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Gehirn-Computer-Schnittstellen zur Steuerung robotischer Systeme

Allein in Deutschland erleiden jedes Jahr hunderttausende Menschen einen Schlaganfall in dessen Folge es zu schweren Lähmungen kommen kann (Busch et al., 2013). Bereits heute sind Schlaganfälle die führende Ursache für Langzeitbehinderung im Erwachsenenalter (WHO, 2012) und es ist davon auszugehen, dass die Anzahl der Betroffenen aufgrund demographischer Faktoren in den nächsten Jahren erheblich zunehmen wird (Feigin et al., 2016). Oft sind die Betroffenen nicht mehr in der Lage, Alltagstätigkeiten, wie Essen und Trinken oder die tägliche Körperpflege, ohne fremde Hilfe durchzuführen (Kwakkel et al., 2003; Rosamond et al., 2008). Insbesondere der Verlust der Hand- und Fingerfunktion kann zu erheblichen Einbußen der Lebensqualität und sozialen Teilhabe führen. Aktuell werden die direkten und indirekten (sozialen) Kosten durch Schlaganfälle allein in Deutschland auf über 10 Mrd. € jährlich geschätzt (Kolominsky-Rabas et al., 2006; Winter et al., 2008).

Die Wiederherstellung der Bewegungsfähigkeit nach Schlaganfall, aber auch nach traumatischen Verletzungen des Nervensystems (z. B. einer Rückenmarksverletzung oder Plexus-Ausriss), ist daher aus sozio-ökonomischer sowie medizinischer Sicht von großer Relevanz. Trotz zahlreicher medizinischer Fortschritte existiert jedoch derzeit keine etablierte Behandlungsstrategie, um die Bewegungsfähigkeit chronisch Gelähmter wiederherzustellen und schwere Lähmungen infolge eines Schlaganfalls oder einer Rückenmarksverletzung effektiv zu therapieren.

Neurotechnologische Systeme, die auf der Basis neurobiologischer Erkenntnisse, z. B. den Mechanismen synaptischer Plastizität oder kortikaler Reorganisation, aufbauen, versprechen nun aber völlig neue Behandlungsansätze, die im Folgenden skizziert werden.

Grundlage dieser neuen Ansätze sind sog. Gehirn-Computer-Schnittstellen (engl. brain-computer interfaces, BCIs), die es ermöglichen, elektrische, magnetische oder metabolische Hirnaktivität auszulesen und in nahezu Echtzeit in Steuersignale externer Geräte oder Computer zu übersetzen. Die Hirnaktivität kann hierbei entweder nicht-invasiv, d. h. von der Kopfoberfläche, oder invasiv, d. h. durch Implantation von Elektroden in das Körperinnere, gemessen werden. Im Bereich der nicht-invasiven Ansätze sind derzeit sechs Arten von Hirnsignalen für BCI-Anwendungen etabliert worden: 1) Die Regulation von sog. sensorimotorische Rhythmen (SMR, 8–15 Hz) (Soekadar et al., 2011), 2) Die Regulation von langsamen kortikalen Hirnpotentialen (sog. slow cortical potentials, SCP) (Birbaumer et al., 1999), 3) Die Erfassung von sog. ereigniskorrelierten Potentialen (event-related potentials, ERP) (Farwell & Donchin, 1988), 4) Die Erfassung von visuell oder auditorisch evozierten steady-state Potentialen (sog. steady-state visual evoked potentials, SSVEP, or auditory steady-state responses, ASSR) (Baek et al., 2013; Muller-Putz et al., 2005), 5) Die Regulation der Blutoxygenierung (sog. blood oxygenation level-dependent contrast imaging) im Magnetresonanztomographen (MRT) (Liew et al., 2016; Ruiz et al., 2013), sowie 6) Regulation von Oxy/Desoxy-Hämoglobinkonzentration oberflächlicher kortikaler Areale, die mittels funktioneller Nah-Infrarot-Spektroskopie (fNIRS) gemessen werden kann (von Lühmann et al., 2015). Im Bereich der invasiven Methoden spielen insbesondere die Aufzeichnung der sog. Lokalen Feldpotentiale (local field potential, LFP) (Flint et al., 2012) sowie der sog. spikes und multi-unit activity (Bansal et al., 2012) eine wichtige Rolle (Bouton et al., 2016; Hochberg et al., 2012). So konnten mittels implantierbarer BCIs schwerst-gelähmte Schlaganfallüberlebende beispielsweise einen Roboterarm steuern, um einen Kaffee zu trinken oder um einen Schokoladenriegel zu greifen und zum Mund zu führen (Ajiboye et al., 2017; Collinger et al., 2013).

Die Steuerung solch komplexer Bewegungen in drei Dimensionen mittels Hirnaktivität erforderte jedoch die Implantation von mindestens 100 leitenden Silizium-Nadeln (dem sog. Utah Array) in die Großhirnrinde und ist damit nicht für den breiten Einsatz bei den etwa 1,3 Mio. Schlaganfallüberlebenden in Deutschland geeignet. Die Hauptprobleme beim Einsatz von implantierbaren BCIs liegen zum einen in dem erhöhten Risiko von Infektionen und Blutungen und zum anderen im Fehlen geeigneter und zertifizierter robotischer Assistenz-Systeme für den Alltag. Zudem sind die implantierbaren BCIs bisher nicht für den langfristigen Einsatz zertifiziert. Im Gegensatz dazu lassen sich nicht-invasive BCIs praktisch risikolos einsetzen, da die Hirnsignale von der Kopfoberfläche abgeleitet werden und die Elektroden jederzeit entfernt werden können. Der Einsatz dieser nicht-invasiven BCIs im Alltag ist jedoch aufgrund der geringen Signalqualität besonders herausfordernd. So lässt sich zwar mit einer Genauigkeit von etwa 60–80 % feststellen, ob eine Bewegungsabsicht vorliegt oder nicht, aber nicht, welche Bewegung beabsichtigt wird (die sog. beabsichtigte Bewegungstrajektorie). 2016 ist es jedoch erstmals gelungen, ein nicht-invasives hybrides BCI zur Steuerung eines Hand-Exoskeletts (ein sog. brain/neural hand exoskeleton, B/NHE) einzusetzen, mit dessen Hilfe Querschnittsgelähmten in einem Restaurant selbstständig essen und trinken (Soekadar et al., 2016) konnten.

Voraussetzung für den zuverlässigen Einsatz dieser nicht-invasiven neuralen Schnittstelle in Alltagsumgebungen war die Kombination von EEG-Signalen mit dem sog. Elektrookulogramm (EOG). Mittels EOG lassen sich bestimmte willkürliche Augenbewegungen zuverlässig identifizieren und in die Steuerung eines sogenannten Exoskeletts, d. h. einer motorisierten Stützstruktur, einbeziehen (Witkowski et al., 2014). Die Absicht, die gelähmte Hand zu schließen wurde mittels EEG ausgelesen, während die Hand-Öffnung erst erfolgte, wenn eine bestimmte Augenbewegung (sog. maximale horizontale Okuloversion, HOV) erkannt wurde. Die geringe Klassifikationsgenauigkeit aus dem EEG Signal konnte so durch die hohe Klassifikationsgenauigkeit des EOG Signals (95–100 %) kompensiert werden. Die EOG Steuerung erlaubte es den Probanden zudem, Schließbewegungen des Exoskeletts innerhalb weniger hundert Millisekunden zu unterbrechen (sog. Veto-Funktion), bzw. die Hand zielgerichtet zu öffnen. Das System wurde in den Rollstuhl der Querschnittsgelähmten integriert und war so in verschiedenen Alltagssituationen, u. a. in einem Restaurant, einsetzbar. Mittels des neural-gesteuerten Exoskeletts konnte die Handfunktion der Querschnittsgelähmten zu fast 90 % wiederhergestellt werden. Dies erlaubte ihnen unterschiedliche Alltagstätigkeiten, z. B. das Schreiben mit einem Stift oder Halten eines Buches, erstmals wieder selbstständig auszuführen.

Gehirn-Computer Schnittstellen zur Anregung von Neuroplastizität

Neben der Möglichkeit, die Lebensqualität und soziale Teilhabe mittels neuralem Exoskelett im Alltag zu verbessern, konnte noch ein weiterer Effekt festgestellt werden: Eine erste randomisierte und placebokontrollierte Studie an 32 Schlaganfallüberlebenden mit chronischen, kompletten Fingerlähmungen zeigte, dass der tägliche Einsatz eines neural-gesteuerten Hand-Exoskeletts zu einer funktionellen und strukturellen Reorganisation des zentralen Nervensystems sowie einer Verbesserung der Finger-Motorik führen kann (Broetz et al., 2010). Hierbei wurde die elektrische Aktivität der vom Schlaganfall betroffenen motorischen Areale verwendet, um die gelähmte Hand mittels neuralem Exoskelett zu öffnen und zu schließen. Während dieser Zusammenhang zwischen Hirnaktivität und Fingerbewegung für die Hälfte der teilnehmenden Schlaganfallüberlebenden galt (Experimental-Gruppe), erhielt die andere Hälfte ein sogenanntes sham-Feedback, d. h. die Bewegung des Exoskeletts hatte keinen direkten Bezug zur Hirnaktivität (Kontroll-Gruppe). Nach vier Wochen täglichen Trainings wiesen die Teilnehmer in der Experimental-Gruppe gegenüber der Kontroll-Gruppe eine Verbesserung ihre Finger- und Handfunktion auf. Diese Verbesserung korrelierte mit einer sog. Re-Lateralisierung, d. h. einer Verschiebung der Hirnaktivität in Richtung der trainierten, zuvor geschädigten, motorischen Areale. Mittlerweile konnten diese Ergebnisse in zahlreichen weiteren klinischen Studien mit insgesamt über 230 Patienten repliziert werden (Cervera et al., 2018). Die genauen Mechanismen dieser BCI-abhängigen Erholungsprozesse sind noch weitgehend ungeklärt. Es wird angenommen, dass die Übersetzung der Bewegungsabsicht in eine tatsächliche Bewegung der gelähmten Hand über Hebb‘sches Lernen zu einer Verstärkung des sog. sensorimotorischen Loops führt (Soekadar et al., 2015). Ein anderes Erklärungsmodell argumentiert über die Normalisierung der aufgabenbezogenen Hirnaktivierung, die über die regelmäßige Verwendung des BCI erreicht wird: während Schlaganfallüberlebende mit schweren Fingerlähmungen meist beide Hirnhemisphären aktivieren, führe die wiederholte BCI-Nutzung über die zunehmende Re-Lateralisierung zu einer Normalisierung der Netzwerkaktivität, wodurch maladaptive neuroplastische Prozesse positiv beeinflusst würden. Als mögliches drittes Erklärungsmodell wäre auch denkbar, dass die willkürliche Steuerung des Hand-Exoskeletts die Selbstwirksamkeitserwartung der Schlaganfallüberlenden steigert und insgesamt zu einem vermehrten Einsatz des gelähmten Armes sowie der Hand im Alltag führt. Es sind also noch zahlreiche Forschungsfragen zu klären, unter anderem auch, wie lange und in welcher Intensität trainiert werden sollte und welche Schlaganfallüberlebenden von dieser Therapieform besonders profitieren und welche nicht. Der Einsatz digitaler Werkzeuge mit entsprechenden Sensoren, die das Verhalten der Schlaganfallüberlebenden in ihrem Alltag objektivieren, kann bei der Beantwortung dieser Fragen eine wichtige, ergänzende Rolle spielen.

Das Potential von BCI, verlorengegangene Funktionen des Nervensystems wiederherzustellen, wurde unter anderem auch in einer Arbeit von Nikolaus Wenger (Charité – Universitätsmedizin Berlin) sehr anschaulich demonstriert. Zuvor gelähmte Ratten, die ihre Hinterbeine aufgrund einer Rückenmarksverletzung nicht mehr bewegen konnten, erhielten einen Rückenmarksstimulator, der in Abhängigkeit der Aktivität bestimmter motorischer Hirnzellen aktiviert wurde. Nach kurzer Trainingszeit konnten die Ratten wieder selbstständig mit ihren Hinterbeinen laufen (Wenger et al., 2016). Dasselbe Prinzip wurde in einer Nachfolgestudie bei querschnittsgelähmten Menschen eingesetzt. Hier wurde allerdings kein implantierbares BCI verwendet, sondern periphere Biosignale, die anzeigten, ob eine Laufbewegung beabsichtigt wurde oder nicht (z. B. Verlagerung des Körperschwerpunktes durch Inklination des Oberkörpers), in ein entsprechendes Signal zur Steuerung des Stimulators übersetzt. Wurde eine Laufabsicht festgestellt, stimulierte ein epidurales Elektrodengrid mit mehreren Kontakten die relevanten Rückenmarkssegmente, um eine Lokomotionsbewegung der Beine auszulösen (Wagner et al., 2018). Bemerkenswerterweise führte die mehrmonatige Verwendung des Stimulators, ähnlich wie die wiederholte Verwendung des neuralen Hand-Exoskelett bei Schlaganfallüberlebenden, zu einer Erholung der motorischen Funktionen bei Querschnittslähmung: Ein Studienteilnehmer konnte nach mehrmonatigem Training auch bei ausgeschalteter Rückenmarkstimulation selbstständig und ohne Hilfsmittel laufen. Dies ist am ehesten dadurch zu erklären, dass die adaptive Stimulation unterhalb der Rückenmarksläsion zu einer Neu-Verschaltung zwischen Gehirn, den verbliebenen absteigenden Nervenfasern und den Motor-Neuronen zu den Beinmuskeln (lower motor neuron, LMN) geführt hat.

Eine wichtige Voraussetzung, um solcherart Neuroplastizität mittels BCI anzuregen, besteht in einer ausreichenden Motivation, das häufig mehrmonatige Training konsequent durchzuführen. Je näher das Training an entsprechenden Alltagsfunktionen orientiert ist, desto höher die Motivation und wahrscheinlicher die Generalisierung der erlernten Fähigkeiten in den Alltag. Daher wurde zuletzt ein integrativer Ansatz vorgeschlagen, der sowohl die assistive also auch rehabilitative Dimension von BCIs kombiniert (Soekadar et al., 2015, 2019). Die Integration des BCI in Alltagsumgebungen spielt hierbei eine zentrale Rolle. Hierbei muss gewährleistet sein, dass das BCI System intuitiv und benutzerfreundlich, d. h. ohne fremde Hilfe, eingesetzt werden kann.

Neurale Hand-Exoskelette in Alltagsumgebungen

Der derzeit am besten etablierte, nicht-invasive BCI-Ansatz zur intuitiven Steuerung von Bewegungen basiert auf der Ableitung elektrischer Hirnoszillationen über dem Motorkortex (Abb. 1), deren Amplituden sich in Abhängigkeit einer Bewegungs-Vorstellung oder -Absicht charakteristisch verändern (Soekadar et al., 2015). Zur Ableitung der elektrischen Hirnaktivität mittels EEG werden Oberflächenelektroden eingesetzt, die sich in Bezug auf ihre Anwenderfreundlichkeit und Signalqualität sehr voneinander unterscheiden. Über Jahrzehnte wurden EEG-Ableitungen fast ausschließlich mittels Feucht- oder Nass-Elektroden auf Basis von Silberchlorid durchgeführt. Während Nass-Elektroden auf Basis von Silberchlorid eine ausgezeichnete Signalqualität erreichen können, bedürfen sie des Einsatzes von Elektrolyt-Paste oder Gel. Der zeitliche Aufwand für die Präparation kann mehrere Minuten pro Elektrode betragen und das Gel muss nach der Anwendung aus den Haaren herausgelöst bzw. ausgewaschen werden. Dies ist insbesondere für Schlaganfallüberlebenden mit Halbseitenlähmung mühsam und aufwendig.

Abb. 1
figure 1

Neurale Steuerung eines individualisierten Hand-Exoskeletts mittels Elektroenzephalographie (EEG) und Elektrookulographie (EOG). Die Signale werden an einen tragbaren und kabellosen Tablett-Computer gesendet, dort in entsprechende Steuerbefehle übersetzt und an das Hand-Exoskelett übertragen

Dagegen können sogenannte Trocken-Elektroden innerhalb weniger Minuten ohne aufwendige Präparation angelegt werden. Hier ist die erreichbare Signalqualität im Vergleich zu Feucht-Elektroden meist jedoch deutlich geringer. Zudem benötigen Trockenelektroden einen recht hohen Anpress-Druck. Dadurch sind entsprechende Systeme nicht sehr angenehm zu tragen. Vielversprechender sind dagegen sog. Polymer- oder Textil-Elektroden, die Tragekomfort mit guter Signalqualität verbinden (Soekadar et al., 2016; Toyama et al., 2012). Die Präparationszeit dieser Elektroden liegt bei wenigen Minuten. Das Anbringen der Elektroden sollte idealerweise auch halbseitengelähmten Schlaganfallüberlebenden ohne fremde Hilfe möglich sein. Doch bisher etablierte EEG-Systeme bestehen in der Regel aus einem Hauben- bzw. Kappen-System, das sich mit einer Hand nicht anlegen lässt. Hier würde die konsequente Entwicklung von Headset-Systemen eine wichtige Voraussetzung schaffen, dass BCI-Systeme auch in Alltagsumgebungen und ohne fremde Hilfe von Schlaganfallüberlebenden eingesetzt werden können.

Während vor einigen Jahren noch stationäre Rechner für BCI-Anwendungen erforderlich waren, so können die notwendigen Funktionen mittlerweile auch von Smartphones oder tragbaren Tablett-Computern übernommen werden. Hierzu werden die aufgezeichneten Biosignale (z. B. EEG, EOG, peripher-physiologische Biosignale, etc.) digitalisiert und über eine Funkverbindung an die Rechnereinheit übertragen. Dort werden die Biosignale klassifiziert und als Steuersignale per Funkverbindung an ein robotisches System weitergeleitet. Im Falle eines Schlaganfallüberlebenden kann das Kontrollsignal beispielsweise an ein motorisiertes Hand-Exoskelett weitergeleitet und dort in das Öffnen oder Schließen der gelähmten Hand übersetzt werden. Hierdurch wird den Schlaganfallüberlebenden ermöglicht, auch wieder Tätigkeiten durchzuführen für die beide Hände notwendig sind (bimanuelle Alltagstätigkeiten). Im Falle von hohen Rückenmarksverletzungen mit Lähmungen beider Hände können mittels eines solchen hybridem BCI-Systems auch zwei Exoskeletten erfolgreich gesteuert werden (Nann et al. 2020).

Neben der zuverlässigen Aufzeichnung von Biosignalen in Alltagsumgebungen sowie Miniaturisierung der notwendigen Hardware, besteht eine besondere Herausforderung darin, das Exoskelett den physiologischen und anatomischen Besonderheiten gelähmter Personen (u. a. Spastik, Atrophie, Verkürzung der Bänder und Sehnen, reduzierte Sensibilität, allgemeiner Osteoporose der gelähmten Extremität) anzupassen. Hierfür ist eine hohe Individualisierung der Bauteile notwendig. Die Passgenauigkeit der Bauteile ist wesentliche Voraussetzung, dass Schlaganfallüberlebende bereit sind, das System über mehrere Stunden im Alltag einzusetzen. Die notwendige Individualisierung wurde in den letzten Jahren maßgeblich durch die Entwicklung des 3D-Drucks vorangetrieben. So lassen sich Bauteile zu verhältnismäßig geringen Kosten individuell anpassen. Neben Exoskeletten auf Basis von 3D-Druckelementen, sind auch sog. Soft-Exoskelette sehr vielversprechend (Mohammadi et al., 2018; Singh et al., 2019). Hierbei werden innovative Textilien eingesetzt und mit aktiven oder passiven Mechanismen zur Unterstützung von Bewegungsabläufen kombiniert. Neben der vereinfachten Anziehbarkeit und dem höhere Tragekomfort gegenüber rigiden Stütz-Elementen, besteht ein weiterer Vorteil in dem geringen Gewicht des Systems. Insbesondere wenn ganze Gliedmaßen mittels äußerer Stützstrukturen aktiv bewegt werden sollen, müssen erhebliche Kräfte aufgewendet werden, wodurch sich das Verletzungsrisiko erhöht. Das Gewicht der hierfür notwendigen Elektromotoren kann zudem sehr schnell dazu führen, dass die resultierende Konstruktion für den Einsatz im Alltag nicht praktikabel ist. Soft-Exoskelette sind dagegen deutlich leichter und weisen ein eher geringeres Verletzungsrisiko auf.

Da es aktuell nicht möglich ist, komplexe Bewegungsabläufe oder einzelne Fingerbewegungen in Alltagsumgebungen mittels nicht-invasiver Methoden auszulesen (Soekadar et al., 2007), kann eine höherdimensionale und komplexere Steuerung eines assistiven robotischen Systems nur durch Einbeziehung kontext-spezifischer Parameter erfolgen. Diese Kontextsensitivität ist somit neben der Erkennung von Handlungsabsichten eine wesentliche Voraussetzung, um neural-gesteuerte Assistenz-Systeme in Alltagsumgebungen zu integrieren. Insbesondere neuere Methoden zur Objekt- und Mustererkennung auf Basis von convolutional neural networks (CNN) erlauben in diesem Zusammenhang eine Optimierung der Greifbewegungen an die speziellen Umstände im Alltag (Bhattacharjee, 2019). Hierbei ermöglicht z. B. eine integrierte visuelle Objekterkennung die Anpassung des robotischen Systems an die Ausrichtung und Beschaffenheit des Objektes (Form, Größe, geschätztes Gewicht). Gegenüber dem zuverlässigen Erkennen relevanter situativer Aspekte auf der Basis entsprechender Sensorik stellt die korrekte Klassifikation von Handlungsabsichten jedoch eine wesentlich größere Herausforderung dar. Zwar erlaubt die Inferenz über Biosignale, Berücksichtigung wiederholter Verhaltensmuster sowie bestimmter kontextspezifischer Faktoren eine gewisse Verbesserung in der Klassifikationsgenauigkeit von beabsichtigter Bewegungstrajektorien, doch sind entsprechende Systeme aufgrund der hohen Komplexität und Variabilität menschlichen Verhaltens immer noch sehr fehleranfällig. Daher ist die Implementierung einer zuverlässigen Veto-Funktion unabdingbar (Clausen et al., 2017). Nur so kann ein gewisses Maß an Sicherheit in der Anwendung neural-gesteuerter Exoskelette in Alltagsumgebungen gewährleistet werden. Die Fehleranfälligkeit in der Steuerung neuraler Exoskelette weiter zu reduzieren wäre nicht nur für assistive Anwendungen, sondern auch für die Effektivität rehabilitativer Systeme von entscheidender Bedeutung. Der Einsatz von Neuroprothesen sowie neural-gesteuerter Exoskelette in Alltagsumgebungen stellt zudem besondere Anforderungen an die Datensicherheit sowie den Schutz der Privatsphäre und setzt die Klärung relevanter haftungsrechtlicher Fragestellungen voraus (Clausen et al., 2017). Zudem sind auch bestimmte neuroethische Aspekte zu berücksichtigen (Soekadar & Birbaumer, 2015; Soekadar et al., 2021), u. a. ethische Aspekte bei der Informations-Gewinnung, -Verarbeitung sowie -Umsetzung (Clausen, 2008).

Ausblick in die Zukunft: Gehirn-Computer Schnittstellen in der medizinischen Versorgung 2030

Neural-gesteuerte Exoskelette werden zwar aktuell nur im Rahmen klinischer Studien eingesetzt, doch ist davon auszugehen, dass diese neue Technologie innerhalb der nächsten zehn Jahre schrittweise in die Krankenversorgung integriert wird. Die erheblichen Investitionen in Neurotechnologie und Sensortechnik lassen weitere wichtige Impulse für die Weiterentwicklung und Verbesserung von Gehirn-Computer-Schnittstellen erwarten. Zum Beispiel ist es vor kurzem gelungen, neuromagnetische Felder von wenigen femtoTesla mittels optisch-gepumpter Magnetometer (OPM) bei Zimmertemperatur zu messen (Boto et al., 2018). Diese neue, nicht-invasive Methode erlaubt nicht nur oszillatorische Hirnaktivität in bisher unerreichter räumlicher Auflösung aufzuzeichnen, sondern benötigt auch keine Ionen-Brücke, bzw. keinen direkten elektrischen Kontakt zur Kopfoberfläche. Dadurch ist es theoretisch denkbar, die Bewegung einzelner Finger ohne Implantation von Elektroden aus der neuromagnetischen Aktivität des Gehirns zu dekodieren. Zusammen mit den Fortschritten im Bereich der digitalen Medizin und des Maschinellen Lernens versprechen solche technologischen Durchbrüche die Entwicklung völlig neuer Behandlungskonzepte für Schwerst-Gelähmte, für die bisher keine effektive Behandlungsoption existierte. Aufgrund des unmittelbaren Nutzens sowie regulatorischer Gegebenheiten werden zunächst insbesondere assistive Anwendungen Verbreitung finden. Der Einsatz nicht-invasiver neuraler Schnittstellen wird aufgrund ihrer begrenzten Zuverlässigkeit vor allem dann erfolgen, wenn keine anderen geeigneten Biosignale (insbesondere elektromyographische Aktivität) vorhanden sind, um eine intuitive Steuerung zu ermöglichen. Die Entwicklung dieser Assistenz-Systeme bilden eine wichtige Voraussetzung, um auch die zugrunde liegenden Mechanismen möglicher Neurorehabilitationseffekte umfassend und an einer ausreichend großen Patientenpopulation untersuchen zu können (Simon et al. 2021). Hierbei spielt der Austausch sowie die Verfügbarkeit von Forschungsdaten im Sinne des Open Data Ansatzes eine wichtige Rolle (Liew et al., 2018).

Die durch den regelmäßigen BCI-Einsatz angestoßenen neuroplastischen Prozesse, die bei Schlaganfallüberlebenden sowie Querschnittsgelähmten zu einer Erholung verlorengegangener motorischer Funktionen führten, sind mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht auf die motorische Domäne beschränkt. Es ist anzunehmen, dass auch andere Hirnfunktionen, wie z. B. das Arbeitsgedächtnis oder die kognitive und affektive Kontrolle, mittels BCI verbessert werden können. Diese Hirnfunktionen spielen bei einer ganzen Reihe von psychischen Störungen, wie Depression, Sucht oder bei neurodegenerativen Erkrankungen eine wichtige Rolle. Das entscheidende Problem bei der Entwicklung solcher BCIs besteht allerdings darin, dass bisher unklar ist, welche spezifische Hirnaktivität (bzw. Netzwerkaktivität) mittels BCI trainiert werden muss. Eine Möglichkeit, um den kausalen Zusammenhang zwischen Hirnaktivität einerseits und Hirnfunktion sowie Verhalten andererseits aufzudecken, besteht im Einsatz einer frequenz- und phasenspezifischen transkraniellen elektrischen oder magnetischen Stimulation (TES/TMS). Wichtige Voraussetzung ist allerdings, dass die Hirnaktivität auch während der Stimulation zuverlässig gemessen werden kann, um stimulationsabhängige Veränderungen der Hirnaktivität den Veränderungen von Hirnfunktion und Verhalten zuordnen zu können. In diese Richtung wurden mittlerweile eine Reihe vielversprechender Strategien entwickelt (Garcia-Cossio et al., 2016; Soekadar et al., 2013; Witkowski et al., 2016; Haslacher et al. 2021). Damit wurden die Grundlagen geschaffen, die neurophysiologischen Substrate kognitiver Funktionen auf individueller Ebene systematisch zu untersuchen. Sind diese einmal identifiziert, könnte ein entsprechend ausgelegtes klinisches BCI-System die bereits etablierten therapeutischen Verfahren auf Basis psychopharmakologischer sowie psychosozialer Ansätze komplementär ergänzen. Durch den Einsatz digitaler Werkzeuge (z. B. Apps, Smartwatches, mobiles EEG) ließen sich, wie auch bei neurologischen Erkrankungen, Krankheitsverläufe objektivieren und forschungsbasierte Krankheitsmodelle etablieren. Die hier beschriebenen technologischen Fortschritte versprechen, dass klinische BCIs in absehbarer Zeit nicht nur einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung von Lebensqualität und sozialer Teilhabe Schwerst-Gelähmter leisten werden, sondern auch eine wichtige Rolle in der Behandlung psychischer Erkrankungen spielen könnten.