„Dein Alter sei wie deine Jugend!“ So hat Martin Luther das Segenswort übersetzt, das Mose den Israeliten des Stammes Asser vor seinem Tod zugesprochen hat (Dtn 33,25). Johann Sebastian Bach hat diesen Ausspruch in einer Kantate wunderbar vertont (BWV 71 No. 3). „Dein Alter sei wie deine Jugend!“ Doch was genau kann damit gemeint sein? Klingt es nicht geradezu zynisch, wenn man jemandem in der Phase körperlichen und vielleicht auch geistigen Niedergangs wünscht, wie ein viel Kraft ausstrahlender junger Mensch zu sein? Darauf wird der erste Teil meiner Überlegungen eingehen. Teil zwei befasst sich mit Kraftquellen, die in der Jugend angelegt sind und sich in fortgeschrittenem Lebensalter günstig auf den alternden und alten Menschen auswirken können.

„Dein Alter sei wie deine Jugend!“ – Nichts als Zynismus?

Blicken wir nüchtern auf die Biologie des individuellen menschlichen Alterns, auf den Prozess „intrinsischen, fortschreitenden und generellen körperlichen Abbaus“, so wirkt die Feststellung, dass diese Entwicklung bereits „mit dem Alter der Geschlechtsreife beginnt“ (Masoro & Austad, 2015), dass der Mensch diesem Prozess also schon in jungen Jahren und für den Rest seines Lebens unterliegt, angesichts des im Alter deutlich sichtbaren und erlebbaren Verfalls bestenfalls beschwichtigend. Die in fortgeschrittenen Lebensjahren zunehmende Vulnerabilität im physischen und psychischen Bereich und die Tatsache, dass mit zunehmendem Alter die Wahrscheinlichkeit zu erkranken und zu sterben exponentiell steigt, kann den Wunsch, „Dein Alter sei wie deine Jugend!“, geradezu als unsensibel, ja zynisch erscheinen lassen.

Wie können die im höheren Alter nachweislich zunehmenden Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Erkrankungen des Bewegungsapparates, Krebserkrankungen, Einschränkungen der Hör- und Sehfähigkeit, des Kurzzeitgedächtnisses und der Geschwindigkeit des Denkens, Belastungen durch Demenz und Depressionen mit „Jugend“ assoziiert werden? All diese Bedrängnisse sollten auch nicht durch die statistisch erhobene Aussage relativiert werden, dass das subjektive Gesundheitsempfinden in weiten Kreisen besser sei als der objektive Gesundheitszustand.

Andreas Kruse hat in zahlreichen Veröffentlichungen einerseits die Sensibilität für Ressourcen der Resilienz und „Plastizität körperlicher und seelisch-geistiger Prozesse im Alter“ geschärft, aber auch den Respekt vor der „Verringerung der Anpassungs- und Restitutionsfähigkeit wie auch der Leistungskapazität des Organismus“ (Kruse, 2017) eingeklagt. Behutsam hat er immer wieder auf die in der nun so genannten vierten Lebensphase, die mit den 80er Lebensjahren beginnt, erwartbare zunehmende Dramatik der Gebrechlichkeit, Multimorbidität, Isolation und Pflegebedürftigkeit hingewiesen. Doch auch in dieser Gruppe scheint das von Ursula Staudinger hervorgehobene „Zufriedenheitsparadoxon“ zu gelten, „dem zufolge sich eine objektive Verschlechterung der Lebenssituation nicht auf die subjektive Bewertung der Situation auswirkt“ (Staudinger, 2000).

Gestützt auf breite Umfragen – nach einer Altersstudie vom Institut für Demoskopie Allensbach sind im heutigen Deutschland jedenfalls etwa zwei Drittel der Menschen von 65 bis 85 mit ihrem Leben zufrieden – wird das hohe Lob der bemerkenswerten Zufriedenheit im Alter besungen. Das kann dann dazu führen, dass zum Beispiel ein seitenlanger Artikel unter dem vollmundigen Titel „Das Beste kommt noch“ in einer Illustrierten erscheint (Hirschhausen, 2018).

Ich selbst gehöre mit Anfang 70 zu den sogenannten „jungen Alten“ und fühle mich in der jetzigen Lebensphase nicht nur zufrieden, sondern ausgesprochen glücklich: Das Beste kam bisher tatsächlich – für mich persönlich. Dennoch frage ich mich aus eigener Erfahrung, in welchem Maße die stark ermutigenden Töne in den oben genannten Berichten von hoher subjektiver Zufriedenheit mit dem eigenen Leben in höherem Alter mit der Situation der Autorinnen und Autoren dieser Studien zusammenhängen, die sich in der Regel mit noch längerfristigen Lebenserwartungen in emotional ausbalancierten, wirtschaftlich gesicherten und intellektuell ansprechenden Umgebungen bewegen.

Ein anregender gedanklicher Austausch über Altern und Alter zwischen zwei Gelehrten der School of Law der University of Chicago, der 2017 veröffentlicht wurde und 2018 auch in deutscher Sprache erschien, kann die Ambivalenz der frohgemuten Betrachtung des Alterns illustrieren. Die Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik, Martha Nussbaum, und der Wirtschafts- und Rechtswissenschaftler Saul Levmore haben ihren Gedankenaustausch folgendermaßen publiziert: „Aging Thoughtfully: Conversations about Retirement, Romance, Wrinkels, and Regrets“ (Nussbaum & Levmore, 2017).

Inspiriert von Ciceros Schrift „Über das Altern“ (De Senectute, 45 v. Chr.), aber auch von Shakespeares „King Lear“, Richard Strauss' „Rosenkavalier“ (1910) und zahlreichen anderen klassischen und zeitgenössischen Impulsen, zudem gestützt durch Daten und Erhebungen zu Themen wie Altersarmut, Entwicklung von Pflegekosten und Krisen im Ruhestandseintritt, bieten Nussbaum und Levmore acht dialogisch konzipierte Kapitel zum Themenkomplex. Sie spiegeln einerseits amüsant eine humorvoll-nachdenkliche hohe Zufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation an der Wende zum Eintritt in den akademischen Ruhestand. Andererseits münden sie in offene Forderungen und Fragen zu den Themen Altersarmut, allgemeine Gesundheitsvorsorge und Vereinsamungsgefahren, ohne allerdings hier in die Tiefe zu gehen.

Eine ähnliche Linie verfolgt der Philosoph Otfried Höffe in seinem Buch „Die hohe Kunst des Alterns. Kleine Philosophie des guten Lebens“ (Höffe, 2018). Er empfiehlt einerseits eine Lebensführung, die den „vier L.s“ – Laufen, Lernen, Lieben und Lachen – größtmöglichen Raum gibt. Andererseits fordert er eine bessere Integration alter Menschen in die Gesellschaft – eine Forderung, die insgesamt gegenüber den zahllosen damit verbundenen Herausforderungen vage bleibt.

Gewiss kann man dank des Zufriedenheitsparadoxons den Sachverhalt verdrängen, dass selbst im derzeitigen wohlstandsverwöhnten Deutschland ein Drittel der Menschen offenbar schwerlich dem Motto traut: „Das Beste kommt noch“. Man kann sogar davor warnen, sich auch nur in vagen Vorstellungen die Abgründe der gesteigerten Not, des gesteigerten Leidens, der gesteigerten Vereinsamung alter Menschen vor Augen zu führen. Denn wenn wir das tun, stoßen wir auf eine wahre Flut politischer, rechtlicher, medizinischer, familiärer, zivilgesellschaftlicher Herausforderungen, auf Erwartungen an religiöse, diakonische, mediale und bildungsrelevante Institutionen, die individuelles und akademisches Nachdenken und Planen einfach überfordert.Footnote 1

Es scheint mir deshalb ratsam, die Situation einer grundsätzlichen hohen Ambivalenzerfahrung im Blick auf Alter und Altern realistisch ins Auge zu fassen. Ermutigenden Signalen überdurchschnittlicher gelassener, zufriedener Resilienz stehen Not, Leiden und Vereinsamung gegenüber, die ratlos machen und für deren Bekämpfung derzeit kaum genügend Mittel absehbar sind. Sinnvoll erscheint mir in unserem Kompetenzkontext die Frage, ob wir neben den erheblichen sozialen und politischen Aufgaben des Kampfes gegen Altersarmut, gegen mangelnde gesundheitliche Versorgung und knappe Kommunikationsressourcen eine weitere Quelle entdecken können, die den Umgang mit dem Alter und dem Altern zu verbessern hilft.

Ich möchte Sie deshalb einladen, sich kurz auf das Segenswort „Dein Alter sei wie deine Jugend!“ und auf das Thema der Freude zu konzentrieren.

Dankbare und zukunftsoffene Freude als Kraftquelle im Alter

Die Freude ist nicht nur in ihren lauten, überschwänglichen, jubilierenden Formen, sondern auch in ihren stillen, ja sogar kühlen und selbstvergessenen Erscheinungsweisen zu beachten. Im Blick auf diese Bandbreite kann man geradezu von einer Polyphonie der Freude sprechen. Im Alter dominieren dabei sicher die verhaltenen, leisen Formen. Darüber hinaus sind die zahlreichen Phänomene der anteilnehmenden Mitfreude ins Auge zu fassen, die ebenfalls polyphonen Gestalten der ansteckenden Freude. In welcher Weise sind diese Formen von Freude im Alter zu finden und zu pflegen?

Dass Menschen im Pianissimo des hohen und des höchsten Alters wie kleine Kinder werden können, ist oft beobachtet und ausgesprochen worden. Sehr bewegend fand ich ein Radiofeature, in dem Menschen von ihren leidvollen Erfahrungen und den Momenten der Freude mit alten demenzerkrankten Verwandten berichteten. Die Rede war von für beide Seiten äußerst schwierigen Jahren nach dem Ausbruch der Erkrankung und den damit verbundenen Haltungen des Nichtwahrhabenwollens, der Selbstabschließung und der Verbitterung, aber auch von den folgenden Jahren zunehmender Wiederannäherung, der wechselseitigen Freude an Begegnung, kleinen Gesten und zugewandten, früher nie gekannten Körperkontakten. Natürlich lassen sich diese Erfahrungen nicht generalisieren. Sie öffnen aber die Augen für das weite Feld geteilter Freude, für das Kindheit und Jugend uns besonders sensibilisieren können.

Kinder und Jugendliche können nur durch die Sorge anderer für sie gut aufwachsen und sich entwickeln. Sie erfahren in dieser sozialen Lebenssituation, dass andere Menschen für sie da sind und sich selbst für sie zurücknehmen. Diese Zurücknahme der eigenen Person ist eine Haltung, die dem notwendigen Drang eines jeden Lebens, sich selbst zu erhalten, entgegensteht, übrigens einem Drang, der immer auf Kosten von anderem Leben lebt. Kinder und Jugendliche leben von einer Lebensausrichtung der für sie Sorgenden, die ich „freie schöpferische Selbstzurücknahme und Selbstbegrenzung zugunsten anderer“ genannt habe.

Die Erfahrung, dass andere Menschen sich ihretwegen selbst zurücknehmen und begrenzen, löst bei den Kindern und Jugendlichen bewusst oder unbewusst Dankbarkeit und Anhänglichkeit aus, aber auch die Erwartung und die Hoffnung, dass diese Haltung der Sorgenden sich fortsetzt und erneuert. Diese Verbindung von Dankbarkeit und Hoffnung lässt dann eine tiefe Freude gedeihen. Sie kommt in zahllosen Spielarten vor, emphatischen wie nicht emphatischen. Das Segenswort „Dein Alter sei wie deine Jugend“ lenkt auf diese Fähigkeit zur Freude in Dankbarkeit und Hoffnung zurück.

Gewiss ist diese Erfahrung der Freude erwartbarer in dichten sozialen, freundschaftlichen und familialen Lebensverhältnissen, selbst wenn auch hier Enttäuschung und Entfremdung möglich sind. Aber nicht nur eine lebendige soziale Welt, auch die Welt der individuellen Erinnerung und der Verbundenheit mit der Natur und den Rhythmen des Tages und des Jahresverlaufs können zu reichen Quellen der Freude werden. Die oft bescheidene Erlebnisoffenheit und schnelle Begeisterungsfähigkeit der Jugend kann hier vorbildgebend sein.

Andreas Kruse hat von einem breiten Spektrum von „Daseinsthemen“ gesprochen, die mehrheitlich auch unter die Form „geteilter Freude“ gebracht werden können. Sie sind verbunden mit den Erfahrungen der Dankbarkeit und der Hoffnung – gerade auch für die nachkommenden Menschen, mögen sie näher oder ferner stehen. Dankbarkeit und Hoffnung aber gehen einher mit von Freude begleiteten Kraftgefühlen auch inmitten abnehmender körperlicher und seelisch-geistiger Kompetenzen. Sie sollten nicht auf bloße Zufriedenheit reduziert werden, denn sie tragen mehrheitlich die Züge jugendlicher Zukunftsoffenheit (Kruse, 2017).

Ganz evident ist das Phänomen der geteilten Freude in den Auswertungen der Generali Hochaltrigkeitsstudie des Instituts für Demoskopie Allensbach und des Generali Zukunftsfonds: „Wie ältere Menschen leben, denken und sich engagieren“ (Kruse, 2017). In Interviews wurden die bevorzugten Rahmen für die Beschäftigung mit sogenannten „Daseinsthemen“ erhoben. An der Spitze stand die „Freude und Erfüllung in einer emotional tieferen Begegnung mit anderen Menschen“. Bemerkenswert stark war zudem die Konzentration auf die nachfolgende Generation, besonders intensiv natürlich in der eigenen Familie, aber eben auch weit darüber hinaus.

Ebenfalls bemerkenswert häufig traten die von Andreas Kruse sogenannten „Sorgeformen“ auf. In diesen Formen wird die Freude an der Anteilnahme am Schicksal anderer Menschen empfunden. Sie kann, aber sie muss nicht gesteigert werden in der Befähigung, emotional-kommunikativ und materiell-praktisch etwas zu deren Wohlergehen beizutragen. Die Befähigung, in freier schöpferischer Selbstzurücknahme zugunsten anderer über die eigene Lebenslast hinauszuwachsen, ist ein starker Quell erlebter Freude. Ob in quasi kindlicher oder früh-jugendlicher dankbarer Empfänglichkeit oder zudem mit einem Kraft- und Gestaltungsgefühl zukunftsorientierter älterer Jugendlicher verbunden – in vielfältiger Hinsicht kann sich der Segenswunsch: Dein Alter sei wie deine Jugend! im Leben alter Menschen verwirklichen. Es scheint mir lohnend zu sein, das Nachdenken über Alter und Altern mit einem Nachdenken über die Phänomenologie der Freude zu verbinden. Alle Altersstufen in unserer Gesellschaft könnten davon profitieren.