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1 Einleitung

Der weltweite Kampf gegen die Covid-19-Pandemie und die damit verbundenen Maßnahmen wie befristete Schließungen von Betrieben im Handel und der Gastronomie sowie von Bildungsinstitutionen, Ausgangsbeschränkungen, physische Abstandsgebote und Hygieneregeln haben massive Auswirkungen auf unser soziales und wirtschaftliches Leben (Bock-Schappelwein et al. 2020; Teurl und Tamesberger 2020; Volkmer und Werner 2020). Die Pandemie hat nicht nur in Österreich, sondern weltweit die Wirtschaft in eine tiefe Rezession gestürzt und zum stärksten Beschäftigungseinbruch seit den 1950er Jahren beigetragen. Die Zahl der Arbeitslosen ist ab Beginn der durch die österreichische Bundesregierung verordneten Beschränkungen Mitte März 2020 binnen weniger Wochen rapide gestiegen, sodass die Zahl der Aktiv-Beschäftigten Ende März 2020 um 5 % niedriger lag als im Vergleichsmonat ein Jahr zuvor (Hofer und Weierstraß 2020). Ein noch massiverer Beschäftigungsrückgang konnte durch die Implementierung der Corona-Kurzarbeit gedämpft werden (Hyll et al. 2020).

Um die physischen Kontakte und damit das Risiko einer Ansteckung mit dem Coronavirus so weit wie möglich zu reduzieren, wurde an Unternehmen appelliert, die Arbeit, wo immer dies möglich ist, ins Homeoffice zu verlagern.Footnote 1 Für viele Arbeitskräfte wurde damit die eigene Wohnung gleichsam von einem Tag zum anderen zur eigenen Arbeitsstätte. Beschäftigte in sogenannten systemrelevanten Berufen, wie z. B. im Handel, in Krankenhäusern und Pflegeheimen oder auch in manuellen Berufen sowie im Produktionsbereich, waren allerdings weiterhin in ihren Arbeitsstätten vor Ort gefragt. Die Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Kinderbetreuung stellte sich für Arbeitnehmer*innen mit Kindern unter den Bedingungen von weitgehend geschlossenen Betreuungseinrichtungen sowie Schulen und beruflichen Anforderungen daher je nach Tätigkeitsbereich in unterschiedlicher Form.

Insgesamt war der gesellschaftliche Druck, Kinder zuhause zu betreuen, zu Beginn des ersten Lockdowns groß. Kindergärten und Schulen standen zunächst nur jenen Familien offen, in denen ein*e oder beide Partner*innen in systemrelevanten Berufen arbeitete(n). Die meisten Eltern suchten nach individuellen Lösungen, um dem Krisen-Leitbild verantwortungsbewusster Eltern zu entsprechen. Zudem wollten sie das eigene Kind, sich selbst und vor allem ältere Familienangehörige nicht bewusst einem Ansteckungsrisiko aussetzen (Langmeyer et al. 2020; Schönherr 2020). Arbeit, sei es im Homeoffice oder außerhalb, verlangte Familien von Kindern im Schulalter und jenen mit Kleinkindern bei der Strukturierung des Alltags viel ab. Dort, wo dies möglich war, haben Eltern zum Teil zeitversetzt gearbeitet, Arbeitszeiten in die Abendstunden oder ins Wochenende verlagert oder zum Teil auch Erwerbsarbeitsstunden reduziert (Mader 2020; Schönherr 2020), um berufliche Anforderungen, eigene Rollenansprüche und Bedürfnisse der Kinder in Einklang zu bringen.

Neben wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen hat – darin stimmen viele Diagnosen überein – die Pandemie bestehende Ungleichheiten bezahlter und unbezahlter Arbeit zwischen den Geschlechtern sichtbarer gemacht. So weisen etwa die Ergebnisse einer Befragung von Eurofound (2020) im April 2020 darauf hin, dass Frauen stärker von coronabedingten Entwicklungen am Arbeitsmarkt betroffen sind, da die Krise ganz besonders Dienstleistungsberufe betrifft, in welchen Frauen numerisch in der Überzahl sind. Zudem ist der Beschäftigungsrückgang, insbesondere in atypischen Beschäftigungsformen wie geringfügiger Beschäftigung, groß und trifft damit ebenfalls stärker Frauen (Bundesministerium für Arbeit, Familie und Jugend 2020). Traditionelle Rollenverantwortlichkeiten scheinen sich in dieser Zeit in Österreich und anderen Ländern eher verfestigt als aufgeweicht zu haben, wie erste Umfragen zeigen (siehe u. a. Allmendinger 2020; Berghammer und Beham-Rabanser 2020a, b; Blom et al. 2020; Carstensen 2020; Hank und Steinbach 2020; Lewis 2020).

Gleichzeitig soll nicht infrage gestellt werden, dass pandemiebedingte Lockdowns grundsätzlich auch Potenzial für positive Veränderungen in Bezug auf einen nachhaltigeren Lebensstil haben und mitunter zu neuen Priorisierungen von Werten führen können. Nicht repräsentative Online-Befragungen und Erfahrungsberichte zeigen, dass von manchen Familien und mehr noch von Paaren ohne Kinder im ersten Lockdown der Wegfall von diversen Terminen und Verpflichtungen sowie gemeinsame Aktivitäten zuhause nicht nur als Einschränkung, sondern durchaus auch als bereichernd erlebt wurden (Andresen et al. 2020; Berghammer und Beham-Rabanser 2020a).

Je nach beruflicher und finanzieller Situation vor der Krise sowie der aktuellen Lebenssituation in der Krise treffen die Veränderungen und die Folgen der Covid-19-Pandemie einzelne Gruppen besonders hart, wie etwa der österreichische Sozialbericht aus dem Jahr 2020 zeigt (Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz 2020). Dies lässt erwarten, dass die Effekte der Krise auf Werteorientierungen, etwa die Priorisierung von Lebensbereichen oder auch die Ansprüche an die Mitwirkung von Männern im Haushalt und bei der Kinderbetreuung, je nach Lebenssituation (z. B. Lebensalter, Kinderzahl, Alter der Kinder, Lebensform) variieren. Zum anderen legen Befunde zur Arbeitsteilung in der Krise die Vermutung nahe, dass aufgrund bestehender Geschlechterrollen es vor allem Frauen in der Lebensphase der sogenannten Rushhour sind, bei denen in der Corona-Krise Anforderungen aus Beruf und Familie ganz besonders kumulieren; und dies selbst dann, wenn sie sich sozial und ökonomisch nicht am Rande, sondern in der Mitte der Gesellschaft befinden.

Ausgehend von diesen Annahmen stehen im Zentrum unserer Analysen die folgenden Fragen:

  1. 1.

    Wie wichtig sind Frauen und Männern während der Covid-19-Pandemie die Lebensbereiche Familie und Kinder bzw. Arbeit und Beruf? Hat sich deren Bedeutung im Vergleich zur Situation vor der Corona-Krise verändert?

  2. 2.

    Lassen sich innerhalb der Gruppe der Frauen bzw. jener der Männer je nach Lebenssituation und damit verbundenen Stressoren Unterschiede in der Wichtigkeit von Familie und Kindern bzw. Arbeit und Beruf beobachten?

  3. 3.

    Wie gehen Frauen in der Lebensphase der Rushhour mit den neuen Herausforderungen um? Wie strukturieren sie den Covid-19-Familienalltag in der Zeit des ersten Lockdowns?

  4. 4.

    Verändert die neue Komplexität des Covid-19-Alltags die Ansprüche von Frauen an die Beteiligung von Männern an der Hausarbeit und Kinderbetreuung? Haben Frauen in der „Rushhour“ besonders hohe Erwartungen an die Mithilfe und Beteiligung der Männer?

Der Beitrag gliedert sich in vier Abschnitte: Im Anschluss an die Einleitung (Abschn. 2.1) werden in Abschn. 2.2 die zur Beantwortung der Forschungsfragen herangezogenen theoretischen Annahmen skizziert und in Abschn. 2.3 das methodische Vorgehen und die Datengrundlage beschrieben. Die Darstellung der Ergebnisse findet sich in den Abschn. 2.4 bis 2.6. Ein Überblick zentraler Ergebnisse und daraus abgeleiteter Schlussfolgerungen gibt Abschn. 2.7.

2 Theoretische Vorüberlegungen

Die mit dem ersten Lockdown einhergehenden Auflagen und Beschränkungen sind mit mannigfaltigen Stresssituationen verbunden und erfordern vielfältige Anpassungsleistungen, deren Bewertung und Bewältigung – wie dies u. a. die Stresstheorie von Pearlin (1989) beschreibt – maßgeblich von den vorhandenen Ressourcen abhängen.

Unterschieden wird dabei zwischen positivem Stress, dem Eustress, und negativem Stress, dem Disstress. Eustress tritt auf, wenn bestimmte Belastungen (Stressoren) wegfallen. Das kann in der Anfangsphase der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie im März durchaus der Fall gewesen sein. So können beispielsweise zunächst Alltagsbelastungen und Stressoren weggefallen bzw. reduziert worden sein, indem fürs Erste die Betreuung von jüngeren Kindern und Beruf leichter zu vereinbaren war, wenn von zuhause aus gearbeitet wurde. Dies gilt für Frauen insbesondere dann, wenn es zudem ein*e Partner*in gab, der*die ebenfalls im Homeoffice arbeitete oder in Kurzarbeit war und sich mehr als sonst an den Haushaltsarbeiten beteiligte oder den Kindern beim Homeschooling half. Es könnte also durchaus sein, dass die Veränderungen durch den ersten Lockdown (auch) entlastende Momente mit sich brachten. Denkbar ist weiter, dass nach Anfangsproblemen das Arbeiten im Homeoffice leichter wurde, weil der Betrieb technisches Equipment zur Verfügung stellte oder in Paarhaushalten ein Modus gefunden wurde, wer zu welcher Zeit im Homeoffice arbeitet bzw. für die Kinder verfügbar ist.

Genauso aber ist vorstellbar, dass eine anfängliche Erleichterung bei der Vereinbarkeit im weiteren Verlauf des ersten Lockdowns durch vermehrte Belastungen abgelöst wurde, etwa, weil veränderte Ansprüche nach einer gleichberechtigteren Verteilung der Familienarbeit zu mehr Konflikten in der Partnerschaft führten, der*die „Hauptverdiener*in“ der Familie den Job verlor oder Beziehungsprobleme und Entfremdungsgefühle zwischen den Partner*innen virulent wurden (Neppl et al. 2015; Prime et al. 2020; Rothmüller und Wiesböck 2021). Diese Belastungen können Gefühle der Überforderung und in weiterer Folge Disstress auslösen, der entsprechend der Stresstheorie zu negativen Stressfolgen wie gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder auch aggressivem Verhalten führen kann. Entlastende, auf einer freieren Einteilung der Arbeitszeit basierende Momente können jedoch zeitlich parallel mit neuen Stresssituationen einhergehen, wenn der Alltag völlig neu organisiert werden muss, um den eigenen Rollenansprüchen in Bezug auf Arbeit, Zeit für die Kinder und Haushalt Rechnung zu tragen.

Mit welchen Folgen Disstress einhergeht, hängt nach Pearlin (Pearlin 1989; Pearlin und Bierman 2013) vom Coping – dem Bewältigungshandeln – der Person und den ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen ab. Bei den Ressourcen wird dabei zwischen personalen Ressourcen, wie u. a. Selbstwert sowie Selbstkontrollüberzeugung, und sozialen Ressourcen, wie informelle und formelle Unterstützungsnetzwerke, unterschieden. Je mehr Ressourcen verfügbar sind, desto besser gelingt die Stressbewältigung. Die erfolgreiche Stressbewältigung hängt zudem vom Ausmaß der Belastungen ab. Je größer diese sind, umso mehr Aufwand ist für eine erfolgreiche Bewältigung erforderlich.

Eine Form des Bewältigungshandelns kann darin bestehen, dass die persönlichen Ziele und die diesen zugrunde liegenden Werte und Einstellungen der Situation angepasst werden, um der herausfordernden bzw. belastenden Situation Sinn zu verleihen. Der Verlust des Arbeitsplatzes oder die Einführung von Kurzarbeit im Zuge der Covid-19-Krise bedeutete zunächst, dass die davon betroffenen Menschen in ihrem Alltag für ihre Arbeit wesentlich weniger Zeitressourcen aufbringen mussten. Denkbar ist, dass sie sich im Hinblick auf ihre Wertehaltungen der veränderten Situation anpassten, Arbeit und Beruf weniger wichtig wurden und Familie sowie Gesundheit in den Vordergrund traten. Entsprechend der Stresstheorie lässt sich also vermuten, dass während des Lockdowns Arbeit und Beruf weniger wichtig geworden sind. Dieses Erklärungsmuster läuft zugleich einer ökonomischen Erklärung entgegen, der zufolge man annehmen würde, dass knappe Güter mehr wertgeschätzt werden, dass also, da Berufsarbeit während des ersten Lockdowns ein knapperes Gut geworden ist, diese für wichtiger erachtet wird, wie etwa die Ergebnisse von Sortheix et al. (2017) nahelegen.

Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit oder auch Homeoffice könnten zudem dazu beigetragen haben, dass der*die Partner*in vermehrt als Ressource in der Familie wahrgenommen wurde und dies sowohl den Stellenwert von Familie und Kindern als auch den Wunsch von Frauen steigerte, dass sich der*die Partner*in mehr am Haushalt und an der Kinderbetreuung beteiligt. Entsprechend der Stresstheorie von Pearlin hängen sowohl das Auftreten von Belastungen als auch das Vorhandensein von Ressourcen neben den personalen von den sozialstrukturellen Merkmalen, konkret vom sozialen Status und den sozialen Rollen ab, die eine Person innehat. Es wird daher davon ausgegangen, dass Einstellungs- und Verhaltensänderungen von der durch sozialstrukturelle Faktoren geprägten Lebenssituation stark mitbestimmt werden.

Die Bedeutung, die Familie und Kindern bzw. Arbeit und Beruf zugeschrieben wird, hängt neben der durch Ressourcen geprägten Lebenssituation aber auch wesentlich von den Sozialisationserfahrungen ab (Bacher et al. 2019; Müller Kmet und Weicht 2019; Schwartz et al. 2012; Wolf et al. 2017). Im österreichischen Wertebildungs-Survey gaben knapp 90 % der befragten Österreich*innen an, in ihren individuellen Werthaltungen (eher) stark durch das Elternhaus geprägt worden zu sein. Rund 80 % sprechen von einem (eher) starken Einfluss der Arbeit auf die individuellen Werthaltungen (Wolf et al. 2017, S. 359). Auf die zentrale beiläufige Werteprägung in der Familie im Alltag weisen auch die Ergebnisse des Sozialen Survey hin. Eltern gehören noch vor dem/der besten Freund*in zu den Gesprächspartner*innen, mit denen junge Menschen Themen, die ihnen wichtig sind und bei denen sie vermutlich nach Orientierung suchen, besprechen, wodurch sich Werteorientierungen und Einstellungen zu Grundfragen des Lebens herausbilden (Bacher et al. 2019). Der prägende Einfluss des Elternhauses in der Kindheit, als zentraler Ort der frühkindlichen Sozialisation, lässt zudem erwarten, dass der grundlegende Wert von Familie und Kindern im Lebensverlauf weitgehend stabil ist und sich auch in Krisenzeiten nur wenig ändert.

Wie bei vielen anderen Phänomenen, die wir während der Corona-Krise beobachten, ist auch insgesamt anzunehmen, dass die – durch Ressourcen, Werte und Belastungen gekennzeichnete – Lebenssituation vor der Covid-19-Pandemie mitbestimmt, wie auf die Corona-Krise und in der Krisenzeit reagiert wird.

3 Methodisches Vorgehen und Datenmaterial

Zur Beantwortung unserer Forschungsfragen nach den Werteprioritäten und deren Verschiebung im Zuge der Corona-Krise einerseits und der Wahrnehmung von Ressourcen und Belastungen, insbesondere von Frauen in der „Rushhour des Lebens“, andererseits ziehen wir unterschiedliche Datenquellen heran. Die Analysen basieren auf der Values in Crisis (VIC) Umfrage 2020 in Österreich (Aschauer et al. 2020; siehe auch Kap. 12 „Methodischer Exkurs“), einer selbstadministrierten webbasierten Online-Befragung, an der sich etwas mehr als 2000 Personen (n = 2018) ab 14 Jahren beteiligten. Diese Onlinebefragung wurde in der Zeit vom 14. bis 24. Mai 2020 durchgeführt, einer Phase, in der die Covid-19-Lockerungsverordnung (BGBl. II Nr. 246/2020) in Kraft trat, Geschäfte und Betriebe sowie die Gastronomie wieder öffneten und schrittweise die Schulen auf schichtweisen Präsenzunterricht umstellten. Ergänzend wird auf die Daten des Sozialen Surveys Österreich 2016 (SSÖ 2016), einer Face-to-Face-Befragung, in der 2034 Interviews mit der österreichischen Wohnbevölkerung ab 16 Jahren durchgeführt wurden, zurückgegriffen, um eine Einordnung der aktuellen Ergebnisse vorzunehmen (zur Methodik des SSÖ 2016 siehe ausführlich Prandner 2019).

Für die Auswertung wurden neben bivariaten Tabellenanalysen Kontrastgruppenanalysen (Fielding 1977) zur Identifikation von Lebenssituationen, die mit unterschiedlichen Bewertungen der Lebensbereiche verbunden sind, verwendet. Bei der Kontrastgruppenanalyse wird durch schrittweise Zweiteilung der Ausgangsgesamtheit entlang der unabhängigen Variablen versucht, Gruppen von Merkmalsträger*innen zu bilden, die die abhängige Variable maximal trennen. Dadurch entstehen Cluster, die die abhängige Variable bestmöglich erklären. Im Beitrag wird als abhängige Variable die Wertschätzung von Familie und Kindern bzw. jene von Arbeit und Beruf verwendet. Als unabhängige Variablen werden die sozialstrukturellen Merkmale Geschlecht, Alter, Bildung, Erwerbsstatus, Haushaltseinkommen, Leben in Partnerschaft, Kind(er) unter 6 Jahren im Haushalt, Kind(er) zwischen 6 und 18 Jahren im HaushaltFootnote 2 und Wohnort in die Analyse aufgenommen. Aus den unabhängigen Variablen werden schrittweise Cluster gebildet, welche die abhängige Variable bestmöglich erklären.Footnote 3 Jedes Cluster ist durch eine spezifische Merkmalskombination der unabhängigen Variablen gekennzeichnet. So wird z. B. bei der Analyse der Wichtigkeit von Familie und Kindern der Typus „Personen mit einem*einer Partner*in, männlich oder weiblich und Kind(er) zwischen 6 und 18 Jahren“ ermittelt, der die größte Zustimmung zeigt. Der Vorteil der hier gewählten Vorgehensweise im Vergleich zu einer Regressionsanalyse besteht darin, dass differenzielle Wirkungszusammenhänge in einzelnen Gruppen (Clustern) aufgedeckt werden können, während bei Regressionsanalysen eine sich über alle Gruppen erstreckende homogene Wirkung angenommen wird.

Erweitert werden die quantitativen Ergebnisse durch eine an der Universität Graz durchgeführte Studie mit dem Titel „Wenn das Leben zuhause bleibt“, die von Scaria-Braunstein und Haring-Mosbacher zu Beginn des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 in Österreich konzipiert wurde. Im Mittelpunkt des Interesses standen die temporär veränderten Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen während des ersten Lockdowns und ihr Umgang mit dieser völlig neuen Situation. Die Studie ist als Mixed-Methods-Design angelegt und umfasst u. a. Fragen zur Haushaltsstruktur, zu den Arbeitsbedingungen und Einschränkungen der Sozialkontakte im ersten Lockdown, aber auch detaillierte Zeitverwendungsbögen über einen Zeitraum von fünf Tagen sowie Beschreibungen spezifischer Situationen im Alltag. An dieser Befragung nahmen im Zeitraum von acht Wochen 132 Personen unterschiedlichen Alters (die jüngste Befragte war 16, die älteste 88 Jahre alt) und Bildungshintergrunds teil. 40 % der Befragten lebten in einem Zwei-Personen-Haushalt, die Mehrheit der Teilnehmer*innen in einer Wohnung (52 %). 30 % der Personen gaben an, mit Kindern zusammen zu wohnen. 91 Personen füllten Zeitverwendungsbögen aus, in denen sie ihren Tagesablauf in der Krisensituation dokumentierten; hier waren es überwiegend Frauen. Durch diesen vertiefenden Blick in die Alltagsstrukturen der Befragten kann zusätzlich zu den Einstellungsabfragen auch auf das Verhalten der Befragten geschlossen werden. Die Studie wurde unabhängig von der VIC-Umfrage durchgeführt. Die Zusammenführung der beiden Studien und damit die Verknüpfung von quantitativen und qualitativen Untersuchungsdaten erfolgten im Rahmen dieses Aufsatzes.

4 Deskriptive Ergebnisse: Wichtigkeit von Arbeit und Beruf sowie Familie und Kindern

Wie einschneidend die Veränderungen zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 erlebt wurden, hängt, gemäß der Annahmen der Stresstheorie (siehe Abschn. 2.2), von unterschiedlichen Faktoren ab. Von Bedeutung sind dabei auch persönliche Stressbewältigungsstrategien. Eine mögliche Form des Copings kann eine (vorübergehende) Umstrukturierung der Relevanzstruktur von Werten sein, etwa dahingehend, dass Familie und Kinder wichtiger werden, während Arbeit und Beruf in den Hintergrund treten.

Unsere Ergebnisse zeigen diesbezüglich: Der über Jahrzehnte beobachtbare hohe Stellenwert von Familie und Kindern (siehe dazu u. a. Müller Kmet und Weicht 2019) hat sich in der Corona-Krise im Vergleich zu den beiden letzten Jahrzehnten nicht signifikant verändert. Von einer Umwertung kann also nicht gesprochen werden. 75 % aller Befragten der VIC-Umfrage geben an, dass Familie und Kinder für sie (sehr) wichtig sind (Skalenwert 1 und 2 auf einer 7-stufigen Wichtigkeitsskala). Im Vergleich zu 2016 (siehe Tab. 2.1) lassen sich keine signifikanten Änderungen beobachten. Sowohl 2016 als auch 2020 ist dieser Lebensbereich für Frauen und Männer im erwerbsfähigen Alter (16 bis 65 Jahre) gleich wichtig. In beiden Vergleichsjahren weisen ihm Frauen der untersuchten Altersgruppe eine größere Bedeutung zu als Männer derselben Altersgruppe.

Tab. 2.1 Wichtigkeit von Familie und Beruf

Im Gegensatz dazu hat sich der Stellenwert von Arbeit und Beruf sowohl bei Frauen als auch bei Männern reduziert. Unsere Daten bilden somit den langfristigen Trend einer Bedeutungsabnahme von Arbeit und Beruf ab (Fritsch et al. 2019). Für 57 % (2016: 62 %) der Frauen im Alter von 16 bis 65 Jahren sind Arbeit und Beruf (sehr) wichtig (Skalenwert 1 + 2 von 7). Bei den Männern im vergleichbaren Altersquerschnitt zeigt sich eine deutliche Veränderung in der subjektiven Bedeutung der Berufsarbeit. Nicht einmal jeder Zweite der befragten Männer (48 %) stuft Arbeit und Beruf als (sehr) wichtig ein; verglichen mit den SSÖ-Ergebnissen im Jahr 2016 sind das um 21 Prozentpunkte weniger. Der zusätzliche Relevanzverlust bei Männern könnte durch die Erfahrungen des ersten Lockdowns (mit)bedingt sein. In der Zeit kurz nach dem verordneten ersten Lockdown, in der die Arbeitslosigkeit hoch war, standen Arbeit und Beruf zeitlich für viele Männer vermutlich weniger im Mittelpunkt ihres Alltags als bisher, da andere Herausforderungen und neue Erfahrungen in den Vordergrund traten. Diese Interpretation wird u. a. durch die Tatsache gestützt, dass ein entsprechender Relevanzverlust bei Frauen nicht in der Form zu beobachten ist, da diese sich – insbesondere dann, wenn sie Kinder haben und in Teilzeit arbeiten – bereits vor der Krise in ihrem Alltagsleben stärker an beiden Lebensbereichen orientierten (Becker-Schmidt 1987; Höllinger 2019; Riederer und Berghammer 2020; Schmidt et al. 2020). Für diese Interpretation spricht des Weiteren, dass der Stellenwert von Arbeit und Beruf bei Männern 2020 davon abhängt, ob sie in einer Partnerschaft leben oder nicht. Im Jahr 2016 kommt dem Zusammenleben in einer Partnerschaft dagegen eine untergeordnete Rolle zu (siehe unten). Nicht ausgeschlossen werden kann aber auch, dass der starke Rückgang bei den Männern methodisch (mit)bedingt ist. Bei der webbasierten Befragung können Selektionseffekte dahingehend, dass sich stark arbeitsorientierte Männer in geringem Ausmaß an der Befragung beteiligten, zum Tragen gekommen sein (Seymer 2017).

5 Multivariate Ergebnisse: Lebenssituation und Relevanz der Lebensbereiche 2020

Für den Stellenwert von Familie und Kindern lassen sich mit der Kontrastgruppenanalyse sechs Merkmalskonstellationen (Cluster) feststellen, die mit einer unterschiedlichen Bewertung dieses Lebensbereichs einhergehen. Die größte Relevanz schreiben Befragte (männliche und weibliche) der Familie und Kindern zu, wenn sie in einer Partnerschaft leben und wenn Kinder im Alter von 6 bis 18 Jahren im Haushalt leben (Cluster C1). Die Tatsache, ob Befragte mit Kleinkindern unter 6 Jahren zusammenleben, hat dagegen keine besondere Relevanz für die Wichtigkeit von Familie und Kindern. Dies könnte zum einen durch die geringe Fallzahl bedingt sein, zum anderen aber auch ein Hinweis darauf, dass in der Zeit der Schulschließungen und den damit für Familien verbundenen Herausforderungen, etwa der Motivation oder der inhaltlichen Unterstützung beim Lernen, schulpflichtigen Kindern von den Befragten mehr Augenmerk geschenkt werden musste (siehe dazu auch unten).

Andere Merkmale, wie Geschlecht, Bildung, Erwerbsstatus usw., spielen für die Bildung der Cluster eine untergeordnete Rolle. Von jenen, die in Partnerschaft und mit Kindern im Schul- und Jugendalter leben, bezeichnen 95 % Familie und Kinder als (sehr) wichtig (Skalenwert 1 + 2 von 7). Die geringste Relevanzeinstufung mit 54 % tritt beim Cluster „Männern ohne Partner*in“ (Cluster C6) auf. Hier kommt den anderen sozialstrukturellen Merkmalen kaum Bedeutung zu. Das Alter oder der Wohnort beispielsweise spielen keine Rolle. Im Gegensatz dazu ergeben sich Unterschiede in der Gruppe der Frauen ohne Partner*in. Abhängig vom Lebensalter zeigen sich zwei Cluster, bei denen die Wichtigkeit zwischen 84 % (Frauen zwischen 50 und 65 Jahren, Cluster C4) und 62 % (unter 50-jährige Frauen, Cluster C5) variiert.

Der Wohnort und damit möglicherweise verbundene kulturelle Orientierungen und Leitbilder sind dann von Bedeutung, wenn Befragte in einer Partnerschaft leben, aber keine Kinder zwischen 6 und 18 Jahren (mehr) im Haushalt wohnen. In einem dörflich geprägten Umfeld sind dann Familie und Kinder (Cluster C2) nochmals wichtiger als bei Befragten, die in städtischen Strukturen leben (Cluster C3) (Tab. 2.2).

Tab. 2.2 Stellenwert von Familie und Kindern in Abhängigkeit von der Lebenssituation

Bezüglich des Stellenwertes von Arbeit und Beruf ergeben sich für Frauen mit einem mittleren Bildungsabschluss, die erwerbstätig sind oder eine (Aus-)Bildung absolvieren (Cluster C1), mit 69 % die höchsten Zustimmungswerte. Das Alter spielt bei Frauen keine direkte Rolle hinsichtlich des Stellenwertes von Arbeit und Beruf; vielmehr hängt der Wert von Arbeit und Beruf bei Frauen von ihrer konkreten Lebenssituation (Partnerschaft, Erwerbstätigkeit) und der Ausbildung ab. Die geringsten Relevanzwerte zeigen sich für Männer ohne Partner*in (Cluster C6), die zwischen 16 und 49 Jahre alt sind, sowie für Frauen ohne Partner*in (Cluster C7), die aktuell nicht erwerbstätig oder arbeitslos sind (Tab. 2.3).

Tab. 2.3 Stellenwert von Arbeit und Beruf in Abhängigkeit von der Lebenssituation

Die Ergebnisse zeigen somit, dass dem Zusammenleben mit Partner*in, dem Geschlecht und dem Alter eine besondere Bedeutung bei der Bewertung von Arbeit und Beruf zukommt; diese Merkmale führen teils in Kombination mit anderen Merkmalen (Kinder im Haushalt, Wohnort oder Erwerbsstatus) zu unterschiedlichen Bewertungen des Stellenwertes der Lebensbereiche Familie und Kinder sowie Arbeit und Beruf. Für Befragte, die in einer Partnerschaft leben, haben nicht nur Familie und Kinder, sondern auch Beruf und Arbeit einen höheren Stellenwert. Weitere Auswertungen weisen darauf hin, dass im ersten Lockdown vor allem bei Männern, die in einer Partnerschaft leben, auch die Wichtigkeit des Berufs steigt; dies bedeutet wohl, dass diese Männer sich nach wie vor stark über ihre Ernährerrolle definieren. Im Jahr 2016 spielten diese Merkmale dagegen nur eine untergeordnete Rolle (siehe Abb. 2.3 im Anhang A). Hier war die Bedeutung, die der Arbeit und dem Beruf zugeschrieben wird, in erster Linie vom Erwerbsstatus, und gefolgt vom Einkommen und der Bildung, abhängig. Bei der Bewertung von Familie und Kindern ergeben sich dagegen hinsichtlich der relevanten Einflussfaktoren und Merkmalskonstellationen geringere Unterschiede zu 2016 (siehe Abb. 2.4 im Anhang A). Leben in einer Partnerschaft Kinder sowie das Geschlecht sind die Hauptdeterminanten. Bezüglich des Vorhandenseins von Kindern lässt sich insofern eine Verschiebung beobachten, als dass 2016 Kinder von 0 bis 6 Jahren Unterschiede in der Bewertung von Familie und Kindern begründen, während es 2020 Schulkinder sind. Dies bestätigt obige Interpretation, dass während des ersten Lockdowns und dem damit verbundenen Homeschooling Kindern dieser Altersgruppe mehr Beachtung geschenkt wurde (bzw. werden musste).

Führt man die beiden Ergebnisse zusammen, so sind bei Frauen, die erwerbstätig sind oder sich in (Aus-)Bildung befinden bzw. die in einer Partnerschaft leben und mit mindestens einem Kind im Alter zwischen 6 und 18 Jahren zusammenleben, hohe Ansprüche an Familie und Kinder sowie an Arbeit und Beruf zu erwarten, wobei letzteres nur bei mittlerer Bildung der Fall ist; bei geringer und hoher Bildung sind die Ansprüche an Arbeit und Beruf durchschnittlich.

Dieser Befund war ein Grund für die Auswahl der drei qualitativen Fallbeispiele. Es wurden Frauen ausgewählt, die erwerbstätig sind, in einer Partnerschaft leben und zumindest ein schulpflichtiges Kind haben. Alle drei Frauen haben unterschiedliche Bildungshintergründe, sind jedoch in einem vergleichbaren (Stunden-)Ausmaß erwerbstätig: Zwei Frauen arbeiten während des ersten Lockdowns im Homeoffice, eine Frau geht einer „systemrelevanten“ Erwerbstätigkeit außer Haus nach. Bewusst konstant gehalten wurde der Faktor Wohnsituation bei der Fallauswahl, da wir davon ausgehen, dass gerade diese in Zeiten von Lockdowns einen weiteren wichtigen Faktor im Hinblick auf Stressoren und zwar insbesondere in Bezug auf die Homeoffice-Tätigkeit sowie das Homeschooling einerseits und die außerschulische Betreuung der Kinder andererseits, darstellen. Alle drei Frauen leben in privilegierten Wohnverhältnissen, die eine großzügige Wohnfläche mit hinreichenden Rückzugsmöglichkeiten und einen Garten mit Terrasse umfassen, sowie in einer stabilen Partnerschaft.

Die im Folgenden vorgestellten drei Frauen befinden sich in der sogenannten „Rushhour des Lebens“ (Bujard und Panova 2016), die keineswegs nur gut ausgebildete Frauen in der betreuungsintensiven Familienphase mit Kindern trifft. Gesellschaftlich überhöhte Bilder der Vereinbarkeit und gesteigerte Ansprüche an Zuwendung, optimale Betreuung und kindzentrierte Erziehung setzen Mütter mit Kindern in dieser Lebensphase unter besonderen Druck (Jergus et al. 2018; Jurczyk 2014). Die Rushhour-Phase ist zeitlich nicht klar fixiert. Bertram setzt sie aufgrund von Altersunterschieden bei der Geburt der Kinder zwischen dem 27. und dem 45. Lebensjahr an (Bertram 2016, S.5). Aus stresstheoretischer Sicht ist bei dieser Altersgruppe ein hoher Stresslevel zu erwarten, da gleichzeitig die beiden Lebensbereiche Arbeit/Beruf und Familie/Kinder sehr wichtig und damit korrespondierende Erwartungen sehr hoch sind. Daher besteht in dieser Altersgruppe eine erhöhte Gefahr, dass eine große Diskrepanz zwischen dem, durch den Stellenwert der Lebensbereiche definierten, Soll-Zustand und der Ist-Situation entsteht und es darüber hinaus zu starken Interrollenkonflikten zwischen der Rolle als Mutter und der beruflichen Rolle kommt (vgl. Merton 1957).

6 Qualitative Ergebnisse: Der Covid-19-Alltag von Frauen im mittleren Lebensalter mit Kindern

Aus der Studie „Wenn das Leben zuhause bleibt“ werden drei Beispiele diskutiert, die es ermöglichen, den Alltag von Frauen in der „Rushhour des Lebens“ während des ersten Lockdowns detaillierter nachzuzeichnen und unsere Befunde in Bezug auf Mehrfachbelastungen und damit zusammenhängend auf Stressoren (Eustress und Distress) zu ergänzen. Die qualitativen Daten werden in die quantitativen Befunde eingebettet und wiederum in weiteren quantitativen Analysen aufgegriffen. So kann ein vertiefendes Bild der Lebenssituationen von Frauen in der Zeit des ersten Lockdowns gezeichnet werden. Die in ähnlichen Wohnverhältnissen, in einer Partnerschaft und mit Kindern lebenden Frauen erfahren die Situation des ersten Lockdowns durchaus unterschiedlich, jeweils jedoch ambivalent.

Für Andrea S. ist diese Zeit vorrangig eine Zeit der Belastung: Die Vereinbarkeit von Homeoffice und Kinderbetreuung sowie die Sorge um ihre Mutter stellen sich als große Stressoren im neuen Covid-19-Alltag heraus. Maria P. wiederum erlebt diese Zeit weitgehend als entlastend, da, wie sie schreibt, „dieser ständige Zeitdruck“ wegfällt. Und auch die Einschränkung der Sozialkontakte fallen ihr nicht schwer, denn „situationsbedingt muss man eben seine sozialen Kontakte einschränken“. Die außer Haus arbeitende Karolin L., die darüber hinaus noch außerhäusliche Care-Tätigkeiten übernimmt, gibt an, „generell weniger Sozialkontakte“ zu haben, da auch in normalen Zeiten, aufgrund von „Job, Vollzeitstudium, Familie, Haushalt …“, einfach die Zeit für Treffen mit Freund*innen und Bekannten fehle. Damit ist das Unterstützungsnetzwerk von Karoline L. bereits vor dem ersten Lockdown eingeschränkt, wenngleich sie keine konkreten Angaben zur außerhäuslichen Unterstützung bei der Kinderbetreuung abseits institutionalisierter Angebote macht.

An dieser Stelle sei noch festgehalten, dass alle drei Frauen im ersten Lockdown die Schließung bzw. eingeschränkte Verfügbarkeit von Schulen und Kindergärten sowie Kinderkrippen für absolut notwendig erachten. Die Mehrfachbelastungen, die die Frauen aufgrund von geschlossenen Betreuungs- und Bildungseinrichtungen erfahren, werden in den Beschreibungen des geänderten Alltags an vielen Stellen deutlich. Andrea S. und Maria P. sind zuhause im Homeoffice und haben keine Kontakte außerhalb ihrer Kernfamilie, Karolin L. geht ihrer Schichtarbeit außer Haus nach. In ihrem systemerhaltenden Berufsumfeld trifft sie täglich auf Arbeitskolleg*innen.

6.1 Andrea S., Maria P. und Karolin L.: Drei Frauen im ersten Lockdown

Der erste Fall, Andrea S., steht für Frauen mit Kindern und hohen Bildungsabschlüssen (Universitäts- oder Fachhochschulabschluss), die sich in einer weitgehend gesicherten ökonomischen Lage befinden. Sie ist 37 Jahre alt und lebt in einem Fünf-Personen-Haushalt. Das Reihenhaus mit Garten bietet den drei Kindern (vier, sechs und acht Jahre alt) und den zwei Erwachsenen viel Platz. Sowohl Andrea S. als auch ihr Ehemann sind Vollzeit berufstätig. Andrea S. ist gut (aus-)gebildet; sie hat einen universitären Abschluss auf Magister- bzw. Masterniveau. Ihre Berufstätigkeit teilt sich in ein 25 Wochenstunden Angestelltenverhältnis und in eine Tätigkeit als Einzelunternehmerin auf.

Der zweite Fall, die 38-jährige Maria P., lebt mit ihrem Lebensgefährten und ihren zwei Kindern (sechzehn und fünf Jahre alt) ebenfalls in sehr großzügigen räumlichen Verhältnissen in einem Einfamilienhaus auf dem Land. Während ihr Lebensgefährte in Vollzeit und oftmals außer Haus arbeitet, ist Maria P. 25 Stunden pro Woche im Angestelltenstatus beschäftigt, ihre höchste abgeschlossene Schulbildung ist die Lehre/Berufsbildende Mittlere Schule ohne Matura.

Auch unser dritter Fall, Frau Karolin L., kann in der Zeit des ersten Lockdowns auf eine gute Ressourcenausstattung hinsichtlich des Wohnraums und der allgemeinen Lebensumstände zurückgreifen; zugleich ist ihre berufliche Situation in einem systemerhaltenden Beruf im Schichtdienst generell eine Herausforderung. In den letzten Jahren hat sie zudem, wie sie beschreibt, berufliche Misserfolge verzeichnen müssen. Karolin L., 42 Jahre, wohnt mit ihrem 11-jährigen Kind und ihrem Mann Georg L. 46 Jahre, ebenfalls in einem Einfamilienhaus. Georg L. ist Vollzeit berufstätig, Karolin L. ist 24 Stunden in der Woche angestellt, nebenbei auch als Einzelunternehmerin tätig und befindet sich außerdem aktuell in Ausbildung. Karolin L. hat eine Fachschule/ein Kolleg mit Diplom absolviert. Anders als ihr Mann Georg L., der zur Zeit der Abgabe des Fragebogens in Kurzarbeit ist und teilweise im Homeoffice arbeitet, ist Karolin L. nicht von Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit betroffen, sondern geht ihrer Erwerbstätigkeit außer Haus weiterhin nach (Tab. 2.4).

Tab. 2.4 Kurzprofil der Fallbeispiele

6.2 Zur Arbeitssituation in der Zeit des ersten Lockdowns

Andrea S. reicht den Fragebogen und die Zeitverwendungsbögen früh in der ersten Lockdown-Zeit ein, und zwar am 21.03.2020. Sie gibt an, bereits von Arbeitslosigkeit als Einzelunternehmerin betroffen zu sein. Über ihr Angestelltenverhältnis befindet sich Frau S. seit 16.03.2020 teilweise im Homeoffice. Mit der Corona-Krise und den getroffenen Maßnahmen der Österreichischen Bundesregierung hat sich ihr Arbeits- und Privatleben in vielfacherweise unvermittelt verändert.

Diese Veränderung trifft auch Maria P., die die Befragung und das Ausfüllen der Zeitverwendungsbögen wenige Tage nach Andrea S., am 30.03.2020, abschließt. Sie ist als Angestellte ausschließlich im Homeoffice und weder von Kurzarbeit noch von Arbeitslosigkeit bedroht. Sie betont, dass sie in ihrem Covid-19-Alltag weniger gestresst sei als gewöhnlich; ja sie fühle sich vielmehr im Hinblick auf ihren Berufsalltag zu Hause „sehr gut, da sie zeitlich nicht gebunden“ sei. Zusammenfassend hält Maria P. im Hinblick auf ihren neuen Berufsalltag fest:

„Besonders schön finde ich die Homeoffice-Tätigkeit. Ich bin zeitlich unbegrenzt und kann somit meine Arbeit (besonders für mich) zufriedenstellend erledigen. Auch dieses Gefühl, meine Arbeitskollegen und Chefs im Stich zu lassen, fällt damit weg. Auch zuhause läuft es koordinierter ab. Natürlich ist es manchmal anstrengend, aber es ist ein tolles Gefühl zu wissen, dass weder Familie, Haushalt oder Arbeit auf der Strecke bleiben.“

Maria P. ist letztlich stolz darauf, den neuen Alltag so erfolgreich bewältigen zu können, dass weder die Familie noch die Arbeit dabei zu kurz kommen. Dass sie dabei auch noch den „Haushalt schupft“ und guter Stimmung ist, weil sie durch die Homeoffice-Tätigkeit dem Druck von Arbeitskolleg*innen und Vorgesetzten entkommt und ihr eigenes Arbeitstempo bestimmen kann, mag ein durchaus überraschender Befund sein. Die Angaben von Maria P. lassen darauf schließen, dass sie in der Phase des ersten Lockdowns das Gefühl hatte, ihren Alltag besser als bisher in der eigenen Hand und mehr Selbstkontrollmöglichkeiten gehabt zu haben.

Ganz anders gestaltet sich der Alltag für Karoline L., die in einem systemerhaltenden Beruf tätig ist und in anderer Weise Herausforderungen in der Zeit des ersten Lockdowns zu bewältigen hat. Ihre Dienstzeiten außer Haus – und damit ihre Tagesabläufe – variieren. An drei der fünf Tage geht sie zum „Dienst“. Zweimal ist Dienstbeginn um 12:00 Uhr Mittag, einmal um 06:00 Uhr morgens, weshalb sie an diesem Tag bereits um 4:00 Uhr aufstehen muss. Nach Dienstende um 15:00 Uhr kommt Karolin L. gegen 16:00 Uhr nach Hause, kocht, macht den Haushalt, lernt von 18:00 bis 20:00 Uhr (wobei nicht ersichtlich ist, ob sie selber lernt oder den Sohn beim Homeschooling betreut), liest noch eine Stunde und geht zwischen 21:00 Uhr und 22:00 Uhr zu Bett. An jenen Tagen, an denen sie zu Mittag zu arbeiten beginnt, steht Karolin L. gegen 8:00 Uhr auf, frühstückt und duscht. Wenn sie dann um 23:00 Uhr wieder daheim ist, kommt sie erst um Mitternacht ins Bett. Für Karolin L. hat sich der Alltag in Bezug auf ihre Erwerbstätigkeit in einem nunmehr „systemrelevanten“ Beruf intensiviert, im Ablauf aber nicht verändert. Im Gegensatz zu den anderen Frauen berichtet Karoline L. nicht spezifisch von Herausforderungen aufgrund der geschlossenen Schulen und der damit verbundenen zusätzlichen Betreuungsarbeit. Dies mag vor allem mit ihrer Erwerbstätigkeit in einem „systemrelevanten“ Beruf zusammenhängen, die gerade in der ersten Phase der Corona-Krise einen besonders hohen Stellenwert einnimmt.

Die Mehrfachbelastungen und die damit einhergehenden Entgrenzungserfahrungen der vorgestellten Frauen werden besonders deutlich, wenn man ihre Zeitaufzeichnungen mit jenen von gleichaltrigen, Vollzeit berufstätigen Frauen ohne betreuungspflichtige Kinder vergleicht. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf die mit ihrem Partner ebenfalls in einem Einfamilienhaus lebende Sonja M. (41 Jahre) verwiesen, die im Homeoffice arbeitet und diese neue Erfahrung folgendermaßen beschreibt:

„Ich arbeite gerne im Homeoffice, solange alles technisch gut funktioniert. Den sozialen Teil der Arbeit holen wir relativ gut in virtuellen Kaffeetreffen, Mittagessen und Teamtreffen sowie Chats nach. Die Zusammenarbeit funktioniert online auch sehr gut. Weniger gut klappt es nur bei Kollegen, die ich noch nie persönlich getroffen habe. Aber soziale Interaktion passiert beinahe nur geplant und nicht auch zufällig, wie sonst eben in einem Großraumbüro. Das hat Vor- und Nachteile. Generell kann ich mich zuhause besser konzentrieren und meine Arbeitszeit nach meiner inneren Uhr und meinen Leistungsphasen einteilen. Mein Tag wird dadurch kaum kürzer, aber anders aufgeteilt. Mit der Trennung Arbeit – Privatleben habe ich keine Probleme.“

Die Analyse der Zeitverwendungsbögen zeigt: Sonja M. steht gegen 7:00 Uhr auf, frühstückt und liest die Zeitung. Dann arbeitet sie konzentriert im Homeoffice, nach einer einstündigen Mittagspause und einem kurzen Spaziergang mit dem Hund arbeitet sie wiederum einige Stunden am Nachmittag. Ab dem frühen Abend hat Sonja M. – ganz anders als Andrea S., Maria P. und Karolin L. – Freizeit. Sie kocht, liest, chattet mit Arbeitskolleg*innen und Freund*innen, geht mit dem Hund spazieren, macht Yoga und schaut fern. Hier lässt sich durch die Homeoffice-Tätigkeit keine Entgrenzung von Arbeit und Freizeit beobachten, es bleibt Zeit für eigene Bedürfnisse, wie Sport treiben oder dem virtuellen Plaudern mit Freund*innen. Sonja M. zieht abschließend folgendes Fazit:

In Summe bleibt mir mehr vom Tag übrig, ich fühle mich weniger gehetzt, weil ich meine ganze Umgebung ständig im Blick habe. Auch die Kollegen fühlen sich durchaus nah an.“

Im Vergleich mit Maria P., die auch von einer Erfahrung gesteigerter Kontrolle und Autonomie in der Zeit des ersten Lockdowns berichtet, wird am Beispiel von Sonja M. deutlich, dass es in der Struktur des Alltags wesentliche Unterschiede gibt, wenn Frauen keine Betreuungsverpflichtungen mit Erwerbsarbeit zu vereinbaren haben.

6.3 Betreuungspflichten in der Zeit des ersten Lockdowns

Andrea S. ist im ersten Lockdown mit außergewöhnlichen Mehrfachbelastungen und Disstress-Erfahrungen konfrontiert. Neben ihrer Berufstätigkeit im Homeoffice und der Betreuung ihrer drei noch jungen Kinder, eines davon im Volksschulalter, gibt sie an, Freund*innen bzw. Bekannte beim Einkauf zu unterstützen. Insbesondere die in der Phase des ersten Lockdowns fehlende Kinderbetreuung stellt sie vor neue Herausforderungen. Andrea S. erzählt von einer Verschiebung ihrer Aufgabenbereiche:

Ich habe wenig Zeit, mich auf die Arbeit zu konzentrieren, da ich im Moment Vollzeit auf meine drei kleinen Kinder aufpassen muss. Grundsätzlich könnte ich gut damit, wäre da nicht die fehlende Kinderbetreuung.“

Zusätzlich zu den direkten Belastungen aus Betreuungspflichten macht ihr die Einschränkung der Sozialkontakte zu schaffen. Das betrifft insbesondere die Beziehung zu ihrer Mutter und die ständige Sorge um deren Wohlbefinden:

Ich höre durch das Handy die traurige Stimme meiner Mutter, die seit einer Woche völlig isoliert in ihrem Haus lebt, und habe das Gefühl, dass das Ausbleiben der Sozialkontakte (in diesem Fall die Kinder und Enkelkinder nicht zu sehen, der direkte Austausch etc.) auch einen großen Schaden anrichten können.“

Andrea S. beschreibt hier die Rolle ihrer Mutter weniger als Entlastungsressource für sich selbst, sondern weit mehr als wichtige Ressource für ihre Kinder – und wiederum ihre Kinder als wichtige Ressource für ihre Mutter, die den ersten Lockdown isoliert verbringen muss. Durch diese Sorge steigt der Stress und damit die Belastung für Andrea S. im Zeitverlauf weiter an.

Andrea S.‘ Mann befindet sich ebenfalls im Homeoffice. Als entlastend empfindet Frau S. „wenn mein Mann gerade nicht im Homeoffice ist, sondern Zeit mit der Familie verbringt“. Der Lebensgefährte von Maria P. arbeitet nicht zu Hause und muss im Rahmen seiner Tätigkeiten manchmal auch auswärts übernachten, was für Frau P. wiederum eine Belastung darstellt.

In beiden Beschreibungen des Alltags in der Zeit des ersten Lockdowns fällt auf, dass die Betreuungs- und Haushaltspflichten, folgt man den Zeitverwendungsbögen, nur bei den Frauen zu liegen scheinen: Andrea S. gibt uns hier einen Einblick in ihren Alltag und ihre Stresserfahrungen:

Volksschulkind schreit um Hilfe bei der Aufgabe, Kindergartenkinder nehmen lautstärkemäßig wenig Rücksicht auf den Bruder, alle wollen gleichzeitig was, ich sollte arbeiten, schiebe gedanklich alles auf den Abend, wenn alle schlafen (auch jetzt ist es 1:02 Uhr morgens) und meine Hauptsorge ist plötzlich: Was koche ich, wie schaffe ich es, dass alle satt und zufrieden und gut beschäftigt sind.“

Die Beteiligung ihres Mannes am Familienleben und den damit verbundenen Aufgaben ist maßgeblich von dessen Berufstätigkeit und den Zeitkapazitäten abhängig, Homeoffice ist für ihn klar vor anderen Tätigkeiten priorisiert. Andrea S. muss gleichzeitig mehrere Aufgaben bewältigen und den Tagesablauf mit ihren Kindern koordinieren. Innerhalb der Kinderbetreuungspflichten muss sie dabei wiederum die unterschiedlichen Anforderungen – von Homeschooling des Volksschulkindes bis zur Beaufsichtigung der jüngeren Kinder – managen. Auch die Zeiterfassungen von Karolin L. zeigen: Obwohl ihr Mann in Kurzarbeit ist, scheint die Haushaltstätigkeit nach wie vor hauptsächlich in ihren Händen zu liegen.

6.4 Beschreibung des Alltags in der Lockdown Zeit

Die Tage von Andrea S. und Maria P. beginnen zwischen 6:00 und 7:00 Uhr morgens und enden oft erst nach Mitternacht. Tagsüber kümmert sich beispielsweise Andrea S. nach dem Frühstück und nach dem „Fertigmachen der Kinder für den Tag“ zunächst um das Homeschooling ihres ältesten Sohnes, dann um den Haushalt und den Einkauf, die Betreuung der beiden anderen Kinder und die Zubereitung des Mittagessens. Danach wird mit den Kindern gespielt und gebastelt, am frühen Nachmittag unternimmt sie stets Spaziergänge mit den Kindern, einmal eine Radtour. Am späteren Nachmittag bereitet Andrea S. das Abendessen zu. Nach dem Essen musiziert sie mit den Kindern, kümmert sich abermals um den Haushalt und die weitere Wochenplanung. Zwischen 19:00 und 20:00 Uhr bringt Andrea S. die Kinder zu Bett, zuweilen kann das bis 21:00 Uhr dauern. Ihre Homeoffice-Zeiten muss sie in die Abendstunden verlegen, sie beginnen frühestens um 20:00 Uhr und enden meist erst um Mitternacht. Nur an einem Abend trägt Andrea S. ein: „Zeit mit dem Partner“.

Auch der Tagesablauf von Maria P. ist dicht: Er beginnt um 6:00 Uhr und endet meist um 24:00 Uhr. Arbeitsaufträge, die im Homeoffice zu erledigen sind, wechseln mit Haushaltstätigkeiten, dem Lernen mit der großen Tochter und dem Spielen mit der kleinen. Maria P. gibt an, tendenziell mehr Zeit für sich selbst zu haben und auch kein Bedürfnis nach mehr Freiraum für sich sowie ihre Bedürfnisse zu verspüren. Tatsächlich gibt es aber laut Zeitverwendungsbögen, außer ab 21:00 Uhr, wo Maria P. mit Freund*innen skypt oder Fern sieht, kaum Einträge, die auf Zeit hinweisen, die Maria P. ausschließlich für sich nutzen kann. Der Berufsalltag ist vielmehr entgrenzt: Gearbeitet wird zumeist am Vormittag, dann durchschnittlich zwei Stunden am Nachmittag und an manchen Tagen auch am späteren Abend zwischen 21:00 und 24:00 Uhr.

Die Tage von Karolin L. sind ebenfalls durch ihre Berufsarbeit außer Haus und Haushaltstätigkeiten geprägt. Die dienstfreien Tage verbringt Karolin L. vorwiegend mit der Erledigung des Haushalts, sie putzt, räumt auf, macht die Wäsche und kocht. Nachmittags unternimmt Karolin L. an einem Tag einen zweistündigen Spaziergang; die restliche Zeit füllt sich mit Lesen, Lernen, Fernsehen und weiteren Haushaltstätigkeiten. Ob sie die zusätzliche Betreuung des Sohnes in der Zeit des ersten Lockdowns belastet, thematisiert Karolin L. nicht; auch wird nicht ersichtlich, ob ihr Mann Georg L. den 11-jährigen Nachwuchs beim Homeschooling unterstützt.

Alle drei Frauen berichten von dichten Tagesabläufen. Für jene Frauen, die im Homeoffice arbeiten, zeigt sich eine noch deutlichere Entgrenzung von Erwerbsarbeit, Care-Arbeits- und Freizeit. Die Kinderbetreuung muss von ihnen im Tagesverlauf prioritär organisiert werden, die Erwerbsarbeit wird, wenn möglich, flexibel in die Kinderbetreuung eingepasst oder in die Abendstunden verschoben. Durch diese Verschiebungen sind die Frauen mit einem stark veränderten Alltag konfrontiert, für den sie schnell neue Routinen entwickeln müssen. Oft bleibt dabei gar keine oder wenig Zeit, die sie ausschließlich für sich selbst nutzen können.

6.5 Entlastende Entschleunigung sowie neue Herausforderungen und Belastungen

Den Covid-19-Alltag im ersten Lockdown nehmen die drei vorgestellten Frauen, Andrea S., Maria P. und Karolin L., durchaus unterschiedlich wahr, wenngleich es für alle Frauen Disstress- wie Eustress-Erfahrungen gibt und sich die Wahrnehmungen im Verlauf des ersten Lockdowns verändern. Am Anfang etwa empfindet Andrea S. es noch als entlastend, weniger Stress aufgrund des wegfallenden Arbeitswegs zu verspüren. Die Kinder müssen nicht angetrieben werden, damit alle rechtzeitig in die Betreuungseinrichtungen bzw. in die Schule kommen. Auch beschreibt sie es als bereichernd, mehr Zeit mit den Kindern verbringen zu können. Selbst zeigt sie sich irritiert davon, dass ihr Haushaltstätigkeiten durchaus Spaß bereiten und sie es genießen kann, Zeit fürs Kochen und Backen zu finden.

Gleichzeitig ist das auch erschreckend, wie schnell ich in die reine Hausmutterrolle gefunden habe und es mir dabei auch gut geht.

Dennoch ist für sie – wie für viele andere Menschen in dieser Zeit – die Ungewissheit und Unsicherheit über die Dauer der aktuellen Situation belastend. Auch hat Andrea S. bereits früh Bedenken, den Alltag zu wenig strikt zu strukturieren:

„Die Gemütlichkeit darf nicht zu sehr einreißen, das rächt sich im restlichen Tagesablauf, auch wenn man ‚NUR‘ daheim ist!“

Wenige Wochen später, nach dem ersten Lockdown, tritt Andrea S. nochmals an uns heran, da es ihr wichtig ist, uns zu berichten, dass sich ihre Situation mit den Mehrfachbelastungen nach Ausfüllen des Fragebogens und der Zeitverwendungsbögen massiv zugespitzt hatte. Sie fühlte sich mit den multiplen Anforderungen weitgehend alleine gelassen. Oder wie es eine andere, von uns befragte Frau in ihrem Selbstbericht treffend formulierte: „Wenn man das alles jetzt auf die letzten zehn Wochen umlegt, fühlte ich mich oft sehr alleine und nie alleine. (…) das zu unserem Corona-Wahnsinn, den wir überstanden haben und uns eingelebt haben in die gegebene Situation, an manchen Tagen mehr und an manchen weniger.“

Trotz massiver Mehrfachbelastung scheint hingegen in der Einschätzung von Maria P. der erste Lockdown den beruflichen Stress zu reduzieren. Ja, Frau P. genießt die freie Einteilung der Arbeitszeit. Waren die letzten Jahre für sie durch persönliche Belastungssituationen geprägt, blickt sie jetzt durchaus optimistisch in die Zukunft, auch wenn sie sich – wie Andrea S. – um ältere Angehörige und Freund*innen sorgt.

Karolin L. berichtet tendenziell von keiner angespannten Stimmung zuhause, als sie den Fragebogen ausfüllt (am 27.03.2020). Allerdings gibt sie an, wenig Zeit für sich selbst zu haben. Als entlastend erlebt Karoline L. den „Austausch mit den Kollegen und dem Partner“. Das Paar ist jedoch durch wirtschaftliche Unsicherheiten belastet, die sich aufgrund des ersten Lockdowns für sie ergeben. Karolin L. macht sich darüber hinaus ebenfalls Sorgen um ältere Familienangehörige und ist von diffusen Ungewissheiten geplagt. Ältere und hilfsbedürftige Verwandte betreut Karolin L. vollumfänglich mit Einkauf, Haushalt und Pflege. Weniger schwer fallen ihr die Einschränkungen der Sozialkontakte aufgrund der Maßnahmen.

Die drei Fallbeispiele zeigen, dass die Alltagswelt von Müttern, die in einer Partnerschaft leben, im März und April 2020 zu Beginn der Pandemie – selbst bei günstigen Wohnbedingungen – eine sehr heterogene war. Ob diese Zeit vorrangig positiv als eine entschleunigte wahrgenommen wurde, in der Belastungsfaktoren des normalen Alltags wegfielen, oder als große Stressphase empfunden wurde, unterscheidet sich nicht nur von Frau zu Frau. Nicht selten macht ein und dieselbe Frau verschiedene Stressphasen zwischen Eu- und Distress durch; Gefühlsambivalenz ist dafür charakteristisch: So steht beispielsweise Freude über die Möglichkeit des Durchschnaufens und mehr Familienzeit neben der gleichzeitigen Erfahrung der Entgrenzung von Erwerbsarbeits-, Care-Arbeits- und Freizeit sowie der Angst um Familienangehörige und/oder den Arbeitsplatz.

Die Alltagserfahrungen von Andrea S., Maria P. und Karolin L. stehen – mit Bezug zu den obigen Ergebnissen – exemplarisch für eine Gruppe von Frauen, für die sich aufgrund ihrer Lebensphase während des ersten Lockdowns besondere Herausforderungen in der Vereinbarkeit von Familie und Beruf stellen. Vor dem Hintergrund der quantitativen Befunde haben wir auf der Basis multivariater Analysen für unsere Fallbeispiele Erwartungswerte für die Wichtigkeit der Lebensbereiche berechnet. Für die untersuchten Fälle ergeben sich in der quantitativen Analyse Bewertungen von Familie und Kindern von 90 % und höher, für jene von Arbeit und Beruf von 49 % (Fallgruppe Andrea S.) bis 68 % (Fallgruppe Karolin L.). Vor dem Hintergrund dieser Werte ist es verständlich, warum Andrea S. und Maria P. die Familienarbeit priorisieren. Für das Beispiel von Karoline L., die in einem systemrelevanten Beruf tätig ist und bei der dadurch in der Lockdown-Zeit die Arbeit dominant ins Zentrum ihres Alltags rückt, während die Bedeutung von Familie von ihr kaum erwähnt wird, ist dies nur zum Teil der Fall. Zwar wird für diese Fallgruppe mit einem Wert von 68 % die höchste Wertschätzung von Arbeit und Beruf im Vergleich zu den beiden anderen Fallgruppen prognostiziert, jener für die Wertschätzung von Familie und Kindern ist aber mit 94 % deutlich höher, sodass man eine Priorisierung von Familie und Kindern ableiten würde, die aber in den Aussagen nicht explizit erkennbar ist. Dieser Befund macht die Vorteile einer Verknüpfung von qualitativer und quantitativer Sozialforschung deutlich. Qualitative Fallstudien ergänzen statistische Prognosen, die – wie im vorliegenden Fall – in der Tendenz zwar richtig liegen, die aber der heterogenen Lebenssituation im Einzelfall nicht immer Rechnung tragen können bzw. an Grenzen stoßen, da feinere Differenzierungen, z. B. durch die Hinzunahme der Branche und des Tätigkeitsortes, aufgrund fehlender vorliegender Informationen oder geringer Fallzahl nicht möglich sind.

7 Ansprüche an die Beteiligung von Männern

Frauen mit Kindern, die mit einem männlichen Partner zusammenleben, haben in der Zeit des ersten Lockdowns, wie die Beispiele von Andrea S. und Maria P. illustrieren, den Hauptpart der Betreuung der Kinder bzw. weitere Care-Arbeiten (Karoline L. und Andrea S.) übernommen und aus ihrer Sicht weitgehend alleine dafür gesorgt, dass der Alltag in der Familie funktionierte. Sie hatten an sich den Anspruch, den heterogenen Erwartungen und neuen Herausforderungen möglichst gut gerecht zu werden und neben der eigenen Berufsarbeit, sei dies im Homeoffice oder außerhalb, die Kinder in der für alle schwierigen Situation bestmöglich zu unterstützen, ihnen eine Tagesstruktur zu bieten, sie zum Homeschooling zu motivieren und ihnen dabei zu helfen, den Familienalltag neu zu organisieren; und all das nicht selten auf Kosten der eigenen Auszeit für Regeneration, Erholung und Schlaf, wie dies auch quantitative Ergebnisse zeigen (Berghammer und Beham-Rabanser 2020b; Blom et al. 2020; Mader 2020). Es stellt sich daher die Frage, ob die im ersten Lockdown gemachten Erfahrungen dazu führten, dass von den männlichen Partnern mehr Mithilfe im Haushalt und bei der Kinderbetreuung erwartet wird.

Untersucht man, welche Erwartungen insbesondere Frauen in der Rushhour-Phase, die in der Zeit des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 vielfältigen und unterschiedlichen Stresssituationen ausgesetzt waren, an die Mitwirkung eines Partners haben, ergeben sich entgegen der Ausgangsvermutung keine statistisch signifikanten Unterschiede verglichen mit Frauen jenseits der Rushhour-Phase. Frauen, die sich nicht in dieser Phase befinden, und Frauen, die ihr angehören, unterscheiden sich nicht in ihren Erwartungen an die Mitwirkung von Männern und zwar unabhängig davon, ob sie in einer Partnerschaft leben oder alleinerziehend sind. Im Unterschied dazu zeigt sich (siehe Tab. 2.5), dass die Erwartungen stark von der Bildung geprägt sind, wobei Frauen mit höherer Bildung, die im ersten Lockdown öfter im Homeoffice arbeiteten als geringer Qualifizierte (Pichler et al. 2020), höhere Erwartungen bezüglich der Mitwirkung von Männern äußern als Frauen mit mittlerer und geringer Bildung. In der Gruppe der Frauen in der Rushhour-Phase – in der sich Aufgaben typischerweise aufgrund des erhöhten Betreuungsaufwandes in der Familie verdichten – ist dieser Zusammenhang schwächer ausgeprägt und wird wegen der geringen Fallzahlen insignifikant.

Tab. 2.5 Erwartungen nach männlicher Mitwirkung in Abhängigkeit von der Zugehörigkeit zur Rushhour-Phase und der Bildung

Mit Bezug auf die qualitativen Analysen ist eine eindeutige Interpretation der Befunde nicht möglich. Dass etwa Frauen mit einem Partner, die sich in der Rushhour-Phase befinden, nicht mehr Mitwirkung einfordern, könnte durch den in den qualitativen Interviews geäußerten hohen Anspruch an sich selbst, Homeschooling, Haushalt, Erziehung, Homeoffice bzw. Berufsarbeit außer Haus sowie zusätzliche Care-Arbeit möglichst perfekt zu managen, erklärt werden. Eine andere Erklärung wäre, dass mit den Fragen nach der Mithilfe der Männer stärker eine allgemeine normative Ebene angesprochen wird, die sich nicht unbedingt mit den subjektiven Ansprüchen an den eigenen Partner decken muss, wie etwa auch die Ergebnisse zu den Familienleitbildern von Schneider et al. (2015) vermuten lassen. Während auf der gesellschaftlichen Ebene die normativen Erwartungen an Männer stark an einer gemeinsam-partnerschaftlichen Zuständigkeit für Beruf und Familie orientiert sind, scheinen Frauen ihr eigenes Handeln stark an den Normen intensiver, kindzentrierter Mutterschaft (Hays 1996; Ennis 2014) auszurichten, die insbesondere in spezifischen Lebensphasen wie der Rushhour-Phase und spezifischen Lebenssituationen wie der Corona-Krise einer gleichberechtigten Aufteilung der Familienarbeit eher entgegenstehen.

8 Zusammenfassung und Schlussfolgerung

Die Covid-19-Pandemie stellte und stellt die Bevölkerung weltweit vor zahlreiche neue Herausforderungen und veränderte ihr berufliches und privates Alltagsleben stark. Die von uns befragten Österreicher*innen reagierten auf den von der Regierung beschlossenen ersten Lockdown im März 2020 im Besonderen und die Corona-Krise im Allgemeinen sehr unterschiedlich. Analysiert man ihre Einstellungen und Wertehaltungen zu Familie und Beruf, so lautet der zentrale, abschließende Befund: Während bei Frauen und Männern die Wichtigkeit von Familie und Kindern gegenüber 2016 weitgehend gleichblieb – wobei Frauen zwischen 16 und 65 Jahren diesem Bereich einen höheren Stellenwert beimessen als Männer –, nahm die Bedeutung von Arbeit und Beruf bei Frauen geringfügig und bei Männern stark ab, was auch methodisch bedingt sein kann.

Differenziertere Auswertungen zeigten jedoch, dass für Befragte, die in einer Partnerschaft leben, nicht nur Familie und Kinder, sondern auch Beruf und Arbeit einen höheren Stellenwert haben, als für Frauen und Männer, die alleine leben, und dass mit dem Zusammenleben in einer Partnerschaft, vor allem bei Männern, die Wichtigkeit des Berufs, wohl weil sie sich häufig noch immer am traditionellen „Breadwinner-Modell“ (u. a. Holter et al. 2005) orientieren, steigt.

Mit den zuvor skizzierten hohen Bedeutungszuschreibungen gehen oft auch hohe Erwartungs- und Anspruchshaltungen einher. Besonders Frauen in der „Rushhour des Lebens“, die erwerbstätig sind oder sich in (Aus-)Bildung befinden, in einer Partnerschaft leben und mit einem oder mehreren Kindern im Alter zwischen 6 Jahren und 18 Jahren zusammenleben, haben im Hinblick auf ihre Rollenerfüllung als Partnerin, Mutter und in ihrem jeweiligen Job hohe Ansprüche an sich selbst. Ob der „Drahtseilakt“ der möglichst zufriedenstellenden Erfüllung unterschiedlicher Rollenerwartungen mit starken Belastungen und Stressoren einhergeht, hängt – wie wir u. a. aus der soziologischen Stressforschung wissen – von den zur Verfügung stehenden personalen und sozialen Ressourcen und dem Ausmaß der Belastungen ab.

In der Zeit des ersten Lockdowns konnten Frauen mit Kindern auf einen großen Teil ihrer gewohnten sozialen Ressourcen nicht zurückgreifen, sondern waren weitgehend auf die Hilfe und Unterstützung innerhalb ihrer jeweiligen Kleinfamilie zurückgeworfen. Dabei nahmen sie, wie unsere ausgewählten Fallbeispiele von Andrea S., Maria P. und Karolin L. zeigen, den neuen Covid-19-Alltag durchaus unterschiedlich wahr, wenngleich es für alle drei Frauen belastende wie entlastende Momente gab und sich die Wahrnehmungen im Verlauf der Lockdown-Zeit veränderten.

Als abschließender Befund kann festgehalten werden, dass die Alltagswelt von Frauen in der „Rushhour des Lebens“ im März und April 2020, die eine „Neuordnung des Privaten“ (Speck 2020, S. 137) bedingte, eine sehr heterogene war. Ob diese Zeit vorrangig positiv wahrgenommen oder als große Stressphase empfunden wurde, unterscheidet sich nicht nur zwischen Frauen. Nicht selten macht ein und dieselbe Frau verschiedene Stressphasen zwischen Eu- und Distress durch; Gefühlsambivalenz ist, wie wir zeigen konnten, dafür charakteristisch.

Für jene Frauen mit Kindern, die im Homeoffice tätig waren, zeigt sich gerade dann, wenn man sie mit gleichaltrigen Frauen ohne Kinder vergleicht, eine starke Entgrenzung des Arbeitsalltags weit in die Nachtstunden hinein. Insbesondere mit jüngeren Kindern ist es schwierig, wie es beispielsweise Andrea S. betonte, am Tag konzentriert zu arbeiten. Dass auch Frauen mit hohen Bildungsabschlüssen sich in der „Rushhour des Lebens“ vorrangig für die Familienarbeit zuständig fühlen, verdeutlichen wiederum unsere quantitativen Ergebnisse. In einem doch überraschenden Ausmaß machen unsere qualitativen Befunde ergänzend deutlich, dass in den von uns vorgestellten Haushalten die Betreuungs- und Haushaltsaufgaben weitgehend von den Frauen übernommen wurden. Hier deckt sich unser Fazit mit den Ergebnissen weiterer Studien (vgl. u. a. Berghammer 2021; Kohlrausch und Zucco 2020). So führt beispielsweise Speck (2020) die Arbeitsteilung im Covid-19-Alltag auf einen historisch bekannten „selbstverständliche(n) Automatismus von Krisenökonomien“ zurück: Denn „in Krisensituationen sind es vor allem Frauen, die notwendige Sorgearbeiten übernehmen, die Versorgung und Fürsorge, das Aufrechterhalten des Alltags […]“ (Speck 2020, S. 138).