Durch Video-on-Demand-Anbieter wie Netflix, Prime Video oder Hulu erfreuen sich audiovisuelle Serien einer stetig wachsenden Beliebtheit.Footnote 1 Sukzessive verdrängen sie das traditionelle ‚Filmschauen‘ und Fernsehen – auch im Sinne eines kollektivierenden ‚modernen Lagerfeuers‘ – aus dem Bewusstsein zumindest der jüngeren Rezipierenden.Footnote 2 Diese Entwicklung trägt zu einem rasant wachsenden Angebot und demzufolge zu einer beständigen Steigerung der Relevanz dieser FormateFootnote 3 bei, gerade in Hinblick auf ihre Funktion als Reflexions- und Verarbeitungsfläche gesellschaftlicher Zustände und kultureller Vorstellungen. In ihnen wird gegenwärtiges „kulturelles Wissen“Footnote 4 verhandelt, wodurch die Formate im Sinne eines mentalitätsgeschichtlich orientierten, kultursemiotischen Ansatzes ein Bild zeitgenössischer Diskurse und Werte liefern. Ein kontinuierlicher Zuwachs an Kund/inn/en ermöglicht es diesen Anbietern zunehmend, aus eigenen Mitteln Serien zu produzieren, die ausschließlich zur Rezeption auf den eigenen Onlineplattformen (und zum späteren Verkauf auf DVD und Blu-ray) vorgesehen sind.Footnote 5 Die positive Aufnahme von Serien wie Orange Is the New Black (2013–2020; Netflix) oder House of Cards (2013–2018; Netflix) sowie ihr Potenzial, die Rezipierenden an die Plattformen zu binden, lassen ein dauerhaftes Fortbestehen und sogar einen weiteren Aufstieg der Streaming-Dienste vermuten.Footnote 6

Der Neuheit dieses Phänomens ist es dabei geschuldet, dass die medienwissenschaftliche Forschung, die sich mit Video-on-Demand im Allgemeinen und Video-on-Demand-SerienFootnote 7 im Besonderen auseinandersetzt, zum aktuellen Zeitpunkt wenig umfangreich ist, insbesondere was die deutsche bzw. deutschsprachige Forschung auf diesem Gebiet betrifft.Footnote 8 Viele Aspekte dieses Forschungsbereichs wurden also bisher kaum wissenschaftlich erfasst. Neben tendenziell mediensoziologischen und wirtschaftswissenschaftlichen Problematiken, wie der Erforschung von konkreter Konkurrenz zwischen Streaming und konventionellem TV, von gewandeltem Konsumverhalten etc., steht auf medienwissenschaftlichem Terrain die Frage im Vordergrund, ob sich die NarrationFootnote 9 dieser Serien in besonderer Weise auszeichnet. Die vorliegende Untersuchung wird sich genau diesem Aspekt unter bestimmten Gesichtspunkten widmen und somit ein erster Schritt und eine Plattform für eine Erschließung des Phänomens Video-on-Demand sein.

Die allgemeine mediale Entwicklung und insbesondere Video-on-Demand-Serien sind Teil eines Digitalisierungsprozesses, der seinen Hervorbringungen eine Aura des Innovativen und vom Vorhandenen Abweichenden verleiht. Dieser öffentlichkeitswirksame Anschein der Innovation, dem die Streaming-Anbieter sicherlich einen Teil ihres Erfolges zu verdanken haben und der die Frage nahelegt, ob tatsächlich tiefgehende Entwicklungen stattgefunden haben, ist es, der zu einer wissenschaftlich hinterfragenden Auseinandersetzung mit der Thematik anregt. Ebenso die Qualität der Produktion, wie die der Narration oder der künstlerische Wert der Formate wurden in der Vergangenheit als besonders hoch bewertet, so dass das Label „Netflix Original“ lange Zeit als Qualitätssiegel galt bzw. gilt.Footnote 10 Ein Blick auf Rezensionen zu Netflix Originals bezeugt dies: So spricht Francesco Giammarco darüber, dass die Serie Master of None „mit allen Serienklischees bricht“ und lobt in seinem Artikel die experimentelle Erzählweise und die Abweichungen von den Konventionen serieller Narration (vgl. Giammarco 2017). Julian Dörr spricht Love, ebenfalls ein Netflix Original, und Master of None (mit seiner „leichtfüßige[n] Narration“) „Relevanz, Zeitgeist und eine ganz eigene Komik“ zu und verweist auf die Tragikomik dieser „Sadcoms“, die sie von bisherigen Sitcoms abgrenze. Dabei schließt er weitere Streaming-Originals wie Girls, Transparent oder Fleabag mit ein (vgl. Dörr 2017). Barbara Schweizerhof ist bezüglich der Prime Original-Serie Transparent nicht nur der Meinung, dass sich die Serie mit ihrer „offenen gender-fluiden Agenda“ etwas „traute“, sondern dass sie auch vom üblichen versöhnlichen Sitcom-Narrativ abweiche (vgl. Schweizerhof 2019). Jürgen Schmieder lobt den „sensible[n] und dennoch unsentimentale[n] Umgang mit Gendergrenzen und Sexualität“, der Transparent von anderen Serien über dysfunktionale Familien abgrenze, und schreibt der Serie einen literarischen Charakter zu, der sie besonders zur Rezeption auf einem Streaming-Portal geeignet mache (vgl. Schmieder 2014). Ursula Scheer würdigt das Prime Original The Romanoffs aufgrund dessen detailreicher und langsamer Erzählweise und wegen der „messerscharfen Dialoge“ (vgl. Scheer 2018).

Diese Entwicklung ist mit dem „Diskurs der Bewunderung“ vergleichbar, mit der die Kritik bzw. das Feuilleton Anfang der 2000er neuen US-amerikanischen Serienformaten wie The Sopranos (1999–2007) oder Six Feet Under (2001–2005) begegnete. Diesen Formaten wurde – oft euphorisch – eine im Vergleich zu früheren Serien derart hohe Qualität bescheinigt, dass ihnen sogar ein medialer Zäsurcharakter zugeschrieben wurde (vgl. Kirchmann 2010: 61 f., vgl. Fröhlich 2015: 451 f.). In bewusster Abgrenzung zu vermeintlich profanen, weniger ‚komplexen‘ und visuell-stilistisch belangloseren Formaten wurden diese Serien als „Quality Television Series“ (vgl. Köhler 2011: 15, vgl. Rothemund 2013: 24 f.) bzw. „Quality-TV“ bezeichnet. Die Implikation dieses Begriffes, der bisherigen TV-Produktionen zwangsläufig einen Mangel an Qualität zuschreibt, ist dabei kritisch zu betrachten. Vielmehr als von einem tatsächlichen Wandel der Qualität zeugt er von bisherigen – wissenschaftlichen wie journalistischen – Ressentiments und einem „stärkeren Bewusstsein für das Potenzial der seriellen (TV-)Narration“ (Fröhlich 2015: 454). Serien das Prädikat der Exklusivität sowie der hohen Qualität auszustellen und somit den Konsum bisher gemiedener oder verpönter Massenkultur zu legitimieren, dient zudem als eine Art ‚bürgerliche‘ Rechtfertigungsstrategie (vgl. Santo 2008: 20, 32 f., vgl. McCabe/Akass 2007: 85). Zuvor stand das Serielle – in Assoziation mit wenig origineller Fließbandproduktion – im Gegensatz zu einer „Genieästhetik“ und einem „bildungsbürgerlichen [Begriff] vom autonomen und werthaften Kunstwerk“ (Krah 2010: 85 f.). Serien entzogen sich also durch eine feuilletonistische Aufwertung dem Vorwurf der trivialen Unterhaltung. Der Enthusiasmus, mit dem Video-on-Demand-Serien begegnet wird, ist Teil einer äquivalenten Argumentationsstrategie bzw. die Fortsetzung des Quality-TV-Narrativs. Anstatt dieser Rechtfertigungsstruktur zu verfallen und zu behaupten, es handle sich um eine Geschichte massiver Einschnitte und plötzlicher Umbrüche, liegt es bei einer Betrachtung der medialen Entwicklung, insbesondere der Entwicklung der audiovisuellen Serie, näher von einem kontinuierlichen Prozess mit zahlreichen interdependenten Faktoren zu sprechen.Footnote 11

Obgleich es sich um einen kontinuierlichen Entwicklungsprozess handelt, steht fest, dass die Video-on-Demand-Serie in mehrfacher Hinsicht von der konventionellen TV-Serie abweicht, vor allem in ihrer Produktions-, Distributions- und RezeptionssituationFootnote 12. Diese spezifische Situation bietet das Potenzial für Entwicklung und Innovation in der Narration dieser Serien, wie es sich medienhistorisch bereits vorher finden lässt: Mitte der 1980er Jahre profitierte das US-amerikanische Fernsehen von einer Deregulierung der Fernsehrichtlinien und einer damit einhergehenden Lockerung der Zensurbestimmungen (vgl. Morreale 2003: 209). Insbesondere Pay-TV-Sender wie HBO, AMC oder Showtime mussten ihr Programm nicht mehr den Vorgaben der FCC (Federal Communications Comission, die US-amerikanische Rundfunkbehörde) anpassen (vgl. Schleich/Nesselhauf 2016: 44). Das Angebot wurde durch spezifische, weniger massentaugliche Formate erweitert, die mit bisher tabuisierten Themen wie Nacktheit und Gewalt wesentlich offener und expliziter umgingen (vgl. Morreale 2003: 209, vgl. Schleich/Nesselhauf 2016: 44). Dieser neuen Freiheit entsprangen Serien wie etwa The Simpsons, welche die Popkultur nachhaltig prägten und den Aufstieg der Kabelsender ermöglichten. Die Video-on-Demand-Serie befindet sich in einer vergleichbaren Situation, wobei ihre Möglichkeiten und Potenziale weit größer erscheinen. Wohlgemerkt sei hier von Potenzialen gesprochen, denn inwiefern die Streaming-Anbieter diese im Folgenden skizzierten Möglichkeiten nutzen, bedarf einer genauen Untersuchung. Durch eine veritable weltweite Verfügbarkeit (in 190 Ländern – vgl. Netflix.com 2019) befindet sich der Produzent Netflix in einer einzigartigen Produktionssituation: Das extrem breite, multikulturelle Publikum, das alle Gesellschaftsschichten durchdringt, ermöglicht es dem Anbieter, in Inhalt und Darstellungsweise abweichende, weniger massentauglichere, d. h. ‚speziellere‘ Formate zu produzieren, die dann trotz oder gerade wegen bestimmter Eigenheiten einen Rezipierendenstamm finden. Zudem sind die Unternehmen in geringerem Maße an senderspezifische Einschränkungen gebunden. ‚Jugendgefährdende‘ Formate können etwa durch die Eingabe eines Codes geschützt werden. Somit ist es möglich, von Produzierendenseite bisher tabuisierte Thematiken zu verhandeln (z. B. der Suizid einer Teenagerin, der in der Netflix-Serie 13 Reasons Why explizit dargestellt wird – vgl. 13 Reasons Why I/13: 36:00)Footnote 13. Video-on-Demand-Serien stellen dementsprechend einen Schritt in Richtung einer ungemeinen Erweiterung und Diversifizierung des Serienangebots dar und ermöglichen einen kreativ-experimentellen Umgang mit (neuen) Inhalten. Dabei können sie auf der Basis aufbauen, die durch das sogenannte Quality-TV gelegt wurde. Obgleich der Blick auf die Wirtschaftlichkeit der Produktionen ein entscheidender Faktor bleibt, kann ‚ausgetestet‘ werden, ob ein unkonventioneller Umgang mit bestimmten Normen ein Publikum findet.

Auf Seiten der Rezeptionssituation begünstigt der nahtlose Übergang einer Episode in die nächste ohne Zutun der Rezipierenden – oft mit der Möglichkeit den Vorspann zu überspringen – das sogenannte ‚Binge-Watching‘, d. h. den ‚orgiastischen‘ Serienkonsum ganzer Staffeln einer Serie am Stück, das als Rezeptionsform „immer üblicher“ wird (Milevski et al. 2018: 14, vgl. Schleich/Nesselhauf 2016: 209 f.). Es ist plausibel, dass Binge-Watching Auswirkungen auf die Entwicklung und Darstellung der Charaktere und Handlungsstränge hat, z. B. eine sich über mehrere Folgen erstreckende, kontinuierliche CharakterentwicklungFootnote 14, deren besonderer Reiz sich erst durch den raschen Konsum vieler Folgen hintereinander ergibt.Footnote 15 Zudem besteht für die Rezipierenden die Möglichkeit einer zeitlich ‚freien Wahl‘ im Gegensatz zum programmgebundenen Fernsehen. Sie können die Serie zu einem beliebigen Zeitpunkt rezipieren und beliebig unterbrechen. Es liegt also keine Bindung an Fernsehprogramme vor, lediglich an das beständig wachsende Angebot der Video-on-Demand-Plattformen, das zwar ebenfalls nicht unbegrenzt ist, aber doch umfangreicher als das Angebot des durchschnittlichen TV-Senders. Somit wächst die Nachfrage der Nutzenden danach, möglichst problemlos und komfortabel auf Serien zugreifen zu können, die im weitesten Sinne mit ihren persönlichen Vorlieben übereinstimmen. Die „Zuschauer_innen übernehmen also verstärkt die Rolle der Programmdirektoren“ (Milevski et al. 2018: 15), nach deren Nachfrage sich die Zusammensetzung des Angebotes ausrichtet – gewissermaßen ein Element der digitalen Personalisierungswelle. Betrachtet man die Video-on-Demand-Serie also in ihrem DispositivcharakterFootnote 16, im Spannungsfeld ihrer Rezeptions- und ihrer Produktionssituation, so liegt ein Wandel der Formate in vielerlei Hinsicht nahe und es ergeben sich Fragen von hohem medienwissenschaftlichem Interesse, die sich folgendermaßen zusammenfassen lassen: Zeichnet sich die Video-on-Demand-Serie in besonderer Weise aus, bestätigt sie hergebrachte Formate oder divergiert sie von selbigen?

Im Zuge dieser Untersuchung werde ich diese grundlegende Fragestellung weiter einschränken und spezifizieren: Die Qualitätszuschreibungen, welche die Video-on-Demand-Serie erfährt, kreisen häufig um stilistische Innovation, eine spezifische Ästhetik, die Originalität der Erzählstruktur oder die Tatsache, dass besonders ‚relevante‘ Themenfelder verarbeitet werden (man vergleiche die bereits genannten Pressestimmen). Es handelt sich also um Zuschreibungen, die sich besonders auf der Ebene der Oberflächenstruktur, des Discours bewegen. Der eigentliche inhaltliche Kern der Serien, die Frage, ob neben der Darstellung das Weltmodell und die darin reflektierten Norm- und Wertvorstellungen in besonderer Weise innovativ oder neu sind, bleibt dabei in der Regel unangetastet. Genau hier liegt aber die eigentliche Antwort auf die Frage nach Innovation verborgen, wenn man diese nicht nur auf oberflächenstrukturelle Darstellungsweisen beschränkt, sondern auf einen tiefergehenden Wandel im kulturellen Wissen und den darin enthaltenen Ideal- und Normvorstellungen bezieht: Um aufzuzeigen, inwiefern sich das Bild von Gesellschaft, das Video-on-Demand-Serien vermitteln, von bisherigen Weltmodellen unterscheidet und ob dieses Bild tatsächlich innovativ ist, d. h., ob es neue – bisher nicht oder kaum verwendete – Aspekte einbringt, soll im Rahmen dieser Untersuchung eine konkrete Analyse der Oberflächenstruktur zugunsten einer vertieften inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Thematik in den Hintergrund treten. Zwar handelt es sich bei Discours und Histoire nicht um separate Sphären, vielmehr muss die Tiefenstruktur „aus der Textoberfläche und mit dieser“ abstrahiert werden (Krah 2015: 38). Allerdings ist die Histoire unabhängig vom Trägermedium, während die Art und Weise, wie etwas dargestellt wird, „gattungs- und medienspezifisch“ ist (Krah 2015: 180). Während inszenatorische Strategien also selbst innerhalb der Video-on-Demand Serie (je nach konkreter Gattung z. B. Sitcom, Soap-Opera oder Zeichentrickserie) variieren können und ein filmästhetischer Vergleich der analysierten Serien nicht im Interesse meiner Analyse ist, lassen sich aus einer vertieften Untersuchung der Histoire umfassende inhaltliche Modellierungen ableiten und in einen serienhistorischen Kontext einordnen. Um eine möglichst große Vergleichbarkeit zwischen den, in ihrer Ästhetik teils sehr diversen Serien, herstellen zu können, treten Aspekte des Discours, also der der Erzählstruktur und der filmischen Mittel, weitgehend in den Hintergrund. Die Wahl der Video-on-Demand-Serie als Forschungsgegenstand ergibt sich dabei einerseits aus dem – zuvor dargelegten – medienwissenschaftlichen Interesse und andererseits aus der Tatsache, dass es sich bei Video-on-Demand-Serien derzeit um die prominentesten Vertreter und Vorreiter der Serienlandschaft handelt. Aus einer Analyse von Video-on-Demand – so die These – lassen sich Schlüsse über aktuell dominante Modellierungen serieller Weltmodelle ziehen.

Ohne weitere Einschränkung eine inhaltliche Analyse sowie eine Abstraktion der Weltmodelle von Video-on-Demand-Serien vornehmen zu wollen, wäre ein ebenso umfassendes wie vages und zielloses Forschungsvorhaben. Dementsprechend möchte ich einen gesellschaftlichen und kulturellen Aspekt in den Mittelpunkt meiner Untersuchung stellen, der nach wie vor von vielen (Video-on-Demand-)Serien zentral verarbeitet wird und das Zentrum der dortigen Weltmodelle darstellt: das Zusammenleben in der Familie oder in familienähnlichen Strukturen. Familie möchte ich dabei nicht in einem weiteren Sinne als Kreis von Personen verstehen, der – unabhängig von tatsächlicher Blutsverwandtschaft oder ehelichen Beziehungen – aufeinander achtgibt und in einer langfristigen engen Beziehung zueinander steht (vgl. Young 1997: 196), sondern im engeren, allgemeinsprachlichen Sinn als durch Verwandtschafts- und Verschwägerungsbeziehungen verbundene Gruppe. Freundschaftsbeziehungen, die insbesondere in Sitcoms seit den späten 1980er Jahren eine zur Familie äquivalente Rolle einnehmen stellen eine eigenständige Thematik dar.

Der hohe Stellenwert, den die Familie als zentrale Personenkonstellation seit dem Ursprung der audiovisuellen Serie einnimmt, ist dabei nachvollziehbar: Familie ist nicht nur ein gesellschaftlicher und politischer Wert von großer Relevanz, sie ist auch eine Keimzelle, an der komplexe gesellschaftliche Organisationsformen wie Stadt und Staat ansetzen (vgl. Bobbio 2006: 4).Footnote 17 Familien bzw. das gemeinsame Heim, das Zuhause, sind Brennpunkte, an denen geltende Normen und Werte in besonders konzentrierter Weise verhandelt werden. Wie ein Mensch sich innerhalb der Familie verhält, welche Werte im Rahmen einer Erziehung vermittelt werden, welche Geschlechter- und Rollenbilder dominieren und welche Diskurse das familiäre Leben bestimmen, lässt folglich Rückschlüsse auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen zu. Modelle von Familie stellen daher stets eine Verhandlung bedeutsamer gesellschaftlicher Paradigmen dar. In Hinblick auf die räumliche Organisation serieller Weltmodelle können Familien als „Extremräume“ verstanden werden, also als „Teilräume, in denen sich die zentralen und konstitutiven Merkmale des Raumes quasi kondensieren und die so den Gesamtraum mise-en-abyme, als pars pro toto abbilden“ (Krah 2015: 195 ff.).Footnote 18 Somit sind entsprechende Formate Sammelbecken des zentralen kulturellen Wissens einer Zeit, das von den Charakteren spezifisch wiedergegeben und zwischen ihnen verhandelt wird. Eine Analyse von Familienmodellen gibt folglich in besonderer Weise Aufschluss über das Weltmodell der Serien und bietet wie kaum eine andere Kernthematik den Ansatzpunkt für eine übergeordnete Untersuchung der dargestellten Gesellschaftsentwürfe, nicht nur in Bezug auf Familienserien, sondern bezüglich der allgemeinen Weltmodellierung einer Gattung – hier Video-on-Demand-Serien.

Mein Hauptinteresse besteht darin festzustellen, auf welche Art und Weise Video-on-Demand-Serien gesellschaftliche Strukturen und die Familie als deren Kern abbilden. Welchen Stellenwert, so frage ich, nehmen die Familie und das private/intime Leben diesen Formaten zufolge für den heutigen Menschen ein? Inwiefern stellen Video-on-Demand-Serien die Familie als etwas Positives oder Negatives dar? Wird Familie als ein einengendes Gefängnis, das zwischen den Charakteren und ihren individuellen Zielen steht, wahrgenommen (vgl. Baker 2003: 46) oder als Schutzraum vor äußeren Bedrohungen (vgl. Sofsky 2007: 76, vgl. Rössler 2001: 42)? Welche Modelle von Familie und welche Rollenbilder werden konstruiert und welche positiv, neutral oder negativ bewerteten Alternativen existieren dazu? Neben der Frage nach einem gesellschaftlichen Wandel ist für mich von Interesse, welche Paradigmen Video-on-Demand-Serien anhand der dargestellten Familienverbände besonders thematisieren, d. h., welche gesellschaftlichen Problematiken/Themenfelder allgemein über ein Einzelbeispiel hinaus als dominant gesetzt und mit der Familienthematik verknüpft werden. Zusammengefasst lautet meine Forschungsfrage: Welche Modelle und Ideale von Familie dominieren die Video-on-Demand-Serie in einem Zeitraum von 2014 bis Ende 2018 und welche gesellschaftlichen und kulturellen Paradigmen werden als zentral gesetzt?

Die Untersuchung setzt sich dabei aus folgenden Bestandteilen zusammen: Der Einleitungsteil umfasst neben einer Darlegung der zugrunde liegenden Methodik (1.1) eine Beschreibung der Charakteristika des (audiovisuellen) seriellen Erzählens (1.2) und eine einführende Darlegung des Analysekorpus und der entsprechenden Auswahlkriterien (1.3). Im zweiten Kapitel gebe ich einen Überblick über die Entwicklung der Familie in der (US-amerikanischen) TV-Serie von ihren Anfängen bis heute. Das dritte Kapitel umfasst meine Analyse und die Klärung der Frage, wie die Familie in der Video-on-Demand-Serie bzw. im Analysekorpus dargestellt wird. Dieser Analyse liegen dabei elf US-amerikanische Serien aus dem Angebot von Netflix und Prime Video zugrunde.Footnote 19 Der Schwerpunkt USA wurde dabei aufgrund der deutlichen Dominanz dieser Produktionen auf dem Video-on-Demand-Markt gelegt: Die bedeutendsten Streaming-Dienste stammen aus den USA, ebenso wie die populärsten und international primär konsumierten Video-on-Demand-Serien. Sie bilden somit die Funktions- und Gestaltungsweisen sowie die narrativen Strategien in der Video-on-Demand-Serie sehr gut ab. Die Wahl von US-Serien gewährleistet demnach den höchstmöglichen Grad an Repräsentativität für die Gattung Video-on-Demand-Serie bei gleichzeitiger optimaler Vergleichbarkeit innerhalb des Korpus. Im vierten Kapitel werden die Analyseergebnisse wiederum in den unter 2. erörterten historischen Rahmen eingebettet. Im fünften Kapitel gebe ich einen Ausblick auf Anknüpfungspunkte der Studie, auch über den medienwissenschaftlichen Kontext hinaus, und gehe auf mögliche weitere Entwicklungen ein.

1.1 Darlegung der Methodik

Meine Analyse orientiert sich an Mitteln der Mediensemiotik, wie sie u. a. in Hans Krahs Einführung in die Literaturwissenschaft (Krah 2015) und in Filmsemiotik. Eine Einführung in die Analyse audiovisueller Formate (Gräf et al. 2014) dargelegt sind.

Die Analyse der Handlungsstruktur der jeweiligen Formate erfolgt mit Hilfe von Raumtopologiemodellen im Sinne einer erweiterten Theorie des Literaturwissenschaftlers Jurij Michailowitsch Lotman (dargelegt u. a. in Krah 2015: 186 ff.), deren Grundbegriffe im Folgenden geklärt werden. Nach Lotmans Verständnis sind Texte auf Ebene der Histoire in eine „sujethafte“ und eine „sujetlose“ Textschicht unterteilbar (vgl. Krah 2010: 89). Dabei ist das „Sujet“ als „modellhaftes Handlungssubstrat oder Kompositionsschema eines Textes“ (Schulz 2007: 544) zu verstehen, ergo als die Handlung, das Geschehen eines Textes. Wenn Handlung stattfindet, ist der Text dementsprechend „sujethaft“. Texte, die keine Handlung aufweisen, z. B. Kalender, Telefonbücher, deskriptive Naturlyrik oder Weltbeschreibungen eines Romans (man denke an den häufig umfangreichen Anhang von Fantasy-Romanen wie J.R.R. Tolkiens Herr der Ringe) sind „sujetlos“ (vgl. Schulz 2007: 545, vgl. auch Lotman 1972: 329–340, Krah 2015: 180, Martínez/Scheffel 2012: 156, 214). Wird in einer Serie beispielsweise einführend der Alltag der Figuren gezeigt oder durch Establishing Shots die Szenerie einer Handlung (z. B. das Haus, die Landschaft, die Stadt) gezeigt, handelt es sich dabei um sujetlose Inhalte. Die sujetlose Textschicht, „die dargestellte Welt in ihrer Gesamtheit“, bildet die filmische Diegese: „Zur Diegese gehören die Figuren bzw. Akteure und der von ihnen auditiv und visuell wahrgenommene Raum“ (Krah 2010: 90). „Der sujethaltige Text wird auf Basis des sujetlosen errichtet als dessen Negation“ (Lotman 1972: 338), d. h., Handlung kommt dann zustande, wenn die bestehende Ordnung gestört wird, beispielsweise wenn eine Figur „die Grenze zwischen zwei,semantischen Feldern‘ überschreitet“ (Schulz 2007: 545, vgl. auch Krah 2015: 205). Dabei muss die Topographie eines Textes, die konkrete örtliche Gegebenheit, nicht unbedingt Träger der Topologie, der „Merkmalsmengen“, sein, „auch wenn die Topographie eines Textes […] zumeist semantisch funktionalisiert ist“ (Krah 2015: 191). Es ist zwischen „semantisierten Räumen“, also raumgebundenen Bedeutungszuweisungen, und „abstrakt semantischen Räumen“ zu unterscheiden, „die nur über ihr spezifisches Merkmalsbündel gegeben sind“ (Krah 2015: 191, vgl. Martínez/Scheffel 2012: 156 f.), wie der Übergang vom Leben zum Tod, der Wechsel von Sicherheit zu Bedrohung etc. Wenn in der Serie 13 Reasons Why die Protagonistin Hannah Baker Suizid begeht, liegt eine Grenzüberschreitung vom Leben zum Tod vor. Der Text ist sujethaft. Dabei zieht eine einzelne Grenzüberschreitung in ihrer Auswirkung auf andere Charaktere oft weitere Konsequenzen nach sich, kann also im mehrfachen Sinne zustandsverändernd sein. Im obigen Beispiel ist dies für den Protagonisten Clay Jensen der Fall, der mit Hannah Baker sein Love-Interest verliert, ebenso wie für die Freunde der Protagonistin und für deren Eltern. Es existieren dabei diverse Typen von Grenzverletzungen und -verschiebungen (vgl. Krah 2015: 205 ff.).

„Handlungsverläufe zeichnen sich durch die theoretische Gültigkeit des Konsistenzprinzips aus“ (Krah 2015: 211). Handlung endet, wenn der ereignishafte Zustand beendet ist und die Grenzüberschreitung getilgt wurde. Der Endzustand kann, aber muss nicht zwangsweise mit dem Ausgangszustand übereinstimmen, vielmehr sind verschiedene Arten der „Ereignistilgung“ möglich (vgl. Krah 2015: 211 f.): Die „Rückkehr in den Ausgangsraum“, bei der „die Größe, deren Situierung das Ereignis bedingt, […] wieder in den früheren Zustand zurückversetzt“ (Krah 2015: 212) wird, wenn beispielsweise in einem fiktiven mittelalterlichen Szenario ein Kreuzfahrer aus Jerusalem in die Heimat zurückkehrt und dort sein ‚normales‘ Leben wieder antritt. Zweitens das „Aufgehen im Gegenraum“, bei dem die grenzüberschreitende Größe eigene Merkmale verliert, die im Raum störend sind, in den sie eingetreten ist, und sie daher die „konstitutiven“ Merkmale des Gegenraumes annimmt (vgl. Krah 2015: 213). Dies liegt beispielsweise vor, wenn obiger Kreuzfahrer Teil der muslimischen Kultur wurde, gegen die er ursprünglich in den Krieg zog, und nun unter Muslimen weiterlebt. Und drittens die „Metatilgung“, bei der sich die dargestellte Welt dergestalt ändert, dass sich Grenzen auf eine Weise verschieben, sodass der ursprünglich ereignishafte Zustand kein Ereignis mehr darstellt (vgl. Krah 2015: 214). Dies wäre, unter Verwendung des bisherigen Beispiels, der Fall, wenn die Anführer der Kreuzfahrer und die Muslime Frieden schließen und fortan ohne Gebietsansprüche in Harmonie zusammenleben.

Bezüglich der räumlichen Organisation und des Handlungsverlaufs eines Textes ist die sogenannte „Extrempunktregel“ relevant: Häufig sind semantische Räume in sich weiter gegliedert und weisen sogenannte „Extremräume“ oder „Extrempunkte“ auf, in denen sich die Merkmale des Raumes verdichten. Diese Extremräume stehen „synekdochisch für den Gesamtraum“: „Sie sind Teilräume, in denen sich die zentralen und konstitutiven Merkmale des Raumes quasi kondensieren und die so den Gesamtraum mise-en-abyme, als pars pro toto abbilden“ (Krah 2015: 195 ff., vgl. auch Renner 1987: 117). Solche Extremräume „sind zumeist narrativ relevant“ und „fungieren als Brennpunkte des Geschehens“ (Krah 2015: 224). Das bedeutet, dass jede/r Held/in, hat er/sie einen semantischen Raum betreten, auch den Extremraum aufsuchen wird, bevor er/sie den Raum potenziell verlassen und ein Abschluss der Handlung bzw. eine Rückkehr zur Konsistenz stattfinden kann (vgl. Krah 2015: 224), oder wie Karl Renner es formuliert:

Überschreitet ein Held die Grenze eines semantischen Feldes, dann führt ihn der Weg innerhalb dieses Feldes zu dessen Extrempunkt. Kehrt er in seinen Ausgangsraum zurück, dann ändert sich dort seine Bewegungsrichtung: Der Extrempunkt ist ein Wendepunkt. Ansonsten endet hier der Weg des Helden: Der Extrempunkt ist der Endpunkt. (Renner 1987: 128).

Dementsprechend ist die Extrempunktregel eng mit dem Konsistenzprinzip verknüpft (vgl. Renner 1987: 128). Greifbare Beispiele für konkrete, topographisch verortbare Extremräume finden sich oft in fantastischen Geschichten oder Märchen: die Höhle des Drachen, der Turm des bösen Zauberers, das verbotene Zimmer, der Schicksalsberg in Tolkiens Herr der Ringe oder der Todesstern in Star Wars. Es kann sich jedoch auch um abstrakt-semantische Räume handeln, wie z. B. der Moment tiefster Depression oder ein Ereignis, welches durchlebt werden muss. Aus der Art und Weise, wie Texte räumlich strukturiert sind, aufgrund welcher Grenzverletzungen oder Verschiebungen diese Ordnung gestört und wie Konsistenz wiederhergestellt wird, ergibt sich die „spezifische Ereignisstruktur“ bzw. „narrative Struktur“ eines Textes (vgl. Krah 2010: 89 f.).

Die narrative Struktur der analysierten Formate wird stets anhand einer abstrahierten Abbildung des Handlungsverlaufes dargestellt. Im Rahmen meiner Schematisierung der Handlung handelt es sich in der Regel um stark abstrahierte, nicht konkret topographisch verankerte Räume, die dazu geeignet sind, eine Aussage in Bezug auf die Familiendarstellung abzuleiten und bezüglich des Gesamtkorpus zu verallgemeinern. Ebenso wird ein Schema zur Figurenkonstellation (angelehnt an Krah 2015: 199 ff.) erstellt, um die Beziehungen und Verstrickungen der Charaktere klar und abstrakt darzustellen. Die Analyse der Formate erfolgt mithilfe eigens angelegter Raster (vgl. Abb. 1.1 und Abb. 1.2). Zunächst analysiere ich die Serien anhand der jeweiligen Charaktere unter Ausschluss nicht wiederkehrender bzw. handlungsmäßig weitgehend irrelevanter Figuren. Zu jeder analysierten Episode liegt dementsprechend eine Tabelle vor, in der unter Angabe des Zeitpunktes in der Episode besonders charakteristische Handlungen und Eigenschaften der Figuren genannt werden (vgl. Abb. 1.1), ob ein Charakter sich beispielsweise durch konservative oder progressive politische Standpunkte auszeichnetFootnote 20, ob er/sie zu Gewalt oder Drogenkonsum neigt, von welcher Bedeutung Familie für ihn/sie ist oder ob Religiosität eine besondere Rolle spielt.

Abb. 1.1
figure 1

Figurenschema zu Ruling Days (Ozark I/5)

Abb. 1.2
figure 2

Paradigmenraster zu Ruling Days (Ozark I/5)

Aus der Analyse der Figuren als Handlungs- und Merkmalsträger ergibt sich im zweiten Schritt das Paradigmenraster, in dem ich obige Ergebnisse nach Kategorien bündle (vgl. Abb. 1.2). Hier stellt sich heraus, welche Paradigmen ein Format als zentral setzt. Die somit gesammelten und geordneten Textbelege werden im Rahmen der Analyse abstrahiert und auf die übergeordnete Familienthematik zurückbezogen.Footnote 21

An dieser Stelle eine Anmerkung zur Verwendung der Begriffe ‚Charakter‘ und ‚Figur‘. Obgleich der etwas neutralere Begriff ‚Figur‘ darauf verweist, dass es sich bei den Auftretenden um Textkonstrukte handelt, ziehe ich aus mehreren Gründen den Begriff Charakter vor:

  1. a)

    Einerseits liegt meiner Untersuchung umfassende englischsprachige Forschungsliteratur zu Grunde. „Charakter“ habe ich hier als eingedeutschte Fassung des englischen „character“ verwendet.

  2. b)

    Andererseits ist „Charakter“ ein deutlich psychologisierender Begriff, der mehr auf Charaktertiefe und Denk- und Gefühlswelt der Seriengestalten verweist. Video-on-Demand-Serien stehen in der differenzierten und ambivalenten Konstruktion ihrer Gestalten in der Nachfolge des Quality-TV. Die Charaktere zeichnen sich nicht mehr – wie in früheren Serien – durch ein einziges zentrales Merkmal oder ein Bündel ähnlicher Verhaltensweisen aus, sondern werden als vielschichtiger und in sich widersprüchlich dargestellt. Diese Serien neigen also dazu, die Charaktere zu psychologisieren und deren Abgründe auszuloten. Dementsprechend ist „Charakter“ der passendere Begriff.

  3. c)

    Der Begriff Charakter verweist zudem auf die Entwicklung, die die Gestalten in den Serien durchlaufen. In vielen Serien des Korpus verharren Charaktere nicht statisch auf ihren Merkmalen, wie für ältere Serien typisch. Durch das Ausheben bestehender Persönlichkeitspotentiale und daraus resultierenden Konflikten wird auf eine Tiefenstruktur der Charaktere verwiesen. Dabei kommt es durchaus auch zu Rückschritten, so dass die Charaktere sich nicht stets grundlegend ändern, aber ebenso kommt es auch zu Fortentwicklungen, beispielsweise der Emanzipation von Jugendlichen von ihrem Elternhaus oder die Individualisierung eines Charakters und eine damit einhergehende Lösung von Rollenzwängen. Der Begriff ‚Charakterentwicklung‘ verweist im Kontext dieser Untersuchung vor allem darauf, dass die Charaktere aktueller Serien eher das Potential haben eine Merkmalsveränderung zu durchlaufen, als Charaktere älterer Serien.

  4. d)

    Zudem nimmt meine Untersuchung die abgebildeten emotionalen Dynamiken zwischen den Charakteren zentral in den Blick. Ich betrachte diese als essenziell für eine Untersuchung der Familiendarstellung.

Als ‚Plattform‘, auf der die weitere Analyse beruht, bzw. als Anknüpfungs-, Vergleichs- und Bezugspunkt dient die Serie Ozark (USA, 2017)Footnote 22, deren Analyse als einzige in umfassender Form in dieser Untersuchung vorliegt. Weitere Formate werden zwar nach dem gleichen Schema analysiert, allerdings im Hinblick auf Rollenmuster, Charakterbeziehungen, Konstellationen und Konzeptionen von Familie sowie dominante Paradigmen, die sich aus den Rastern ergeben, gemeinsam untersucht. Ozark hat dabei die Funktion, mein analytisches Vorgehen zu demonstrieren und festzuhalten. Dieses exemplarische Vorgehen soll ebenso dazu dienen, der Analyse einen verbindenden Rahmen zu geben.

Zur gemeinsamen Analyse der Formate werden dabei die obigen Analysetabellen weiter vereinfacht und zu jeweils adäquaten Tabellen und Rastern zusammengefasst. Insbesondere bezüglich der Charakterisierung außerfamiliärer Personen greife ich dabei auf die Begrifflichkeiten des Aktantenmodells des französischen Semiotikers Algirdas Julien Greimas zurück, dargelegt 1971 in Strukturale Semantik. Methodologische Untersuchungen (vgl. Greimas 1971: 157–172). Greimas unterscheidet zwischen „Aktanten“ und „Akteuren“ (vgl. Greimas 1971: 159). Aktanten oder „aktantielle Kategorien“ (Greimas 1971: 159) bezeichnen einen engen Katalog an Funktionen, die ein „Akteur“ auf der Ebene des Textes verkörpern kann. Die aktantiellen Rollen lassen sich unter folgenden Begriffen zusammenfassen: Das „Subjekt“ ist der Handelnde, das „Objekt“ das Desiderat, nach dem das Subjekt strebt, der „Sender“ ist der „Auftraggeber des Helden“ und der „Empfänger“ derjenige, der von der Handlung profitiert. Dabei steht dem Subjekt als Helfer der „Adjuvant“ zur Seite. Behindert in seinem Streben wird er vom „Opponenten“, einem Gegner (vgl. Greimas 1971: 163 ff., vgl. auch Mecke/Winter 2009: 61.). Aktantielle Rollen sind wandelbar: Ein Adjuvant kann durch Verrat zum Opponenten werden. Ebenso muss ein Akteur keine konkrete Person sein, so kann etwa ein heftiger Sturm den Opponenten des Subjekts darstellen. Im Falle meiner Analyse handelt es sich aber stets um konkrete, menschliche Figuren, die ich im Sinne der Vereinfachung auf ihre zentrale aktantielle Rolle – Adjuvant oder Opponent – reduziere.

Um den Wandel in der Darstellung der Familienthematik nachzuvollziehen, wird Lotmans Modell der Semiosphäre herangezogen, welches ich unter 1.3 genauer darlege. Insbesondere lassen sich durch dieses Modell die Familiendarstellung der Video-on-Demand-Serie in einem umfassenderen medialen Kontext verorten und die entsprechenden Zusammenhänge anschaulich visuell darstellen.

Des Weiteren liegt der Untersuchung umfangreiche Sekundärliteratur zur Serienforschung aus narratologischer und sozio-kultureller Perspektive zugrunde. Dabei dominieren – aufgrund der Konzentration auf den US-amerikanischen Kulturkreis – Werke US-amerikanischer Autor/inn/en. Diese Werke legen zwar mehrheitlich großen Wert auf einfache Zugänglichkeit und Verständlichkeit, bisweilen kann indes eine gewisse Oberflächlichkeit und insbesondere eine zu lapidare Verzahnung sozialer Faktoren und medialer Darstellungsweisen nicht geleugnet werden.Footnote 23 Dies reflektiere ich im Rahmen der Untersuchung.

Zur Orientierung der Lesenden befinden sich in Anhang 2 inhaltliche Zusammenfassungen aller analysierten Episoden. Dieser ist im elektronischen Zusatzmaterial der Arbeit einsehbar.

1.2 Charakteristika audiovisuellen seriellen Erzählens

Für Umberto Eco liegt der große Erfolg des seriellen Erzählens in der Befriedigung eines kindlichen menschlichen Bedürfnisses:

Bei den Serien glaubt man, sich an der Neuheit der Geschichte (die immer die gleiche ist) zu erfreuen, tatsächlich erfreut man sich aber an der Wiederkehr des immer konstanten narrativen Schemas. Die Serie erfüllt in diesem Sinne unser infantiles Bedürfnis, die gleiche Geschichte immer wieder zu hören, getröstet zu werden durch die ‚Wiederkehr des Identischen‘, das nur oberflächlich verkleidet ist. (Eco 1987: 52)

Diese repetitive Struktur, das Appellieren an das primitive Bedürfnis ‚einfach nur unterhalten zu werden‘, ist es, die der TV-Serie ihren langanhaltenden schlechten Ruf (vgl. Blanchet 2011: 38) und den Vorwurf mangelnder kultureller Qualität und Originalität (vgl. Krah 2010: 85 f.) einbrachten. Dennoch dominiert sie nicht seit Kurzem das TV-Programm. Schon 1991 sprach Knut Hickethier von einer „Serienschwemme“ (vgl. Hickethier 1991: 7). Spätestens durch das Quality-TV hat sich die Serie vom Vorwurf der kulturellen Unzulänglichkeit gelöst und sich vollends zu einem bedeutenden kulturellen Element entwickelt.

Nach Prisca Prugger besteht die „Hauptfunktion der realistischen Sozialserie […] für den Zuschauer in dem Angebot, an ihr die ‚Gültigkeit (eigner) Erfahrungen von der Welt‘ zu überprüfen und seine ‚Unsicherheit in Bezug auf soziales Verhalten zu reduzieren‘“ (vgl. Prugger 1994: 99 f.). Serien stellen sich, wenn auch implizit, als ‚Handlungsanleitung‘ dar, die anhand der Figuren Beispiele für – im dargestellten Weltbild – moralisch richtiges und falsches Verhalten geben (vgl. Decker et al. 1996: 23 f.). Sei es auch unbewusst, so verinnerlichen Zuschauende diese Weltmodelle und Vorstellungen davon, was als ‚normal‘ und ‚anormal‘ gilt. Serien haben somit ein nicht zu unterschätzendes kultur- und gesellschaftsprägendes Wirkungspotenzial, vor allem – wie sich im späteren Verlauf zeigen wird – in Bezug auf gesellschaftlich essenzielle Bereiche wie die Familie bzw. verbreitete Vorstellungen davon.

Der ökonomische Reiz der Serialität besteht im Potenzial, die Konsumierenden nach dem Scheherazade-Prinzip über längere Zeit an ein ‚Franchise‘ zu binden (vgl. Fröhlich 2015: 130). Aufgrund der breiteren Ausgestaltung über mehrere Episoden bieten Serien die Möglichkeit von Narrationen mit einem wesentlich höheren Detailgrad (bezüglich Handlung, Charakteren und deren Entwicklung etc.). Charaktere können daher intensiv entwickelt und ‚ausgeschmückt‘ werden, auch wenn allgemein nicht geleugnet werden soll, dass Serien oft aus ökonomischen Interessen fortgesetzt werden und weniger, weil dies inhaltlich besonders reizvoll wäre. Zum besseren Verständnis der weiteren Ausführungen und zur Einführung einiger Begrifflichkeiten wird an dieser Stelle ein Überblick über das Spektrum der seriellen Narration gegeben.Footnote 24

Bei der Kategorisierung von Serien orientiere ich mich an einem simplen Unterscheidungskriterium, das von der Sekundärliteratur wiederholt angelegt wird: die Trennung zwischen Fortsetzungsserien, im Englischen „series“, und Episodenserien, im Englischen „serials“ (vgl. Ruchatz 2012: 81). Im Folgenden soll hier die deutsche Terminologie verwendet werden.Footnote 25

Bei beiden Ansätzen definiert sich das Serielle über unterschiedliche Merkmale. Im Falle von Fortsetzungsserien handelt es sich um serielle Narration im klassischen Sinne:

Abb. 1.3
figure 3

Handlungsmodell Fortsetzungsserie

Serien wie Game of Thrones (USA, 2011–2019), Breaking Bad (USA, 2008–2013), die im Rahmen dieser Arbeit analysierte Serie Ozark (USA, seit 2017) oder die meisten Soaps erzählen eine Handlung, die sich über mehrere Episoden und Staffeln erstreckt (vgl. Abb. 1.3). Dabei ist es möglich, dass am Ende jeder Folge ein Zwischenschritt erreicht wird bzw. Handlungsstränge innerhalb einer Episode begonnen und beendet werden, grundsätzlich liegt jedoch ein durchgehender Handlungsstrang vor.Footnote 26 Eine beliebte Strategie der Zuschauerbindung ist dabei der sogenannte ‚Cliffhanger‘, ein dramatischer Höhepunkt mit ungeklärtem Ausgang am Ende jeder Folge und/oder Staffel.Footnote 27 Es handelt sich um Formate mit chronologisch strukturierter Narration, die ein gemeinsames Weltmodell abbilden und deren Einzelfolgen nicht abgeschlossen sind.

Abb. 1.4
figure 4

Handlungsmodell Episodenserie

Episodenserien weisen obigem Modell ein gemeinsames Weltmodell mit abgeschlossenen Einzelfolgen vor. Diese Formate erzählen in jeder Folge eine abgeschlossene Handlung, die zum Ende der Episode zumeist wieder dem anfänglichen Status quo zugeführt wird und somit in der folgenden Episode narrativ redundant ist (vgl. Krah 2010: 98; vgl. Abb. 1.4). Bestes und prominentestes Beispiel für diese Strategie ist die SitcomFootnote 28. Das Serielle entsteht hier durch andere verbindende Elemente. Dies können ein ähnliches Figureninventar oder sich wiederholende Schauplätze der Handlung, also ein gemeinsames, konsistentes „Weltmodell“ sein (vgl. Krah 2010: 97). So sind die Protagonist/inn/en der Zeichentricksitcom The Simpsons, die Mitglieder der gleichnamigen Familie und die Bewohner des fiktiven Ortes Springfield, dem vornehmlichen Schauplatz des Formats. Während Fortsetzungsserien – nach Büker und Vermeer – also auf syntagmatischer Ebene Kohärenz bilden, gehört die „Äquivalenz- und Paradigmenbildung zu den zentralen Prinzipien der Episodenserie“ (vgl. Büker/Vermeer 2018: 148 f.). Auch Reihen zählen in den Bereich der Episodenserie, bilden aber nicht unbedingt ein gemeinsames Weltmodell aus.

Ein Sonderfall hinsichtlich der Serialität liegt bei Formaten vor, die weniger durch eine Kontinuität der Narration als durch inhaltliche und stilistische Similarität oder vielmehr Kontiguität zusammengehalten werden, d. h. durch eine semantische Ähnlichkeit bzw. einen gemeinsamen Bezugsrahmen (vgl. Krah 2015: 95 f.). Dies ist insbesondere bei sogenannten ‚Anthologie-Serien‘ der Fall.Footnote 29 Es kann sich hierbei um Serien handeln, die – wie American Horror Story (USA, seit 2011) – pro Staffel eine Geschichte erzählen, also Fortsetzungsserien im eingeschränkten Sinne oder Episodenserien wie The Twilight Zone (USA, zunächst 1959–1964 – weitere Neuauflagen in den späteren Jahren).

In allen hier besprochenen Formen der Serie wird – unabhängig von einer Gewichtung auf die Einzelepisode oder die Fortsetzung – häufig in mehreren Handlungssträngen erzählt, die ineinander verflochten sind. Diese sogenannte ‚Zopfdramaturgie‘ ermöglicht multiperspektivisches Erzählen bzw. die Darstellung des Geschehens um verschiedene Charaktere (vgl. Prugger 1994: 106), insbesondere wird in Soaps und Sitcoms auf diese Strategie zurückgegriffen (vgl. Klein/Hißnauer 2014: 22; vgl. Abb. 1.4).

Kennzeichnend für zahlreiche Episodenserien, insbesondere Sitcoms, die sich über mehrere Episoden hinweg des gleichen Figureninventars bedienen, ist die Statik und Stereotypisierung der Figuren, d. h. ein mangelndes Potenzial zur Weiterentwicklung sowie deren archetypische Konzeption. Die Charaktere bleiben in ihren Ansichten und Handlungsschemata verhaftet, die bereits von ähnlichen Figuren aus anderen Formaten bekannt sind.Footnote 30 Der spezifische Reiz dieser Formate ergibt sich weniger aus einer Charakterentwicklung, sondern durch die Konfrontation der Figuren mit immer neuen Situationen bei einem konstanten Weltmodell. Repetitive Rollenschemata erleichtern den Zuschauenden die Orientierung innerhalb eines Formats und somit den Einstieg und das Weiterverfolgen der Serie (vgl. Chow 2004: 108). Eine Entwicklung dieser Figuren liegt nur im Sinne einer Kumulation von Merkmalen vor, d. h. einer immer deutlicheren Ausprägung bestimmter Eigenschaften eines Charakters ohne tatsächliche Änderung (vgl. Tetzlaff 2018: 256 f.). Figuren werden immer extremer, auch um den Zuschauenden nach mehreren Staffeln neue ‚Höhepunkte‘ bieten zu können. Episodenserien (bzw. traditionelle Serien und Reihen) verlangen also typischerweise kein Vorwissen und können achronologisch ausgestrahlt und rezipiert werden. Zusammen mit repetitiven bzw. homologen Erzählstrukturen erleichtert dies den Einstieg der Rezipierenden in das Format. Erfahrene Mediennutzende können Handlung und Figuren dabei problemlos einordnen, diejenigen, die mit dem Format vertraut sind, werden häufig durch intratextuelle Verweise zwischen den Episoden belohnt (vgl. Ganz-Blättler 2011: 81). Im Gegensatz dazu stellen Fortsetzungsserien oft eine Entwicklung der Charaktere, Schauplätze etc. in den Vordergrund. Ein Beispiel dafür ist die Serie Breaking Bad, in der sich ein tendenziell pazifistischer Chemie-Lehrer zum skrupellosen Drogenkoch und -händler entwickelt.

Auf die Analyse der Figuren ist bei der Serienanalyse ein besonderes Augenmerk zu legen:

Aus den Regeln der Rede, die primär die Werte der Figuren kodieren, lassen sich ideologische Regulationen und dadurch die Position der Figurenwerte im Wertesystem der Familienserien bestimmen. Serienanalyse, speziell von daily-soaps, ist primär Analyse der Figurenrede. (Decker et al. 1996: 17)

Auch jenseits der bei Decker et al. fokussierten Familienserie und der „daily-soap“Footnote 31 fungieren die Figuren einer Serie als Träger/innen bestimmter Eigenschaften bzw. Paradigmen, die in der Interaktion mit anderen Paradigmentragenden verhandelt und überprüft werden. Trotz der besonderen Bedeutung der Figurenrede, in der diese Paradigmen wortwörtlich geäußert werden, ist selbstverständlich das allgemeine Verhalten und Handeln der Charaktere von großer Bedeutung. Hickethier zufolge ist es eher das Verhalten der Figuren, das in der Erinnerung der Rezipierenden verhaftet bleibt, als die eigentliche Handlung einer Einzelfolge oder der Serie (vgl. Hickethier 1994: 69 f.). Die Exposition der Figuren erfolgt oft über bestimmte Handlungsräume, die mit bestimmten Merkmalen aufgeladen sind und die Zuschauenden auf das Geschehen einstimmen (vgl. Hickethier 1994: 63).Footnote 32

Zu betonen ist, dass sowohl Fortsetzungs- als auch Episodenserien nur Extrempole darstellen (vgl. Fröhlich 2015: 63 f., vgl. Kupper 2016: 51 f., vgl. Büker/Vermeer 2018: 144 f.). Es ist möglich, dass Serien dominant episodisch arbeiten, allerdings wiederholt auf Doppelfolgen oder ähnliche Zusammensetzungen zurückgreifen bzw. einen Handlungsstrang über die Episoden hinweg etablieren, der diese zwar nicht dominiert, aber zum Ende der Staffel in einem Finale kulminiert.

Moderne Fernsehserien setzen aufgrund einer vielsträngigen Erzählweise meist auf beides: episodische Handlung für einen Erzählstrang (Anreiz und Einstiegsmöglichkeit für gelegentliches Publikum) und fortgesetzte Narration (Anreiz für ein kontinuierliches Publikum) für einen anderen. […] Die ‚doppelte Formstruktur‘ ist die Wesensform und damit Ursache dafür, dass der seriellen Narration generell beide Erzählprinzipien innewohnen: Sie besteht aus Fortsetzung und episodischer Wiederholung, ihr Wesen setzt sich aus Erneuerung und Repetition zusammen. (Fröhlich 2015: 64)

Beispielhaft ist hierfür die Neuauflage der britischen Serie Doctor Who (GB, seit 2005 – zuvor 1963–1989), deren Episoden zwar klar in sich abgeschlossen sind, die aber dennoch episodenübergreifende Handlungsstränge aufweisen, welche sich vor allem um Hintergründe und Schicksal des Protagonisten sowie seiner wechselnden Begleitcharaktere drehen. Aufgrund der Abgeschlossenheit der Erzählstränge der Episoden ist es den Rezipierenden möglich, an einem beliebigen Punkt in die Serie einzusteigen, wenn es sich nicht gerade um eine zusammenhängende Doppelfolge handelt. Generell lässt sich in aktuellen Serien ein Trend in Richtung der episodenübergreifenden Erzählung erkennen (vgl. Sarkosh 2018: 231). Somit verweisen auch die Handlungen neuerer Sitcoms, eigentlich die exemplarische Form der episodisch getrennten und in ihrem Weltmodell konsistenten Episodenserie, wiederholt über Einzelepisoden hinaus, bauen eine durchgehende Narration auf und lassen eine – wenn auch eingeschränkte – Entwicklung der Figuren zu.Footnote 33 Diese Weiterentwicklung steht unter Umständen mit dem Trend zum Binge-Watching bzw. der „Marathonrezeption“ (Schleich/Nesselhauf 2016: 210) in Verbindung.Footnote 34

1.3 „Familienserie“ – Klärung des Genrebegriffes

Der Begriff „Familienserie“ ist bereits in der vorangehenden Einleitung wiederholt gefallen und wird auch in der weiteren Untersuchung oft Verwendung finden. An dieser Stelle soll geklärt werden, was unter „Familienserie“ zu verstehen ist.

„Familienserie“ im engeren Sinne bezeichnet diejenigen Serien, die Familie und von der Familie ausgehenden Problematiken offenkundig als zentrale Thematik setzen. In diesen Bereich fallen rückblickend zahlreiche populäre Sitcoms wie The Cosby Show, Roseanne, Malcolm in the Middle oder auch Modern Family, ebenso aber auch andere Formate mit familiärem Fokus wie Dallas oder Dynasty (in Deutschland besser bekannt als Der Denver Clan). Im weiteren Sinne könnte man auch Serien wie Friends, Scrubs oder How I Met Your Mother darunter verstehen, die Gruppen von Freunden oder Vertrauten in den Mittelpunkt stellen und als Wahlfamilie äquivalent zur Blutsfamilie setzen. Im Rahmen meiner Untersuchung verstehe ich Familie allerdings im engeren Sinne als durch Blutsverwandtschaft, Heirat, Verschwägerung etc. entstandener Verband. Wie bereits einleitend ausgeführt, stellen Alternativmodelle von Familie, auch Wahlfamilien und Freundschaftsverbände eine eigenständige Thematik dar und werden dementsprechend nur dann in die Analyse miteinbezogen, wenn sie Teil der Serien sind.

Bei der Betrachtung der Video-on-Demand-Serie wurde recht schnell offensichtlich, dass diese traditionelle Definition von Familienserie kein zielführender Ansatzpunkt mehr sein kann, wird sie doch der Komplexität der Charaktere und Handlungen nicht mehr gerecht. Die absolute Konzentration auf die Familienthematik wich bereits mit dem Quality-TV der frühen 2000er und den darauffolgenden Serien einer anderen thematischen Herangehensweise. Serien wie The Sopranos oder Breaking Bad stellen zunächst andere Thematiken in den Vordergrund, hier eine Mafiaorganisation (die man nur im weiteren Sinne als „Familie“ versehen kann) oder kriminelle Verstrickungen in der Drogenszene. De facto steht bei diesen Serien allerdings wiederum eine Familie im engeren Sinne im Zentrum und die Auswirkungen des jeweiligen Umfelds auf die familiäre Dynamik. Ebenso verhält es sich mit dem Netflix-Original Ozark, das Bestandteil meines Analysekorpus ist. Mit Blick auf andere Netflix-Originals, die ausgeprägte Vertreter anderer GenresFootnote 35 wie z. B. Science-FictionFootnote 36 oder Horror und MysteryFootnote 37 sind, wird deutlich, dass diese Serien einer ähnlichen Strategie folgen: Horror-Serien wie Stranger Things (USA, seit 2016)Footnote 38, ebenso wie die Science-Fiction-Serie Another LifeFootnote 39 stellen zwar eine genrespezifische Thematik in den Vordergrund, fokussieren aber familiäre Konflikte und äquivalente emotionale Bindungen. Dabei gibt es stets eine bzw. mehre Familien, die als Mittelpunkt der Handlung fungieren.

Um diese Entwicklung nachzuvollziehen und den Begriff ‚Familienserie‘ in einer für diese Untersuchung adäquaten Weise zu definieren, bietet sich eine Anwendung des Modells der Semiosphäre nach Lotman an:

Abb. 1.5
figure 5

(nach Decker 2017: 439)

Semiosphäre

Die „Semiosphäre“ (vgl. Abb. 1.5) beschreibt zunächst den gesamten Raum der kulturellen Kommunikation mittels Zeichen. Allerdings lassen sich damit auch Teilräume bzw. „Teilkulturen“ (Decker 2017: 437) dieser Kommunikation und somit auch einzelne Medien begreifen. Durch beständige Integrations- und Semiotisierungsprozesse bildet die Semiosphäre ein semantisches Zentrum aus, in dem die zentralen Werte, Normen und Konventionen gebündelt vorliegen, „die die Vorstellung einer Kultur von sich nachhaltig prägen und verfestigen“ (Decker 2017: 438). Diese fransen bis zur Grenze der Semiosphäre sukzessive aus, es treten Variablen, Durchlässigkeiten und Vermischungen auf. Gleichzeitig zur Semiotisierung finden eine beständige „Desintegration“ und „Entsemiotisierung“ statt, die bisherige normgebende Elemente an den Rand drängen (vgl. Decker 2017: 438). Was zu einem Zeitpunkt Norm war, kann im Zuge des kulturellen Wandels diesen Status verlieren. „An der Peripherie einer Semiosphäre kann es […] zu Kontaktphänomenen mit anderen Semiosphären kommen.“ (Decker 2017: 438). Aus diesem Kontakt kann entweder ein Austausch zwischen den Semiosphären folgen oder aber eine strikte Abschottung der Semiosphären voneinander.

Das Modell der Semiosphäre erweitert dabei traditionelle Zeichenmodelle, die meistens isoliert vom Begriff des Einzelzeichens, vom einzelnen Zeichenbenutzer oder dem einzelnen Kode ausgehen. Das Konzept der Semiosphäre versucht die Gesamtheit aller gleichzeitig gegebenen Texte, die diesen Texten zu Grunde liegenden Kodes und die Benutzer dieser Kodes in einem systematischen Zusammenhang miteinander zu verbinden. Dieser systematische Zusammenhang ist Kultur im allgemeinen Sinne und sind Teilkulturen im Besonderen, die mit Hilfe des Konzepts von der Semiosphäre als semiotischer Raum beschrieben und erklärt werden. (Decker 2017: 437).

Gerade durch diesen umfassenden Charakter und den beständigen Wandel der Semiosphäre, lässt sich dieses Modell auf hochdynamische und interdependente mediale Prozesse, wie die audiovisuelle Serie und deren Unterkategorien anwenden. Dementsprechend soll die „Familienserie“ hier als Semiosphäre verstanden werden. Dabei ist sie Teil der Semiosphäre Serie und keinesfalls disjunkt von dieser getrennt, sondern Organ eines größeren Organismus (vgl. Lotman 1990: 296).

Versteht man nun also die Familienserie als Semiosphäre, so hat – nicht bedingt durch die Video-on-Demand-Serie, sondern bereits in den frühen 2000ern – ein Wandel dessen stattgefunden was sich in deren Zentrum als zentral und normgebend verorten lässt. Zunächst fanden sich hier Serien, die Familie als solche in einem mittelständischen familiären Umfeld verorteten bzw. auf einem alltäglichen und nachvollziehbaren Terrain. Neuere Serien zeigen zwar nach wie vor Familie, in vergleichbarer Strukturierung, variieren aber den Rahmen der Handlung, indem Konventionen anderer Genres wie des Crime, des Horror oder des Science-Fiction adaptiert werden. Hier liegt eine Überschneidung mit anderen Semiosphären (also anderen Seriengenres) vor und ein damit einhergehender Austausch, bei dem Elemente der jeweiligen Genres in den Bereich der Familienserie vordringen und zunehmend in das Zentrum der Semiosphäre integriert werden. Somit stehen heute auch Serien wie Breaking Bad oder Stranger Things eher im Zentrum als in der Peripherie der Familienserie. Wie ist nun aber Familienserie heute zu definieren?

Ich möchte im Sinne des obigen Modells Familienserie als dynamische Semiosphäre verstehen, die eine große Offenheit für Einflüsse anderer Semiosphären aufweist. Was ist nun die Differenz zwischen einer Familienserie mit Horror-Elementen und einer Horror-Serie, in der auch Familien auftauchen? Gerade durch die Überschneidungen in der Peripherie ist oft keine absolute Trennung möglich. Auch eine Science-Fiction-Serie kann Elemente der Fantasy und des Horrors aufweisen. So kann der Film Alien (GB/USA, 1979) sowohl als Horror-Film, wie auch als Science-Fiction-Film betrachtet werden. Er befindet sich im Überschneidungsbereich beider Semiosphären die sich gegenseitig weit überlappen. Ebenso weist auch die Familien-Serie Überlappungen mit Serien anderer Genres auf (vgl. Abb. 1.6), wobei in obiger Abbildung nur einige Genres beispielhaft herausgegriffen wurden. Die Video-on-Demand-Serie überschneidet sich innerhalb der Semiosphäre ‚Serie‘ wiederum mit allen möglichen weiteren Semiosphären und integriert deren Elemente in ihr Zentrum. Je mehr eine Serie Familie fokussiert, desto näher steht sie dem Zentrum der Semiosphäre Familienserie. Je rudimentärer Familie thematisiert wird weniger desto mehr befindet sie sich an deren Peripherie. Abgeleitet von diesen Beobachtungen verstehe ich unter Familienserien, all diejenigen Serien, in denen Familie eine zentrale, handlungstragende Rolle spielt. Im Zentrum der Familienserie befinden sich Serien, deren absoluter Dreh- und Angelpunkt die Familie ist, ohne dass hier maßgebliche Einflüsse anderer Genres zu erkennen wären.

Abb. 1.6
figure 6

(nach Decker 2017: 439)

Semiosphäre (Familien-)Serie

Die Überschneidung der Familienserie mit anderen Genres ist Produkt des Bedürfnisses der Rezipierenden nach Variation. Stets die gleiche Art Serie zu sehen, verliert für Teile des Publikums auf längere Sicht an Reiz. Um bekannte Themen zu variieren und den gestalterischen Handlungsspielraum zu erweitern, werden Motive diverser Genres miteinander verknüpft. Wie hier schematisch aufgezeigt wurde, ist Lotmans Semiosphäre geeignet eben diese aktuelle Hybridisierung von Genres modellhaft abzubilden und nachvollziehbar zu machen.

1.4 Darlegung des Analysekorpus

Nach einer Sichtung des Angebots der Streaming-Dienste Netflix, Prime Video und Maxdome sowie weiterer Serien auf diversen Plattformen wurde das Analysekorpus anhand folgender Kriterien eingegrenzt:Footnote 40

  1. 1.

    Es handelt sich um Video-on-Demand-Serien, d. h. Serien, die allein zur Ausstrahlung auf Online-Plattformen produziert wurden. Ich meine Serien aus dem Angebot der Marktführer Netflix und Prime Video. Dabei ist teilweise Vorsicht geboten, denn nur ein Bruchteil der sogenannten ‚Netflix Originals‘ sind tatsächlich für Netflix produziert. Häufig handelt es sich um Serien, die ursprünglich für einen Fernsehsender produziert wurden, für die Netflix jedoch über die exklusiven Ausstrahlungsrechte in einem Land verfügt. Der Recherche bezüglich Netflix Originals liegt die auf media.netflix.com veröffentlichte Liste der Netflix Originals zugrunde.Footnote 41 Alle von Amazon bzw. Prime Video produzierten Serien werden auf der Webseite selbst als „Prime Original“ gekennzeichnet, während Serien, die exklusiv von Amazon ausgestrahlt werden, das Label „Prime Exclusive“ tragen.

  2. 2.

    Es handelt sich um ‚Familienserien‘, die eher Richtung Zentrum der Semiosphäre tendieren (vgl. 1.3).

  3. 3.

    Primär ziehe ich US-amerikanische Serien zur Analyse heran. Neben praktischen Überlegungen zur Beschränkung des Korpusumfangs und der Vergleichbarkeit der Formate untereinander, ergibt sich dieser Umstand aus dem repräsentativen Charakter der US-amerikanischen Medienproduktion: Sind die Entwicklungen im Bereich des Privaten und der Familie sicherlich nicht in allen Teilen der westlichen Gesellschaft identisch, so bestehen doch Äquivalenzen. Vor allem sind es US-amerikanische Filme und Serien, ist es die amerikanische Populärkultur,Footnote 42 die in besonderem Maße prägend für die Gesamtheit der westlichen Kultur – insbesondere für eine jüngere Generation – ist, nicht nur, aber auch aufgrund der zahlenmäßigen Dominanz dieser Produkte und ihrer medialen Omnipräsenz. Gelten die Aussagen dieser Arbeit vornehmlich für die US-amerikanische Gesellschaft, so ist doch in gewissem Maße eine interkulturelle Verallgemeinerbarkeit gegeben.

  4. 4.

    Ich schließe jegliche Serien aus, die in dieser Form nicht originär und zuerst für die Anbieter produziert wurden. Das bedeutet den Ausschluss von Pre und Sequels (Vorgeschichten und Fortführungen bereits bestehender Formate), Reboots (Neuauflagen bestehender Serien), von Verfilmungen jeglicher Art (Buch-, Computerspiel-, Franchise-Verfilmungen etc.), von Adaptionen von Filmen und ebenso von Serien, welche zuerst für das Fernsehen produziert und auf Streaming-Plattformen fortgeführt werden.

  5. 5.

    Zudem beziehe ich Serien, die explizit an ein Publikum bis zwölf Jahren gerichtet sind, nur kursorisch mit ein. Hier steht in der Regel weniger die Familie per se im Mittelpunkt als Freundschaftsverbände und die Vermittlung grundlegender Normen und Werte. In der Art und Weise ihrer Wertevermittlung fügen sich (Klein-)Kinderserien obendrein nicht in das Korpus ein, vielmehr bieten sie sich zur eigenständigen Analyse an.

  6. 6.

    Diegetisch werden alle Serien meines Korpus nach 1950 verortet sein, also in der Zeit, in der sich das für die heutige Serie prägende Familienbild entwickelte.

  7. 7.

    Aus pragmatischen Gründen wurden nur Formate gesichtet, die bis Ende 2018 erschienen sind.

Diese Auswahlkriterien sind zunächst sehr allgemein und bergen die Gefahr, dass die Spezifika der Serien angesichts der Konzentration auf die Familienthematik verloren gehen. Diese Auswahl war indes aufgrund zweier Faktoren notwendig: Da die Streaming-Anbieter keine Zuschauerzahlen oder ähnliche Indikatoren veröffentlichen, die einen Schluss auf die Popularität der Formate erlauben, war es nicht möglich die „Spitzenreiter“ auszuwählen. Um dennoch einen möglichst breiten Schnitt und somit weitgehende Repräsentativität zu ermöglichen, wurden allgemeine Kriterien angelegt. Aus diesem Grund wähle ich Serien, die sowohl dem Bereich der Fortsetzungsserien als auch der Episodenserien angehören, ebenso wie Serien des Realfilm- und des Zeichentrickbereichs. Mein Korpus setzt sich dementsprechend aus Fortsetzungsserien, Sitcoms und Zeichentricksitcoms zusammen. Unter diesen durchaus diversen Formaten wird, durch eine Aussparung der spezifischen Ästhetik und eine Konzentration auf die Ebene der Histoire, Vergleichbarkeit hergestellt. Im Fokus steht dabei gerade nicht das Spezifische der Einzelserie, sondern die Abstraktion eines gemeinsamen Familienmodells.

Der Umstand, dass sich ein Erzählstrang über mehrere Folgen erstreckt, verkompliziert die Zusammenstellung eines Analysekorpus. Es stellt sich die Frage, ab welcher Zahl analysierter Episoden eine Analyse als repräsentativ für das gesamte Format gelten kann. Aufgrund der übergreifenden Narration ist die Analyse von Einzelepisoden im Falle von Fortsetzungsserien nur eingeschränkt sinnvoll. Vermeintliche Schlüsse, welche sich aus dem Handlungsstrang einer Episode ergeben, können in der folgenden Episode negiert werden. Ebenso ist die Darstellung einer Thematik erst mit Abschluss eines Handlungsstrangs umfassend erfassbar bzw. einschätzbar. Da innerhalb einer Staffel in der Regel dominante Handlungsstränge abgeschlossen und die grundlegenden Paradigmen, die etwaige weitere Staffeln dominieren, zu Beginn eines Formats etabliert werden, umfasst meine Analyse stets die erste Staffel einer Fortsetzungsserie – weitere Entwicklungen werden nicht einbezogen. Dies beugt einer überbordenden Menge an Analysematerial vor und ermöglicht somit eine eingehende Analyse der Einzelepisoden bzw. der Charaktere. Da auch im Falle von Episodenserien grundlegende thematische Schwerpunkte in der ersten Staffel bereits etabliert werden, verfahre ich hier ebenso. Die einzige Ausnahme stellt die Serie F is for Family dar. Hier umfasst die erste Staffel lediglich 6 Episoden mit maximal 28 Minuten Länge. Dementsprechend wurden jeweils die erste und die letzte Folge der weiteren Staffeln (II und III) herangezogen.

Da die Analyse von Serien einigen Umfang in Anspruch nimmt, habe ich ein Korpus von elf Serien festgelegt. Das Zentrum der Analyse bilden dabei – wie bereits zuvor dargelegt – die zehn Folgen der ersten Staffel der Serie Ozark (USA, seit 2017). Diese Serie widmet sich der Familie in herausragender Weise und dient als zentraler Anknüpfungs- und Vergleichspunkt. Weitere Serien, die ich im Rahmen meiner Untersuchung schwerpunktmäßig analysieren möchte, sind:

  • Die Fortsetzungsserie The Marvelous Mrs. Maisel (seit 2017; Prime Video)

  • Die Zeichentricksitcom/Episodenserie F is for Family (seit 2015; Netflix)

  • Die Fortsetzungsserie The Get Down (2016–2017; Netflix)

  • Die Fortsetzungsserie Red Oaks (2014–2017; Prime Video)

  • Die Fortsetzungsserie Everything sucks! (2018; Netflix)

  • Die Fortsetzungsserie Transparent (2014–2019; Prime Video)

  • Die Fortsetzungsserie Grace and Frankie (seit 2015; Netflix)

  • Die Episodenserie The Ranch (seit 2016; Netflix)

  • Die Fortsetzungsserie Atypical (seit 2017; Netflix)

  • Die Anthologie- und Episodenserie The Romanoffs (2018; Prime Video)

Die Auswahl dieser konkreten Serien ergibt sich, nach sorgfältiger Durchsicht des Programms beider Anbieter, aufgrund bestimmter Umstände. Zunächst stehen alle Formate im Einklang mit den oben genannten Kriterien. Zum anderen weist jede der Serien einige Faktoren auf, die eine Analyse in diesem Rahmen nahelegen.

Die bereits erwähnte Serie Ozark behandelt das Schicksal des Familienvaters Marty Byrde, der in die Geldwäschegeschäfte eines mexikanischen Drogenbosses gerät. Da dieser seine Familie bedroht, stimmt er zu, für ihn zu arbeiten. Innerhalb der Familie, die in der Serie stark fokussiert wird, werden die Zustände, neben der äußeren Gefahr, von einem massiven Konflikt zwischen Marty Byrde und seiner Ehefrau bestimmt: Sie hat ihn mit einem anderen Mann betrogen. Diese Serie dient deswegen als Ausgangspunkt der Analyse, da hier die Familienthematik das absolut zentrale Paradigma ist. Ozark verhandelt diverse Modelle von Familie bezüglich sozialer Herkunft, aber auch bezüglich deren Zusammensetzung: Neben der traditionell-konservativ strukturierten Familie Byrde stehen ‚ defiziente‘ Familienverbände, also Familien ohne Mutter, ohne Vater oder ohne Kinder, die vom traditionellen Bild der Kernfamilie abweichen, ebenso wie komplett alleinstehende Charaktere. Dementsprechend eignet sich die Serie in besonderer Weise zu einer exemplarischen Analyse – im Gegensatz zu anderen Serien, die sich meist nur auf eine Familie – die Familie der Protagonist/inn/en – fokussieren.

Die Serien The Marvelous Mrs. Maisel, F is for Family, The Get Down, Red Oaks und Everything sucks! reihen sich wiederum in ein gewissermaßen zusammenhängendes Korpus ein. The Marvelous Mrs. Maisel spielt in den USA der 1950er Jahre und behandelt das Schicksal von Miriam Maisel, die von ihrem Ehemann verlassen wird und daraufhin – gegen die Konventionen einer patriarchalisch geprägten und stark sexistischen Gesellschaft – ihren Traum von einer Karriere als Stand-Up-Comedienne verwirklicht. F is for Family, eine Zeichentricksitcom (und charakteristisch für diese Gattung), die in den 1970er Jahren spielt, setzt sich mit dem Leben eines Mannes auseinander, der die alltäglichen Tücken des Familienlebens und des Arbeitsalltags bewältigen muss. Auch das Leben der anderen Familienmitglieder wird dabei in den Blick genommen. Da F is for Family den Schwerpunkt eher auf eine Familiendarstellung legt, die repräsentativ für die Zeichentricksitcom ist, und weniger auf eine Darstellung der 1970er Jahre, wurde ergänzend The Get Down in das Korpus aufgenommen. Diese Serie verfolgt die Bemühungen einiger afroamerikanischer Jugendlicher aus dem New Yorker Stadtteil Bronx, eine Musikkarriere (vor allem im Bereich des Hiphop) aufzubauen, ebenso wie deren Familien- und Beziehungsproblematiken. Der Protagonist in Red Oaks steht im New Jersey der 1980er Jahre vor der Wahl entweder dem Berufswunsch seines Vaters oder seinen eigenen Vorstellungen zu folgen. Everything sucks! schließlich ist an einer High-School der 1990er Jahre verortet und setzt sich mit dem Adoleszenz- und Selbstfindungsprozess der jugendlichen bzw. pubertären Protagonist/inn/en auseinander. Auch die familiären Verhältnisse spielen dabei eine Rolle. Zum einen eignen sich diese Serien durch ihre Thematisierung diverser familiärer Situationen bereits zur Analyse. Darüber hinaus verhandeln sie – aus heutiger Perspektive – Familien- und Geschlechterrollen vergangener Jahrzehnte. Aufgrund der kontemporären Perspektivierung der dargestellten Weltmodelle ist es zwar anhand dieser Beispiele nicht möglich, ein akkurates Bild der familiären Zusammenhänge bzw. der Normvorstellungen der jeweiligen Epoche zu konstruieren. Allerdings ist es analytisch wertvoll nachzuvollziehen, welche Perspektive aktuelle Serien gegenüber den Familienmodellen vergangener Jahrzehnte einnehmen und wie sich dies zu der von mir in 2. nachvollzogenen historischen Entwicklung des medialen Familienbilds verhält.Footnote 43

Protagonist der Serie Transparent ist ein emeritierter Hochschulprofessor, der sich vor seiner Familie (die Kinder sind erwachsen) als transsexuell outet und beschließt, fortan ein Leben als Trans-Frau zu führen. In Grace and Frankie lassen sich die Ehemänner der namensgebenden Hauptcharaktere von ihren Ehefrauen scheiden, um einander zu heiraten. Beide Formate wurden ausgewählt, da sie sich zentral mit nicht heteronormativen Familienformen und den Auswirkungen nicht heterosexueller Geschlechterrollen auf familiäre Verbände auseinandersetzen.

Die verbleibenden Serien stehen ohne verbindende Elemente für sich. In The Ranch kehrt ein erfolgloser Footballer zur Familienranch zurück und muss dort einen Prozess der Mannwerdung‘ durchlaufen, d. h., seine Rolle in einem gefestigten Leben finden. Diese Serie wurde einerseits ausgewählt, da es sich um eine Sitcom im klassischen Sinne handelt, andererseits bildet die Analyse einer medialen Auseinandersetzung mit einem stark konservativen Umfeld – dem ländlichen Colorado – einen Gegenpol zu den eher städtischen Diegesen der anderen Serien im Untersuchungskorpus und ist damit analytisch lohnenswert.

Atypical setzt sich mit dem alltäglichen Leben einer Familie auseinander, zu deren Kern ein autistischer Sohn gehört. Diese Serie fokussiert nicht nur familiäre Abläufe, sondern stellt vor allem das familiäre Leben eines Menschen mit psychischer Behinderung dar.

Bei The Romanoffs handelt es sich um die einzige Anthologie-Serie des Korpus, die u. a. aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu dieser Gattung ausgewählt wurde. Jede der acht Folgen erzählt eine andere Geschichte. Vordergründig verbindendes Element ist, dass in jeder Episode – wenn auch nur peripher – die Abstammung einer Person von der russischen Zarenfamilie thematisiert wird. Tatsächlich stehen vor allem familiäre Zusammenhänge im Fokus des Formats. Durch diese Art der Narration ist es der Serie möglich, in jeder Episode andere Modelle von Familie sowie den Umgang mit Geschlechterrollen zu reflektieren. Anhand dieser ausgewählten Serien möchte ich ein Bild der Familienthematik in Video-on-Demand-Serien ableiten.