Zusammenfassung
In dem Beitrag werden ausgewählte Argumentationslinien von Helmuth Plessner und Hermann Schmitz vorgestellt und auf ethnographisches Datenmaterial zur Hospizausbildung angewandt. Dabei ist die Frage leitend, welche Perspektiven sich auf die erfahrungsbasierten Daten ergeben, in denen das Sterben thematisiert wird, wenn „exzentrische Positionalität“ (Plessner 1975, S. 325) als Kernkategorie der Philosophischen Anthropologie und „subjektive Tatsachen“ (Schmitz 2014, S. 31) als basales Konzept der Neuen Phänomenologie in Form von Seh-Hilfen genutzt werden, um den Beschreibungen analytisch zu begegnen. Die Ergebnisse dieses theoretisch informierten Interpretationsprozesses werden im Anschluss dahin gehend diskutiert, ob die beiden Perspektiven als komplementär einzustufen sind oder theorieimmanente Widersprüche aufscheinen.
Abstract
In this paper, selected lines of argumentation by Helmuth Plessner and Hermann Schmitz are presented and applied to ethnographic data on hospice education. The guiding question is what perspectives emerge on the experience-based data in which dying is thematized when “eccentric positionality” (Plessner 1975, p. 325) as a core category of philosophical anthropology and “subjective facts” (Schmitz 2014, p. 31) as a basic concept of the New Phenomenology are used as visual aids to analytically encounter the descriptions. The results of this theoretically informed interpretation process are subsequently discussed in terms of whether the two perspectives can be classified as complementary or whether theory-immanent contradictions emerge.
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Notes
- 1.
Die Daten wurden im Rahmen meines Dissertationsprojekts erhoben, in dem ich einen Hospizkurs auf der Basis einer ethnographisch ausgerichteten Forschungsstrategie analysiere (vgl. Pierburg 2021). Auch die in dem Beitrag analysierte Feldvignette findet sich in ähnlicher Form in der Dissertation, wird in der vorliegenden Arbeit aber spezifisch genutzt, um Argumentationen von Plessner und Schmitz aufeinander zu beziehen.
- 2.
Inwiefern es sich beim Leib um eine Entität, eine spezifische Materialität handelt, erscheint in der Rezeption diskutabel. Gugutzers Argumentation verweist eher auf Dinglichkeit (vgl. Gugutzer 2012, S. 35), während Jägers und Soentgens Lesarten mehr oder minder explizit nicht ontologisch ausgerichtet sind (vgl. Jäger 2014, S. 56; vgl. Soentgen 1998, S. 15). Aufgrund der Definition, die zwischen Leib und leiblichen Regungen unterscheidet und ein prädimensionales Volumen in Anschlag bringt, wird hier ein Verständnis zugrunde gelegt, das von einer spezifischen Materialität ausgeht, die mit naturwissenschaftlichen Theorien bricht und mit einem eigenen Raumkonzept verbunden ist, das Schmitz an unterschiedlichen Stellen seines Werks einführt und diskutiert (vgl. u. a. Schmitz 1998).
- 3.
Ethnographie und Phänomenologie stehen in einem mehr oder minder starken und explizierten Zusammenhang, der sich vor allem auf die Herstellung sozialer Wirklichkeit und Möglichkeiten ihrer Erforschbarkeit richtet, womit oftmals eine Rezeption der sozialphänomenologischen Theorien von Alfred Schütz einhergeht (vgl. Maso 2007).
- 4.
Peter bringt eine weitere phänomenologische Theoriebildung ins Spiel; sie bezieht sich in ihren Ausführungen vorrangig auf Bernhard Waldenfels (vgl. Peter 2018, S. 256).
- 5.
Sowohl das Curriculum, das loslassen als einen Schritt einer Sterbebegleitung konzeptualisiert, als auch das Verbum selbst und die in der Feldvignette dargestellte Inszenierung eines Tuns können als Belege herangezogen werden, dass hier ein aktives Handeln mit dem Sterben und seiner Begleitung assoziiert wird. Ob diese vielleicht kontraintuitive Bedeutungszuschreibung außerhalb der Kurswirklichkeit, z. B. in aktualen Sterbebegleitungen, relevant oder aufrecht zu erhalten ist, kann und soll durch das Datenmaterial nicht belegt werden.
- 6.
Man könnte das Datenmaterial mit unterschiedlichen Thesen und Argumentationen von Plessner und Schmitz perspektivieren, deren umfangreiche Werke zahlreiche Anknüpfungspunkte bieten. Hier stehen allerdings die reflexiven und subjektiven Tatsachen im Vordergrund, da so zwei grundlegende Aspekte beider Theorien Raum finden, die nebeneinandergestellt werden können.
- 7.
Hierbei wird deutlich, dass ein spezifisches Datenmaterial die Voraussetzung dafür ist, eine neophänomenologische Perspektive fruchtbar anwenden zu können. Leiblichkeit zum Thema zu machen, bedeutet, ihr im Rahmen der Datengenerierung Raum zu geben und Aufmerksamkeit zu schenken. In der Ethnographie ist die Zuwendung zu leiblichen Regungen, die die Situation mitgestalten und in Bezug auf die Analyse deutungsrelevant sein können, über die teilnehmende Beobachtung zugänglich.
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Pierburg, M. (2022). Subjektive und reflexive Tatsachen: Sterben jenseits primitiver Gegenwart im Feld der Hospizausbildung. In: Bosch, A., Fischer, J., Gugutzer, R. (eds) Körper – Leib – Sozialität. Vital Turn: Leib, Körper, Emotionen. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-34599-0_13
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