Demographie und Gehirn

Die Lebenserwartung ist in Deutschland in den letzten Jahrzehnten, wie in der gesamten entwickelten Welt, dramatisch und nahezu linear angestiegen. Waren es um 1900 noch etwas mehr als 40 Jahre für Männer und 45 Jahre für Frauen, so liegt die Lebenserwartung in Baden-Württemberg aktuell bei 84 Jahren für eine Frau und 79,5 Jahren für einen Mann. Diese Entwicklung bedeutet, dass im Schnitt für jeden Tag des Lebens die Lebenserwartung um rund 6 h angestiegen ist!

Damit die so zugänglichen zahlreichen weiteren Jahre gute Jahre sind, ist ein Verständnis des Alterungsprozesses besonders wichtig. Auch wenn hierbei alle Organe betroffen sind, so steht das Gehirn besonders im Fokus, einerseits wegen der Sorge vor altersbezogenen Erkrankungen, hier insbesondere Demenzen, dann aber auch wegen seiner Wichtigkeit für das gesunde Leben insgesamt.

Was zeigt die Neurowissenschaft über das alternde Gehirn? Die wichtigste Botschaft vorab: Der Alterungsprozess ist im Gehirn nicht, wie lange Zeit angenommen, nur der eines fortschreitenden Rückbaus, denn das Gehirn behält bis ins hohe Alter ein erstaunliches Potential für funktionelle und strukturelle Plastizität (Burke & Barnes, 2006). Diese Plastizität kann durch verschiedene Aspekte der Lebensführung aktiv verbessert werden. Dies eröffnet unabhängig von Einzelschicksalen und Risiko- und Resilienzfaktoren Möglichkeiten des gesunden Alterns.

Biologie des alternden Gehirns

Die strukturelle Hirnbildgebung zeigt, dass unser Gehirn im frühen Erwachsenenalter am größten ist (Kennedy & Raz, 2015). Danach nimmt das Volumen des Gehirns normalerweise im mittleren Lebensalter im Schnitt pro Jahr etwas weniger als ein Drittel Prozent ab, im höheren Alter beschleunigt sich dieser Prozess dann auf etwas mehr als ein halbes Prozent (Spreng & Turner, 2019). Allerdings betrifft dies weniger die Nervenzellen selber: mit Ausnahme weniger Nervenzellgruppen im Gehirnstamm (monoaminerge Neurone) (Mather & Harley, 2016), im basalen Vorderhirn und im dorsolateralen präfrontalen Cortex finden sich hier keine Veränderungen. Im Wesentlichen sind die Hirnvolumenänderungen auf Verminderung der dentritischen Verästelungen und der Synapsen zurückzuführen. Die Rate der strukturellen Veränderungen ist bei Männern stärker ausgeprägt und beginnt auch früher als bei Frauen. In der grauen Substanz, in der die Nervenzellkörper zu finden sind, ist die Volumenreduktion besonders ausgeprägt in evolutionär jüngeren Regionen, die auch in der Lebensspanne erst spät heranreifen, wie dem präfrontalen Cortex, daneben auch in sogenannten heteromodalen Assoziationsgebieten, in denen die Informationen verschiedener Sinnesorgane zusammenlaufen (Salat et al., 2004). Verglichen damit verläuft die Volumenabnahme in den Hirnregionen, in denen sensorische Informationen primär verarbeitet werden, langsamer und beginnt auch später. Mit multivariaten Methoden kann man Muster in diesen regionalen Effekten erkennen. Dabei sieht man eine Verminderung der strukturellen Interaktionen von Regionen, die dem sogenannten „default mode network“ angehören (Spreng & Turner, 2013), und eine Verminderung insbesondere der Interaktionen von weiter auseinanderliegenden Regionen (Montembeault et al., 2012). Diese strukturellen Veränderungen bilden eine Basis für die weiter unten diskutierten funktionellen Besonderheiten des alternden Gehirns.

Das Volumen vieler subkortikaler Hirnregionen, wie des Striatums, nimmt linear mit dem Alter ab, es gibt aber auch Regionen beispielsweise des Hirnstamms, oder auch der Hippokampus, die lange Zeit stabil bleiben und dann im hohen Alter rasch abnehmen (Ziegler et al., 2012). Die weiße Substanz des Gehirns, in der sich die Verbindungen zwischen Hirnregionen befinden, schien in frühen Studien von dieser Volumenabnahme weniger betroffen. Allerdings besteht inzwischen auf der Grundlage von Analysen von strukturellen MRT-Aufnahmen im longitudinalen Kontext Konsens darüber, dass sich auch hier Volumenabnahmen finden (Resnick et al., 2003). Interessanterweise sind Veränderungen in der weißen Substanz ein stärkerer Prädiktor von kognitiven Veränderungen im Alter als solche der grauen Substanz. Hier spielen auch Läsionen aufgrund von Durchblutungsstörungen eine mit dem Alter zunehmende Rolle, die entsprechend mit kardiovaskulären Risikofaktoren verknüpft sind (Raz et al., 2007). Auch entzündliche Prozesse, sowie chronischer Stress, wirken sich negativ aus (Kennedy & Raz, 2015).

Diese relativ subtilen Veränderungen der Struktur induzieren Veränderungen der Funktion der Nervenzellen selbst (hier insbesondere in Prozessen, die mit der Plastizität in Verbindung stehen, wie der sogenannten „long-term potentiation“) (Burke & Barnes, 2006), dann aber auch in der Art und Weise, in der Nervenzellen funktionell zusammenarbeiten, die insbesondere mit Methoden der funktionellen Bildgebung untersucht werden kann. In der Hirnfunktion finden sich verminderte Unterschiede zwischen der rechten und linken Hemisphäre, die als Ausdruck einer reduzierten Spezialisierung im Alter gedeutet werden, sowie eine stärkere Aktivierung frontaler Hirnregionen, insbesondere bei komplexen Aufgaben, die man als kompensatorisch deutet und im Zusammenhang mit einer verminderten Fähigkeit älterer Menschen sieht, die notwendigen spezialisierten Hirnfunktionen – Schaltkreise für eine gegebene Aufgabe zu rekrutieren (Spreng & Turner, 2019). Mit anderen Worten: für ein gegebenes kognitives Leistungsniveau müssen die hierfür nötigen Hirnareale stärker aktiviert und gegebenenfalls auch noch weitere Hirnareale rekrutiert werden. Hierfür spricht auch, dass die präfrontale Aktivierung mit der Leistungsfähigkeit in den untersuchten kognitiven Aufgaben korreliert (Eyler et al., 2011).

Neben diesem durchgehenden Muster einer stärkeren Aktivierung präfrontaler Regionen lassen sich weitere spezifische Veränderungen der Funktion im Alter zeigen, die im Zusammenhang mit den jeweiligen kognitiven Funktionen stehen (Spreng et al., 2010). Grundsätzlich kann man festhalten, dass neben der stärkeren Aktivierung auch eine Hinzunahme anderer Hirnregionen (verglichen mit denselben Leistungen bei jungen Probanden) zu konstatieren ist, ein Phänomen, dass man auch als „neuronale Dedifferenzierung“ bezeichnet hat (Park et al., 2001). Dies ist auch das Phänomen, das dann typischerweise auch zu einer Verminderung der Lateralisierung der Hirnaktivierung im Alter führt (Grady et al., 1994), da gerade bei höheren kognitiven Funktionen homologe Hirnareale beider Hemisphären oft funktionell spezialisiert sind. Diese funktionellen Veränderungen, die mit im Alter typischerweise leicht zunehmenden Einschränkungen insbesondere in Gedächtnis- und Umstellungsleistungen einhergehen, stellen jedoch nicht das Bild einer einheitlichen und durchgehenden Verschlechterung im Alter dar; so ist zum Beispiel die Fähigkeit, Emotionen zu regulieren, im Alter gegenüber der Fähigkeit junger Erwachsener und zumal Adoleszenter besser, wahrscheinlich entsprechend einer verbesserten präfrontalen Regulation einer für negative Emotionen zentral wichtigen Hirnregion, der Amygdala (Jacques et al., 2009).

Gesunde Lebensführung für ein gesundes Gehirn im Alter

Diesen biologischen altersbezogenen Veränderungen entgegen stehen Aspekte der Lebensführung, die für die Hirnplastizität und Hirngesundheit gerade im Alltag förderlich sind (Mora, 2013). Exemplarisch seien hier genannt Kognitionstraining, gesunde Diät, ausreichende Bewegung und gelingende soziale Interaktionen.

Bezogen auf Kognitionstraining kann man sowohl in experimentellen Modellen (Nagern) als auch beim Menschen zeigen, dass kognitive Stimulation die Gedächtnisleistung und die Lernfähigkeit verbessert (Mora, 2013). Damit korrespondiert eine vermehrte Generierung neuer Nervenzellen in bestimmten Hirnregionen und eine höhere Anzahl und Verästelung von Dendriten, auf denen die synaptischen Verbindungen zwischen Nervenzellen oft enden, und die Formierung neuer Synapsen. Diese ausgeprägt positiv plastischen Veränderungen sind teilweise vermittelt durch Erhöhung von Nervenwuchsfaktoren wie dem Brain-derived neurotrophic factor (BDNF). BDNF scheint auch eine Rolle zu spielen bei den inzwischen gut belegten positiven Effekten von niedrigkalorischer Ernährung auf das Alter (Prolla & Mattson, 2001). Die Rede ist hier von einer erheblichen Verminderung der Nahrungsaufnahme (Verminderung der Energiezufuhr um 20–40 %), die vermutlich multifaktoriell positiv auf Alterseffekte bei Versuchstieren, einschließlich Affen und Menschen, einwirkt. Bezogen auf das Gehirn hat die Kalorienrestriktion positive Effekte auf die Gedächtnisleistung, die Lernfähigkeit, darüber hinaus aber auch auf den allgemeinen Metabolismus. In Versuchstieren findet sich wiederum eine Vermehrung der Synapsenbildung und der Regenerierung neuer Nervenzellen im Hippocampus, einer Hirnregion, die für die Gedächtnisleistung besonders wichtig ist. In anderen Teilen des Gehirns, wie dem frontalen und temporalen Cortex, finden sich keine neuen Nervenzellen, aber eine Verlangsamung der oben beschriebenen typischen Altersveränderungen (Maswood et al., 2004).

Auch regelmäßige Bewegung, insbesondere aerober Sport, hat einen positiven Effekt auf das Gehirn, auch dies lässt sich an den kognitiven Leistungen ablesen (Hillman et al., 2008). Besonders der Hippocampus scheint von solcher Aktivität besonders zu profitieren und neue Nervenzellen zu bilden. Viele Nervenwuchsfaktoren, darunter wiederum BDNF (Prolla & Mattson, 2001), sind in diesen Effekt eingebunden, den man auch bei Patienten findet und der für die Behandlung kognitiver Störungen bei zahlreichen Erkrankungen wie bspw. auch der Schizophrenie, geprüft wird (Pajonk et al., 2010).

Schließlich und endlich sind gelingende soziale Beziehungen von entscheidender Wichtigkeit für ein gesundes Altern und tatsächlich auch für die Lebenserwartung der Menschen als solche.Im alternden Gehirn kann man insbesondere einen Effekt sozialer Interaktion auf die Verbesserung der Gehirnantwort auf Stress nachweisen. Vor allem chronischer Stress führt über die Erhöhung von Hormonen, den Glukokortikoiden, zu nachteiligen Veränderungen, bspw. wiederum im Hippocampus (Hibberd et al., 2000). Solche Veränderungen lassen sich durch ein anregendes soziales Umfeld wiederum umkehren.

Demenzen

Alle solche Faktoren helfen allerdings denen nur wenig, die von altersassoziierten Erkrankungen wie Demenzen betroffen sind. Entsprechend richtet sich hier die Hoffnung auf eine genauere Untersuchung der zugrunde liegenden pathophysiologischen Veränderungen im alternden Gehirn und deren medikamentöse Beeinflussung. Im Zentrum des Interesses steht hier insbesondere die Alzheimersche Erkrankung. Auch wenn sich gegenwärtig über 100 Medikamente hierfür in der klinischen Prüfung befinden (Cummings et al., 2019), hat sich leider in der Forschung der letzten Jahre noch keine Therapie finden lassen, die den Verlauf der Erkrankung grundsätzlich ändert. Hier werden deshalb, neben den momentan noch vorwiegend untersuchten Schwerpunkten an Proteinen und ihrem Metabolismus anzusetzen, die für die sogenannten Alzheimer-Plaques verantwortlich sind, andere Ziele, wie bspw. das Tau-Protein, geprüft. Allerdings hat die jüngst erfolgte Mitteilung, dass aducanumab, eine gegen Plaques gerichtete Therapie, entgegen erster Analysen doch eine Verbesserung des Verlaufs der kognitiven Funktionen zeigte, auch für diese Therapieform zu neuen Hoffnungen, aber auch zu Skepsis geführt (Servick, 2019).

Bis diese Forschung zu einem wesentlichen Ergebnis führt, sind die oben diskutierten Lebensstil-Faktoren umso wichtiger; so konnte man z. B. zeigen, dass das Erlernen einer weiteren Sprache auch bei einer später an Demenz Erkrankten das Auftreten der ersten Symptome um mehrere Jahre verzögern kann. Auch ausreichender Schlaf ist wichtig, weil sich vor kurzem herausgestellt hat, dass sich das Gehirn im Schlaf von Alzheimer-Plaques reinigen kann. Insgesamt haben diese Aspekte des gesunden Lebensstils offenbar einen merklichen Effekt: auch wenn die Zahl von Demenzerkrankungen im Rahmen des demographischen Wandels zunimmt, nimmt die Inzidenz von Demenzen in den Industrieländern seit mehreren Jahren ab (Prince et al., 2016).