Welche politischen Folgen hat die Alterung der Bevölkerung?Footnote 1 Vergrößert sie die „latente Macht“Footnote 2 der Senioren? Beschreiten Staaten mit alternder Bevölkerung den Weg in eine neue Gerontokratie, eine Herrschaft von Senioren, durch Senioren und für Senioren? Entsteht daraus eine „Rentner-Demokratie“, so die Mahnung des Bundespräsidenten Herzog im Jahre 2008?Footnote 3

Beantwortet werden diese Fragen anhand der Bundesrepublik Deutschland. Sie eignet sich als Testfall, weil die Alterung ihrer Bevölkerung weit fortgeschritten ist: 21 % der Einwohner im Lande sind derzeit mindestens 65 Jahre alt – Tendenz steigend. Damit liegt Deutschlands Alterung mit Finnland auf dem dritten Platz hinter Italien und Japan, wo 23 bzw. 27 % der Bevölkerung Senioren sind.Footnote 4 Ferner ist Deutschlands Staatsverfassung demokratisch und hierdurch offen für die Anliegen einer so großen Zahl von Senioren. Zudem ist der Sozialstaat in Deutschland weit ausgebaut und könnte zu Gunsten der Älteren und zu Lasten der Jüngeren genutzt werden.

Demographischer Wandel und die Machtverteilung zwischen Jung und Alt

Für die gewachsene „latente Macht“ der Senioren sprechen mittlerweile ihre beträchtliche Markt-, Organisations- und Staatsmacht.

Von der beachtlichen Marktmacht der wachsenden Zahl der Rentner – 17,5 Mio. sind es derzeit, 21 % der WohnbevölkerungFootnote 5 – zeugt ihre Kaufkraft. Diese beläuft sich – tendenziell steigend – auf rund 11–12 % des Bruttoinlandsproduktes – gemessen an den öffentlichen Ausgaben für die Alterssicherung.

Auf Organisationsmacht weisen sodann die hohen, tendenziell weiter zunehmenden Seniorenanteile in Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und den meisten politischen Parteien. Auch die Beteiligung an Interessenverbänden bezeugt die politische Präsenz der Älteren.Footnote 6 Dass Senioren die Mitgliedschaft der Wohlfahrtsverbände dominieren, versteht sich fast von selbst. Doch auch in den Gewerkschaften sind die Älteren ein tendenziell wachsender und meist recht kampfeslustiger Teil der Mitglieder. Beispielsweise wuchs der Anteil der Rentner an den Mitgliedern der DGB-Gewerkschaften von 15 % 1970 auf über 20 % im Jahre 2002 – Tendenz steigend.Footnote 7

Noch auffälliger ist die Altersstruktur der Parteimitglieder. In allen politischen Parteien in Deutschland sind die Jüngeren unter- und die Älteren überrepräsentiert, und zwar zunehmend. Der Anteil der mindestens 66-jährigen liegt in der CDU und der SPD bei über 42 %. Bei der CSU ist er mit 38 % und bei der Linkspartei mit 35 % etwas niedriger. Nur die FDP und die Grünen weichen von den anderen etablierten Parteien mit 6,6 bzw. 12,9 % deutlich ab.Footnote 8

Die Staatsmacht der Senioren – insbesondere ihre Wählerstimmen – ist ebenfalls größer geworden. Mit der Alterung der Bevölkerung wächst nicht nur die absolute Zahl der Senioren, sondern auch ihr Anteil an den Wählern. Bei der Bundestagswahl von 2017 waren 36 % der Wahlberechtigten mindestens 60-jährig.Footnote 9 Zudem sind viele Ältere eifrige Wähler, was das Gewicht ihrer Stimmen weiter vergrößert: So lag die Wahlbeteiligung der 60–70-Jährigen bei der Bundestagswahl 2017 mit 80,1 % über dem Durchschnitt von 76,2. Deshalb stieg der Anteil der mindestens 60-Jährigen an allen aktiven Wählern 2017 auf 37 %.Footnote 10 Mehrheitlich stimmten die Älteren bei dieser Wahl erneut für die größeren Parteien: für die CDU/CSU votierten 39,5 % der mindestens 60-Jährigen und für die SPD 24,4 %, für die Grünen aber nur 5,1 %.Footnote 11

Das Gewicht der Senioren in der Wählerschaft der meisten Parteien nimmt ebenfalls weiter zu: Bei der Bundestagswahl 2017 waren 37 % der CDU/CSU-Wähler und 36 % der SPD-Wähler mindestens 60 Jahre alt, bei der FDP immerhin 29 %. Bei der AfD, der Linken und den Grünen haben die älteren Wähler mit 23, 22 bzw. 17 % ein deutlich geringeres Gewicht.Footnote 12

Die Alterung der Bevölkerung hat auch tiefe Spuren im Parlament und in der Regierung hinterlassen.Footnote 13 In der Legislative sind die jüngeren Altersgruppen unterrepräsentiert. Das Durchschnittsalter der Abgeordneten des Deutschen Bundestages beispielsweise liegt seit sechs Wahlperioden nahezu konstant knapp unter 50 Lebensjahren.Footnote 14 Älter sind die Führungsgruppen in der Exekutive: Das Durchschnittsalter der Bundesminister beispielsweise beträgt über 50 Jahre. Und Bundeskanzler oder Kanzlerin ist bislang niemand unter 51 Jahren geworden.

Von einer starken Position der Senioren bei der Verteilung öffentlicher Güter berichten Untersuchungen des Staatshandelns. Senioren gehören insbesondere zu den Nutznießern der Sozialpolitik.Footnote 15 Von ihr profitieren sie heute viel mehr als frühere Generationen. Zugute kommen den Senioren insbesondere aufwendige Leistungen der Alterssicherung und des Gesundheitswesens. Wer nach einer Maßzahl für den Finanzaufwand sucht, den die Sozialpolitik für Senioren in Deutschland bereitstellt, wird bei den öffentlichen Sozialausgaben für Alter und Hinterbliebene fündig. Diese betrugen laut Sozialbudget des Bundesarbeitsministeriums 2018 368 Mrd. EUR. Das entsprach 38,5 % aller öffentlichen Sozialausgaben und 10,9 % des Bruttoinlandsproduktes.Footnote 16 Damit hat Deutschland eine der weltweit höchsten Sozialleistungsquoten für Alter und Hinterbliebene.Footnote 17 Entsprechend aufwendig ist die Finanzierung der Alterssicherung. Rund 70 % ihrer Ausgaben finanzieren die Sozialbeiträge der Arbeitnehmer und ihrer Arbeitgeber, die restlichen 30 % stammen größtenteils aus dem Bundeszuschuss zur gesetzlichen Rentenversicherung. Ohne ihn läge der Beitragssatz der gesetzlichen Rentenversicherung weit über dem derzeitigen Stand von 18,6 % (2019).

Abb. 1
figure 1

Anmerkungen zu Schaubild 1:

Bevölkerungsanteil der mindestens 65-Jährigen und öffentliche Ausgaben für Alter und Hinterbliebene in OECD-Ländern

Die Verteilung der Armutsrisiken signalisiert ebenfalls keine Benachteiligung der Senioren. Vor der Rentenreform von 1957 herrschte in der Arbeiterschaft noch panische Angst vor dem Alter. Mit gutem Grund: Jenseits der Altersgrenze drohte der Absturz in bittere Armut. Mittlerweile haben die Sozial- und die Steuerpolitik das Armutsrisiko der älteren Bevölkerung hierzulande drastisch verringert.

Andere Messlatten sozialstaatlicher Politik deuten ebenfalls auf beträchtliche Besserstellung der Älteren. Sollte das Verhältnis zwischen den Ausgaben für Alter und Hinterbliebene einerseits und für Bildung andererseits ein Maßstab für Alt-Jung-Unterschiede in den Staatsausgaben sein, bezeugen die Daten einen klaren Vorsprung der Alterssicherung vor dem Bildungswesen: Der Sozialproduktanteil der Alterssicherung ist mit derzeit 10,9 % rund zweieinhalbmal so hoch wie der bei 4,2 % liegende Anteil der öffentlichen Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt.Footnote 18 Auf Bevorzugung der Älteren verweist zudem die inverse Beziehung zwischen den öffentlichen Ausgaben für Alterssicherung und den Sozialausgaben für Kindererziehung im OECD-Länder-Vergleich: Je höher (niedriger) die Aufwendungen für das Alter, desto niedriger (höher) die Ausgaben für die Kindererziehung.Footnote 19

Außerdem neigt die Politik in den Demokratien dazu, die ältere Bevölkerung bei finanziellen Sanierungsmaßnahmen zu schonen. Sind nicht die Staatsfinanzen auf erhebliche Kreditaufnahme geeicht – um den Preis beträchtlicher Lastenverlagerung auf die Schultern nachfolgender Generationen? Hatte sich die deutsche Sozialpolitik nicht lange geziert, die Alterssicherung von Expansions- auf Reduktionsgesetzgebungen umzustellen, die angesichts der Alterung der Bevölkerung und des seit Mitte der 1970er Jahre schwächeren Wirtschaftswachstums erforderlich waren? Ist nicht die 2013 gebildete dritte Große Koalition aus CDU, CSU und SPD mit ihrer „Rente ab 63“ und der „Mütterrente“ wieder in Richtung expansive Sozialpolitik marschiert? Und sieht nicht die 2018 geformte vierte Große Koalition erhebliche Rentenerhöhungen vor, unter ihnen eine „Respektrente“ für jene Arbeitnehmer, denen sonst niedrige Altersrenten bevorstünden?

Die bislang erwähnten Zahlen bestätigen eine infolge der Alterung wachsende latente Macht der Senioren. Das gilt – wie gezeigt – für Fragen der Staatsmacht ebenso wie für die Verbands- und die Marktmacht.

Grenzen der Seniorenmacht

Allerdings gibt es auch Grenzen der Seniorenmacht. Besonders berichtenswert sind allein drei Tendenzen: reduzierte Marktmacht, gedämpfte Organisationsmacht und gedeckelte Staatsmacht.

Grenzen der Markt-, der Organisations- und der Staatsmacht

Gewiss ist die Marktmacht der Senioren größer als je zuvor in der Geschichte Deutschlands. Dennoch ist ihr Gewicht geringer als zunächst erwartet: 17,5 Mio. Rentner sind eine stattliche Zahl, aber keine Mehrheit. Ferner beträgt die Kaufkraft der 17,5 Mio. zwar 11 % des Sozialproduktes – doch ohne Chance, durch Kaufkraftverweigerung konfliktfähig zu werden. Der finanzielle Spielraum dafür ist für die große Mehrzahl der Rentner zu eng.

Auch in den Verbänden, in denen viele Ältere Mitglieder geworden sind, stehen die Zeichen nicht auf „Rentner-Demokratie“. Von Herrschaft der Rentner in den Gewerkschaften könne keine Rede sein, folgerte Wolfgang Streeck, ein Experte der Gewerkschaftsforschung, aus den vorliegenden Spezialstudien. Der Grund: Die Gewerkschaftsführungen heißen die Unterstützung der Senioren für gewerkschaftliche Aktivitäten willkommen, gewähren ihnen dafür aber nicht allzu viel Spielraum.Footnote 20 In die gleiche Richtung deuten die Befunde der Verbände-Studie von Schroeder et al. (2011): Die Rentner und Pensionäre in den Gewerkschaften sind, so heißt es dort, eine quantitativ „starke Randgruppe (…) mit schwachen Mitgliedschaftsrechten“.Footnote 21

Noch stärker grenzen sich die Führungsgruppen der politischen Parteien von den alternden Mitgliedschaften ab. Ihr Beweggrund ist der Parteienwettbewerb. Die Parteien müssen sich regelmäßig dem Wählerurteil stellen. Auch zwischen den Wahlen sind sie durch Umfragen zu ihren Wiederwahlchancen einem fortwährenden Bewährungsdruck ausgesetzt. Beides lässt die Parteiführungen danach streben, eine möglichst große Zahl von älteren und jüngeren Wählern zu mobilisieren – und nicht danach, die Interessen ihrer älteren Mitglieder und Wähler zu maximieren.

Der Wettbewerb um Wählerstimmen zwingt die Parteien zur wählergruppenübergreifenden Werbung, wenn sie nicht Ein-Ziel-Bewegungen sind, wie im Falle einer reinen Rentnerpartei. Somit kommt hinter dem Rücken der Mitwirkenden ein dynamisches Gleichgewicht zustande, das der „invisible hand“ in Adam Smiths Lehre vom „Wohlstand der Nationen“ ähnelt: Der demokratische Marktmechanismus erzeugt ein relatives Gleichgewicht zwischen Alt und Jung und wirkt gegen eine „Rentner-Demokratie“.

In anderen Spitzenpositionen der Politik in Deutschland verhindern Stopp-Regeln ebenfalls gerontokratische Tendenzen. Die Amtsdauer von Richtern des Bundesverfassungsgerichtes beispielsweise wird durch Altersgrenzen – 68 Lebensjahre – und eine Höchstmandatsdauer von 12 Jahren geregelt. Amtsführung der Verfassungsrichter bis zum Lebensende, wie im US-amerikanischen Supreme Court, ist somit in Deutschland unmöglich.

Trotz fortgeschrittener Alterung der Bevölkerung gibt es heutzutage weder in Deutschland noch in anderen westlichen Ländern einflussreiche Seniorenparteien.Footnote 22 Und trotz weiter voranschreitender Alterung der Bevölkerung ist in der Moderne kein Verfassungsorgan in Sicht, das, wie in etlichen Staatsformen der Antike, einem einflussreichen Rat der Geronten, der Älteren oder der Greise, gleichkäme.

Zudem hat die Politik auf die Alterung der Bevölkerung reagiert – wenngleich zeitverzögert. Trotz aller Kritik an ihrer späten und halbherzigen Reaktion sind Anpassungen der Gesetzgebung zur Alterssicherung an den demographischen Wandel nicht zu übersehen. Davon zeugen allein schon die öffentlichen Ausgaben für Alter und Hinterbliebene in Deutschland. Diese Ausgaben sind beachtlich, doch hängt ihre Höhe eng mit der Alterung der Bevölkerung zusammen: Je höher der Bevölkerungsanteil der mindestens 65-jährigen Bevölkerung, desto tendenziell höher der Anteil der Ausgaben für die Alterssicherung am Bruttoinlandsprodukt. Dieser Trend kennzeichnet alle OECD-Mitgliedstaaten, wie das Abb. 1 zeigt. Die hohen Ausgaben für Alter und Hinterbliebene in Deutschland und anderen westlichen Ländern sind nicht nur das Werk einer spendablen Sozialpolitik; sie spiegeln auch einen starken demographischen Schub wider: den höheren Bevölkerungsanteil der mindestens 65-Jährigen, der Senioren. Allerdings werden die Senioren vor allem in den südeuropäischen Ländern finanziell noch stärker bedacht: Auch das zeigt das Abb. 1. Übertroffen wird Deutschlands Anteil der Alterssicherung am Sozialprodukt insbesondere von Griechenland, Italien, Portugal und Spanien. Die Ausgaben für die Alterssicherung liegen in diesen Ländern sogar relativ zu ihrer Seniorenquote oberhalb der Trendlinie, der Regressionsgeraden, im Abb. 1.

Ferner bezeugen neuere Zahlen eine Richtungsänderung: Der Anteil der Ausgaben für Alter und Hinterbliebene am Bruttoinlandsprodukt nimmt in Deutschland seit dem Höchststand von 2003/2004 bis zum Ende der Untersuchungsperiode (2018) wieder ab – und das bei einer zunehmenden Seniorenquote (Abb. 2)!

Abb. 2
figure 2

Anmerkungen zu Schaubild 2:

Seniorenquote und öffentliche Ausgaben für Alter und Hinterbliebene in der Bundesrepublik Deutschland 1950–2018

Die Hauptursache dieser Richtungsänderung liegt in einer Serie teils kleinerer, bisweilen mittelgroßer, selten großer Umbau- und Rückbaumaßnahmen in der Alterssicherung. Diese Maßnahmen verdrängten allmählich die Ausbaureformen, von denen die deutsche Alterssicherungspolitik insbesondere von 1957 bis Mitte der 1970er Jahre geprägt wurde. Einschnitte in der Alterssicherung unternahm nicht nur die wirtschaftsfreundliche bürgerlich-liberale Koalition, die Deutschland von 1982 bis 1998 regierte.Footnote 23 Nach anfänglich expansiver Sozialpolitik beschloss auch die von 1998 bis 2005 amtierende rot-grüne Regierung Schröder sozialpolitische Umbau- und Rückbaumaßnahmen. Richtungsweisend wurde sogar der von Rot-Grün forcierte „Paradigmenwechsel“Footnote 24 von der rentenniveau- zur einnahmenorientierten Alterssicherung. Dieser Wechsel erforderte die zusätzliche Absicherung im Alter. Dafür sollte vor allem die kapitalgedeckte, subventionierte „Riester-Rente“ geradestehen, die Rot-Grün einführte. Und die seit 1995 aufgebaute Pflegeversicherung, die fünfte Säule der Sozialversicherung, wirkte zudem bei der sozialen Sicherung der Pflegebedürftigen unter den Älteren mit.

Die Einschnitte und Umbaumaßnahmen der CDU/CSU- und der SPD-geführten Bundesregierungen summierten sich bis 2017 zu spürbaren Kürzungen der Renten der gesetzlichen Rentenversicherung und nachfolgend der Beamtenpensionen.Footnote 25 Insoweit konnten Experten der deutschen Politik bescheinigen, sie sei „bei der Eindämmung der Alterssicherungskosten recht erfolgreich“Footnote 26 gewesen, obwohl sie zahlreiche institutionelle Hindernisse und einflussreiche Gegenspieler überwinden musste. Mit diesen Kursänderungen wurde Deutschland, wie der internationale Vergleich zeigt, zu einem der Reformstaaten in der Rentenpolitik – gemessen an den Anpassungen der Alterssicherungssysteme an den demographischen Wandel und andere Herausforderungen wie schwächere wirtschaftliche Entwicklung, Finanzierungsschwierigkeiten und internationaler Standortwettbewerb.Footnote 27 Allerdings kamen alsbald Gegenbewegungen hinzu: So wich die dritte Große Koalition mit der „Rente ab 63“ und der „Mütterrente“ vom Kurs der Sanierungsreformen zugunsten einer erneut expansiven Sozialpolitik ab. Und Ähnliches wird in der 2018 gebildeten vierten Großen Koalition angestrebt – vor allem mit der Absicht, niedrige Altersrenten aufzustocken. Doch selbst die beträchtlichen Kosten dieser Reformen haben bislang den vom Schaubild 2 illustrierten Trend nicht grundlegend verändert.

Relative Entkoppelung von der Alterung: Parlament und Regierung

Wie die Politik sich vom demographischen Wandel entkoppeln kann, zeigt auch das Alter der Abgeordneten und der Minister. Zwar sind die jüngeren Altersgruppen in der Legislative und der Exekutive unterrepräsentiert und die mittleren und älteren Altersgruppen überrepräsentiert. Doch die Repräsentationsunterschiede sind nicht größer geworden. Davon zeugt das Durchschnittsalter der Bundestagsabgeordneten: Es stieg zu Beginn jeder Legislaturperiode von 50 Lebensjahren in der ersten Wahlperiode des Deutschen Bundestages (1949–1953) auf den Höchststand von 52 im vierten Bundestag (1961–65). Bis zum neunten Bundestag (1980–1983) sank es auf den Tiefststand von 47 Jahren und pendelt sich seither knapp unter 50 Jahren ein.Footnote 28

Das Durchschnittsalter der Bundesminister zu Beginn der Legislaturperiode spricht ebenfalls gegen die These der Altenherrschaft: Es liegt mittlerweile knapp oberhalb von 50 Jahren – in der seit 2018 amtierenden vierten Großen Koalition sind es 51 Jahre. Mehr als 55 Jahre betrug das Durchschnittsalter in den beiden ersten Kabinetten Adenauer und im zweiten Kabinett von Rot-Grün (2002–2005). Im internationalen Vergleich liegt Deutschland mit diesen Zahlen in der Mitte.

Das Alter der Bundeskanzler bezeugt ebenfalls keine gerontokratische Tendenzen. Adenauer war insoweit die Ausnahme. Bei seinem Amtsantritt im Jahre 1949 hatte der 73-Jährige eine viel größere Lebenserfahrung als alle Nachfolger. Adenauers Nachfolger waren beim Amtsantritt allesamt jünger. Erhard löste Adenauer 1963 im Alter von 66 Jahren ab, Kiesinger wurde 62-jährig zum Bundeskanzler gewählt, Brandt und Schmidt mit 55 Jahren. Kohl, Schröder und Merkel gehörten bei der Übernahme des Bundeskanzleramtes mit 52, 54 und 51 Jahren zu den jüngsten Regierungschefs.

Arbeitslosigkeit von Jung und Alt im internationalen Vergleich

Die Chancen von Jung und Alt sind von Land zu Land unterschiedlich. Darüber informieren sowohl die zuvor erwähnten sozialpolitischen Daten, als auch die Verteilung der Arbeitslosigkeitsrisiken. Einen lehrreichen Vergleich erlaubt der OECD Employment Outlook 2018, der über die Arbeitslosenquoten der 15–24-Jährigen und der 55–64-Jährigen in den OECD-Mitgliedstaaten und einigen anderen Ländern unterrichtet.

Der Vergleich der Arbeitslosenquoten jüngerer und älterer Arbeitnehmer fördert berichtenswerte Ergebnisse zutage. Dreierlei sticht hervor (siehe Tab. 1). Erstens ist in allen OECD-Mitgliedstaaten das Arbeitslosigkeitsrisiko der Älteren erheblich geringer als das der Jüngeren. Zweitens variieren die Arbeitslosigkeitsrisiken der Älteren und der Jüngeren von Land zu Land, und zwar in großem Maße. Drittens: Die Extremfälle sind Italien und Griechenland sowie Japan und Deutschland. In Italien ist die Jugendarbeitslosigkeit fast sechsmal so hoch wie die Arbeitslosenquote der Älteren. Krasse Unterschiede zwischen Jung und Alt kennzeichnen auch Griechenland. Dort sind 2017 44 % der jüngeren und 18 % der älteren Erwerbspersonen arbeitslos. In Japan und in Deutschland hingegen ist die Jugendarbeitslosigkeit mit 4,6 bzw. 6,8 % 2017 niedriger als anderswo. Zugleich ist der Unterschied zwischen den Arbeitslosenquoten der Älteren und der Jüngeren in Japan mit 2,0 Prozentpunkten kleiner als in allen anderen OECD-Ländern. Aber auch Deutschland und die Niederlande haben mit einer Differenz von 3,4 Prozentpunkten relativ niedrige Jung-Alt-Unterschiede in der Arbeitslosigkeit.

Tab. 1 Arbeitslosenquoten jüngerer und älterer Erwerbspersonen in ausgewählten OECD-Ländern, 2017

Gemessen an Niveau und Differenz der Arbeitslosigkeit von Jung und Alt schneidet Deutschland vergleichsweise vorteilhaft ab. Die Jugendarbeitslosigkeit ist niedriger als in den meisten anderen westlichen Ländern und der Unterschied zur Arbeitslosigkeit der Älteren vergleichsweise gemäßigt. Mitverantwortlich für dieses Leistungsprofil sind mindestens vier Bestimmungsfaktoren: die Existenz eines Berufsbildungssystems, das auch beschäftigungspolitisch Vorteile hat,Footnote 29 der Unterschied zwischen einer vergleichsweise leistungsstarken „koordinierten Marktwirtschaft“ wie in Deutschland und weniger starken „unkoordinierten Marktökonomien“ wie in den englischsprachigen Ländern und in Südeuropa,Footnote 30 und ein vergleichsweise großer gewerblicher Sektor mit vorzeigbaren Beschäftigungschancen auch für jüngere Arbeitnehmer. Eine weitere Ursache ist die sozialstaatsfreundliche Parteienlandschaft in Deutschland und das dort tief verankerte Bestreben, Wählerstimmen in allen Altersgruppen zu gewinnen und die soziale Balance zwischen Alt und Jung zu wahren.

Politische Folgen der Alterung

Die politischen Folgen der Alterung der Bevölkerung in Deutschland sind spürbar. Mit ihr haben die Senioren mehr Markt- und Verbandsmacht gewonnen – und mit ihren Wählerstimmen mehr Staatsmacht. Von Exklusion oder nur Benachteiligung der älteren Bevölkerung kann nicht die Rede sein. Und Senilizid, Altentötung, die es in Jäger- und Sammlergesellschaften gab, ist heutzutage unvorstellbar.

Dennoch ist die vom Bundespräsidenten Herzog befürchtete „Rentner-Demokratie“ nicht in Sicht. Weder sind die Senioren die einzige Macht im Staate noch sind sie auch nur die dominierende Kraft. Gewiss sind Jung und Alt in Spannungen verstrickt, aber nicht in unversöhnliche Konflikte. Selbst auffällige Spaltungen, wie Seniorenmehrheit für die bürgerlichen Parteien und Mehrheit der jüngeren Wähler für das nichtbürgerliche Lager, wirken nicht eruptiv.Footnote 31

Obendrein lindern Anpassungen der Alterssicherung an das Älterwerden der Bevölkerung den potenziellen Konflikt zwischen Alt und Jung.Footnote 32 Das verdient besondere Beachtung, weil diese Anpassungen, wie die Heraufsetzung der Altersgrenze in der Rentenversicherung, wahlpolitisch riskante Umbau- und Rückbaumaßnahmen voraussetzen.