Vollzieht man die Entwicklung der Familienserie seit den 1950er Jahren nach, lassen sich – wie unter 2 beschrieben – bestimmte Tendenzen aufdecken. Während in den 1950er und 1960er Jahren der Mythos der idealen Kernfamilie etabliert wurde, fanden in den 1970er Jahren kritischere Einflüsse ihren Weg in die Serienwelt, die in den 1980er Jahren einem Wiederaufleben traditioneller Motive wichen. In den 1990er Jahren bewegte sich die Serie wieder in Richtung der Dekonstruktion konservativer Strukturen. Diese Entwicklung brachte gegen Ende der 1990er Jahre zunehmend komplexe Serien mit sich, welche dann die 2000er Jahre dominierten. Es handelt sich folglich um eine Wellenbewegung, in der sich progressive und konservative Phasen abwechseln. Dekonstruktion folgt auf Rekonstruktion, wobei – in Bezug auf das unter 2.7 herangezogene Semiosphärenmodell – das Zentrum in sich konstant bleibt. Bestimmte Veränderungen, besonders hinsichtlich der Repräsentation der Geschlechter, von Minderheiten oder von nicht heterosexuellen Lebensweisen, bleiben dabei erhalten. Die Rekonstruktion ist also keine vollstände Wiederherstellung eines vorherigen Status, sondern eine Rückorientierung zu früheren Darstellungsformen unter Einbeziehung bestimmter Veränderungen bzw. die Integration bestimmter Aspekte in den inneren Bereich der Semiosphäre.

An welchem Punkt steht nun die Video-on-Demand-Serie? Das Medium Video-on-Demand erscheint – betrachtet man es als Dispositiv – aktuell dadurch progressiv, dass es sich zahlreichen vorherigen Konventionen der Serienproduktion entzieht. Hinsichtlich Distributions-, Produktions- und Rezeptionssituation lassen sich Veränderungen konstatieren. Das Angebot an Serien ist durch die Video-on-Demand-Anbieter nicht nur enorm gewachsen, es lässt sich auch eine deutliche Diversifizierung feststellen. Es ist fraglich, ob sehr spezielle Formate im konventionellen TV erfolgreich gewesen wären. Dabei sind Serien einzubeziehen, die zwar für TV-Sender produziert, aber über Video-on-Demand einem internationalen Publikum zugänglich gemacht wurden.Footnote 1 Auch die Strukturen der Narration haben sich verändert. Es lässt sich eine Abkehr von episodalen Strukturen hin zu einer kontinuierlichen Fortsetzungsnarration beobachten – eine Entwicklung, die bereits mit dem Aufkommen des Quality-TV eingeleitet wurde.

Abgesehen von Anthologie-Serien wie The Romanoffs verliert die Einzelhandlung der Episoden an Bedeutung, die Gesamtnarration und somit das Entwicklungspotenzial der Figuren rücken in den Vordergrund (vgl. 3.6).Footnote 2 Klassische narrative Trennungselemente wie der Cliffhanger verschwinden nicht, treten allerdings aufgrund des Binge-Watching-Trends in den Hintergrund.Footnote 3

Intuitiv ließen diese Entwicklungen auf inhaltliche Progressivität schließen. Denn schließlich lässt ein ‚neues‘ Medium, das auf inszenatorischer Ebene andere Wege geht, auch neue Erfahrungen und Inhalte erwarten. Zudem profitierte die Video-on-Demand-Serie von der Euphorie, die das Quality-TV Ende der 1990er Jahre und in den frühen 2000er Jahren umgab und die den Weg für den medialen Siegeszug der Serie ebnete. Die Serie ist das dominante narrative Unterhaltungsmedium des letzten Jahrzehnts. Wie diese Untersuchung allerdings – zumindest für das Feld der Familiendarstellung – ergeben hat, wäre es ein Trugschluss, aufgrund eines Wandels des Discours einen Wandel der Histoire zu erwarten. Dass die Serien des Korpus hinsichtlich der Inszenierung der Inhalte und der Darstellung der Charaktere ambivalenter und weniger eindeutig sind als die Mehrzahl der Serien der 1950er bis 1990er Jahre und somit als komplexer wahrgenommen werden können, lässt sich ohne Weiteres feststellen. Auch die Diversität in den familiären Problematiken hat zugenommen und viele ehemals tabuisierte Themenfelder werden mittlerweile verhandelt. Die Darstellungen sind zudem – einhergehend mit veränderten Sehgewohnheiten – drastischer geworden, beispielsweise in der Darstellung von Gewalt und Sexualität. Doch den Kern dessen, was in US-amerikanischen Video-on-Demand-Serien dargestellt wird, bildet nach wie vor der hier oft zitierte Mythos der Kernfamilie, welcher in den 1950er Jahren seinen Ursprung hat.

Abb. 4.1
figure 1

(mit VoD-Serie)

Semiosphäre ‚Familiendarstellung in Serie‘

In Rückbezug auf die oben abgebildete ‚Semiosphäre Familiendarstellung in Serie‘ (Abb. 4.1) ist die Familiendarstellung in der Video-on-Demand-Serie als organischer Teil der größeren Semiosphäre, zu verstehen. Betrachtet man sie für sich genommen, lässt sich hier keine bedeutsame Abweichung oder Entwicklung feststellen.

Trotz sukzessiver Diversifizierung der Weltmodelle kann ich – im Hinblick auf mein Analysekorpus – konstatieren, dass es sich bei aktuellen Video-on-Demand-Serienproduktionen um inhaltlich konservative Formate handelt. Dass bestimmte Topoi wie die bewusste Dekonstruktion von Idealen, z. B. durch die Problematisierung von Zwangsstrukturen und ehelichem Unglück, fester Bestandteil aktueller serieller Weltmodelle ist, stellt keinen Indikator für Progressivität dar. Es handelt sich um Faktoren, die bereits mit Serien der 1990er Jahre ihren Weg ins Fernsehen fanden und in den 2010er Jahren – vor allem über Zeichentricksitcoms – intensiviert wurden.Footnote 4 So wie Serien der 1980er Jahre der Progressivität der 1970er Jahre Rechnung trugen, werden diese Entwicklungen auch in aktuellen Serien aufgegriffen, den Kern der Handlung bildet jedoch stets das Streben nach familiärer Stabilität, nach Erhalt oder – häufiger – Wiederherstellung eines heteronormativen familiären Ideals. Das Zentrum der Semiosphäre bleibt weiterhin persistent. Es existieren zwar Serien wie The Marvelous Mrs. Maisel, Red Oaks und in Teilen The Romanoffs, welche eine Auflösung der Familie zulassen und sich von traditionellen Rollenbildern zumindest teilweise lösen. Diese stellen aber im untersuchten Korpus entweder Ausnahmen dar oder fügen sich in ihren zentralen Normsetzungen doch in den allgemeinen Tenor ein, dass ein Leben ohne familiären Zusammenhalt große intradiegetische Nachteile aufweist und eine Auflösung der Familie langanhaltende Problematiken mit sich bringt. Dass Serien wie Ozark, Atypical, The Ranch, Grace and Frankie, Transparent und viele weitere familiäre Konflikte aufzeigen, dass sie auf den ersten Blick Familie sogar dekonstruieren, bekräftigt – so widersprüchlich dies auch klingen mag – ein konservatives Familienbild. Diese Serien kehren stets zu eben jenem Familienbild zurück und legen es den Charakteren als Antrieb und zentrale Handlungsmotivation zugrunde. Dadurch wird jede Narration, die eine Auflösung der Familie begünstigt oder fördert, zu einem Gegenargument, das durch die zentrale Argumentation der Serie relativiert oder gar negiert wird. Die analysierten Serien arbeiten folglich mit dem einfachen rhetorischen Mittel der Vorwegnahme des Gegenargumentes, was in diesem Fall besagt, dass die Familie die Hauptquelle aller Lebensprobleme sei.

Trotz dieser Argumentation ist der Mythos der idealen Kernfamilie nicht mehr als ein Mythos. Je weiter er sich vom Zeitpunkt seiner Entstehung entfernt und je mehr er im Gegensatz zur außermedialen Realität steht, in der sich durchaus funktionale alternative Lebensmodelle finden, desto ‚leerer‘ wird er:

Im Sinn hat sich bereits eine Bedeutung herausgebildet, die durchaus sich selbst genügen könnte, wenn sich der Mythos nicht ihrer bemächtigte und aus ihr eine leere, parasitäre Form machte. Der Sinn ist bereits vollständig, er postuliert ein Wissen, eine Vergangenheit, ein Gedächtnis, eine geordnete Reihe von Tatsachen, Ideen, Entscheidungen. Indem er Form wird, verliert der Sinn seinen Zusammenhang; er leert sich, verarmt, die Geschichte verflüchtigt sich, er bleibt nur noch Buchstabe. (Barthes 2016: 262)

Vor allem durch das Beharren auf einer starren Form, im Sinne dieser Untersuchung eine bestimmte Darstellungsweise von Familie, welche aus dem sinnstiftenden und legitimierenden gesellschaftlichen Zusammenhang ihrer Entstehung gelöst wurde, und durch die Leugnung oder Marginalisierung von Alternativen kann der Mythos der Kernfamilie, so wie er medial vermittelt wird, als zunehmend ‚leer‘ bezeichnet werden. Der Widerspruch zwischen dem Kern der Semiosphäre, den dieser Mythos bildet und den Elementen, die aus der Peripherie zunehmend nach innen drängen wächst. Wohlgemerkt heißt dies keinesfalls, dass menschlicher Zusammenhalt und menschliche Nähe unbedeutend oder sinnlos sind, sondern allein, dass die Behauptung, eine bestimmte Form des Zusammenlebens sei ideal, an Sinnfülle verliert. Die Form verliert den Sinn nicht vollständig, „sie läßt ihn verarmen“ (Barthes 2016: 263). Dennoch passt sich der Mythos an (vgl. Barthes 2016: 265) und richtet sich in diesem Fall an den aktuellen Serien-Rezipierenden aus. Zeitgenössische Darstellungen der Kernfamilie sind nicht identisch mit denjenigen der 1950er Jahre, sondern adaptieren gesellschaftliche Entwicklungen. Dadurch, dass die Form erhalten bleibt, behält der Mythos der Kernfamilie seine innere Bedeutung und seinen Verweischarakter: „Das ist die ideale Form des menschlichen Zusammenlebens.“ Aufgrund des Sinnverlustes handelt es sich zunehmend um ein Mantra und weniger um eine sinnvolle Proposition. In Anbetracht der Entwicklung der Familie in der US-Serie generell lässt sich also Folgendes feststellen: Allgemein – auch über das Analysekorpus hinaus – treibt die Video-on-Demand-Serie bestimmte Entwicklungen voran, insbesondere auf der Ebene der Strukturierung der Handlung und der Diversifizierung des Angebots. Diese Entwicklungen haben dabei ihren Ursprung bereits vor der Zeit der Streaming-Anbieter und werden von diesen fortgeführt und verstärkt. Inhaltlich, in Bezug auf die Familiendarstellung der analysierten Serien, handelt es sich aber um weitgehend konservative Darstellungsformen oder zumindest um solche, die sich nicht dadurch auszeichnen, progressive Modelle voranzutreiben. Die auf den ersten Blick andersartigen und potenziell Veränderung bringenden Elemente werden in dem Sinne in den Kern der Semiosphäre integriert, dass sie den dort geltenden Strukturen, Normen und Werten angepasst werden und diese – trotz der eigentlichen Widersprüchlichkeit – noch bekräftigen. Im Zuge dieser Integrationsprozesse findet also eine Angleichung eigentlich gegenläufiger Logiken statt.

Schon vor dem Aufkommen der TV-Serie ist die Familie ein bedeutsames mediales Motiv. Durch Serien erlangte sie allerdings eine besondere Relevanz und wurde zu einer der zentralen Thematiken der audiovisuellen Unterhaltung. In Zeiten der Video-on-Demand-Serie und des Binge-Watching, in denen der massenhafte Konsum audiovisueller Medien Teil des Alltags ist, werden auch Familiendarstellungen massenhaft konsumiert. Sie werden, in Anspielung auf den Titel dieser Arbeit „Binging Family“, geradezu verschlungen. Der Gewohnheitseffekt, der sich durch die jahrzehntelange Perpetuierung bestimmter Darstellungsformen eingestellt hat, und die Beliebigkeit sowie die Unaufmerksamkeit, welche sich durch das Binge-Watching ergeben, überdecken dabei, dass diesen Serien in der Regel ein stabiler konservativer und im Kern antifeministischer (vgl. dazu die Bezüge auf Friedan unter 3.2.4) Mythos zugrunde liegt, auch wenn sich dieser oft hinter dem Anschein der Progressivität verbirgt. Mit dem Konsum der Familienserie werden dementsprechend auch konservative Auffassungsweisen – u. U. unkontrolliert – aufgenommen. Diese verkappten konservativen Mythen werden ebenso ‚verschlungen‘ und festigen sich – wenn auch unbemerkt – weiterhin, obgleich oder gerade weil sie eine deutliche Divergenz von der Realität aufweisen. Auf den Punkt gebracht: We are all binging conservatism.