Zum Auftakt: Das Beispiel der ansteigenden durchschnittlichen Lebenserwartung

Wir leben länger als je zuvor in der Geschichte der Menschheit. Die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt ist seit 1840 um fast 40 Jahre gestiegen. Im Jahr 1840 wurde die höchste durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt in Schweden beobachtet und betrug damals 45 Jahre (Vaupel, 2010). Im Jahr 2017 wurde die weltweit höchste Lebenserwartung (bei Geburt) in Japan beobachtet und betrug 84,1 Jahre. Obwohl die Prävalenz chronischer Krankheiten weiter gestiegen ist (Bellantuono, 2018), was zum großen Teil auf eine bessere Diagnose und Behandlung zurückzuführen ist, die das Leben mit der Krankheit verlängert, wurde gleichzeitig ein Rückgang der Prävalenz von Demenz und funktionaler Gesundheit beobachtet (Crimmins, 2015). Eine kürzlich erstellte Prognose auf der Grundlage der im Rahmen des Projekts „Global Burden of Disease“ erhobenen Daten prognostiziert, dass im Jahre 2040 die höchste durchschnittliche Lebenserwartung (bei Geburt) bei 85,9 Jahren liegen wird und in Spanien zu beobachten ein wird (Foreman et al., 2018). Wenn die Investitionen im Bereich der öffentlichen Gesundheit weiterhin hoch bleiben, prognostiziert die Projektion für Spanien im Jahr 2040 sogar eine durchschnittliche Lebenserwartung von 87,4 Jahren. Dieser Anstieg der durchschnittlichen (gesunden) Lebenserwartung ist eine Erfolgsgeschichte der sozio-kulturellen Entwicklung. Die wirtschaftliche Entwicklung, die Verbesserung medizinischen Wissens und Therapie, die Interventionen im öffentlichen Gesundheitswesen (Hygiene, gesunde Lebensweise), aber auch die Ausweitung des Bildungssystems und die allmähliche Humanisierung der Arbeitswelt haben sich positiv ausgewirkt auf die Gesundheit und die Wahrscheinlichkeit, bis ins spätere Erwachsenenalter zu überleben. Zu Beginn dieser positiven Entwicklung war der Zuwachs an Lebenserwartung zunächst auf den Rückgang der Todesfälle von Müttern und Kindern sowie durch Infektionskrankheiten und Unfälle zurückzuführen, also die Erhöhung der Überlebenschancen in den ersten 20 bis 30 Jahren des Lebens. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist der kontinuierliche weitere Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung jedoch in erster Linie auf die Zunahme der Überlebenschancen in der zweiten Lebenshälfte zurückzuführen (Vaupel, 2010).

Ein längeres Leben ist gleichermaßen ein Geschenk und eine Herausforderung für den Einzelnen und die Gesellschaft. Höhere durchschnittliche Lebenserwartung bei zum größten Teil besserer Gesundheit sind nicht das Ergebnis der biologischen Evolution im darwinistischen Sinne, sondern vielmehr das Ergebnis der kontinuierlichen Wechselwirkungen zwischen biopsychosozialen Einflüssen. Daraus folgt, dass es auf die gesellschaftlichen und individuellen Anstrengungen ankommt, um diesen positiven Trend aufrechtzuerhalten oder gar weiter auszubauen (Koh et al., 2019; Skirbekk et al., 2018). Und in der Tat gibt es mahnende Beispiele, die illustrieren, was passiert wenn diese Anstrengungen nachlassen oder ganz unterbleiben. Der Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung in den Vereinigten Staaten hat sich in den letzten 30 Jahren verlangsamt und ist in den 1990er Jahren sogar hinter andere Industrienationen zurückgefallen; nach 2014 begann die durchschnittliche Lebenserwartung in den USA sogar zu sinken (Woolf & Schoomaker, 2019). Im Jahr 2017 berichtete das Center für Disease Control (CDC) der USA von einer durchschnittlichen Lebenserwartung bei Geburt von 78,6 (https://www.cdc.gov/nchs/fastats/life-expectancy.htm) im Vergleich zu 84,1 Jahren in Japan (https://data.worldbank.org/indicator/sp.dyn.le00.in). Man geht davon aus, dass diese Entwicklung durch vermeidbare Gründe wie Medikamentenüberdosierungen, Selbstmorde und Erkrankungen des Organsystems vorangetrieben wurde (Woolf & Schoomaker, 2019).

Es muss auch erwähnt werden, dass nicht alle Gruppen der Gesellschaft in gleicher Weise von positiven Trends in der Lebenserwartung profitieren. Der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen den Personen im niedrigsten und im höchsten 1 % der Einkommensverteilung beträgt in den Vereinigten Staaten bis zu 12,35 Jahre (Chetty et al., 2016). Eine solche Spreizung der durchschnittlichen Lebenserwartung unterstützt erneut das Argument, dass wir die Mechanismen, die solche Schwankungen bewirken, besser verstehen müssen, um zukünftige Trends positive zu beeinflussen. Die Alternsforschung muss dementsprechend ihre Bemühungen intensivieren, die Bedingungen und Mechanismen zu entschlüsseln, die die positive Plastizität des Alterns unterstützen.

Ein Paradigmenwechsel in der Alternsforschung durch Fokussierung auf die positive Plastizität menschlichen Alterns

Diese Erfolgsgeschichte des historisch beispiellosen Anstiegs der durchschnittlichen (und funktionell gesunden) Lebenserwartung illustriert eine einzigartige Fähigkeit der menschlichen Spezies, die uns die Evolution mitgegeben hat, nämlich die eigene Entwicklung und das eigene Altern zu beeinflussen, indem wir physische und soziale Umgebungen (einschließlich unserer Verhaltens- und Lebensweisen) schaffen oder verändern, die dann durch die erfolgende Anpassung Effekte auf den Alternsverlauf ausüben. Anthropologen unterscheiden drei Arten von Anpassungsfähigkeit: erstens die adaptive Selektion, wie sie von Darwin beschrieben wird, zweitens die reversible „Akklimatisierung“ an Kontextbedingungen und schließlich drittens die dauerhafte Veränderung der Entwicklung des Individuums, die als „Plastizität“ bezeichnet wird (Lasker, 1969, S. 1484). Lasker (1969) argumentiert weiter, dass es eine evolutionäre Tendenz geben könnte, die die menschliche Anpassungsfähigkeit von der genetischen Selektion über die genetische Plastizität zur reversiblen Anpassungsfähigkeit verschiebt, wodurch insgesamt eine größere Widerstandsfähigkeit gegenüber kontextuellen Veränderungen erreicht wird, da Anpassungen zwischen Generationen oder sogar innerhalb eines Lebens reversibel werden.

Die Psychologie der Lebensspanne hat die Plastizität, d. h. das Modifikationspotenzial, menschlicher Entwicklung und Alterung als ein konstitutives Merkmal der menschlichen Entwicklung und des Alterns beschrieben. Sie umfasst beides: Laskers ontogenetische Plastizität und die reversible Anpassung. Dieses Modifikationspotential ergibt sich aus der Tatsache, dass menschliche Entwicklung und Alterung weder biologisch noch kontextuell bestimmt sind, sondern vielmehr als ein probabilistischer Prozess betrachtet werden müssen (P. B. Baltes et al., 2006, 1980; Lerner, 1984). Das in Abb. 1 dargestellte Dreiebenenmodell menschlichen Alterns illustriert dieses Konzept der Plastizität. Entwicklung und Altern sind das Ergebnis fortlaufender Interaktionen zwischen Organismus, Kontext und Person, die innerhalb biologisch und kontextuell festgelegter Grenzen das Potenzial für Veränderung schaffen. In Ergänzung zu klassischen Formulierungen der Lebensspannenpsychologie, welche die Interaktion zwischen Biologie und Kontext in den Mittelpunkt gestellt haben (z. B. P. B. Baltes et al., 1980), fügen wir hier explizit die Person, als Gestalter der eigenen Entwicklung, als dritten Einfluss hinzu. Die drei Ebenen haben gleiches Gewicht. Abb. 1 macht deutlich, dass jede Ebene wiederum als ein System mit mehreren eigenen Ebenen konzipiert werden muss. Für Organismus und Person spiegeln diese Ausdifferenzierungen eine zunehmende Komplexität wider. Was den Kontext anbelangt, so befassen sich die drei Ebenen mit verschiedenen Arten von Kontexteinflüssen und nicht mit einer Hierarchie zunehmender Komplexität, die von objektiv messbaren Merkmalen der Umwelt (z. B. Luft- oder Wasserqualität, Lärm, Giftstoffe, Bevölkerungsdichte, Zugang zu Grünflächen) bis hin zu sozialen Kontexten in Form von unmittelbaren sozialen Beziehungen wie Familie oder Freunden, aber auch Nachbarn oder Kollegen und Menschen auf der Straße, aber auch Institutionen (z. B. Arbeitsmarkt, Bildungs- und Gesundheitssystem), Gesetzen und politischen Systemen sowie gesellschaftlichen Werten und Normen reicht.

Abb. 1
figure 1

Menschliches Alterns als dynamisches System mit mehreren Ebenen (aufbauend auf Staudinger, 2015, 2020; Lindenberger et al., 2006)

Mehrere Bereiche psychologischer Forschung beschreiben, erklären und prognostizieren das Verhalten einer Person und ihr/e Entwicklung/Altern. Erstens gibt es drei grundlegende Bereiche psychologischer Funktionen, Kognition, Emotion und Motivation und deren Wechselwirkungen. Zweitens sind diese drei Bereiche Bausteine für Einstellungen und Entscheidungen. Einstellungen sind definiert als „eine relativ dauerhafte Organisation von Überzeugungen [Kognition], Gefühlen [Emotionen] und Verhaltenstendenzen [Motivation] gegenüber sozial bedeutsamen Objekten, Gruppen, Ereignissen oder Symbolen“ (Hogg & Vaughan, 1995, S. 150), die Entscheidungen beeinflussen, die dann wiederum das Verhalten (willentlich und nicht willentlich) bestimmen. Wenn Entscheidungen und daraus resultierende Verhaltensweisen viele Male wiederholt werden, bilden sich Gewohnheiten aus, die in der Folge zunehmend von Einstellungen und bewussten Entscheidungen abweichen können.

Die Komplexität der Interaktionen zwischen diesen drei Analyseebenen, d. h. Organismus, Person und Kontext, sowie innerhalb jeder der drei Ebenen, lässt sich am besten mithilfe der Theorie dynamischer Systeme modellieren. Hierbei gilt es zu berücksichtigen, dass Interaktionen auf verschiedenen Ebenen nicht nur zu einem Zeitpunkt, sondern auch im Zeitverlauf stattfinden (Li, 2003). Diese Dynamik umfasst mindestens drei diachrone Rhythmen, d. h. die Mikrogenese (Änderungen von Moment-zu-Moment), die Ontogenese (Entwicklungsperioden im Lebensverlauf) und die Phylogenese (Epochen der menschlichen Geschichte). Um unser Verständnis der Wechselbeziehungen zwischen diesen verschiedenen Rhythmen zu verbessern, bedarf es geeigneter Mess- und Analyseparadigmen, die aus verschiedenen Disziplinen kommen, von der Genomanalyse, Proteomik oder Metabolomik und Techniken zur Verhaltensverfolgung bis hin zur Modellierung dynamischer Systeme und zur Analyse großer Datenmengen (Boker et al., 2009).

Es ist interessant, dass in jüngster Vergangenheit sowohl die gerowissenschaftliche Bewegung (et al., 2014) als auch die molekulare Epidemiologie die Notwendigkeit erkannt haben, nicht-biologische Einflüsse auf die Gesundheit (und das Altern) systematisch zu berücksichtigen, und zu diesem Zweck das Konzept „Exposom“ eingeführt haben (Wild, 2012). Auch wenn Biowissenschaften und Epidemiologie unterschiedliche Terminologie und Methoden verwenden und den Schwerpunkt auf Alternspathologie statt auf Entwicklung und Wachstum legen, teilen sie das Ziel, ein umfassenderes Modell menschlichen Alterns zu entwickeln.

Der Begriff der positiven Plastizität

Die Plastizität menschlichen Alterns ist als solche ein neutrales Merkmal, das sowohl positive (erhöhtes Funktionsniveau) als auch negative (vermindertes Niveau) längerfristige Abweichungen von den typischerweise beobachteten Entwicklungsverläufen umfasst (Staudinger et al., 1995). Bei der Bestimmung des Grades der Plastizität müssen längerfristige Abweichungen von Entwicklungsbahnen (also Entwicklung zweiter Ordnung) von kurzfristig fluktuierenden Abweichungen unterschieden werden, ebenso wie Entwicklung (1. Ordnung) und Fluktuation voneinander getrennt werden. Die Kombination eines Measurement Burst Designs mit einem klassischen Längsschnittdesign (z. B. jährliche Erhebungen) und die Verwendung von Wachstumsmodellen erlaubt es den Forschern, die Beziehung zwischen intraindividueller Variabilität und Längsschnittänderung im latenten Raum abzuschätzen und somit zu verlässlichen Änderungsschätzungen zu kommen (z. B. Salthouse & Nesselroade, 2010).

Sobald negative Abweichungen vom typischen Alternsverlauf die Schwelle zur Dysfunktionalität überschreiten, rücken sie in den Fokus der Forschung in der klinischen Psychologie und der Medizin, um sowohl Behandlungen als auch präventive Maßnahmen zu entwickeln. Die Forschung zu negativer Plastizität informiert jedoch nicht unbedingt darüber, wie das Potential zu positiver Plastizität stimuliert werden kann. Schwächen und Pathologie zu verstehen ist nicht gleichbedeutend mit dem Verständnis, wie man Stärken am besten fördert (Aspinwall & Staudinger, 2003). In der Beschäftigung mit positiver Plastizität müssen zwei weitere Konzepte voneinander unterschieden werden: Widerstandsfähigkeit (Resilienz) und Wachstum. Der Begriff der Widerstandsfähigkeit bezeichnet eine positive Plastizität, die die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit unter belastenden Umständen (z. B. Arbeitslosigkeit, Krankheit, Witwenschaft) unterstützt und in jüngster Zeit auch in der medizinischen Forschung Beachtung gefunden hat (Whitson et al., 2016). Wenn jedoch die Ressourcen einer Person eine positive Abweichung vom typischen Entwicklungsverlauf unterstützen (mit oder ohne Vorhandensein von Stressoren), wird diese Art der positiven Plastizität als Wachstum bezeichnet (Carver, 1998; Staudinger & Greve, 2016; Staudinger et al., 1995).

Die Richtung und der Grad der beobachteten Plastizität hängen von den Vulnerabilitäten und Ressourcen ab, die den internen (genetischen, psychologischen) und externen (soziokulturellen, physischen) Entwicklungskontext einer Person charakterisieren (P. B. Baltes et al., 1980; Lerner, 1984; Staudinger et al., 1995). Die Konstellationen von Vulnerabilitäten und Ressourcen und ihre Kumulation über die Zeit sind von Mensch zu Mensch verschieden. Hieraus ergibt sich, dass es notwendig ist, Plastizität auch hinsichtlich ihrer Personalisierung zu erforschen. Die Anwendung des Personalisierungsparadigmas im Kontext von positiver Plastizität unterstreicht die Notwendigkeit zu untersuchen, welche längsschnittlichen Muster aus biologischen, psychologischen und kontextuellen Ressourcen die Plastizität des Alterns für welche Gruppe von Personen am besten erschliessen. Im Gegensatz zum Begriff der personalisierten (oder Präzisions-)Medizin (Hodson, 2016) der die genetischen Unterschiede zwischen Individuen in den Vordergrund stellt, zielt personalisierte Plastizität darauf ab, biologische, psychologische, soziokulturelle und physische Merkmale der Umwelt sowie deren Wechselwirkungen bei der Personalisierung zu berücksichtigen. Sicherlich wurden interindividuelle Unterschiede im Altern und in den Risiken und Ressourcen, die das Altern beeinflussen, unter dem Etikett „differentielles Altern“ auch schon früher berücksichtigt. Der Mehrwert des Begriffs „personalisierte Plastizität“ besteht darin, dass er die Veränderbarkeit des Alterns in den Mittelpunkt rückt und auf die Tatsache hinweist, dass die Unterstützung positiver Plastizität des Alterns nicht unbedingt der „Eine-Größe-für-Alle“ Regel folgt.

Positive Plastizität umfasst manifeste und latente Komponenten. Die manifeste Komponente hängt von den internen und externen Ressourcen ab, die einer Person zu einem gegebenen Zeitpunkt zur Verfügung stehen. Sie wird durch nachhaltige intraindividuelle Unterschiede im Funktionsniveau im Verlauf der Zeit angezeigt oder durch interindividuelle Unterschiede von Alternsverläufen angenähert. Darüber hinaus erlaubt die Beobachtung von Unterschieden in Alternsverläufen zwischen Ländern und Geburtskohorten, das Ausmaß der Plastizität in Abhängigkeit von soziokulturellen, ökologischen und historischen Unterschieden abzuschätzen. Latente Komponenten positiver Plastizität bezeichnen hingegen Veränderungen in Alternsverläufen, die vom Erwerb neuer Ressourcen oder der Stärkung verfügbarer Ressourcen abhängen. Auch wenn das Ausmaß der im Prinzip möglichen positiven Plastizität über den Lebensverlauf hinweg abnimmt, bleibt sie während des gesamten Lebens erhalten, es sei denn, schwere pathologische Prozesse greifen ein. So ist beispielsweise im Falle der Alzheimer-Demenz die Fähigkeit, von kognitivem Training zu profitieren, stark eingeschränkt (M. M. Baltes et al., 1995), aber nicht vollständig verloren (Bahar-Fuchs et al., 2019).

Vor diesem Hintergrund sollte die Alternsforschung ihre Anstrengungen intensivieren, die Bedingungen identifizieren und zu untersuchen, unter denen mehr positive Plastizität des Alterns erschlossen werden kann. Es gilt die Konstellationen soziokultureller und physischer Kontextmerkmale, Verhaltensmuster und biologischer Voraussetzungen, die dazu beitragen, das Altern für möglichst viele Individuen zu optimieren, zu erforschen. Der oben beschriebene historische Anstieg der durchschnittlichen und der (funktionell) gesunden Lebenserwartung sind zwei Belege dafür, dass menschliches Altern in der Tat durch positive Plastizität gekennzeichnet ist. Im Folgenden werden weitere empirische Belege für diese positive Plastizität vorgestellt und zwar in den Bereichen des kognitiven Alterns und des Alterns der Persönlichkeit.

Positive Plastizität des kognitiven Alterns: Potential und Grenzen

Kognitives Altern. Es ist bekannt, dass die fluide Intelligenz (Horn & Cattell, 1967) oder die kognitive Mechanik (P. B. Baltes et al., 2006), mit der man die biologischen Grundlagen der Kognition, wie die Anzahl der Neuronen, der synaptischen Verbindungen und der metabolischen Gehirnfunktion bezeichnet, mit zunehmendem Alter abnimmt, was man auf der Verhaltensebene anhand der nachlassenden Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung, der exekutiven Funktion, des logischen Denkens oder des Gedächtnisses feststellen kann. Anhand von Querschnitts- und Längsschnittuntersuchungen ist bekannt, dass der kognitive Abbauprozess schon ab etwa Alter 25 beginnt (Salthouse, 2004). Positivere Verläufe, die aus Längsschnittstudien abgeleitet wurden, sind auf Übungseffekte aufgrund wiederholter Testung sowie auf die zunehmende positive Selektivität der Stichproben von Längsschnittstudien über die Zeit hinweg zurückzuführen (Singer et al., 2003).

Kognitives Altern ist mit Veränderungen in der Struktur und der Funktion des Gehirns verbunden. Es konnten Zusammenhänge mit einem allgemeinen Volumenverlust an weißer und grauer Gehirnsubstanz sowie mit Veränderungen in der Neuromodulation und in neuronalen Netzwerken nachgewiesen werden (Kalpouzos et al., 2012; Raz et al., 2005). Das Ausmaß des Rückgangs variiert je nach Hirnregion. Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass bessere Leistungen der Exekutivfunktionen mit einem größeren Volumen an grauer Substanz im präfrontalen Kortex verbunden sind, dass die Schrumpfung des Hippocampus Altersunterschiede im episodischen Gedächtnis vermittelt und dass höhere Verarbeitungsgeschwindigkeit mit mehr grauer Substanz in der frontalen, parietalen und okzipitalen Region verbunden ist (Salthouse, 2011).

Das Paradigma der positiven Plastizität fragt nun, ob und unter welchen Umständen und in welchem Ausmaß dieser Verlauf des altersbedingten Rückgangs der kognitiven Mechanik modifizierbar ist. Veränderungen können im Prinzip an drei Bestimmungsgrößen eines zeitlichen Verlaufs festgemacht werden: dem Mittelwert der Leistungen über die Zeit, dem Scheitelpunkt der Kurve und der Steilheit des Rückgangs. Drei Forschungsmethoden bei der Untersuchung möglicher Veränderungen dieser Bestimmungsgrößen eine wichtige Rolle: i) Vergleiche von Geburtskohorten; ii) Vergleiche von Ländern in verschiedenen Phasen ihrer soziokulturellen Entwicklung; iii) experimentelle und quasi-experimentelle Evidenz. Das Paradigma der positiven Plastizität des Alterns reicht also über die Komfortzone der Psychologie hinaus, die sich traditionell auf das Individuum konzentriert, und schließt auch eine Makro-Perspektive ein, die Länder als Untersuchungseinheit in den Blick nimmt, wie es üblicherweise von der Demographie, Wirtschaft oder Soziologie getan wird.

Kohortenverbesserungen kognitiven Alterns/kognitiver Leistung. Zunächst betrachten wir Belege für die Verbesserung der durchschnittlichen kognitiven Leistungsfähigkeit im Vergleich von Geburtskohorten. Die bahnbrechende Seattle Längsstudie (z. B. Schaie, 1996) zeigte, dass sich über einen Zeitraum von 50 Jahren (Geburtsjahrgänge 1890–1940) das Niveau der kognitiven Leistungsfähigkeit in einer Reihe von kognitiven Tests um 1,5 Standardabweichungen verbesserte. Dies ist ein beeindruckender Hinweis auf die positive Plastizität kognitiver Leistung, die auch als Flynn-Effekt bezeichnet wird. Als Grund für diese Kohortenverbesserung wird die soziokulturelle und ökonomische Entwicklung von Gesellschaften genannt, wie sie sich beispielsweise in einem verbesserten Gesundheitssystem und proteinreicherer Ernährung in den frühen Lebensjahren, Verbesserungen im Bildungssystem, modernen Erziehungsstilen, aber auch der Zunahme digitaler Medien, komplexerer Arbeitsplätze und mehr Freizeit, die kognitiv anspruchsvollen Beschäftigungen gewidmet wird, widerspiegelt (Flynn, 1987; Trahan et al., 2014). Es gab in jüngster Vergangenheit einige Hinweise darauf, dass der Flynn-Effekt zum Stillstand gekommen sein könnte. Solche Ergebnisse müssen jedoch mit Vorsicht interpretiert werden, da sich die Referenzpopulationen, die zur Bewertung des Effekts herangezogen werden, im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung verändert haben (z. B. durch die Einstellung der Wehrpflicht oder die Zunahme von Migrantenpopulationen mit geringeren Sprachkenntnissen; Skirbekk et al., 2013).

Ursprünglich bezeichnete der Flynn-Effekt die Verbesserung des kognitiven Leistungsniveaus im frühen Erwachsenenalter, aber in jüngerer Zeit wurde festgestellt, dass sich diese Verbesserungen auch im mittleren und späteren Erwachsenenalter feststellen lassen (Gerstorf et al., 2015; Skirbekk et al., 2013). Es gibt Grund zu der Annahme, dass diese Verbesserungen der kognitiven Leistungen von Kohorte zu Kohorte in der zweiten Lebenshälfte noch anhalten oder gar ausgeweitet werden auch wenn die positive kognitive Plastizität im frühen Erwachsenenalter bereits „ausgereizt“ ist. Der Grund ist, dass die mit der Lebensverlängerung verbundenen soziokulturellen Veränderungen erst am Anfang stehen und in den nächsten Jahrzehnten noch ausgebaut werden und so weiterhin positive kognitive Plastizität in der zweiten Lebenshälfte aktivieren werden. Um das Ausmaß der gesellschaftlichen Auswirkungen solcher kognitiver Leistungszuwächse von Kohorte zu Kohorte zu veranschaulichen, ist es aufschlussreich, sie auf die Bevölkerungsebene zu projizieren. So wird beispielsweise das Vereinigte Königreich im Jahr 2040 im Durchschnitt ein höheres kognitives Leistungsniveau aufweisen als heute, obwohl es dann kalendarisch älter sein wird (Skirbekk et al., 2013). Mit anderen Worten: Die soziokulturellen Strukturen (z. B. Bildung, Gesundheit, Arbeitsmarkt), die mit einem erhöhten durchschnittlichen kognitiven Leistungsniveau der Bevölkerung verbunden sind, gleichen den altersbedingten kognitiven Rückgang nicht nur aus, sondern überkompensieren ihn sogar.

Länderunterschiede in kognitiven Leistungen im Alter. Zweitens gibt es Belege aus Studien, die kognitive Leistungen in der zweiten Lebenshälfte in verschiedenen Ländern miteinander vergleichen. Solche Studien liefern zwar nur eine grobe querschnittliche Annäherung der Alterungsverläufe und können daher nur als ein erster Schritt betrachtet werden, doch ist dies ein Anfang, um die gewaltige Aufgabe der Untersuchung soziokultureller Einflüsse auf das kognitive Altern in Angriff zu nehmen.

Sozioökonomische Länderunterschiede. Dank großer Anstrengungen zur Harmonisierung großangelegter Bevölkerungsumfragen auf der ganzen Welt ist es nun möglich, kognitive Leistungsniveaus und manchmal sogar kognitive Alternsverläufe in vielen Ländern der Welt miteinander zu vergleichen. Zu solchen vergleichbaren Untersuchungen älterer Erwachsener gehören zum Beispiel die English Longitudinal Study of Aging (ELSA), die Health and Retirement Study (HRS), die Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) über das globale Altern und die Gesundheit von Erwachsenen (SAGE) und der Survey of Health, Aging and Retirement in Europe (SHARE). Zusammen decken diese Studien 45,5 % der Weltbevölkerung über 50 Jahre ab. In allen Ländern wurden für den Altersbereich von 50 bis 85 Jahren statistisch signifikante negative Altersunterschiede beim episodischen Gedächtnis (d. h. der Erinnerung an Worte einer Liste, die man gerade gehört hat) festgestellt. Aber es gab auch enorme Unterschiede zwischen den Ländern: Ältere Erwachsene in den Vereinigten Staaten sowie in den nord- und mitteleuropäischen Ländern hatten die höchsten kognitiven Leistungen, während Personen gleichen Alters in Südeuropa, China, Indien und Mexiko schlechter abschnitten. Die durchschnittliche Gedächtnisleistung der 70-Jährigen in den Vereinigten Staaten war höher als die durchschnittliche Leistung der 50-Jährigen in Indien oder China. Solche Unterschiede machen das Ausmaß der länderspezifischen Spreizung deutlich. Dasselbe kalendarische Alter ist in Ländern, die sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklungsphasen befinden, mit unterschiedlichen kognitiven Leistungsniveaus assoziiert (Skirbekk et al., 2012). Die Autoren vermuten, dass die Ausweitung des Bildungssystems, die Zunahme kognitiv stimulierender Berufe sowie das allgemeine Niveau der Informationsexposition im Alltag zu den Treibern dieser Länderunterschiede gehören. Und in der Tat gibt es Studien, die zeigen, dass Bildung, vermittelt über die mit Lernen verbundene kognitive Stimulation, mit einer erhöhten neokortikalen synaptischen Dichte verbunden ist.

Kulturelle Unterschiede: Das Beispiel von Geschlechterrollen. Über soziostrukturelle Länderunterschiede hinaus gibt es auch erste Hinweise auf die Bedeutung kultureller Einflüsse wie etwa die sozialer Normen auf den Alterungsverlauf der Kognition. Insbesondere wurde festgestellt, dass sich die gesellschaftliche Norm der Gleichberechtigung von Männern und Frauen im Vergleich zur traditionellen Geschlechterrolle positiv auf kognitive Leistungen im späteren Leben auswirkt. Dies gilt insbesondere für Frauen, aber in geringerem Maße auch für Männer. Es hat sich gezeigt, dass Geschlechtsunterschiede in der Kognition im Zusammenhang mit dem lebenslangen Zusammenspiel von biopsychosozialen Einflüssen zu sehen sind. Die sozial-kognitive Theorie der Entwicklung der Geschlechtsidentität legt nahe, dass Geschlechtsrollen dabei eine wichtige vermittelnde Rolle spielen. Um solche Überlegungen zu testen, bezog eine ländervergleichende Analyse von Geschlechtsunterschieden kognitiver Leistungen in der zweiten Lebenshälfte Stichproben aus 27 Ländern ab 50 Jahren (N = 226.661) ein. Das Ergebnis zeigte in der Tat, dass ältere Frauen in solchen Ländern bessere kognitive Leistungen hatten, die sich durch gleichberechtigte Geschlechterrollen auszeichnen (Bonsang et al., 2017). Dieses Ergebnis war robust sowohl gegenüber Kohortenunterschieden als auch gegenüber Annahmen umgekehrter Kausalität. Teilweise wurden diese Länderunterschiede durch die Bildungs- und Erwerbsbeteiligung von Frauen vermittelt. Dies ist ein erster Hinweis darauf, dass auch soziale Normen als wichtiger, „unsichtbarer“ Teil des soziokulturellen Kontextes helfen können, positive Plastizität zu erschließen oder zu behindern.

Einfluss der physischen Umwelt auf kognitives Altern. Die meisten Erkenntnisse in diesem Forschungsbereich haben sich bisher auf den Nachweis negativer Plastizität konzentriert. Beispielsweise haben Längsschnittstudien Zusammenhänge zwischen beschleunigtem kognitivem Altersabbau und kumulativen Effekten von Luftverschmutzung (Power et al., 2016) oder von Bleiexposition im Wohnbereich (Shih et al., 2007) gefunden. Wohnungen mit Sonnenmangel, häufig ein Merkmal von billigeren Wohnungen, können zu Vitamin-D-Mangel führen, der wiederum mit kognitiven Beeinträchtigungen in Verbindung steht (Llewellyn et al., 2010). Außerdem ist Umgebungslärm als Einflussgröße zu berücksichtigen, der mit erhöhtem Stressniveau verbunden ist, was nachweislich negative Auswirkungen auf Lernen und Gedächtnis hat durch Neurodegeneration und Umstrukturierungen im Hippocampus (McEwen & Gianaros, 2011). Ganz im Sinne des Paradigmas der positiven Plastizität fanden Studien kürzlich heraus, dass Naturerfahrungen eine Ressource für kognitive Funktionen darstellen, die hauptsächlich durch verbesserte Aufmerksamkeit und Stressreduktion vermittelt werden (Bratman et al., 2012).

Grenzen der kognitiven Plastizität. Obwohl das kognitive Leistungsniveau im Alter in den meisten Ländern gestiegen ist, zeigen jüngste Studien eine Verlangsamung der Kohortenzugewinne oder sogar einen Rückgang kognitiver Leistungen beim Vergleich von sukzessiven Kohorten in wirtschaftlich weiterentwickelten Ländern. Daher verdienen die Trends und Determinanten von Kohortenzugewinnen in der kognitiven Funktionsfähigkeit älterer Menschen und die Frage, ob sich diese Kohortenzugewinne in den meisten fortgeschrittenen Ländern tatsächlich abflachen, eine eingehendere Untersuchung. Auf der Grundlage von Daten aus dem Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE), die von Personen im Alter zwischen 50 und 84 Jahren, aus zehn europäischen Ländern zwischen 2004 und 2013 (N = 92.739), erhoben wurden, wurde festgestellt, dass sich die Gedächtnisleistung (Erinnern von Wortlisten) in allen Ländern zwischen 2004 und 2013 signifikant verbessert hat (Hessel et al., 2018) (zur Replikation siehe Ahrenfeldt et al., 2018). Allerdings waren die Kohortengewinne in Ländern mit anfänglich höherem Leistungsniveau deutlich geringer. Diese Ergebnisse waren robust, wenn für Retesteffekte und die Regression zum Mittelwert kontrolliert wurde. Auch waren keine Deckeneffekte in den Daten vorhanden. Es konnte gezeigt werde, dass Veränderungen der sozio-demographischen und gesundheitlichen Bedingungen, wie etwa die Abnahme von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die Zunahme der Arbeitsmarktbeteiligung (bei Männern), der körperlichen Aktivität und des Bildungsniveaus, mit größeren säkularen Kohortenzugewinnen verbunden waren. Diese Ergebnisse lassen sich unterschiedlich interpretieren: In ökonomisch weiter entwickelten Ländern könnte man sich i) tatsächlich den biologischen Grenzen der kognitiven Plastizität annähern, und deshalb werden die Kohortenzugewinne geringer, oder ii) die gesellschaftlichen Strukturen zur Ausgestaltung der zweiten Lebenshälfte, die helfen die positive Plastizität kognitiven Alterns zu aktivieren, sind noch nicht genügend ausgebaut oder iii) es könnte auch eine Kombination aus diesen beiden Erklärungen sein (Hessel et al., 2018).

Kognitive Stimulation

Schließlich gibt es eine Vielzahl von Studien mit experimentellen oder quasi-experimentellen Designs, die ermutigende Hinweise darauf liefern, dass kognitive Stimulation und/oder die Steigerung der körperlichen Fitness die kognitive Leistungsfähigkeit bis ins hohe Alter verbessern (Leshner et al., 2017; Lindenberger, 2014; Simons et al., 2016). In diesem Zusammenhang werden unterschiedliche Formen der kognitiven Stimulation untersucht: i) Lernen von Strategien zur besseren Lösung kognitiver Aufgaben (d. h. [Gehirn-]Training), ii) wiederholte Bearbeitung und dadurch Übung kognitiver Aufgaben (mit und ohne Feedback; d. h. Übung), und iii) kognitive Stimulation in Alltagssituationen (Arbeit oder Freizeit). Der folgende Überblick über diese umfangreiche und noch weiterwachsende Literatur ist nicht umfassend, sondern hat das primäre Ziel die positive Plastizität des kognitiven Alterns weiter zu veranschaulichen. Der Überblick ist in drei Abschnitte gegliedert: Kognitives Training oder Übung, gesteigerte körperliche Fitness, kognitive Stimulation im Alltag.

Kognitives Training oder Übung. Seit den 1970er Jahren haben Studien zum kognitiven Training gezeigt, dass ältere Erwachsene ihre kognitive Leistung sowohl durch das Üben einer bestimmten Aufgabe (z. B. Gedächtnis, logisches Denken) als auch durch das Lernen von Strategien zur besseren Lösung der jeweiligen kognitiven Aufgabe verbessern können (P. B. Baltes & Willis, 1982). Zehn Jahre nach einem Training hatten sich solche Leistungsverbesserungen zwar wieder etwas zurückgebildet, aber sie waren nicht vollständig verschwunden, und sie konnten mit Hilfe von kurzen Auffrischungstrainings leicht wiederhergestellt werden (Willis & Nesselroade, 1990). Dies ist als Hinweis in Richtung auf eine Abschwächung des kognitiven Abbaus zu interpretieren. Die Trainingsliteratur zeigt jedoch auch, dass die Übertragbarkeit von Leistungsverbesserungen von trainierten auf untrainierte Aufgaben begrenzt ist. Das betrifft sowohl neue Aufgaben, die dieselbe kognitive Fähigkeit nutzen, als auch solche, die andere, aber verwandte kognitive Fähigkeiten erfordern (Noack et al., 2014). Eine multizentrische, klinische Studie bestätigte diesen stark eingeschränkten Trainingstransfer auf andere, nicht trainierte kognitive Aufgaben. Bei der Folgeuntersuchung nach 10 Jahren, zeigte sich jedoch, dass das Training von Verarbeitungsgeschwindigkeit, logischem Schließen und Gedächtnis positive Auswirkungen auf die selbstberichteten instrumentellen Aktivitäten des täglichen Lebens (IADL) hatte, nicht aber auf Tests des alltäglichen Problemlösens (Rebok et al., 2014). Trainingsstudien, die sich auf kognitive Kontrollprozesse konzentrieren, haben gezeigt, dass strukturierte und gehäufte Erfahrungen mit Aufgaben, die die exekutive Koordination von Fertigkeiten erfordern, wie beispielsweise komplexe Videospiele, Paradigmen des Aufgabenwechsels oder geteilte Aufmerksamkeitsaufgaben, zwar sofortige Verbesserungen bei intermediären Transferaufgaben zeigen, aber wiederum keinen weitreichenden Transfer im Vergleich zu aktiven Kontrollgruppen (Melby-Lervg et al., 2016).

Die vermittelnden Mechanismen, die solchen Trainingsgewinnen zugrunde liegen, sind noch nicht vollständig aufgeklärt. Teilweise scheinen sie kompensatorischer Natur zu sein, das heißt, dass Teilnehmer eine Strategie lernen, die ihnen hilft, eine bessere kognitive Leistung zu erreichen. So haben gehirnfunktionale, bildgebende Studien zum Beispiel gezeigt, dass die positiven Effekte des klassischen Gedächtnistrainings bei älteren Erwachsenen, die die Methode der Orte zur Verbesserung der Gedächtnisleistung verwenden (z. B. P. B. Baltes & Kliegl, 1992), hauptsächlich auf Veränderungen im visuellen Kortex beruhen, die auf die mnemotechnische Strategie ‚Methode der Orte‘ zurückgeführt werden können, die es erfordert, das zu erinnernde Wort an einem Ort zu visualisieren. Die Leistungsverbesserung steht bei älteren (im Vergleich zu jüngeren) Teilnehmern aber nicht im Zusammenhang mit Veränderungen in Hirnarealen, von denen bekannt ist, dass sie altersbedingt abnehmen, wie z. B. dem präfrontalen Kortex (Nyberg et al., 2003).

Gesteigerte körperliche Fitness. Seit den späten 1990er Jahren hat eine reiche und noch immer wachsende Anzahl von Studien einen moderat positiven Einfluss verbesserter aerober körperlicher Fitness auf die kognitiven Leistungen älterer Erwachsener (und Säugetiere im Allgemeinen), insbesondere auf Prozesse der exekutiven Kontrolle, gezeigt (Kramer & Colcombe, 2018). Studien, die die verhaltensbezogenen und neurophysiologischen Auswirkungen in Abhängigkeit von Art und Dauer des körperlichen Trainings untersuchen, sind jedoch immer noch selten. Eine 12-monatige Längsschnittstudie hat die Auswirkungen von Ausdauertraining, Koordinationstraining und von Entspannungstraining (als Kontrollgruppe) auf die kognitiven Funktionen (exekutive Kontrolle und Wahrnehmungsgeschwindigkeit) bei älteren Erwachsenen miteinander verglichen. Mit Hilfe von Ergo Spirometrie wurde die Veränderung oder Verbesserung der körperlichen Fitness überprüft. Die Ergebnisse zeigten, dass nach 6 Monaten Ausdauertraining (3 × 45 min pro Woche) die Wahrnehmungsgeschwindigkeit im Vergleich zur Kontrollgruppe zunimmt. Alle Trainingssitzungen fanden in Gruppen statt. Die gehirnphysiologische Bildgebung zeigte, dass verbesserte kognitive Funktion mit verringerter Aktivierung präfrontaler Hirnareale verbunden war. Dies sind Areale, die mit der Kontrolle kognitiver Prozesse in Verbindung gebracht werden und altersbedingt abnehmen (Voelcker-Rehage et al., 2011). Studien, die körperliches Fitnesstraining mit dem Training kognitiver Kontrollprozesse kombinieren, haben ergeben, dass die Kombination beider Trainingsarten noch wirksamer ist als jede der beiden allein (Hötting & Röder, 2013).

Auch wenn groß angelegte, gut kontrollierte prospektive Kohortenstudien, die den Einfluss der aeroben Fitness auf das kognitive Altern replizieren, noch fehlen, ist es sehr vielversprechend, dass sowohl Tier- als auch Humanstudien vorliegen, die Hinweise auf die biologischen Mechanismen liefern, die so scheint es den positiven Auswirkungen der aeroben Fitness auf die kognitive Leistung zugrunde liegen (Mandolesi et al., 2018). Diese Erkenntnisse helfen bei der Beantwortung der entscheidenden Frage, ob aerobe Fitness kognitive Leistung während der gesamten Lebensspanne, insbesondere aber im späteren Leben, durch eine Modifizierung der biologischen Mechanismen, die dem kognitiven Abbau zugrunde liegen, oder durch eine bessere Kompensation neurodegenerativer Prozesse erleichtert (Hötting & Röder, 2013). Es hat sich gezeigt, dass durch die Verbesserung der aeroben Fitness die folgenden biologischen Mechanismen ausgelöst werden: Neurogenese, Synaptogenese, Angiogenese, Gliogenese im Neokortex und Hippokampus; Modulation im Neurotransmissionssystem (Serotonin, Noradrenalin, Acetylcholin); erhöhte neurotrophe Faktoren (BDNF, IGF-1) (Mandolesi et al., 2018). Darüber hinaus spielen auch Muskel- und Knochenfunktionen eine wichtige Rolle bei dieser Vermittlung (Obri et al., 2018). Diese Erkenntnisse stimmen mit der Annahme überein, dass aerobes Training tatsächlich die biologischen Strukturen und Mechanismen verändert, die der altersgebundenen Neurodegeneration zugrunde liegen.

Personalisierte kognitive Plastizität. Genetische Veranlagungen beeinflussen die kognitive Leistung, insbesondere bei älteren Erwachsenen. In diesem Zusammenhang ist das Catechol-O-Methyltransferase-Gen (COMT: Methionin- (met) und Valin- (val) Allele) ein Kandidatengen, das mit exekutiven Funktionen assoziiert ist (Goldberg & Weinberger, 2004). Met-Allel-Träger zeigen eine etwa 40 % geringere präfrontale enzymatische Aktivität als Val-Allel-Träger (Chen et al., 2004), was mit geringerem Dopamin (DA)-Abbau im präfrontalen Kortex verbunden ist, der effizientere kortikale Verarbeitung unerstützt (Witte & Flel, 2012). Dementsprechend haben Met/Met-Allel-Träger Vorteile bei Aufgaben der exekutiven Funktion. Vor diesem HIntergrund konnte gezeigt werden, dass körperliches Ausdauertraining bei älteren Erwachsenen den größten Nutzen für die vulnerablere Gruppe der COMT val/val- und val/met-Allel-Träger hat (Pieramico et al., 2012; Voelcker-Rehage et al., 2015). Solche Ergebnisse unterstreichen, dass über den allgemeinen Effekt einer bestimmten plastizitätsaktivierenden Intervention hinaus der Grad der Effizienz einer bestimmten Intervention zwischen Untergruppen älterer Menschen variieren kann. Genetische Veranlagungen sind jedoch nur eine Art der Personalisierung. Idealerweise sollten längsschnittliche Muster aus sozioökonomischen Umständen, Merkmalen der Persönlichkeit und/oder Umweltexpositionen sowie deren kumulative Wechselwirkungen, berücksichtigt werden um zwischen Gruppen von Individuen zu unterscheiden und mögliche Moderationseffekte einer bestimmten Intervention zu testen. Dies erfordert komplexe statistische Techniken, die es erlauben, längsschnittliche, multivariate Moderationseffekte zu testen.

Kognitive Stimulation „im wahren Leben“: Arbeit und Freizeit als Beispiele. „Im wahren Leben“ bezeichnet Studien, die kognitive Stimulation durch alltägliche Aktivitäten wie das Erlernen einer neuen Sprache, das Spielen eines Musikinstruments oder während der Arbeit untersuchen (z. B. Hultsch et al., 1999; Park et al., 2014; Schooler et al., 1999). Umfangreiche Forschung hat die Hypothese der kognitiven Stimulation im Sinne des „Use it or Lose it“ (Hultsch et al., 1999) untersucht (siehe auch Denney, 1984), d. h. die Idee, dass kognitive Alterungsprozesse durch die Ausübung von alltäglichen Aktivitäten am Arbeitsplatz oder in der Freizeit abgepuffert werden können. Im Gegensatz dazu wird angenommen, dass das Fehlen eines solchen Engagements zu schnellerem und stärkerem kognitivem Abbau führt. In den letzten fünfzig Jahren hat die Forschung zur Hypothese der kognitiven Stimulation vielversprechende Ergebnisse gezeigt. Ältere Personen, die über einen längeren Zeitraum kognitiv stimulierende Freizeitaktivitäten ausüben und/oder in kognitiv anregenden Arbeitsumgebungen tätig sind, zeigen im Alter ein höheres Niveau kognitiver Funktionen und geringeren kognitiven Leistungsabbau. Es gibt korrelative Studien (z. B. Wilson et al., 2003), Längsschnittuntersuchungen (z. B. Bosma et al., 2002; Schooler et al., 1999) und auch experimentelle Arbeiten (Park et al., 2014; Stine-Morrow et al., 2008), die diese Annahme unterstützen. In Ergänzung zur ‚Use it or lose it‘-Hypothese zeigten experimentelle Studien, dass es insbesondere das Erlernen neuer Fähigkeiten und die Verarbeitung neuer Informationen zu sein scheinen, die den kognitiven Rückgang abfedern und die neuronale Effizienz in präfrontalen Bereichen des Gehirns erhöhen, die bekanntermaßen altersbedingter Neurodegeneration unterliegen (McDonough et al., 2015; Oltmanns et al., 2017). In diesem Sinne mag es sogar noch passender sein, von einem ‚Challenge it or Lose it‘ zu sprechen als von einem einfachen ‚Use it or Lose it‘.

Insbesondere der unterstützende Effekt kognitiver Stimulation während der Arbeit fand viel empirische Unterstützung, da bevölkerungsbezogene Längsschnittstudien verfügbar geworden sind, die es erlauben, die Wirkung kognitiver Stimulation auf kognitive Alternsverläufe zu untersuchen und gleichzeitig umfangreiche weitere Informationen über die Teilnehmer bereitstellen. So ist es möglich, komplexe statistische Kontrollen zu realisieren, um die Wahrscheinlichkeit zu minimieren, dass die Puffereffekte lediglich das Ergebnis von ursprünglich vorhandenen Unterschieden in der kognitiven Funktionsfähigkeit sind, die über die Zeit hinweg erhalten bleiben (Salthouse, 2007). In diesem Sinne konnte gezeigt werden, dass kognitiv stimulierende Berufe den altersbedingten Rückgang der kognitiven Funktionsfähigkeit im mittleren und späteren Erwachsenenalter abmildern können. Berufe mit höherer beruflicher Komplexität, insbesondere im Bereich des Umgangs mit Daten und mit Personen, sind mit höherer kognitiver Leistung und abgemilderten kognitivem Abbau sowie einem geringeren Risiko an Demenz/Alzheimer-Krankheit zu erkranken verbunden (Andel et al., 2005; Fisher et al., 2014).

So bahnbrechend die Untersuchungen zur beruflichen Komplexität auch sind, sie lassen die Frage unbeantwortet, welche spezifischen kognitiven Mechanismen dieser positiven Plastizität des kognitiven Alterns zugrunde liegen oder was mit Mitarbeitern geschieht, deren berufliche Tätigkeit durch geringe Komplexität gekennzeichnet ist. Daher könnte es nützlich sein, Berufsmerkmale zu identifizieren, die die kognitive Stimulation am Arbeitsplatz widerspiegeln, die jedoch enger mit spezifischen kognitiven Prozessen verknüpft sind und auch Arbeitnehmern mit weniger komplexen Tätigkeiten zugutekommen können. In diesem Zusammenhang wurde der Effekt der Verarbeitung neuer Informationen während der Arbeit, die auch auf niedrigeren Ebenen der Arbeitskomplexität stattfinden kann, untersucht. In einer Fall-Kontroll-Studie wurde bestätigt, dass die Veränderung der Arbeitsaufgaben bei gleichzeitig eher geringer Komplexität der Arbeitsaufgaben über ein Zeitfenster von 17 Jahren signifikante positive Auswirkungen auf das Volumen der grauen Gehirnsubstanz und die kognitive Funktion von Industriearbeitern mittleren Alters hatte. Insbesondere war eine höhere Anzahl an Veränderungen der Arbeitsaufgaben mit einer schnelleren Verarbeitungsgeschwindigkeit und einem besseren Arbeitsgedächtniss sowie mit einem größeren Volumen der grauer Gehirnsubstanz in den Hirnregionen verbunden, die mit Lernen verbunden sind und üblicherweise einen ausgeprägten altersbedingten Rückgang aufweisen. Daher kann die Einführung wiederkehrender Neuerungen am Arbeitsplatz als eine Intervention zur Aktivierung positiver Plastizität dienen, die dazu beiträgt, nachteilige langfristige Auswirkungen geringerer Komplexität der Arbeitsaufgaben abzufedern (Oltmanns et al., 2017). In einer Folgestudie wurde der Puffereffekt der Neuheitsverarbeitung am Arbeitsplatz bestätigt mit Hilfe von Längsschnittdaten von 4255 Teilnehmern der Health and Retirement Study (50 Jahre und älter), die 14 Jahre kognitiver Veränderungen abdeckten (Staudinger et al., 2020). Diese Replikation ist ermutigend, da sie auch eine andere Operationalisierung der Neuheitsverarbeitung am Arbeitsplatz verwendete. Diese Replikationsstudie nutzte das O*Net, eine Datenplattform, die laufend aktualisierte Informationen über die Arbeitsmerkmale von mehr als 1000 Berufen enthält.

Positive Plastizität des Alterns der Persönlichkeit

Altern der Persönlichkeit. Die Forschung zur positiven Plastizität des Alterns von Persönlichkeitsmerkmalen steckt noch in den Kinderschuhen, verglichen mit der Forschung über die positive Plastizität der kognitiven Funktionen. Es scheint weniger Grund zu geben, sie zu untersuchen, da im Bereich der Persönlichkeitsfunktionen nur wenige altersbedingte Trends mit dysfunktionalen Konsequenzen für das Alltagsleben beobachtet wurden. Eher das Gegenteil ist der Fall. Längsschnittstudien haben gezeigt, dass das mittlere Niveau der emotionalen Stabilität, der Gewissenhaftigkeit und der Verträglichkeit im Laufe des Erwachsenenlebens zunimmt (für eine Meta-Analyse siehe Roberts et al., 2006). Dieses positive Veränderungsmuster wurde für den größten Teil des Erwachsenenalters gefunden. Nur im hohen Alter (>80 Jahre) treten dann einige Dysfunktionalitäten zu Tage. Die wenigen Längsschnittstudien, die auch diese letzte Lebensphase abdecken, zeigten meist einen umgekehrten Trend, da Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit und emotionale Stabilität abnahmen (Mõttus et al., 2012). Es gibt jedoch auch einige Studien, die auf Stabilität oder eine Zunahme der Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit und emotionalen Stabilität sogar noch gegen Ende des Lebens hindeuten (Lucas & Donnellan, 2011). Solche Unterschiede sind wohl im Zusammenhang mit Stichprobenverzerrungen zu sehen. Das positive Veränderungsmuster für Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit und emotionale Stabilität im größten Teil des Erwachsenenalters wurde in der Literatur auch immer wieder als Reifung (z. B. Roberts & Wood, 2006) oder vielleicht besser als Reifung hin zur Anpassung (Staudinger & Kunzmann, 2005) bezeichnet.

Im Bereich der Persönlichkeitsalterung gibt es nur einen Trend, der als dysfunktional angesehen werden kann, und zwar den Rückgang der ‚Offenheit für neue Erfahrungen‘. Die Offenheit nimmt von der frühen Adoleszenz bis zum Alter von 20 Jahren etwas zu, bleibt dann stabil und nimmt anschließend ab der Lebensmitte um eine Standardabweichung ab (Roberts et al., 2006). Mit zunehmendem Alter werden Erwachsene im Durchschnitt weniger verhaltensflexibel und zeigen eine abnehmende Motivation, nach neuen und vielfältigen Erfahrungen und Ideen zu suchen. Gleichzeitig zeigen Längsschnittstudien, dass Offenheit den üblicherweise beobachteten altersgebundenen kognitiven Rückgang abzuschwächen scheint (Luchetti et al., 2015). Der plastizitätsaktivierende Effekt der Offenheit auf das kognitive Altern scheint durch Engagement vermittelt zu werden (Hogan et al., 2012).

Positive Plastizität der Offenheit für neue Erfahrungen. Da Offenheit ein entscheidendes Merkmal ist, das sowohl das Lernen als auch den Kontakt mit einer sich ständig verändernden Welt unterstützt, könnte es nützlich sein, die Annahme zu testen, dass der Grad der Offenheit, der bei Erwachsenen ab Alter 50 beobachtet wird, positive Plastizität aufweist. Es gibt inzwischen einige experimentelle Nachweise, dass die positive Plastizität der Offenheit für neue Erfahrungen durch die Teilnahme an einer kognitiven Trainingsstudie aktiviert wurde (Jackson et al., 2012). Ebenso wurde festgestellt, dass ehrenamtliches Engagement im späteren Leben in Kombination mit einem 9-tägigen Kompetenztraining einen signifikanten Anstieg der Offenheit über 15 Monate hinweg in Höhe von etwa einer Standardabweichung erzielt hat. Dieser Zuwachs war festzustellen im Vergleich mit einer Kontrollgruppe von ehrenamtlich Tätigen, die auf der Warteliste für das Kompetenztraining standen, und blieb signifikant, wenn man für die kognitiven Veränderungen in diesem Zeitraum kontrollierte (Mühlig-Versen et al., 2012). Das Trainingsprogramm vermittelte den Freiwilligen Kompetenzen, die für die Freiwilligenarbeit relevant sind und die sie dabei unterstützen sollen, ihre eigenen persönlichen Freiwilligenprojekte in ihrer Nachbarschaft oder Gemeinde zu initiieren (z. B. praktische Organisations- und Managementfähigkeiten, persönliche Kompetenzen zur Bewältigung von Herausforderungen).

Dieser Effekt positiver Plastizität konzentrierte sich auf Teilnehmer mit einem über dem Median liegenden Grad an internen Kontrollüberzeugungen, also Personen, die sich als Verursacher der wichtigen Ereignisse in ihrem Leben wahrnehmen. Daher kann er als ein weiterer Hinweis auf personalisierte Plastizität gewertet werden. Über einen Zeitraum von 15 Monaten hat die Offenheit deutlich zugenommen (statt wie sonst beobachtet abgenommen), insbesondere bei älteren Personen, die glauben, ihr Leben beeinflussen zu können, und die gleichzeitig neuen Aufgaben und aufgabenspezifischem Training ausgesetzt sind. Dieser Interaktionseffekt steht im Einklang mit den Erkenntnissen, dass Erwachsene mit höheren internen Kontrollüberzeugungen besser von den Möglichkeiten profitieren können, weil sie aktiver sind, kontextbezogene Stressfaktoren besser abfedern können und mehr Lernmotivation zeigen (Lachman et al., 2011).

Soziokulturelle Ländermerkmale und positive Plastizität von Offenheit für neue Erfahrungen. Vom mittleren bis zum späteren Erwachsenenalter gehen die Erwerbsquote und die Teilnahme am lebenslangen Lernen in den meisten entwickelten Volkswirtschaften immer noch zurück, obwohl die Beschäftigung im späteren Erwachsenenalter im Vergleich zu den 1980er Jahren zugenommen hat (Staudinger et al., 2016). Dies ist besonders problematisch, da der Bedarf an kulturell-institutioneller Unterstützung, wie etwa durch berufliche Aktivitäten und Weiterbildung steigt, wenn das biologische Potenzial mit dem Alter abnimmt (P. B. Baltes et al., 2006). Eine kürzlich durchgeführte Studie prüfte die Annahme, dass die soziostrukturellen und soziokulturellen Ressourcen, die mit dem aktiven Engagement im späteren Leben zusammenhängen, die nationalen Unterschiede in den Alter ± Offenheitsverbänden nach dem 50. Lebensjahr erklären (Reitz et al., in Vorbereitung). Daten aus dem European Social Survey (29 Nationen, N = 25.152) ergaben insgesamt einen negativen Zusammenhang zwischen Alter und Offenheit, die jedoch erwartungsgemäß von Land zu Land stark und systematisch variierte. Länder mit mehr Möglichkeiten für Erwachsene im Alter von 50 Jahren und älter, an der Arbeitswelt, an Freiwilligen- und Weiterbildungsprogrammen teilzunehmen, wiesen einen weniger negativen Zusammenhang zwischen Alter und Offenheit oder gar keine Assoziation mit dem Alter auf. Es scheint, dass Gesellschaften, die das Engagement von Personen in der zweiten Lebenshälfte befördern, dazu beitragen, dass das Niveau der Offenheit aufrechterhalten bleibt und damit wiederum zu ihrer Lernfähigkeit und -bereitschaft beitragen. Neben strukturellen Einflüssen stellte sich heraus, dass auch das Ausmaß in dem ein negatives Altersstereotyp vorhanden war, mit ausgeprägteren negativen Altersunterschieden bei der Offenheit im späteren Erwachsenenalter in Verbindung stand. Man vermutet, dass negative Altersstereotype ihre Wirkung über den Mechanismus der selbsterfüllenden Prophezeiungen entfalten. In vielen Ländern besteht Konsens darin, dass ältere Erwachsene kaum noch in der Lage sind, alltägliche Aufgaben zu erledigen und zu lernen (North & Fiske, 2015). Die Verinnerlichung solch negativer Wahrnehmungen des Alters (Levy, 2009) trägt dann auch zu der typischerweise beobachteten Abnahme der Offenheit im Erwachsenenalter bei.

Weitere Beispiele für die positive Plastizität der Persönlichkeitsentwicklung im Alter

Quasi-experimentelle Studien zeigen, dass soziale Rollen eine wichtige Rolle bei der Persönlichkeitsanpassung im Erwachsenenalter spielen können (z. B. Heirat, Berufsförderung, chronische Krankheiten; Hutteman et al., 2014). In diesem Sinne sagt die Stabilität einer Ehe den Anstieg der Gewissenhaftigkeit bei Frauen im mittleren Alter vorher, während eine Scheidung einen Rückgang dieser Eigenschaft voraussagt (Roberts & Bogg, 2004). Oder ein Vergleich der Entwicklungsmuster von beförderten mit entlassenen Personen (Costa et al., 2000) zeigte, dass der Verlust des Arbeitsplatzes mit einer Abnahme der emotionalen Stabilität und der Gewissenhaftigkeit verbunden ist. In einer prospektiven Studie wurde der Ausbruch chronischer Krankheiten mit einer Abnahme der emotionalen Stabilität und der Gewissenhaftigkeit in Verbindung gebracht (Jokela et al., 2014). Es gibt also viele Hinweise darauf, dass kritische Lebensereignisse das Potenzial haben, Persönlichkeitsveränderungen auszulösen (Bleidorn et al., 2018).

Positive Plastizität menschlichen Alterns: Schlussfolgerungen und Herausforderungen

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es Beweise gibt (auch wenn sie noch nicht die ganze in Abb. 1 dargestellte Komplexität widerspiegeln), die den Grundsatz der positiven Plastizität des kognitiven Alterns unterstützen, und zumindest einige, die die positive Plastizität des Alterns der Persönlichkeit unterstützen. Da inzwischen harmonisierte länder- und kohortenvergleichende Längsschnittdatensätze verfügbar sind, ist es möglich geworden, auch die Grenzen der positiven Plastizität zu untersuchen. Und erste Hinweise haben gezeigt, dass sich die positiven Trends in bestimmten Ländern und für bestimmte Kohorten abzuflachen scheinen. Dieser Trend kann mehrfach interpretiert werden, von der Annäherung an die biologischen Grenzen bis hin zu einem unterentwickelten soziokulturellen Unterstützungsgefüge. Zukünftige Studien werden entscheiden, welche Interpretation oder welche Kombination am ehesten der Realität entspricht. Sowohl für die Persönlichkeit als auch für die Kognition scheint es, dass die Auseinandersetzung mit Neuem und mit Herausforderungen (z. B. Arbeitsaufgaben, körperliche Fitness, kritische Lebensereignisse) wichtige Auslöser für die Entfaltung von positiver Plastizität sind. Die Einsicht in die vermittelnden Mechanismen ist für die positive Plastizität des kognitiven Alterns (d. h. Kompensation, Reaktivierung) schon etwas fortgeschritten, steckt aber für die positive Plastizität des Alterns der Persönlichkeit noch in den Kinderschuhen. Es wurden auch erste – wenn auch unidimensionale – Belege gesammelt, die die Nützlichkeit des Konzepts der personalisierten Plastizität unterstreichen. Die empirische Umsetzung des Konzepts der personalisierten Plastizität ist allerdings keine leichte Aufgabe, da sie große repräsentative Datensätze erfordert, die die statistische Aussagekraft zur Erkennung von Moderationseffekten sowie fundierte theoretische Ansätze zur Ableitung von Moderationshypothesen liefern.

Kognition und Persönlichkeit wurden als Beispielsfälle ausgewählt, um die positive Plastizität des Alterns zu veranschaulichen. Es gibt jedoch auch Forschungsarbeiten, die positive Plastizität in anderen Bereichen des menschlichen Erlebens und Verhaltens untersuchen und gezeigt haben. Im Bereich der Selbstregulation gibt es beispielsweise Hinweise auf die positive Plastizität interner Kontrollüberzeugungen (d. h. Erwartungen an die persönliche Beherrschung und Umweltkontingente; Lachman et al., 2011), die sich als hoch funktional erwiesen haben und üblicherweise mit dem Alter abnehmen. Weitere Forschungsbereiche zur positiven Plastizität des Alterns sollen hier nur erwähnt werden. Dies sind beispielsweise die emotionale Funktionsfähigkeit, sozialen Beziehungen und soziale Unterstützung oder das Bewältigungsverhalten (Leipold & Greve, 2009).

Damit das Paradigma der positiven Plastizität sich weiterentwickeln kann, sind bevölkerungsbezogene kohorten- und länderbezogene Langzeit-Längsschnittdaten erforderlich, die neben Biomarkern auch ein reichhaltiges Set von Verhaltensmessungen, soziodemographischen (Ethnizität, Rasse, Geschlecht, SES) sowie soziokulturellen (z. B. Normen, Werte) Informationen und objektiv Informationen zur physischen Umwelt einer Person, wie z. B. das Niveau der Luftverschmutzung oder der Bleiexposition. Es sind solche mehrstufigen Längsschnittdaten in Kombination mit kreativen experimentellen Ansätzen unter Verwendung von Untergruppen, die es uns ermöglichen, ein tieferes Verständnis dafür zu gewinnen, wie die positive Plastizität des menschlichen Alterns am besten und effizientesten für möglichst viele Menschen genutzt werden kann. Auf der Grundlage solcher Erkenntnisse werden sehr spezifische und daher hoffentlich effektive Erkenntnisse zur Verfügung stehen, die in die Sozialpolitik, die in die Praktiken der Personalentwicklung und Entscheidungen über den Lebensstil einfließen können. Das Paradigma der positiven Plastizität des Alterns unterstreicht die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Überwachung von Alternsverläufen, um historische Trends zu erkennen, wobei die ethischen Fragen bezüglich des Schutzes der Privatsphäre angesprochen und gelöst werden müssen. Breite interdisziplinäre Zusammenarbeit auf Augenhöhe ist für den Erkenntnisfortschritt von entscheidender Bedeutung. Die (Lebensspannen-)Psychologie braucht Allianzen mit den Lebens-, Neuro- und Medizinwissenschaften sowie mit der Soziologie, Wirtschaftswissenschaft, Sozialgeschichte und Demographie des Lebenslaufs.

Warum hat es bisher nicht mehr Fortschritt gegeben? Sicherlich war und ist ein Hindernis die Verfügbarkeit von Längsschnittdatensätzen, die die Komplexität des Mehrebenenmodells (s. Abb. 1) abbilden, aber dies ist nicht das einzige Hindernis, das es zu überwinden gilt. Das Paradigma der positiven Plastizität hat hohe Ziele und birgt darüber hinaus eine Reihe von Herausforderungen, die angegangen werden müssen, damit substanzielle Fortschritte erzielt werden können (vgl. Staudinger, 2015): i) Universitätscurricula müssen ein Gleichgewicht zwischen disziplinärer Tiefe und interdisziplinärer Breite finden. Eine Grundlage für die interdisziplinäre Breite muss während des Promotionsstudiums geschaffen werden, und die Stärkung der interdisziplinären Fähigkeiten muss zu einem Standardbestandteil der Postdoc-Phase werden. ii) Es ist entscheidend, die Messinstrumente über die verschiedenen Ebenen (Organismus, Person, Kontext) hinweg zu verfeinern, einschließlich valider, zuverlässiger und skalierbarer Biomarker, indirekter Verhaltensmaße, beispielsweise (aber nicht nur) auf der Basis von Big Data, sowie genauere und allgemein verfügbare Messungen von Umweltbelastungen (Luftqualität, Lärm usw.) mit hoher geografischer Auflösung oder die umfassendere Messung soziokultureller Merkmale. Da solche Messinstrumente idealerweise weltweit verfügbar sein sollten, ist die Herausforderung immens und erfordert eine bisher in den Verhaltens- und Sozialwissenschaften noch nicht dagewesene Investitionen in die Forschungsinfrastruktur. Die Dimension solcher Investitionen ist jedoch vergleichbar mit den Investitionen, die in die globale Forschungsinfrastruktur im Bereich der Physik seit Jahren getätigt werden (z. B. Conseil Européenne pour la Recherche Nuclaire, CERN). Das Streben nach der Implementierung einer solchen Dateninfrastruktur ist für den Fortschritt in der Wissenschaft des Alterns und des Paradigmas der positiven Plastizität unerlässlich. iii) Statistische Methoden müssen weiterentwickelt und neu geschaffen werden, um verschiedene Arten von Daten zu berücksichtigen, die Kausalitätsbestimmung auf der Grundlage von Beobachtungsdaten zu verbessern und die typologische Verlaufsanalyse weiter zu verfeinern, um multivariate Ansätze sowie die Prüfung multivariater longitudinaler Moderationseffekte zu erlauben. iv) Es werden wirkungsvolle interdisziplinäre Publikationsograne benötigt, um Forschungsergebnisse, die auf der längsschnittlichen Interaktion zwischen Organismus, Person und soziokultureller sowie physischer Umwelt basieren, zu berücksichtigen. v) Schließlich ist auch die Weiterentwicklung einer Umsetzungswissenschaft erforderlich, die sich darauf konzentriert, wie die (personalisierten) Beweise für positive Plastizität genutzt werden können. Ähnlich wie in der Medizin und den Biowissenschaften (Handley et al., 2016) ist es nun an der Zeit, dass auch die Verhaltens- und Sozialwissenschaften die Umsetzung gut reproduzierter Evidenz zu einer eigenen Wissenschaft machen und eine systematische Analyse kritischer Barrieren und Vermittler anstreben. Diese Art der Umsetzungswissenschaft ist wahrscheinlich komplexer als diejenige, die sich in den Gesundheitswissenschaften entwickelt, da die Ziele der Umsetzung nicht nur auf das Gesundheitssystem ausgerichtet sind, sondern alle Aspekte der Gesellschaft wie das Bildungssystem, den Arbeitsmarkt oder die Stadtplanung umfassen. Dennoch können aus der gesundheitsbezogenen Implementierungswissenschaft Lehren gezogen werden.

Die vor uns liegenden Aufgaben scheinen überwältigend, doch lassen Sie mich mit einem optimistischen Ausblick schließen: Auch wenn wir noch am Anfang stehen zu wissen, wie wir die einzigartige positive Plastizität des Alterns erschließen können, ist der Weg für den Fortschritt geebnet und es sind in den letzten Jahren sehr vielversprechende Bausteine verfügbar geworden, die uns die nächsten Schritte ermöglichen werden.