Unterricht erforderlich, welche die konkrete Umsetzung der Neuerungen erfassen. Diesbezüglich stellen sich Fragen, wie der Prozessverlauf konkret gestaltet wird, und zwar von der Planung und Konzeption über die Umsetzung bis hin zur Reflexion der Veränderungen.

Hochrelevant ist in diesem Zusammenhang die Frage, wie Merkmale der Tiefenstrukturen, wie zum Beispiel Lern- und Unterstützungsqualität oder Lernzeitnutzung, in Entwicklungsprozessen weiterentwickelt werden: Inwiefern schaffen es Schulleitende und Lehrpersonen, die psychologischen Lehr- und Lernebene zu erfassen, sichtbar zu machen und gezielt zu verändern? Zusätzlich wäre von Interesse, welche Veränderungen auf der tiefenstrukturellen Unterrichtsebene einen Einfluss auf die fachlichen und überfachlichen Lernleistungen der Schülerinnen und Schüler haben.

Bezüglich eines Tiefenmerkmals von Unterricht, der Lernunterstützung fachfremder Lehrpersonen, gelangten die Analysen zu einem aufschlussreichen Befund: Eine Besonderheit in offenen Unterrichtsphasen ist, dass es vorkommen kann, dass die Schülerinnen und Schüler Aufgaben eines für die anwesende Lehrperson fremden Fachs bearbeiten. Mittels eines fragengeleiteten Lerndialogs kann die Lehrperson in solchen Situationen Wissensbestände bei den Schülerinnen und Schülern aktivieren, um sie dennoch bei der Erschließung des Verstehensproblems zu coachen. Jedoch stellt sich aus fachdidaktischer Perspektive die Frage, wie hochwertig die Qualität der Lernunterstützung ohne fachliche Expertise der Lehrpersonen sein kann.

Der in dieser Arbeit angesetzte Analysefokus ist allgemeindidaktischer Art, was angesichts des fehlenden fachdidaktischen Bezugs kritisiert werden kann (Lipowsky & Bleck, 2019; Messner, 2019). Hieran schließt sich die Frage an, ob die Entwicklung personalisierter Lernumgebungen zum Beispiel im Fach Deutsch von Lehrpersonen anders gestaltet wird als im Fach Mathematik. Erste Befunde zu personalisiertem Lernen im Mathematikunterricht wurden im deutschsprachigen Raum bereits publiziert (u. a. Anderegg, 2015).

Störungen und gescheiterte Entwicklungsprozesse

Um den Entwicklungsprozess in Richtung einer vermehrt personalisierten Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen tiefgehender zu verstehen, würde es sich in weiterführenden Studien lohnen, Aspekte im Entwicklungsprozess in den Blick zu nehmen, die weniger gut gelingen und auf Herausforderungen hinweisen. Die vorliegenden Analysen zeigen, dass Entwicklungsprozesse kaum linear verlaufen. Es lassen sich Widerstände gegen die Entwicklung finden, Konflikte im Kollegium werden beschrieben oder mangelnde auf tiefes Verstehen bezogene Lernprozesse kritisiert. Vor diesem Hintergrund stellen sich Fragen, wie Schulleitende und Lehrpersonen solche Probleme erkennen, wie sie darauf reagieren und welche Konsequenzen die Probleme und deren Lösung für weiterführende Entwicklungstätigkeiten haben.

Ein extremes und deshalb potenziell auch aufschlussreiches Beispiel liegt dann vor, wenn der gesamte Entwicklungsprozess ganz abgebrochen wird, so wie dies in Schule B der Fall war. Denn gescheiterte Schulentwicklung ist ein Forschungsfeld, das bisher kaum bearbeitet wurde (Schlee, 2014). Diesbezüglich stünden nicht nur die Gründe für das „Scheitern“ im Fokus des Interesses, sondern auch der Verlauf und die Auswirkungen auf die in den Prozess Involvierten und die Lernumgebungen. In dieser Arbeit konnten erste Erkenntnisse dazu eruiert werden, die allerdings in weiterführenden Studien vertieft werden könnten.

Kooperative Gestaltung von Entwicklungsprozessen: Interaktion zwischen verschiedenen Akteursgruppen

Die Schulentwicklungsforschung steht vor der Herausforderung, das komplexe Zusammenwirken von Akteurinnen und Akteuren der System (z. B. Schulbehörde), Schul- (z. B. Schulleitung) und Unterrichtsebene (z. B. Lehrpersonen) gesamthaft zu analysieren. In dieser Arbeit lag der Schwerpunkt auf der kooperativen Gestaltung der Entwicklungsprozesse von Lehrpersonen und Schulleitenden. In der Fallbeschreibung von Schule B (siehe Abschnitt 7.1.2.2), in welcher der Entwicklungsprozess abgebrochen wurde, zeigte sich jedoch, dass auch weitere Akteursgruppen, wie etwa die lokale Schulbehörde oder die Eltern, für den Erfolg eines Entwicklungsprozesses bedeutsam sind. Deshalb stellt sich die Forschungsfrage, wie, zu welchen Gegenständen und mit welchen Instrumenten alle Beteiligten auf Unterrichts-, Schul- und Systemebene miteinander kooperieren, um den Unterricht in Richtung personalisierten Lernens weiterzuentwickeln. Um die Interaktionsdynamiken zu erfassen, eignen sich soziale Netzwerkanalysen (Kolleck & Kulin, 2016). Damit kann das komplexe Zusammenwirken innerschulischer (Schulleitende, Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler) und außerschulischer Akteursgruppen (Schulbehörde, andere Schulen, Beratende etc.) erfasst werden. Dies wird beispielsweise in einer Teilstudie des Schweizer SIC-Forschungsprojekts umgesetzt (Maag Merki, 2017; Wullschleger, Maag Merki, Rechsteiner & Rickenbacher, 2019).

Ko-konstruktive Kooperation

Die Ergebnisse dieser Arbeit weisen darauf hin, dass ko-konstruktive Kooperation für die Entwicklung und die Umsetzung von Konzepten personalisierten Lernens sehr bedeutsam ist. Hier lässt sich die Frage anschließen, wie die Interaktionsprozesse in Teamsitzungen verlaufen, in denen Veränderungen und Neuerungen für den Unterricht entwickelt werden: Wer gibt welche Gesprächsimpulse und wie werden diese aufgenommen und weitergedacht? Ausgehend von einem gesprächsanalytischen Zugang wäre es in diesem Zusammenhang von Interesse, zu untersuchen, wie Wissens- und Erfahrungsbestände hinsichtlich bestmöglicher Lernumgebungen konkret ausgetauscht und miteinander verknüpft werden.

Des Weiteren lässt sich bezüglich der Kooperationsforschung zur ko-konstruktiven Kooperation feststellen, dass oftmals Tätigkeitsbereiche und deren Häufigkeiten erfasst werden (z. B. Gräsel et al., 2006a; Keller-Schneider & Albisser, 2012). Instrumente, die psychologische Aspekte der Kooperation zwischen Lehrpersonen, zum Beispiel vertrauensvolle Gesprächskultur oder Wertschätzung, erheben, sind hingegen kaum zu finden. Ein Instrument zur ko-konstruktiven Kooperation unter Lehramtsstudierenden wurde mittlerweile bereits entwickelt (Galle & Kreis, 2020). Dieses Instrument weist das Potenzial auf, mit einigen Anpassungen auch in kleineren Lehrpersonenteams eingesetzt werden zu können, in denen Unterricht in Richtung personalisierten Lernens konkret weiterentwickelt wird. Ein anderes Instrument der Forschungsgruppe Grosche, Fussangel und Gräsel (2020) ist in Arbeit.

Mitwirkung der Schülerinnen und Schülern im Entwicklungsprozess

In den untersuchten Schulen entwickeln Lehrpersonen gemeinsam Lernangebote, in denen die Schülerinnen und Schüler vermehrt selbst über ihre Lernprozesse bestimmen und festlegen können, welche Aufgaben sie wann, wie und mit wem bearbeiten. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwiefern die Schülerinnen und Schüler im Entwicklungsprozess selbst mitwirken können. In den Interviews wurde zu diesem Punkt festgehalten, dass Rückmeldungen beispielsweise durch Befragungen oder direktes Feedback eingeholt würden, die die Schulleitenden und Lehrpersonen für die Weiterentwicklung nutzen. Allerdings konnten keine Aussagen identifiziert werden, denen zufolge die Schülerinnen und Schüler den Entwicklungsprozess direkt beeinflussen können. Diesbezüglich wäre es aufschlussreich, mehr darüber zu erfahren, wie Schülerinnen und Schüler in der Schul- und Unterrichtsentwicklung mitwirken und als wie sinnvoll Schulleitende und Lehrpersonen diese Mitwirkung einschätzen.

20 gemeinsame Entwicklungsgegenstände

In allen elf untersuchten Schulen konnten insgesamt 20 gemeinsame Tätigkeitsfelder, das heißt Entwicklungsgegenstände, eruiert werden (siehe Abschnitt 7.2). Die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf andere Schulen lässt sich in dieser Arbeit nicht abschließend prüfen. Dennoch bieten sie Hinweise für Schulleitende und Lehrpersonen, die ihre Unterrichtskonzepte in Richtung einer vermehrt personalisierten Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen weiterentwickeln möchten. Für die Bestimmung des Ist-Zustands in der Entwicklung und die Definition neuer Entwicklungsziele könnten die 20 Entwicklungsgegenstände operationalisiert werden. Zu diesem Zweck könnten für jeden Entwicklungsgegenstand mehrere Qualitätsabstufungen festgelegt werden.

Gesundheit der Lehrpersonen

Die Ergebnisse aus Studie 1 – Fallbeschreibungen (siehe Abschnitt 7.1) und 20 Entwicklungsgegenstände (siehe Abschnitt 7.2) – zeigen die Komplexität der Entwicklungsprozesse auf: Unterschiedliche Personen bearbeiten mehrere Entwicklungsgegenstände gleichzeitig. Sie vernetzen sich und stimmen Handeln aufeinander ab. Dies ist ebenso herausfordernd wie die gezielte Weiterentwicklung der in Studie 2 untersuchten, nur schwer zugänglichen Tiefenmerkmale von Unterricht (z. B. kognitive Aktivierung, förderliches Lernklima oder adaptive Lernunterstützung). Solche Herausforderungen können für Lehrpersonen belastend sein. Deshalb wäre es aufschlussreich, zu untersuchen, inwiefern Entwicklungstätigkeiten als belastend wahrgenommen werden und wie sich diese auf die Gesundheit von Lehrpersonen auswirkt. Schulleitende und Lehrpersonen der elf Schulen sind sich dieser Herausforderungen bewusst und bearbeiten sie zielführend. Dass die Lehrpersonen die Belastung auch längerfristig erfolgreich bewältigen können, zeigt sich u. a. an Schulen, die seit mehreren Jahren mit Konzepten personalisierten Lernens unterrichten.