Einführung

Im Jahr 2050 werden rund 10 Mio. Menschen in Deutschland 80 Jahre und älter sein, und bis 2060 pendelt sich die Anzahl der Über-80-Jährigen auf rund 9 Mio. Menschen ein (Statistisches Bundesamt, 2015). In Baden-Württemberg gab es in demografischer Hinsicht bereits im Jahr 2000 eine Zäsur, denn erstmals lebten seit Bestehen des Landes etwas mehr 60-Jährige und Ältere als unter 20-Jährige im Südwesten – und die Schere ist seither weiter aufgegangen. Die Bevölkerungsvorausberechnung für Baden-Württemberg von 2019 zeigt, dass 2060 voraussichtlich doppelt so viele Ältere wie Jüngere in Baden-Württemberg leben (StaLa BW, 2019a). Doch nicht nur der Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung wird zunehmen, auch die Anzahl hochaltriger Menschen (85 Jahre und älter) steigt (Abb. 1). Die Prognose für diese Bevölkerungsgruppe liegt für das Jahr 2060 bei über 800.000 Menschen allein in Baden-Württemberg. Die Gesellschaft des langen Lebens, beziehungsweise des längeren Lebens (SVR, 2009), ist also längst Realität.

Abb. 1
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Entwicklung Hochaltrige in Baden-Württemberg bis 2060 2017 Ist-Wert, danach Ergebnisse Bevölkerungsvorausrechnung, Basis 31.12.2017 (StaLa BW, 2019a). Berechnung AOK-Werte auf Basis Dezember 2017; Annahme 1: die prozentuale Steigerung der Hochaltrigen verläuft in der AOK BW analog zu Baden-Württemberg; Annahme 2: die prozentuale Verteilung zwischen männlich und weiblich ändert sich bezogen auf 2017 nicht

Der Begriff „Überalterung“ der Bevölkerung ist dennoch falsch, denn eine geringe frühe Sterbewahrscheinlichkeit und eine maximal lange Lebenserwartung jedes geborenen Mitglieds einer Population sind seit mehr als 100 Jahren das Ziel sozialer und medizinischer Anstrengungen in den Industrieländern. Die Lebenserwartung hängt von vielen, unter anderem auch sozioökonomischen Faktoren ab. So weisen zum Beispiel altersgleiche Personen der unteren sozialen Schichten im Vergleich zu jenen der höheren Schichten durchschnittlich mehr als doppelt so viele chronische Erkrankungen auf. Mit zunehmendem Alter geht diese Schere abhängig vom Bildungsstatus dann noch weiter auseinander: Die körperliche Funktionsfähigkeit (inklusive mögliche Mobilitätseinschränkungen) 70- bis 85-jähriger Menschen mit hohem Bildungsgrad ist genauso gut wie jene 55- bis 69-jähriger Menschen mit geringer Bildung (Schwartz & Walter, 2012).

Alterungsprozesse und Altersstufen unterliegen biologischen, biographischen, subjektiven sozialen und kulturellen Bewertungen und sind damit biologisches, psychisches und gesellschaftliches respektive biopsychosoziales Geschehen. Eine klare, allgemeingültige und zuverlässige wissenschaftliche Definition von Altern, Alter und Altsein fehlt. Definieren wir „Altern“ allgemein, dann bezeichnet es alle zeitgebundenen Veränderungen eines individuellen Organismus im Laufe seines Lebens. Diese Veränderungen können positiv sein – etwa als Reifungsgrad der Kindheit oder des jüngeren Erwachsenen – wie auch negativ im Sinne von Abbauprozessen, die wiederum krankheitsbedingt in jedem Alter möglich sind.

Als größte gesetzliche Kranken- und Pflegekasse in Baden-Württemberg mit mehr als 4,45 Mio. Versicherten und mit rund 11.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern (Stand September 2019) gehört die AOK Baden-Württemberg zu den wesentlichen Akteuren in der Gesundheits- und Pflegelandschaft im Südwesten. Sie steht damit in einer besonderen sozialen Verantwortung, zusammen mit ihren Partnerinnen und Partnern in Gesundheitswesen und Wissenschaft, Politik, Kommunen und Gesellschaft, die Versorgungsstrukturen und -pfade aus Sicht der Patientinnen und Patienten zu denken, innovativ und modern zu gestalten, Prävention, Versorgung und Rehabilitation qualitativ hochwertig und evidenzbasiert auszubauen sowie richtungsweisende Impulse für die Versorgungslandschaft zu geben.

Ziel ist es, allen Menschen, egal in welchem Lebensalter, lange Lebensphasen mit relativer Gesundheit, mit möglichst wenig Einschränkungen, in Selbstbestimmtheit und mit großer Selbstständigkeit und Teilhabe zu ermöglichen. Dabei müssen besonders auch vulnerable Gruppen der Gesellschaft erreicht werden: Kinder und Jugendliche, alte, hochaltrige und multimorbide Menschen, sozial schwache und bildungsferne Gruppen.

Demografische Entwicklung und Folgen für das Gesundheitswesen

Bis Mitte des 20. Jahrhunderts ist die Säuglings- und Kindersterblichkeit deutlich zurückgegangen. Seitdem haben sich die Lebensbedingungen verbessert, hat sich die medizinische Versorgung stetig weiterentwickelt und das Bewusstsein für präventive Maßnahmen ist gestiegen. Auch das Erkrankungsspektrum hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich gewandelt: weg von den lebensbedrohlichen Infektionskrankheiten und potenziell tödlichen Erkrankungen, wie Herzinfarkt und Schlaganfall, hin zu chronischen und degenerativen Erkrankungen, Multimorbidität und Demenz (Maaz et al., 2007). Der Wandel im Erkrankungsspektrum zeigt sich in allen Lebensphasen.

In der letzten Lebensphase eines Menschen sind die Gesundheitsausgaben hochprogressiv und – unabhängig vom Alter – steigen die Krankheitskosten eines Menschen deutlich an. Einer internationalen Studie zufolge, die die Gesundheitsausgaben am Ende des Lebens in mehreren entwickelten Ländern miteinander verglich (French et al., 2017), betragen die Gesundheitsausgaben in den letzten zwölf Monaten des Lebens 8,5 bis 11,2 % der gesamten Gesundheitsausgaben und in den letzten drei Kalenderjahren des Lebens immerhin 16,7 bis 24,5 %. Deutschland rangiert dabei im unteren Drittel mit 52.742 US$ pro Patient/Patientin in den letzten zwölf Monaten des Lebens und 95.844 US$ pro Patient/Patientin in den letzten drei Kalenderjahren des Lebens.

Auch wenn diese Studie die deutschen Verhältnisse sicherlich nicht repräsentativ widerspiegelt – es wurden für Deutschland ausschließlich Daten einer großen privaten Krankenversicherung verwendet – zeigt sie doch, dass nicht unbedingt die lebenserhaltenden Maßnahmen am Ende des Lebens als Ausgabentreiber fungieren, sondern eher die Behandlungskosten chronisch Kranker in den letzten Lebensjahren relevant sind. Hier liegt die eigentliche Herausforderung für die Gesundheitspolitik, nämlich die Entwicklung von chronischen Krankheiten abzuwenden oder zumindest abzumildern. Letztlich entscheidend ist, wie der Mensch die gewonnenen Lebensjahre verbringt: Verlängert sich „nur“ die Krankheitsphase am Lebensende oder gibt es einen Zugewinn an gesunder Lebenszeit?

Der gute Gesundheitszustand der überwiegenden Mehrheit der in Deutschland aufwachsenden Kinder darf nicht den Blick darauf verstellen, dass 20 von 100 Kindern eines jeden Geburtsjahrgangs mit beträchtlichen, vor allem psychosozialen Belastungen aufwachsen. Das entspricht etwa 140 000 Kindern pro Jahr. Eine ungünstige Lebenslage der Eltern ist laut Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) des Robert Koch-Instituts der wesentliche Risikofaktor für die Vulnerabilität von Kindern (Klipker et al., 2018). Die Motivation zu stärken, entsprechend der individuellen Möglichkeiten mit Gesundheit beziehungsweise Krankheit und möglicherweise auch vorhandener Behinderung gesundheitsförderlich umzugehen, und Transparenz zu schaffen über Leistungen des Gesundheitswesens und den Zugang dazu, sieht die AOK Baden-Württemberg in diesem Kontext auch als eine ihrer Aufgaben.

Für die weitere gesundheitliche Entwicklung junger Menschen ist die Versorgung im Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenalter von großer Bedeutung, also von der gezielten Überleitung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit chronischen Krankheiten von Pädiatern zu Erwachsenenmedizinern. Dies ist notwendig, weil die Lebenserwartung junger Menschen mit speziellem Versorgungsbedarf aufgrund bereits in der Kindheit entstandener Erkrankungen infolge medizinischer Fortschritte angestiegen ist. Sie müssen von Erwachsenenmedizinern weiterbehandelt werden. Laut Sachverständigenrat gibt es Hinweise darauf, dass eine verzögerte oder gar ein Ausbleiben der Therapie zu vermeidbaren Komplikationen führen kann. Erforderlich für eine gelingende Überleitung in die Erwachsenenmedizin ist ein koordinierter, multidisziplinärer Prozess, der außer den medizinischen Bedürfnissen der Jugendlichen auch psychosoziale, schulische und berufliche Aspekte berücksichtigt. Für Kinder und Jugendliche mit psychischen Störungen hat die AOK Baden-Württemberg mit dem Modul Kinder- und Jugendpsychiatrie im Facharztvertrag Psychiatrie, Neurologie, Psychotherapie (PNP) Versorgungsstrukturen geschaffen, die diese Anforderungen aufgreifen.

Die differenzierte Auseinandersetzung auch mit den biologischen Grundlagen des Alterns in einer Gesellschaft des längeren Lebens ist von großer Bedeutung. Denn Altern ist keineswegs zwangsläufig mit Krankheit verbunden. Außerdem ist zu unterscheiden zwischen akuten und chronischen Erkrankungen. Letztere ließen sich häufig vermeiden und positiv beeinflussen, unter anderem durch ein entsprechendes Bewegungs- und Ernährungsverhalten. Die Weltgesundheitsorganisation WHO weist in ihren Berichten daher ausdrücklich vielfach daraufhin, dass zukünftig sehr viel mehr als heute in wirksame Prävention zu investieren ist, gerade hinsichtlich der sich verbreitenden chronischen Beeinträchtigungen.

Ziele von Gesundheitsförderung sind daher unter anderem die Verringerung von gesundheitlichen Belastungen auch durch Förderung von Kompetenzen und damit der Erhalt einer möglichst langen Unabhängigkeit, Selbstständigkeit und aktiven Lebensgestaltung. Prävention im Alter hat in Deutschland bislang einen zu geringen Stellenwert und ist noch nicht hinreichend in die verschiedenen Bereiche integriert. Ihre Bedeutung wird nach wie vor unterschätzt. Der Blick auf erfolgreiches Altern – also ein produktives, stabiles und gesundes Altern – schließt Wachstum und Entwicklung auch im hohen Alter im Sinne einer ressourcenorientierten Betrachtung ein.

Chancen und Herausforderungen

Ambulanter Bereich

Die Hausarztzentrierte Versorgung (HZV) in Verbindung mit dem FacharztProgramm, die die AOK Baden-Württemberg gemeinsam mit ihren Vertragspartnern seit 2008 auf den Weg gebracht hat (Abb. 2), kann dazu beitragen, die biopsychosoziale, evidenzbasierte und interdisziplinäre Versorgung mit dem Hausarzt als Lotsen voranzubringen. Im Sinne der erwähnten Förderung der Gesundheitskompetenzen werden im Rahmen dieser Alternativen Regelversorgung unter anderem das Wissen zur Förderung der eigenen Gesundheit und zur Bewältigung von Krankheiten gestärkt.

Abb. 2
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Strukturierte Vollversorgung durch freie Verträge im Haus- und Facharztprogramm der AOK Baden-Württemberg Hausarztzentrierte Versorgung (HZV) mit korrespondierender selektivvertraglicher Versorgung in umfassendem FacharztProgramm sorgt für verbesserte interdisziplinäre Koordination und Kommunikation; perspektivisch ist die Entwicklung mit weiteren Versorgungsbereichen – etwa Krankhäusern – sinnvoll

Dies unterstützt die Ziele von Gesundheitsförderung, insbesondere die Verringerung von gesundheitlichen Belastungen und den Erhalt einer möglichst langen Unabhängigkeit, Selbstständigkeit und aktiven Lebensgestaltung. Vermittelt werden im Sinne des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz evidenzbasierte Informationen zu einem gesundheitsförderlichen Lebensstil sowie die Förderung von Prävention – im Idealfall bereits vor der Geburt und über alle Lebensphasen hinweg. Dies geschieht durch die Beratung zur nicht-medikamentösen und medikamentösen Therapie sowie evidenzbasierter Information zu Entstehung, Diagnostik und Therapie von Erkrankungen. Die Ergebnisse der erfolgten wiederholten Evaluation insbesondere durch die Teams der Universitäten Heidelberg und Frankfurt am Main belegen, dass die AOK Baden-Württemberg damit auf einem guten Weg ist.

Stationärer Bereich

In Baden-Württemberg wird seit 1989 ein landesweites Geriatriekonzept von der Selbstverwaltung getragen. Unter Moderation des Ministeriums für Soziales und Integration (MSI) wird der Leitgedanke dieser sektorenübergreifenden Konzeption – „älteren“ Menschen möglichst lange ein selbstständiges Leben zu ermöglichen – fortentwickelt, zuletzt im Jahr 2014. Der Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege“ steht dabei in besonderem Fokus, aber auch die Identifikation geriatrischer Patientinnen und Patienten in der akutstationären Versorgung und deren optimale Versorgung ausgerichtet an deren individuellen Bedarfen, sind Bestandteile dieser Konzeption.

Die akut-stationäre Versorgung wird in Baden-Württemberg derzeit noch durch rund 260 Krankenhäuser sichergestellt, charakteristisch ist hierbei der überdurchschnittlich hohe Anteil kleiner Krankenhäuser. Mit einer Bettenauslastung von 77 % liegt Baden-Württemberg leicht unter dem bundesweiten Durchschnitt und unter der im Landeskrankenhausplan Baden-Württemberg angestrebten Bettenauslastung. Innerhalb der letzten Jahre sind deutschlandweit die Ausgaben der akut-stationären Versorgung stetig gestiegen, insbesondere Baden-Württemberg weist hohe Kosten je Behandlungsfall auf (Statistisches Bundesamt, 2017a, b; StaLa BW, 2019b).

Die Finanzierung der Behandlungsleistungen in der akut-stationären Versorgung wird über das DRG-System abgebildet. Dieses beinhaltet eine differenzierte Ausgestaltung der Fallpauschalen, die die Kosten berücksichtigt, die bei der Patientenbehandlung aufgrund von Altersstrukturen, besonderer und hoher Pflegeaufwände, Multimorbiditäten, Funktionseinschränkungen und Pflegegrade entstehen. Diese Differenzierung wird jährlich weiterentwickelt. Eine auskömmliche Finanzierung für die stationären Versorgungsleistungen ist damit ausdifferenziert umfassend sichergestellt.

Die Übergänge in der Versorgung von einem Leistungssektor zu einem anderen, etwa aus der akut-stationären Versorgung in die rehabilitative Versorgung, verursachen jedoch nach wie vor Brüche in der Versorgungskontinuität und Versorgungseffizienz. Hier gilt es, rechtssichere Lösungen zu finden oder neu zu entwickeln, die dem Leitgedanken Rechnung tragen, „älteren“ Menschen möglichst lange ein selbstständiges Leben zu ermöglichen. Dafür ist ein Gestaltungsrahmen notwendig, der optimale Lösungen orientiert an regionalen Gegebenheiten zulässt und nicht verpflichtend einheitlich vorgibt.

Pflegebereich

Im Bereich der Pflege wird der Versorgungsbedarf deutlich steigen. Zum einen trägt hierzu eine höhere Anzahl an Pflegebedürftigen bei. Die Generation der „Babyboomer“ kommt in den nächsten Jahren und Jahrzehnten in das Alter mit einem höheren Risiko für Pflegebedürftigkeit. Dies wird durch die steigende Lebenserwartung noch verstärkt. Es wird mehr alte und hochaltrige Menschen geben, die ein höheres Risiko für Pflegebedürftigkeit haben. Und obwohl durch Prävention und gesünderen Lebensstil die Jahre in (relativer) Gesundheit steigen, steigt auch durch bessere medizinische Versorgung und neue Behandlungsmöglichkeiten die Anzahl der Jahre, die in Krankheit verbracht werden. Damit steigt die Anzahl der Leistungsempfänger der Pflegeversicherung nach Vorausberechnungen sowohl in absoluten Zahlen von 2017 mit 3,3 Mio. Pflegebedürftigen über 4,4 Mio. im Jahr 2040 bis zu einem Höhepunkt mit 5,1 Mio. im Jahr 2050. Während die absoluten Zahlen danach wieder sinken, steigt die Prävalenz von Pflegebedürftigkeit aufgrund der Bevölkerungsentwicklung mit einem geringeren Anteil jüngerer Menschen weiter an (Schwinger et al., 2019).

Zum anderen sinkt die Zahl der Pflegenden. Das trifft sowohl auf pflegende Angehörige als auch auf Pflegefachkräfte zu. Eine spezifische Herausforderung der Industrieländer bildet die Zunahme der Ein-Personen-Haushalte, weshalb zum Beispiel intrafamiliäre Pflegemöglichkeiten abnehmen. Mobilität und Veränderungen in den Strukturen von Berufstätigkeit führen ebenfalls dazu, dass immer weniger Angehörige pflegebedürftige Personen versorgen können. Pflegende Angehörige erleben häufig hohe psychische und physische Belastungen. Hier sind Unterstützung, Orientierung und Beratung besonders wichtig, um die Versorgung der Pflegebedürftigen, die von Angehörigen gepflegt werden, zu sichern. Die höchsten Kosten verursachen Demenzerkrankungen in (teil)-stationären Einrichtungen sowie psychische Störungen und Verhaltensstörungen. Im Bereich der professionellen Pflege kommt noch der sich gerade dort seit Jahren verschärfende Fachkräftemangel hinzu (Bonin, 2019).

Um den Herausforderungen begegnen zu können, müssen Prävention und Rehabilitation gestärkt werden, um so Pflegebedürftigkeit zu verhindern, hinauszuzögern oder auch bei bereits eingetretener Pflegebedürftigkeit eine Verschlechterung aufzuhalten beziehungsweise Komplikationen zu vermeiden. Hierfür bedarf es einer vernetzten Versorgung über Sektorengrenzen hinweg. Dabei müssen sowohl Prävention und Rehabilitation stärker in die Pflege eingebunden werden als auch die strikte Trennung zwischen stationär und ambulant in der Langzeitpflege sozialrechtlich aufgelöst werden.

Aufgaben und Ziele

Soziale Ungleichheit und Unterschiede in der Bildung können im Alter zu großen interindividuellen Unterschieden in der Gesundheitskompetenz führen (Schaeffer et al., 2016). Soziale Ungleichheiten nehmen mit dem Alter zu. Dies hat Konsequenzen für die Lebensgestaltung hinsichtlich Gesundheitsverhalten und auch sozialer Teilhabe. Dabei zeigen sich deutliche Unterschiede in der Ansprache und in der Inanspruchnahme gesundheitsbezogener Leistungen (Kruse, 2017).

Steigende chronische Erkrankungen, zunehmende Multimorbidität und Pflegebedürftigkeit bei gleichzeitigem Fehlen medizinischer und pflegerischer Fachkräfte stellen die Gesundheitsversorgung nicht nur in Baden-Württemberg vor große Herausforderungen; die Folgen dieser Entwicklung werden sich in den nächsten Jahren und Jahrzenten noch deutlich verstärken.

Aufgabe aller Akteurinnen und Akteure in Gesundheitswesen, von Politik, Gesellschaft und Kommunen muss es daher sein, sich den Herausforderungen dieser Entwicklung umfassend anzunehmen und die Chancen, die sich bieten, zu nutzen:

  • für den Auf- und Ausbau vernetzter Versorgungsstrukturen über die Sektoren und Säulen der deutschen Gesundheits- und Pflegelandschaft hinweg,

  • für die Gestaltung innovativer und nachhaltiger medizinischer und pflegerischer Versorgungspfade und

  • für gleichwertige Lebensverhältnisse in urbanen und ländlichen Räumen.

Wie dargelegt, sollte es Ziel einer Gesellschaft des längeren Lebens sein, die zusätzlich gewonnenen Lebensjahre möglichst lange gesund, mit hoher Lebensqualität und geringen Einschränkungen zu erleben, eine Pflegebedürftigkeit zu verhindern oder so lange wie möglich hinauszuschieben und so soziale Teilhabe älterer Menschen zu stärken. Verschiedene Aspekte sind dabei näher zu betrachten:

1. Prävention zentral in den Fokus rücken

Die Gesellschaft des längeren Lebens darf sich nicht auf medizinische Fortschritte verlassen, sondern muss Prävention über alle Lebensphasen hinweg zentral in den Fokus rücken. Bedeutsamen Einfluss auf Entstehung und Verlauf eines großen Teils gesundheitlicher Belastungen haben Risikofaktoren, die jeder und jede Einzelne selbst beeinflussen kann. Dazu gehören insbesondere Tabak- und Alkoholkonsum, Bewegungsmangel, ungesunde Ernährungsgewohnheiten und starkes Übergewicht.

Eine gesunde Lebensweise sollte in jeder Lebensphase gefördert werden und Präventionsangebote (Primär-, Sekundär-, Tertiär-Prävention) immer das jeweilige Lebensalter und die individuelle Situation des Menschen berücksichtigen. Als Prävention werden laut Robert Koch-Institut (RKI) alle Aktivitäten bezeichnet, die das Ziel haben, Risikofaktoren und Belastungen zu verringern, um Erkrankungen zu vermeiden, zu verzögern oder weniger wahrscheinlich zu machen. Prävention ist daher ein lebenslanger Prozess, der schon vor der Geburt anfängt. Denn in den sensiblen Phasen vor der Geburt sowie im Säuglings- und Kleinkindalter werden bereits zentrale Weichen für die spätere Gesundheit gestellt.

Prävention im Alter zielt auf eine verbesserte Vitalität und Lebensqualität sowie den Erhalt der Autonomie ab und sollte negativen Aspekten des Alterns entgegenwirken. Es ist erwiesen, dass Prävention und Gesundheitsförderung dazu beitragen können, chronische Krankheiten und Pflegebedürftigkeit zu verhindern oder aber zumindest zu verzögern. Dazu ist es notwendig, präventive Potenziale alter Menschen in jedem Verlaufsstadium einer Erkrankung auszuschöpfen. Dass präventive Maßnahmen im Alter wirksam sind, lässt sich empirisch belegen. So hat sich gezeigt, dass regelmäßige Aktivitäten, die kognitive Fähigkeiten beanspruchen wie beispielweise Zeitung lesen, Museen besuchen oder musizieren, die kognitive Leistungsfähigkeit deutlich fördern. Ebenfalls erwiesen ist, dass sich körperliche Aktivität positiv auf die Kognition auswirkt.

Auch die physische Gesundheit älterer Menschen wird durch körperliche Aktivität positiv beeinflusst. So verringert moderate körperliche Aktivität bei älteren Menschen signifikant die Spätfolgen eines Herzinfarkts und kann mit dazu beitragen, die Gesamtmorbidität in den letzten Lebensjahren zu senken. Fettarme Ernährung und ein erhöhter Verzehr von Gemüse und Obst zeigen ebenfalls Wirkung. Es liegen zudem Hinweise vor, dass Krankheitsgeschehen und Sterblichkeit auch dann noch beeinflusst werden können, wenn der Lebensstil erst im höheren Erwachsenenalter gesundheitsbewusst gestaltet wird.

2. Gesundheitskompetenz vermitteln

Die Herausforderung liegt darin, die Menschen in allen Lebenslagen und Kontexten zu erreichen und Gesundheitskompetenz zu vermitteln. Das Wissen, um die von jedem Einzelnen beeinflussbaren Risikofaktoren muss breit gestreut und leicht verständlich vermittelt werden.

Ein Beispiel für Risikofaktoren sind Übergewicht und Bewegungsmangel, die ihren Ursprung häufig bereits im frühen Kindesalter haben. Sie können die Entstehung von Tumorerkrankungen begünstigen und zählen zu den wesentlichen Risikofaktoren von Diabetes Typ 2, koronaren Herzerkrankungen oder bestimmten Erkrankungen des Bewegungsapparats. In den jungen Lebensphasen müssen also zentrale Weichen gestellt, Kompetenzen und Orientierung vermittelt werden, die späteres gesundheitsförderliches Verhalten und das Vermeiden gesundheitlicher Risiken zur Folge haben. Bei älteren Zielgruppen geht es darum, Gesundheitskompetenzen und Eigenverantwortung zu stärken und die Menschen niederschwellig vor Ort zu erreichen.

3. Versorgungsgestaltung neu denken

Zur Sicherstellung der pflegerischen und medizinischen Versorgung ist die bessere Vernetzung der verschiedenen Sektoren notwendig, nicht nur für die ambulante haus- und fachärztliche Versorgung, sondern über die Sektorengrenzen hinaus: Krankenhaus, Rehabilitation, Prävention – bis zu regionalen Hilfsangeboten wie Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen, Sportangeboten.

Nötig ist genauso eine enge Kooperation zwischen Kranken-, Pflegekassen, Leistungserbringern und Kommunen. Die Gesellschaft muss in der Lage sein, „Caring Communities“ mit innovativen, vernetzten Versorgungsstrukturen zu entwickeln: lokale sorgende Gemeinschaften im Kontext regionaler Sozialraumentwicklung.

4. Versorgungspfade optimieren

In verschiedenen Gutachten hat der Sachverständigenrat nachdrücklich darauf hingewiesen, dass die mit dem demografischen Wandel in einer Gesellschaft des längeren Lebens (von Geburt an) einhergehende Veränderung des Morbiditätsspektrums zielgerichtete Veränderungen im Gesundheitswesen erforderlich macht. Eine wichtige Aufgabe besteht zunehmend neben der Akutversorgung der Bevölkerung auch in der kontinuierlichen Versorgung von chronisch kranken und multimorbiden Menschen. Daher ist eine bedarfsgerechte Steuerung der Patientinnen und Patienten notwendig. Sie kann eine nachhaltige und individuell angemessene Versorgung in einer Gesellschaft des längeren Lebens ermöglichen. Dies wird unter anderem dadurch gefördert, dass die Koordinations- und Steuerungsfunktion der Hausärztin/des Hausarztes gestärkt wird.

5. Ganzheitliche Sichtweise

Eine besondere Herausforderung stellt bei mehrfach chronisch erkrankten Menschen unter anderem auch die Verordnung von Arzneimitteln dar. Sie liegt vor allem in der Verträglichkeit und den möglichen Folgen für die Gesundheit begründet. Etwa jede/r zweite Patient/in im Alter über 65 Jahren hat drei oder mehr Diagnosen. Mit der Zahl der Diagnosen steigen die Verordnungen von Medikamenten deutlich an, was wiederum das Risiko für Neben- und unbeabsichtigte Wechselwirkungen erhöht.

Gefordert ist eine biopsychosoziale, also ganzheitliche, Sichtweise auf die Patienten. Diese berücksichtigt das Zusammenspiel biologischer, psychischer und sozialer Einflussfaktoren bei der Krankheitsentstehung. Biologisch-genetische und psychosoziale Faktoren können mithin eine Erkrankung ursächlich bedingen, den Verlauf bestimmen oder als Folge auftreten. So können etwa bei unspezifischen Rückenschmerzen neben biologischen Einflussfaktoren wie zum Beispiel langes Sitzen mit Kompression der Bandscheiben auch psychosoziale Verhaltensmechanismen eine Rolle spielen. Anhaltende psychosoziale Belastungen im privaten wie im beruflichen Umfeld gelten als gesicherte Prädiktoren für die mögliche Chronifizierung von Schmerzen. Biologische und psychosoziale Faktoren sind daher multifaktoriell von Arzt/Ärztin zu bedenken, zu erheben und anzusprechen, um das Verhalten und Erleben der Patienten einschätzen zu können.

6. Chancen der Digitalisierung nutzen

Insbesondere bei der Zusammenarbeit der Leistungserbringer aus den verschiedenen Leistungssektoren können digitale Lösungen beim Informationsaustausch zu einer Versorgungsverbesserung beitragen. Wenn Entlassdokumente aus dem Krankenhaus sofort und vollumfänglich digital an die Versorgungseinrichtung weitergeleitet werden, die die Anschlussversorgung übernimmt, kann ein sehr zügiger und vollständiger Informationsfluss sichergestellt werden. Auch innerhalb der Einrichtungen kann die digitale Vorhaltung der Patientenparameter zu Verbesserungen der Prozessabläufe beitragen, insbesondere wenn interprofessionelle Behandlungseinheiten erforderlich sind und die Behandler aus den verschiedenen Professionen gleichermaßen Zugriff auf alle für die individuelle Behandlung notwendigen patientenrelevanten Daten haben.

Auch für Forschungszwecke sollten die digitalen Möglichkeiten verstärkt genutzt werden. Diagnostikmethoden und Therapieverfahren können mit den Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz untersucht und durch menschliche Experten bewertet werden. Die so gewonnenen Erkenntnisse müssen dann in den Versorgungsalltag integriert werden.

Versorgung strukturiert gestaltet

Haus- und FacharztProgramm der AOK Baden-Württemberg

Am Beispiel des Facharzt-Vertrags Orthopädie der AOK Baden-Württemberg im Rahmen der HZV lässt sich exemplarisch aufzeigen, wie evidenzbasierte biopsychosoziale und interdisziplinäre Versorgung gestaltet werden kann. Unabhängige Studien belegen, dass viele Patientinnen und Patienten davon profitieren, wenn der Orthopäde/die Orthopädin sie darüber aufklärt, wie der Bewegungsapparat funktioniert, sie dazu berät und motiviert, ihren Lebensstil so zu verändern, dass sie ihre Beschwerden positiv beeinflussen können.

Gleichzeitig sollen Verfahren vermieden werden, die Patientinnen und Patienten unnötig belasten oder ihnen schaden könnten. Entsprechend fördert der Vertrag die präventive Information und die motivationale Beratung. Patientinnen/Patienten sollen im Krankheitsverlauf deshalb immer wieder nach aktuellem Wissensstand zu einer gesunden Lebensführung motiviert werden, die regelmäßige körperliche Aktivität einschließt, wie es zum Beispiel auch die Nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz fordert. Je nach individueller Krankheitssituation werden sie unterstützt, beispielsweise mit speziellen Angeboten von örtlichen Sportvereinen, dem Deutschen Olympischen Sportbund, spezifischen Angeboten der AOK-eigenen Rückenstudios und dem Hüftknie-Programm der AOK Baden-Württemberg, das in Zusammenarbeit mit der Universität Tübingen für Arthrose-Patienten entwickelt wurde.

Die Evaluation der HZV in Verbindung mit dem FacharztProgramm 2018 (UKHD/GUFFM, 2018) unterstreicht erneut die positive Wirkung. Insbesondere die Möglichkeit, die Entwicklungen über einen Zeitraum von bis zu sechs Jahren untersuchen zu können, verschafft den Erkenntnissen zusätzliche Stabilität und Aussagekraft. In puncto Kooperation und Koordination zwischen Hausärztinnen/-ärzten und Fachärztinnen/-ärzten wurde in der aktuellen Betrachtung der Jahre 2015 bis 2016 das Zusammenspiel von Hausarzt- und Facharztvertrag Orthopädie untersucht, der 2014 gestartet ist.

Im Vergleich zur Kontrollgruppe der Regelversorgung lässt sich für Teilnehmer/innen am Haus- und FacharztProgramm insbesondere feststellen:

  • Sie suchen häufiger den Hausarzt auf und haben deutlich seltener unkoordinierte Kontakte zu Facharzt/Fachärztin.

  • Pro Jahr konnte in der HZV-Gruppe pro 100 Versicherten im Vergleich zur Nicht-HZV-Gruppe mehr als eine „potenziell vermeidbare Krankenhausaufnahme“ vermieden werden. Eine querschnittliche Modellhochrechnung für das Jahr 2016 ergibt eine Zahl von 9117 tatsächlich vermiedenen Krankenhausaufnahmen für die betrachtete Gruppe der HZV-Versicherten.

  • Die Influenza-Impfrate für HZV-Versicherte liegt signifikant und relevant höher. Dies gilt insbesondere auch für Versicherte ab 60 Jahren und für Pflegeheimbewohner/innen. In der Impfsaison vom 01.09.2015 bis 31.03.2016 kann für die Versicherten ab 60 Jahren in der HZV-Gruppe beobachtet werden, dass der Anteil der Krankenhausaufnahmen mit Hauptdiagnose „Grippe“ oder „Pneumonie“ im Vergleich zur Nicht-HZV-Gruppe um 9,1 % geringer lag.

  • Für Patientinnen und Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen zeigen sich insgesamt signifikant weniger Krankenhausaufenthalte und eine signifikant bessere Arzneimitteltherapie in der HZV. Eine Modellrechnung ergibt, dass in der HZV-Gruppe bei Patientinnen/Patienten mit koronaren Herzerkrankungen circa 1900 Krankenhausaufenthalte vermieden werden und die durchschnittliche Liegezeit im Krankenhaus kürzer ist (circa 17.000 vermiedene Krankenhaustage).

  • Bei älteren HZV-Teilnehmer/innen werden circa 190 Krankenhausaufenthalte wegen Hüftgelenksfrakturen vermieden.

  • In der HZV-Gruppe zeigen sich deutlich weniger und zeitlich später auftretende schwerwiegende Komplikationen bei Patientinnen/Patienten mit Diabetes mellitus.

Insgesamt lässt sich daher feststellen, dass Patientinnen/Patienten, die am Hausarzt- und FacharztProgramm der AOK Baden-Württemberg teilnehmen, seltener von Über-, Unter- und Fehlversorgung betroffen sind, sie beispielsweise bei orthopädischen Erkrankungen dank des koordinierten Zusammenspiels der Haus- und Fachärzte eine bessere Versorgung erhalten und sie auch regional in ländlichen Gebieten und Ballungsräumen gleichermaßen gut versorgt werden.

Fazit

Die meisten Menschen sind im fortgeschrittenen Alter zufriedener, glücklicher und gelassener. Auch daher gilt es, ein längeres Leben und die Lebensphase Alter wertzuschätzen. Eine gesundheitliche Selbstfürsorge kann dazu beitragen. Wichtig ist Prävention über alle Lebensphasen hinweg, bei bereits beeinträchtigter Gesundheit zum Erhalt des aktuellen Gesundheitszustands. Denn insbesondere Gesundheits- und Funktionseinbußen schränken ein aktives, selbstbestimmtes und zufriedenes Leben im Alter ein.

Jeder und jede Einzelne soll zusätzliche Lebensjahre sinnstiftend, aktiv und selbstbestimmt erleben können. Die Sicherstellung der gesundheitlichen Versorgung ist deshalb eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die zukunftsweisend bearbeitet werden muss, die Prävention über alle Lebensphasen in den Fokus nimmt und gesellschaftliche Leitbilder entwickelt. Zukunftsweisende und nachhaltige Versorgungsstrukturen in urbanen und ländlichen Räumen müssen eine strukturierte medizinische und pflegerische Versorgung sichern, die qualitativ, bedarfsorientiert, vernetzt und sektoren- und säulenübergreifend ausgerichtet ist. Mit dem Ziel, Pflegebedürftigkeit zu verhindern oder so lange wie möglich hinauszuschieben, müssen Prävention, Rehabilitation und Pflege stärker zusammengebracht und vernetzt werden.