Zusammenfassung
Im vorangegangenen Kap. 2 haben wir vorwiegend auf einer beschreibenden Ebene herausgearbeitet, was unter urbaner Komplexität verstanden werden kann und mit welchen Herausforderungen sich dadurch die lokal operierenden Organisationen konfrontiert sehen. Gemäß der spezifischen Verantwortungsbereiche, vorgeschriebener Routinen und organisationaler Entscheidungslogiken erfüllen die Organisationen nun ihre Funktionen und Pflichten im Umgang mit dieser Komplexität. Sie entwickeln Programme und Mechanismen, um urbane Komplexität besser kalkulierbar erscheinen zu lassen (vgl. Rolfes 2017, S. 50). Folgt man Luhmann, so sind allerdings gerade Verwaltungen bei ihren Entscheidungen eher risikoscheu: „Bürokratisches Verhalten ist in extremem Maße risikoavers […]. Die oberste Regel ist: Keine Überraschungen zulassen“ (Luhmann 2003, S. 203). Aus diesem Grund sind – so die Annahme – die Steuerungsmodelle in Kommunen eher linear und stabil organisiert, es existieren klare Regeln und exakt abgegrenzte Verantwortungsbereiche, die überwiegend hierarchisch aufgebaut sind. Folgt man Nassehi, so handelt es sich um „das Normalmodell [beim Umgang mit Komplexität, Ergänzung der Verf.], dessen Beschreibungsformen für uns am plausibelsten erscheinen“ (Nassehi 2017, S. 72). D. h. beim Umgang mit urbaner Komplexität finden sich eher selten solche Entscheidungsprogramme und Vorgehensweisen, die auf die explizite Eigendynamik der unterschiedlichen, voneinander unabhängigen Logiken der kommunalen Organisationen und Funktionsbereiche zielen – das deckt sich mit unseren Beobachtungen und Projekterfahrungen. Vereinzelt tauchen zwar Hinweise auf einen systemtheoretischen oder systemischen Ansatz in der kommunalen oder regionalen Entwicklung auf (vgl. Hohm 2003, S. 11 ff.; Carsten 2005, S. 78 ff.; Hummelbrunner et al. 2013, S. 97 ff.; Rolfes und Wilhelm 2013, S. 22 ff.). Diese haben sich in Forschung und Praxis aber nur punktuell durchgesetzt. Da wir in den systemtheoretischen und systemischen Ansätzen ein erhebliches Potenzial hinsichtlich des Umgangs mit und des Gestaltens von urbaner Komplexität sehen, wird in diesem Kapitel nun schrittweise erläutert, was es mit systemtheoretischen und systemischen Ansätzen in der Stadtentwicklung auf sich hat und warum wir die begriffliche Symbiose „system(theoret)isch“ präferieren.
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Rolfes, M., Wilhelm, J.L. (2021). System(theoret)ische Ansätze in der Stadtentwicklung: Entwicklungsgeschichte, Perspektive und Grundpositionen. In: System[theoret]ische Stadtentwicklung. RaumFragen: Stadt – Region – Landschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-34516-7_3
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