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1 Einleitung

Eine erste, kürzere Version dieses Beitrages erschien als Reicher, Hadler und Tackner „Das Nationale Zugehörigkeitsgefühl in Österreich während des Lockdowns“ Corona Blog Nr. 73: https://viecer.univie.ac.at/corona-blog/corona-blog-beitraege/blog73/

Die Frage nach einer „nationalen“ Zugehörigkeit ist in Zeiten der Corona-Krise von besonderem Interesse. Zum einen, weil Staaten – folgt man bestimmten Theorien des Nationalstaates – eine besonders große Fähigkeit zur Überwindung von außergewöhnlichen Krisen unterstellt werden und zum anderen, weil solche Krisen eine Verbundenheit der Bevölkerung mit der Idee einer „Nation“ verstärken können, jenseits von allen politischen und sozialen Unterschieden.

Anfang März, zu Beginn des ersten Lockdowns in Österreich, wurde der Begriff des „nationalen Schulterschlusses“ im Zuge eines Themenabends im Fernsehen von Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) aufgegriffen. Der Minister meinte: „Es ist jetzt unsere Verpflichtung, den nationalen Schulterschluss zu gehen. Unser Handeln erfolgt nicht aus Emotion oder falschem politischen Kleingeld heraus, sondern um tatsächlich Sicherheit zu geben.“Footnote 1

In diesem Aufsatz werden vor allem zwei Fragen aufgeworfen. Erstens, inwieweit lässt sich ein derartiger „nationaler Schulterschluss“ in den Einstellungen der Bevölkerung feststellen? Zweitens, besteht ein Zusammenhang zwischen diesem und einem stärker werdenden Gefühl von Zugehörigkeit zum eigenen Land? In diesen Aufsatz wird der empirische Fokus auf Österreich und auf die Phase des ersten Lockdowns während der Covid-19-Pandemie im März und April 2020 gerichtet.

Die Hauptquelle der vorliegenden Analyse besteht aus Daten, die im Rahmen des Austrian Corona Panel Projects Mitte April 2020 erhoben wurden. Diese Daten spiegeln daher die Stimmung der Bevölkerung in der Mitte des ersten Lockdowns wider. Darüber hinaus wird diese Momentaufnahme durch Vergleichsdaten erweitert, die aus Erhebungen in anderen europäischen Ländern und zu anderen Zeitpunkten in Österreich stammen.

In den ersten beiden Abschnitten werden Überlegungen zur Definition und zur Messbarkeit von „nationalem Schulterschluss“ und „nationaler“ Verbundenheit bzw. „Stolz“ diskutiert. Danach folgt eine kurze Übersicht über Daten und Erhebungen. Im Ergebnisteil werden sowohl die Befunde der Corona-Studie wie auch internationale und historische Vergleichsdaten präsentiert. Abschließend wird der Zusammenhang der erfassten Daten mit Parteipräferenzen untersucht.

2 Der Begriff des „nationalen Schulterschlusses“

„Nationaler Schulterschluss“ soll keinesfalls als analytisch-wissenschaftliches Konzept, sondern bloß als subjektiv-normativer Praxisbegriff verstanden werden (daher wird dieser hier auch unter Anführungszeichen gesetzt). Der Begriff besitzt eine spezifische Vorgeschichte. Er stammt ursprünglich aus dem Bereich Lineartaktik, einer Anordnung von Infanteriesoldaten im 18. Jahrhundert, wobei darauf geachtet werden musste, dass die Reihen „geschlossen“ blieben, um dem Feind zu widerstehen. Als Metapher fand der Schulterschluss-Begriff danach seine Verwendung, um an die Ent- und Geschlossenheit, bzw. an die Solidarität als Interessensgemeinschaft zu appellieren.Footnote 2 Der „politische“ oder „nationale“ Schulterschluss wiederum stellte die Aufforderung an Vertreter*innen unterschiedlicher Parteien in einem parlamentarisch organisierten Politiksystem dar, trotzt Interessensunterschiede vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Gefahr „zusammenzurücken“ und einem höher bewerteten, gemeinsamen Interesse zu folgen. Das klassische Beispiel eines solchen „nationalen Schulterschlusses“ waren Gesetze zum Beschluss für Kriegskredite im August 1914. Diese Politik wurde auch „Burgfriedenspolitik“ genannt und führte zur Forderung einer Allparteienregierung während der Zeit des Weltkrieges.

Dieser traditionelle Bedeutungsrahmen des Begriffes des „nationalen Schulterschlusses“ wurde von Journalisten und Politikern auf den pandemischen Kontext im März 2020 übertragen. Allerdings unterschied sich diese neue Bedeutung von jener früheren. Nun bezog sich der Begriff auf eine erwünschte oder auf eine als tatsächlich vorhandene, außergewöhnlich starke Unterstützung für die Regierungsparteien durch große Teile der Bevölkerung hinsichtlich bestimmter politischer Maßnahmen zur Eindämmung der Seuche.

Um diesen Zustimmungsvorgang mit den beschränkten Mitteln einer Survey-Studie etwas besser verstehen zu können, gilt es zunächst, sich mit der Rolle des Staates in Krisensituationen auseinanderzusetzen. Einige Theorien des Nationalstaates legen nämlich nahe, dass Staaten eine besonders große Fähigkeit zur Überwindung von außergewöhnlichen Krisen hätten. Sie wären effiziente Organisationen zur Sicherung grundlegender Bedürfnisse. Aus dieser Sicht produzieren „national“ aufgefasste Staaten auch Schutz vor Seuchen und anderen Naturkatastrophen, weil es ihnen gelänge, einschneidende Maßnahmen mit geteilten Wir-Vorstellungen zu verbinden und zu legitimieren. Interessanterweise wird der Aspekt des Gesundheitsschutzes in einem geringeren Ausmaß in dieser Literatur besprochen als die Schutzfunktion des Staates in Kriegssituationen; zum langfristigen Zusammenhang zwischen Krieg und Nationalstaat (vgl. Tilly 1992; Mann 1998). Solche einschneidenden Krisenereignisse gelten als Katalysatoren für das weitere Vorantreiben von Staats- und Nationsbildungsprozessen. Elias spricht in diesem Zusammenhang von „Überlebenseinheiten“, die Schutz- und Sicherheitsfunktionen mit Wir-Gefühlen in Verbindung bringen (vgl. Elias 1970/2006, S. 184).

Zusammenfassend lassen sich daher drei unterschiedliche Bedeutungen des Begriffes von „nationalem Schulterschluss“ zu unterscheiden: Nationaler Schulterschluss als …

  1. 1)

    … normative Forderung. Der Begriff kann hier als Appell für die breite Unterstützung einer bestimmten Politik verstanden werden.

  2. 2)

    … zeitlich begrenztes Zusammenfallen der Interessen der politischen Parteien in Regierung und Opposition. Eine solche parteipolitisch übergreifende Solidarität erfolgt entweder in Form eines koordinierten Abstimmungsvorganges der Abgeordneten von Oppositions- und Regierungsparteien oder in Form der Bildung einer Konzentrationsregierung.

  3. 3)

    … zeitlich begrenzte, aber tatsächlich vorhandene außergewöhnlich breite Unterstützung der Krisenpolitik der Regierung durch die Bevölkerung. Diese Unterstützung übersteigt das übliche Ausmaß an Zustimmung für die Regierungspolitik, das in normalen Zeiten auf die Gruppe der Wähler der Regierungsparteien beschränkt bleibt.

Ad. 1) Bezogen auf den ersten Lockdown im März 2020, lassen sich in Österreich normative Forderungen nach und Appelle für einen „nationalen Schulterschluss“ identifizieren, wie am Beispiel des Innenministers gezeigt.

Ad. 2) Jedoch kam es während dieser Phase weder zur Bildung einer Konzentrationsregierung noch zu koordinierten Abstimmungsvorgängen im Parlament zwischen den Parteien der Regierung und der Opposition.

Ad. 3) Umfragen zu den politischen Präferenzen der Österreicher*innen zeigen (siehe Abb. 10.1) in dieser Hinsicht ganz deutlich, dass während des ersten Lockdowns am Beginn der Covid19-Pandemie in Österreich im März 2020 die Zustimmungswerte für die beiden damaligen Regierungsparteien (ÖVP und Grüne) um mehr als zehn Prozentpunkte wuchsen.

Abb. 10.1
figure 1

Politische Unterstützung der Regierungsparteien in Meinungsumfragen parallel zur Entwicklung der Covid-19-Pandemie (positive Fälle pro Tag) und gesetzten Ausgangsbeschränkungen. Zeitraum von 01.11.2019 bis 19.01.2021 dargestellt. (Quellen: Neuwahl (Sonntagsfrage bis 20.06.2020), APA/OTS (Sonntagsfrage nach 20.06.2020) und BMSGPK (COVID-19-Fälle pro Tag))

Die Regierung erhielt also in einer Ausnahme- und Notsituation außerordentlich viel Unterstützung und Zustimmung. Gleichzeitig erreichten in denselben Umfragen die Vertrauens- und Beliebtheitswerte der Oppositionsparteien einen Tiefstand; die der FPÖ stürzten regelrecht ab. Dadurch wurde der Eindruck erweckt, dass sich in einer solchen Krisensituation tatsächlich große Teile einer „Nation“ hinter die politische Führung reihen würden. Dieser Umstand blieb auch dem politischen Journalismus und den verantwortlichen Politiker nicht unbemerkt.

Offen bleibt, ob „nationale Schulterschlüsse“ der dritten Art überhaupt empirisch fassbare Phänomene darstellen. Die im Austrian Corona Panel Project enthaltenen Fragen zur Zufriedenheit mit der Regierungspolitik und Fragen darüber, wie hoch das Vertrauen in der Bevölkerung zu Regierung und Parlament sind, können gewisse Aufklärung bieten.

Abb. 10.2 zeigt die Entwicklung der Zufriedenheit in Österreich mit der Arbeit der Bundesregierung von der ersten Erhebungswelle des Austrian Corona Panel Project im März 2020 bis zur Erhebungswelle im August 2020, unterschieden nach der Parteipräferenz bei der letzten Nationalratswahl 2019. Diese Abbildung zeigt deutlich eine Abnahme der Zufriedenheit, unabhängig davon, ob die Befragten Präferenzen für Regierungsparteien (ÖVP und Grüne) oder für Oppositionsparteien (SPÖ, FPÖ und Neos) stimmten. Während des ersten Lockdowns war die Zufriedenheit mit der Arbeit der Regierung tatsächlich außergewöhnlich hoch. Sie lag bei jenen, die damals ÖVP, Grüne oder Neos wählten bei über 80 %, bei jenen, die SPÖ wählten bei über 60 % und selbst bei den Nichtwählern und jenen, die FPÖ wählten bei über 50 %.

Abb. 10.2
figure 2

(Quelle: ACPP 2020)

Zufriedenheit mit der Arbeit der Bundesregierung nach Wahlentscheidung bei der Nationalratswahl 2019. Frage: „Sind Sie nach heutigem Stand mit der Bilanz“, d. h. mit der Arbeit und Leistung, der aktuellen Bundesregierung (also der Koalition aus ÖVP und Grünen) zufrieden? (Einfach-Nennung: 1 = sehr zufrieden, 2 = eher zufrieden, 3 = teils-teils, 4 = eher unzufrieden, 5 = sehr unzufrieden).“

Darüber hinaus bleibt offen, inwieweit eine derartig außergewöhnlich hohe Unterstützung für die Regierungspolitik mit einer höheren emotionalen Bindung an das Land oder die „Nation“ zusammenhängt.

3 Nationale Zugehörigkeit und Krisen

Der Begriff der „Nation“ beschreibt keine objektiv gegebene Tatsache. Eine „Nation“ ist vielmehr eine „vorgestellte Gemeinschaft“ (vgl. Anderson 1998). Diese Sichtweise muss jedoch noch erweitert werden. In jedem Land treten eine Vielzahl subjektiver „nationaler Vorstellungen“ zutage, die meist mit sehr diffusen emotionalen Färbungen versehen sind (vgl. Reicher 2020). Daher empfiehlt es sich, auch „Nation“ unter Anführungszeichen zu setzen, um nicht in Gefahr der Verdinglichung und Objektivierung dieses Begriffes zu geraten.

Auch das analytische Konstrukt der „nationalen Identität“ weist eine Reihe konzeptioneller Probleme auf, die hier nicht genauer erläutert werden können (vgl. Reicher 2020, S. 54 ff.). Dasselbe gilt für Formulierungen wie „Verbundenheit“ oder „Stolz“ auf Österreich, die in diesem Aufsatz zur Sprache kommen. Derartige Konzepte verweisen zudem auch auf diffuse Wir-Gefühle, deren Bedeutungen sich durch Fragebogenbefragungen alleine nicht erschließen lassen. Hierbei bleibt eine semantische Unbestimmtheit bestehen (vgl. Fleiß et al. 2009).

Im Prinzip können darüber hinaus mittels Fragebogen erhobene Einstellungen zu Verbundenheit oder Stolz in Bezug auf Österreich sowohl konstante verinnerlichte Aspekte darstellen (und damit zeitlich relativ stabil in Erscheinung treten) oder bloß temporäre Schwankungen oder „Stimmungen“ wiedergeben. Letzteres kann etwa mit der Zustimmung oder der Ablehnung zur jeweiligen Regierung und ihrer Arbeit verbunden sein.

Die Scheidung in stabile und in labile Wir-Gefühle ist für den vorliegenden Fall von Bedeutung. Die Tatsache, dass praktisch in allen westeuropäischen Ländern seit ungefähr 1990 eine klare Mehrheit der Bevölkerung sich „(ziemlich) stark“ oder „sehr stark“ dem jeweiligen Land zugehörig fühlt, verweist auf den stabilen Charakter dieser Wir-Gefühle (dieser Befund gilt jedoch mit unterschiedlichen regionalen Tendenzen). Das bedeutet, dass ein relativ stabiler Grundstock an „nationaler“ Zugehörigkeit – zumindest in Westeuropa – vorliegt (siehe Abb. 10.4).

Der Aspekt labiler Wir-Gefühle tritt dagegen bei Krisen und anderen außergewöhnlichen Ereignissen zutage. Mutz (2013) zeigt am Beispiel von Fußballweltmeisterschaften, dass das Ausmaß von Wir-Gefühlen beachtlichen Schwankungen während und nach diesen sportlichen Großereignissen unterliegt.Footnote 3

Bedeutendere Ausnahmesituationen, wie Krieg oder der Vormarsch einer bisher noch unbekannten und teilweise tödlichen Krankheit, mögen ebenfalls auf Form und Intensität von „Nationalstolz“ oder der gefühlsmäßigen Zugehörigkeit wirken. In den letzten Jahrzehnten – einer Phase außergewöhnlicher Stabilität – waren einschneidende Ereignisse dieser Art in den westlichen Gesellschaften selten oder gar nicht vorhanden, sodass die Survey-basierende-Forschung keine entsprechenden Daten bieten kann.

Krisen und außergewöhnliche Situationen müssen nicht notwendigerweise immer zu Schwankungen in eine positive Richtung führen (d. h. in Richtung Zunahme der „Stärke“ „national“ ausgelegter Zugehörigkeit). Sie können theoretisch durchaus einen umgekehrten Pfad einschlagen, indem mehr Menschen als zuvor in einem entsprechenden Land sich weniger diesem zugehörig fühlen oder angeben „stolz“ zu sein. Solche Schwankungen in beiden Richtungen können eine Reihe von Gründen aufweisen, die in diesem Beitrag ebenfalls nicht besprochen werden können.

Hier soll nur angedeutet werden, dass eine nicht unwesentliche Ursache von Schwankungen in die eine oder in die andere Richtung mit dem Ausmaß von Vertrauen auf die Wirksamkeit von Schutzfunktionen begründet sein könnte, die die Befragten mit den „national“ vorgestellten Solidaritätsgemeinschaft verbinden. Daher wurden in diese Analyse auch Fragen zum Vertrauen in Regierung und Parlament aufgenommen. Ein derartiges Vertrauen in staatliche Institutionen speist sich wahrscheinlich auch aus einem breit vorhandenen Konsens (oder dem Fehlen eines solchen). Dieser Konsens baut darauf auf, dass mit einer höheren Wahrscheinlichkeit Gesetze und Verordnungen einem gewissen Mehrheitswillen in der Bevölkerung entsprechen. Der medial benutzte Begriff des „nationalen Schulterschlusses“ bezieht sich in der Regel gerade auf solche Formen von Konsens oder einem diesbezüglichen Konsenswunsch.

4 Daten und Methodik

Die Hauptdatenquelle dieses Beitrages bezieht sich auf die Erhebungen des Austrian Corona Panel-Projects (ACPP, Kittel et al. 2020) und im speziellen auf die Fragen zur Verbundenheit und zum „Stolz“ mit Österreich. Diese Daten wurden in der vierten Welle des Online-Panels erhoben, die vom 17. bis zum 21. April 2020 stattfand.Footnote 4 Sie sind repräsentativ für die österreichische Bevölkerung, wenngleich sie auch mittels Quotenstichprobe erfasst wurden. Des Weiteren hatten nur Personen mit Internetzugang die Möglichkeit an dieser Erhebung teilzunehmen, weshalb bestimmte Bevölkerungssegmente unterrepräsentiert sind.

Die ACPP-Fragen zur „nationalen“ Verbundenheit und zum „Stolz“ wurden aus dem SSÖ übernommen und sind auch in weiteren Umfrageprogrammen enthalten. Deshalb ist es möglich, die Ergebnisse dieser Studie mit Ergebnissen anderer Studien international und zeitlich zu vergleichen. Daten aus folgenden Studien fließen in diese Analyse ein: a) der European Value Study (EVS), die 2017 face-to-face erhoben wurden; b) des International Social Survey Programme (ISSP), die in Österreich und in rund 40 weiteren Länden regelmäßig face-to-face oder postalisch erhoben werden (hierbei wurden die Erhebungen 1995, 2003, 2013 und 2016 inkludiert); und c) des Eurobarometer (EB), dessen Erhebung zwei bis fünf Mal jährlich in den EU-Ländern durchgeführt wird.Footnote 5 Die Eurobarometer-Daten wurden ebenfalls face-to-face erhoben.Footnote 6 Diese zusätzlichen Daten ermöglichen es vor allem, die Frage nach dem „nationalen Schulterschluss“ auch im internationalen Kontext nachzuzeichnen, da diese Daten bis Juli 2020 verfügbar sind.

5 Ergebnisse

5.1 Verbundenheit mit Österreich, Europa und der Region

Tab. 10.1 zeigt, wie stark sich die Österreicher*innen mit ihrem Wohnort, ihrem Bundesland, mit Österreich und mit „Europa“ verbunden fühlen. Die Ergebnisse legen dar, dass sich der größte Teil der Bevölkerung sehr eng (46,5 %) oder eng (39,4 %) mit Österreich verbunden fühlt. Nur etwas mehr als 14 % gaben an, sich nicht sehr eng oder überhaupt nicht mit dem Land verbunden zu fühlen.

Tab. 10.1 Verbundenheit mit territorialen Einheiten (Antworthäufigkeit in Prozent)

Tab. 10.1 zeigt außerdem, dass sich die Befragten mit dem Nationalstaat stärker verbunden fühlen als mit anderen territorialen Einheiten. 86 % der Befragten gaben an, sich mit Österreich eng oder sehr verbunden zu fühlen; 81 % mit ihrem Bundesland; 79 % mit ihrem Wohnort; und nur 55 % mit „Europa“. Allerdings lässt das Antwortverhalten der Befragten offen, was diese unter „Europa“ genau verstehen, ob sie damit die Europäische Union meinen (der eine zögerliche Haltung in der Krise vorgeworfen wurde) oder bloß ein geografisches Gebiet.

Vergleicht man diese Angaben mit dem Antwortverhalten der Befragten aus den EVS des Jahres 2017 lassen sich zwei Auffälligkeiten beobachten (siehe Abb. 10.3). Erstens erkennt man dasselbe Muster in der „Stärke“ der Angaben zur Verbundenheit mit den jeweiligen politischen Territorien. Auch die EVS-Erhebung von 2017 zeigt, dass die Befragten häufiger angaben, sich mit Österreich als mit dem Bundesland, dem Wohnort oder mit „Europa“ verbunden zu fühlen. Diesbezüglich findet man sogar dieselbe Reihenfolge an Verbundenheitsgraden vor.

Abb. 10.3
figure 3

(Quellen: EVS 2017 und ACPP 2020)

Mittelwertevergleich der Verbundenheit mit territorialen Einheiten zwischen 2017 und 2020. Fehlerbalken geben jeweils das 95 %-Konfidenzintervall an. N = 1531.

Zweitens zeigen die Ergebnisse des EVS von 2017, dass sowohl hinsichtlich der Verbundenheit mit Österreich, wie auch mit den anderen Territorien relativ mehr Personen angaben, sich „eng“ oder „sehr eng“ verbunden zu fühlen. Der Vergleich zwischen diesen Daten weist also auf kein sprunghaft gestiegenes Gefühl der Verbundenheit mit Österreich hin, die in den Anfangsmonaten der Krise zu beobachten war. Sehr wohl erkennt man jedoch, dass wieder die Verbundenheit mit Österreich eine herausragende Stellung in Beziehung zu den anderen territorial definierten Verbundenheiten einnimmt. Die Bedeutung dieser nationalen Ebene wird zusätzlich noch dadurch unterstrichen, dass die Verbundenheiten mit den drei anderen Ebenen im ACPP 2020 signifikant unter den Wert von 2017 gesunken sind.

5.2 Unterschiede innerhalb Österreichs

Tab. 10.2 gibt Aufschluss über die Antworthäufigkeit nach Bundesland in der Erhebung von 2020 bezogen auf die Frage, wie eng sich die Befragten mit Österreich verbunden fühlen und vergleicht diese mit den Antworten beim EVS 2017 – nur das hier die Mittelwerte verwendet werden. Zunächst ist beim Vergleich der Daten zu erkennen, dass beim Survey von 2020 etwas größere Unterschiede im Antwortverhalten zwischen den Befragten der einzelnen Bundesländer bestehen. Gemessen am relativen Antwortverhalten wurde in diesem Jahr für die Frage, wie viele der Befragten sich sehr eng oder eng mit Österreich verbunden fühlen, die geringsten Werte für Vorarlberg und Tirol festgestellt.

Tab. 10.2 Mittelwerte in der Verbundenheit mit Österreich nach Bundesland (sortiert nach Differenz)

Tab. 10.2 zeigt, dass gerade in Vorarlberg und Tirol die Differenzen besonders ausgeprägt sind und die Angaben von 2020 weit unter jenen von 2017 lagen. In Wien, Niederösterreich und Oberösterreich findet sich dagegen eine umgekehrte Differenz und die Befragten gaben 2020 an, sich relativ häufiger eng oder sehr eng an Österreich gebunden zu fühlen als 2017.

Über die Gründe dieser Differenzen kann im Rahmen der Analyse der Survey-Daten nur spekuliert werden. Auffällig ist, dass Tirol und Vorarlberg (insbesondere die Bezirke Bludenz und Landeck) von der ersten Welle der Corona-Infektionen besonders stark betroffen waren. Die Skigebiete am Arlberg waren die wichtigsten Hotspots der Pandemie in Österreich. In Tirol mussten die Behörden, nach anfänglichem Zögern in den Gemeinden des Bezirks Landeck, besonders restriktiv bei der Eindämmung des Virus vorgehen. Die Gemeinden Ischgl, Kappl, See, Galtür und St. Anton wurden unter Quarantäne gestellt. Später (18. März) wurden sogar alle Tiroler Gemeinden unter Quarantäne gestellt. Die Vorarlberger Landesregierung stellte ebenfalls einige Gemeinden (Leck, Warth und Schröcken) unter Quarantäne. Vor allem in Tirol wurde stärker Kritik am Management der Krise geäußert als in anderen Teilen Österreichs. In diesem Sinn kann es durchaus möglich sein, dass diese negative Stimmung sich auch in den Daten des Surveys wiederfindet. D. h., Unmut über das Missmanagement der Virus-Krise am Arlberg, die dauerhaft negative Medienberichterstattung über Ischgl, könnten auch dazu geführt haben, dass relativ weniger Menschen als 2017 angaben, sich mit Österreich eng oder sehr eng verbunden zu fühlen.

5.3 Österreich im internationalen Vergleich

In einem nächsten Schritt wird die Verbundenheit der Österreicher*innen mit ihrem Land im internationalen Kontext betrachtet. Ähnlich wie bei den ACPP-Daten zeigen die Eurobarometer-Daten (EB), dass die Bindung an die „Nation“ viel stärker angegeben wird als die an „Europa“ und, dass diese in Österreich besonders hoch ausfällt (siehe Abb. 10.4). Der Prozentsatz der Befragten, die ihrem Land „sehr stark“ bzw. „ziemlich stark“ verbunden sind, liegt konstant über 80 % und erreicht in Österreich sogar rund 95 %.

Abb. 10.4
figure 4

(Quellen: Standard-Eurobarometer (2000–2020))

„Nationale“ Verbundenheit in Österreich, Deutschland. Großbritannien und Frankreich von 2000 bis 2020. Vertikale Achse wurde aus Gründen der Anschaulichkeit bei 70 % abgebrochen. Die Daten für 2020 stammen aus dem Standard Eurobarometer 93, welcher zwischen Juli und August erhoben wurde.

Betrachtet man die Veränderungen über die Zeit in den einzelnen Ländern, so kann man einerseits eine gewisse Konstanz erkennen, anderseits aber auch kurzfristige Einschnitte. Interessanterweise zeigen die Daten des EB keine wesentliche Zunahme der Bindung an das Land, auch nicht nach dem Anstieg der immigrantenfeindlichen Stimmung im Gefolge der Migrationskrisen von 2015. Ein Trend zu ethnozentrischen und fremdenfeindlichen Diskursen ist diesen Umfragen zufolge nicht erkennbar, zumindest nicht in der Form einer zunehmenden „national“ ausgelegten Bindung.

Andererseits sind aber auch klare kurzfristige Veränderungen erkennbar. Folgt man diesen Erhebungen, gab es in Österreich einen Einschnitt der „national“ verstandenen und erhobenen Verbundenheit im Jahr 2002. Damals herrschte eine ÖVP-FPÖ Bundesregierung und es könnte gewesen sein, dass sich Wählerinnen anderer Parteien nicht mehr mit Österreich identifizierten. Ein zweiter Einschnitt lässt sich 2019 beobachten, als die türkis-blaue Regierung im Zuge der Ibiza-Affäre zerbrach, nachdem ihr im Parlament das Misstrauen ausgesprochen und eine Expertenregierung eingesetzt wurde. Aber auch in anderen Ländern zeigen sich kurzfristige Schwankungen. Für Großbritannien lässt sich zunächst ein Anstieg und seit dem Referendum über den Brexit 2016 ein signifikanter Abfall erkennen.

Insgesamt lassen sich die Ergebnisse hinsichtlich einer Verbundenheit mit Österreich folgendermaßen zusammenfassen: Sie wird höher als die mit „Europa“ und anderen geografischen Einheiten von den Befragten angegeben. Diese Tendenz lässt sich auch in anderen europäischen Ländern finden. Über die Zeit hinweg wird die angegebene Verbundenheit mit Österreich auf einem relativ konstanten Niveau sichtbar und fiel nur kurzfristig 2002 und 2019 ab. Selbst die Auswirkungen der Migrationskrise ab 2015 haben keine großen Änderungen hervorgerufen. Damit ergibt sich der Befund, dass ein „nationaler Schulterschluss“, in der Form von signifikant vermehrten Angaben zur Verbundenheit mit Österreich, in diesen Daten nicht vorzufinden ist. Allerdings waren die Werte bereits vor 2020 sehr hoch.

5.4 Stolz auf Österreich

Wie bereits erwähnt, werden hier Daten nach Fragen zur Verbundenheit mit und zum „Stolz“ auf Österreich in kein Konstrukt wie „nationale Identität“ zusammengefasst. Unklar bleibt nämlich, ob überhaupt, aus der Sicht der Befragten, Unterschiede in der semantischen Bedeutung zwischen Wir-Gefühlen wie „Verbundenheit“ und „Stolz“ bestehen. Die Klärung dieses Punktes ist nicht Ziel des Beitrages, sondern hier soll zunächst überprüft werden, ob ähnliche Tendenzen, wie die bereits dargestellten, auch hinsichtlich der Auswertungen des Antwortverhaltens zu Fragen nach dem „Stolz“ Österreicher*in zu sein bestehen. Lässt sich zumindest hierbei ein „nationaler Schulterschluss“ vermuten?

Die diesbezügliche ACPP-Frage wird wiederum mit der gleichen Frage im SSÖ 2016 verglichen (siehe Abb. 10.5). Die ACPP-Daten zeigen, dass während der ersten Corona -Welle rund 41,8 % der Befragten angaben, „sehr stolz“ und weitere 44 % „ziemlich stolz“ darauf zu sein, Österreicher*in zu sein. Nur 3,4 % gaben an, „gar nicht stolz“ darauf zu sein.

Abb. 10.5
figure 5

(Quellen: SSÖ 2016 und ACPP 2020)

Stolz auf Österreich; zwischen 2016 und 2020. Gewichtet nach demografischen Merkmalen. Zur Prozentuierung wurden jeweils alle gültigen Fälle miteinbezogen. Fallzahlen für SSÖ: N = 1822; für ACPP: N = 1293.

In Österreich wurde dieselbe Frage das letzte Mal 2016 im SSÖ gestellt (welcher am ISSP orientiert ist), wobei 37 % der Befragten angaben, „sehr stolz“ Österreicher*in zu sein. Die Unterschiede sind also nicht besonders groß. In Österreich wurde dieselbe Frage auch 2003 im ISSP-Programm gestellt, wobei damals 50,4 % der Befragten angaben, „sehr stolz“ Österreicher*in zu sein. Zu bedenken gilt aber, dass sich während dieses Zeitraums die demografische Zusammensetzung der Bevölkerung verändert hat (mehr Menschen leben in Städten, mehr Menschen haben höhere Bildungsabschlüsse und der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund oder einer anderen Staatsbürgerschaft als der österreichischen ist gestiegen).

5.5 Unterschiede innerhalb Österreichs

Tab. 10.3 zeigt die Unterschiede innerhalb Österreichs. Den größten Anteil von Befragten, die „sehr stolz“ sind, findet man in Wien und in Salzburg, gefolgt von Niederösterreich. Die kleinsten Anteile sind in Tirol zu finden. Zieht man nun auch noch die Antwort „gar nicht stolz“ hinzu, so stechen Kärnten und Vorarlberg ebenfalls als Bundesländer mit einem hohen Anteil an Personen die wenig „stolz“ sind, hervor. Diese Ergebnisse decken sich weitgehend mit den Befunden zur Verbundenheit, wo Wien ebenfalls sehr hoch lag und Tirol und Vorarlberg sehr nieder.

Tab. 10.3 Nationalstolz nach Bundesland (Antworthäufigkeit in Prozent)

5.6 Österreich im internationalen Vergleich

Der zuvor präsentierte Vergleich zwischen den ACPP-Ergebnissen aus 2020 und der ISSP-Erhebung aus 2003 zeigt, dass der Anteil der Befragten, die stolz darauf sind, Österreicher*in zu sein, in der Erhebung vom April 2020 etwas geringer ist als in der ISSP-Erhebung von 2003. Aufgrund des unterschiedlichen Erhebungsmodus der beiden Studien können wir leider nicht feststellen, ob der Unterschied auf den Erhebungsmodus oder auf einen tatsächlichen Rückgang des Nationalstolzes zurückzuführen ist.

Reicher (2020, S. 111 ff.) zeigt, dass in anderen westeuropäischen Ländern die Werte zumeist tendenziell steigen. Abb. 10.6 zeigt dazu die Trends vor der Corona-Zeit in Österreich, Deutschland, Frankreich und Großbritannien. In dieser Abbildung wird nun zusätzlich noch ersichtlich, dass die angegebenen „Stolz“-Werte in Österreich, im Vergleich zu anderen Ländern, stark ausgeprägt sind. In Österreich liegen die Werte für „sehr stolz“ und „ziemlich stolz“ bei über 90 %, während diese Werte für Großbritannien nur bei rund 70 % begannen und über die Zeit hinweg auf ca. 80 % stiegen.

Abb. 10.6
figure 6

(Quellen: EVS/WVS (1990, 1999), EVS (2008, 2017) und ISSP (2003, 2013))

„Nationaler“ Stolz in Österreich, Deutschland, Großbritannien und Frankreich von 1990 bis 2017. Vertikale Achse wurde aus Gründen der Anschaulichkeit bei 50 % abgebrochen.

5.7 Verbundenheit und „Stolz“ auf Österreich in Beziehung zu politischem Vertrauen, Parteipräferenzen und sozioökonomischen Status

Die Kernfrage unseres Beitrages dreht sich um den Zusammenhang zwischen „nationalen“ Wir-Gefühlen und die Unterstützung für die Regierung im Zeitraum des ersten Lockdowns bzw. um die Frage nach der Existenz eines derart auslegbaren „nationalen Schulterschlusses“. Nur, wenn ein über die Parteigrenzen bestehender breiter Konsens feststellbar ist – der irgendwie mit der Frage der „nationalen“ Zugehörigkeit in Verbindung steht – macht diese Metapher einen Sinn. Hier wurde erstens nach dem Vertrauen in die Bundesregierung, zweitens nach dem Vertrauen in das Parlament und drittens nach der Zufriedenheit mit der Arbeit der Bundesregierung gefragt.

Abb. 10.7 zeigt die Beta-Werte für zwei Regressionsmodelle. Diese sind so zu interpretieren, dass jene Merkmale deren Koeffizient links der horizontalen Linie liegen (d. h. negativ sind) mit geringerer Verbundenheit bzw. mit verringertem „Stolz“ einhergehen; wenn Koeffizienten rechts von der mittleren horizontalen Linie liegen (d. h. positiv sind), gehen diese dementsprechend mit engerer Verbundenheit bzw. größerem „Stolz“ einher. Während die Punkte die exakten Schätzwerte unserer Modelle illustrieren, geben die sie umgebenden Linien an, in welchem Bereich diese Werte mit 95 %iger Wahrscheinlichkeit streuen. Diese können daher auch als metrische Alternative zur klassischen Signifikanzprüfung (welche auch mit Sternchen in der Abbildung angegeben ist) gesehen werden (siehe etwa Cumming und Calin-Jageman 2017): Wenn eines der Konfidenzintervalle die Mittellinie schneidet und sich daher unser Schätzwert nicht von Null unterscheidet, kann man auf einen nicht-signifikanten Effekt schließen. Das heißt, man kann den Effekt eigentlich interpretieren, weil man ihm mit 95 %iger Sicherheit weder ein positives noch ein negatives Vorzeichen zuordnen kann. Neben der Richtung und Inferenz, kann man zudem die Stärke der jeweiligen Variablen ablesen: Je weiter ein Punkt von der Mittellinie entfernt ist, desto größer ist der Einfluss der Variable. Schließlich indiziert die Länge der einzelnen Balken die Genauigkeit der Schätzung: Kurze Balken bedeuten eine präzise Schätzung des Parameters.

Abb. 10.7
figure 7

(Quelle: ACPP 2020)

Forest-Plots zu linearen Regressionen zur Erklärung von national ausgelegtem „Stolz“ und Verbundenheit mit Österreich. Abgebildet sind jeweils die standardisierten Beta-Werte (siehe Tab. 3 des statistischen Glossars) als Punkte und die zugehörigen 95 %-Konfidenzintervalle in Form von Punkte. Untersucht wurden in beiden Modellen soziodemografische Merkmale (Alter, Geschlecht, Bildung und Einkommen), die Einstellung gegenüber der Regierungsarbeit, das Vertrauen in das Parlament und die Bundesregierung sowie die politische Einstellung (Nationalratswahl 2019). Die Daten wurden jeweils nach demografischen Merkmalen und politischer Orientierung gewichtet. Fallzahl bei Modell zur Verbundenheit: N = 916; bei Modell zum „Stolz“: N = 858. * p < ,05, ** p < ,01, *** p < ,001.

Zunächst zum linken Forest-Plot, also zur Verbundenheit mit Österreich. Überraschenderweise ist die nationale Verbundenheit kaum mit soziodemografischen Unterschieden (Alter, Geschlecht, Einkommen) assoziiert, einzig die Bildung zeigt einen Einfluss auf das Verbundenheitsgefühl: Akademiker*innen und Maturant*innen fühlen sich Österreich weniger verbunden, als jene, die über keinen dieser höheren Abschlüsse verfügen. Während höheres Vertrauen in die Bundesregierung mit stärkeren Verbundenheitsgefühlen einhergeht, zeigen sich keine Effekte für das Vertrauen in das Parlament oder der Zufriedenheit mit der Regierungsarbeit. Nach Kontrolle dieser Einstellungsaspekte finden sich auch keine Parteiunterschiede in der Verbundenheit zu Österreich zwischen Wähler*innender ÖVP und den übrigen Parteien. Einzig diejenigen, die bei der letzten Nationalratswahl nicht gewählt haben (aber wahlberechtigt waren), sind mit Österreich weniger verbunden als die ÖVP-Wähler. Die zeitliche Weiterentwicklung der Zufriedenheit mit der Arbeit der Bundesregierung wurde bereits analysiert und besprochen (siehe Abb. 10.2).

Beim „Nationalstolz“, dem rechten Forest-Plot, zeigen sich ähnliche Befunde: Auch hier spielen soziodemographische Aspekte eine untergeordnete Rolle: Hochschulabsolventen*innen sind weniger stolz auf Österreich als Personen ohne Maturaabschluss. Alter, Geschlecht und das Einkommen zeigen hingegen keinen Effekt. Im Unterschied zur Verbundenheit spielt hier die Zufriedenheit mit dem Regierungskurs eine Rolle, nicht jedoch das Vertrauen in Regierung oder Parlament. Die Parteipräferenz bei der letzten Nationalratswahl zeigt jedoch, dass die Wählerschaft der Grünen, auch nach Kontrolle der soziodemographischen Unterschiede, weniger stolz auf Österreich ist also jene, die damals die ÖVP gewählt hatten. Nur die Nichtwähler weisen ebenfalls wieder einen geringeren „Nationalstolz“ als die ÖVP-Wählerschaft auf. Was hier, wie auch bei der Verbundenheit, durchaus nachvollziehbar ist, da Politikverdrossenheit mit Nichtwählen einhergeht. Nichtwähler*innen sind mit dem Status quo des Landes derart unzufrieden, sodass sie sich auch an der politischen Gemeinschaft nicht mehr beteiligen möchten.

Die restlichen Parteien unterscheiden sich hingegen nicht, oder besser nicht mehr, von der ÖVP, wenn man die etwaigen anderen Faktoren kontrolliert. Dies wird aus Abb. 10.8 ersichtlich: Hier sind die sozusagen „rohen“ Mittelwertsunterschiede zwischen den Wählergruppen (gestrichlierte Linie) und die „künstlich“ um ihre Ursachen bereinigten Randmittelwerte (durchgezogene Linie) abgetragen. Dies ist insofern interessant, da die ÖVP-Wählende sich als die stolzeste Wählergruppe zeigen und als einzige einen Unterschied zwischen den rohen Mittelwerten und den geschätzten Randmitteln aufweisen (abzulesen an den sich nicht schneidenden Konfidenzintervallen der beiden Reihen). Das bedeutet, der „Stolz“ der ÖVP-Wähler wird zum Teil über die anderen Variablen im multivariaten Modell erklärt. Dies spricht daher für eine Konfundierung der gewählten Partei durch die Zufriedenheit mit der Regierungsarbeit, da die ÖVP auch jene Partei mit der höchsten Zufriedenheit ist.Footnote 7 Ob die ÖVP-Wählende per se mit dem Kurs der Regierung zufrieden sind oder dies aufgrund einer sogenannten „kognitiven Dissonanz“ (Festinger 1957) sind (d. h., den Regierungskurs als gut bewerten, weil sonst ein interner Konflikt mit der eigenen Wahlentscheidung auftritt), ist aus den Daten nicht herauslesbar. Diese Frage stellt sich vor allem daher, da ja keine der Parteien im Wahlkampf eine Position zum Umgang mit Gesundheitskrisen bezogen hatte und sich daher niemand bei der Nationalratswahl an diesen Parteipositionen orientieren konnte.Footnote 8

Abb. 10.8
figure 8

(Quelle: ACPP 2020)

Nationalstolz nach gewählter Partei bei der Nationalratswahl 2019. Dargestellt sind die Mittelwerte sowie das jeweils das 95 %-Konfidenzintervall für: a) die deskriptiven Gruppenmittelwerte und b) die geschätzten Randmittel aus dem Regressionsmodell. Bei Letzteren wurden die Werte dementsprechend um mögliche Einflüsse von soziodemografischen Eigenschaften sowie der Zufriedenheit mit der Arbeit der Bundesregierung und dem Vertrauen in das Parlament bzw. die Bundesregierung bereinigt. Die Daten wurden nach demografischen Merkmalen und politischer Orientierung gewichtet.

6 Diskussion und Schlussfolgerungen

Der Beitrag startete mit der Beobachtung, dass in den Medien und in der Regierungspolitik am Beginn des ersten Lockdowns von einem „nationalen Schulterschluss“ die Rede war. Mit dieser Metapher war anscheinend gemeint, dass eine Mehrheit der Bevölkerung, über Parteigrenzen hinweg, geschlossen die Maßnahmen der Regierung unterstützte.

Diese Studie konnte allerdings keinen Zusammenhang zwischen einem „nationalen Schulterschluss“ und einer gestiegenen Verbundenheit bzw. einem „Stolz“ mit Österreich nachweisen. Das bedeutet jedoch nicht, dass derartige Zusammenhänge nicht existieren würden.

Sozialwissenschaftliche Literatur weist nämlich darauf hin, dass Nationalstaaten in Vergleich zu anderen politischen Systemen besser in der Lage seien, außergewöhnliche Gefahren zu bewältigen, weil politische Maßnahmen „national“ legitimiert werden können. Dieser Aufsatz konnte allerdings diese Hypothese aufgrund mangelnder Datenlage nicht überprüfen. Dennoch können hier einige Grunderkenntnisse vorgelegt werden:

  1. 1.

    Am Beginn der Covid-19-Pandemie in Österreich im März 2020 waren die Zustimmungswerte für die beiden damaligen Regierungsparteien (ÖVP und Grünen) sehr hoch.

  2. 2.

    Zu diesem Zeitpunkt war auch die Zufriedenheit mit der Regierung außergewöhnlich hoch. Beobachtungen scheinen darüber hinaus nahe zu legen, dass die Corona-Krise vor allem dort, wo die Menschen scheinbar ein hohes Vertrauen in das Krisenmanagement ihrer Regierungen besaßen, deren Politik auch unterstützten. In anderen Ländern allerdings, wo Regierungschefs die Gefahren bagatellisierten und einen raschen Lockdown ablehnten oder herauszögerten, wurde eine tieferwerdende Polarisierung sichtbar, wie etwa in Großbritannien, Brasilien oder den USA.

  3. 3.

    Die hier vorliegenden Auswertungen – jene, der Daten der ACPP-Studie und der Daten anderer Survey-Studien – legen jedoch nahe, dass im Zuge des ersten Lockdowns im März und April 2020 „Stolz“ oder „Verbundenheit“ mit Österreich nicht gestiegen sind.

  4. 4.

    Die Daten zeigen, dass bereits vor der Krise in Österreich sehr hohe Werte zur Verbundenheit oder zum „Stolz“ vorlagen. „Nationale“ Wir-Gefühle sind überhaupt weit und intensiv verbreitet. Dieser Befund scheint allerdings nicht nur für Österreich, sondern auch für andere westeuropäische Länder zu gelten. D. h., die Verbundenheit mit Österreich war bereits vor der Krise unvergleichlich groß. Ob die Krise das Bewusstsein für die Schutzfunktion des Nationalstaates geschärft hat, kann hier nicht geklärt werden.

  5. 5.

    Außerdem konnte sichtbar gemacht werden, dass diese hohen Werte in Österreich und in anderen Ländern gewissen situativen Schwankungen unterworfen sind. D. h., dass „nationale“ Wir-Gefühle, sowohl zeitlich stabilen, als auch labilen Persönlichkeitsmerkmalen zuzuordnen sind. Dieser letztere Aspekt legt nahe, dass Fragen nach der Verbundenheit und dem „Stolz“ zum eigenen Land (unter anderem auch) den Zuspruch oder die Ablehnung zur jeweils vorherrschenden Regierungspolitik widerspiegeln. Dieser situative Effekt zeigt sich auch in den Daten zur Parteipräferenzen in der ACPP-Studie. Auch die Eurobarometer-Daten zeigen einen Anstieg der „nationalen“ Verbundenheit in der letzten Welle, nach einem kurzfristigen Absinken infolge der Ibiza-Affäre und dem Auseinanderbrechen der türkis-blauen Regierung.

  6. 6.

    Der Blick auf international vergleichende Befunde zur Verbundenheit mit „Nation“ und „Europa“ zeigt nur kleine Veränderungen über die letzten Jahrzehnte und eine durchgängig stärkere Verbundenheit mit den jeweiligen Nationalstaaten als mit „Europa“ (vgl. Hadler et al. 2020).