1.1 Zum Entstehungskontext des Sammelbandes

Mit der Covid-19-Pandemie, die das gesellschaftliche Leben ab März 2020 in Österreich massiv eingeschränkt hat, haben wir es mit der größten gesundheitlichen, ökonomischen und sozialen Herausforderung seit Jahrzehnten zu tun. Parallel zur Ausbreitung und zur globalen Wirkkraft des Virus schlägt dabei auch die Stunde der Expert*innen, denn es gilt, auf Basis epidemiologischer Erkenntnisse, Prognosen zum Infektionsgeschehen zu erstellen, medizinische Fortschritte und weltweite Kollaborationen für die rasche Entwicklung von möglichen Therapien, bis hin zu Impfungen, zu nutzen und mittels ökonomischer Modelle die wirtschaftlichen Krisenfolgen zu beleuchten. Doch auch die sozialen und (sozial)psychologischen Herausforderungen der Pandemie rücken verstärkt ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Die Sozialwissenschaften sind daher auf den Plan gerufen, zu den wesentlichen gesellschaftlichen Folgen der Pandemie wissenschaftliche Einsichten beizutragen und möglichst breit zu vermitteln.

Um umfassende Erkenntnisse zum Stimmungsbild in der Bevölkerung zu gewinnen, sind wir dabei in vielen Bereichen auf die Daten aus sozialwissenschaftlichen Umfragen angewiesen. Trotz der Hürden, die mit Feldforschungen in Zeiten der Pandemie verbunden sind, ist es in Österreich rasch gelungen, weitgehend repräsentative (also für die österreichische Bevölkerung verallgemeinerbare) Online-Studien zu entwickeln, die eine engmaschige Beobachtung der öffentlichen Meinung in turbulenten Zeiten ermöglichen. Das Austrian Corona Panel Project (ACPP), das von der Universität Wien initiiert wurde und von hier auch geleitet wird, ist zweifelsfrei die wichtigste Quelle zur Analyse der öffentlichen Meinung in Österreich in der Corona-Krise. Es ist den Wiener Forscher*innen (siehe Kittel et al. 2020) gelungen, von der Phase des ersten Lockdowns im März 2020 bis zum Sommer 2020 im wöchentlichen Rhythmus und danach im monatlichen Rhythmus Daten zu sammeln und für die Allgemeinheit aufzubereiten.Footnote 1 Parallel dazu wurde im Mai 2020 in Österreich die erste Erhebung einer international vergleichenden Umfrage zu Werten in der Krise (Values in Crisis, VIC)Footnote 2 durchgeführt, wobei in diesem Buch nur die österreichspezifischen Ergebnisse der Studie präsentiert werden.

Das Ziel des vorliegenden Sammelbandes ist es, empirische Befunde, die auf diesen beiden Studien fußen, in die Gesellschaft zu tragen und dadurch tiefer gehende Reflexionen über die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Corona-Pandemie zu ermöglichen. Die Corona-Krise führt bis heute in vielerlei Hinsicht zu drastischen Veränderungen des Alltagslebens und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie macht bewusst, dass jede/r verletzlich ist; sie stellt die Belastbarkeit der einzelnen Menschen und der Gesellschaft im Ganzen auf eine harte Probe. In der Krise treten auch zentrale gesellschaftliche Konfliktfelder, Spannungslinien und Schattenseiten in besonders deutlicher Weise hervor, indem sich etwa zeigt, dass jene, die ohnehin schon sozial benachteiligt sind, wiederum höheren Risiken ausgesetzt sind, als die sozial Privilegierten. Im Idealfall sollen durch die Erkenntnisse, die in diesem Buch vermittelt werden, auch Praktiker*innen und Entscheidungsträger*innen angeregt werden, Schritte hin zu einer positiven gesellschaftlichen Entwicklung in der Post-Corona Zeit zu leisten.

Eingehende wissenschaftliche Analysen erfordern Zeit, womit die Ergebnisse unserer empirischen Analysen leider – gerade im Kontext des rapiden gesellschaftlichen Wandels durch Covid-19 – stark zeitverzögert erscheinen. Wir können mit diesem Buch nur auf die erste Phase des Lockdowns in Österreich Bezug nehmen und Erkenntnisse zu den Auswirkungen der ersten Infektionswelle mit den damit verbundenen Einschränkungen im Frühjahr 2020 bereitstellen. Wie wir gegenwärtig (Stand April 2021) wissen, fand in den Sommermonaten 2020 eine weitgehende Normalisierung des sozialen Lebens statt und die Pandemie geriet durch geringere Infektionszahlen etwas in den Hintergrund. Obwohl eine zweite Welle der Infektionen durchaus vorhersehbar war und von führenden Virolog*innenFootnote 3 wiederholt prognostiziert wurde, war Österreich im Endeffekt auf die Dramatik der Entwicklungen im Herbst und Winter 2020 wenig vorbereitet. Während sich die österreichische Regierung im Frühjahr noch selbstbewusst in die Gruppe der sogenannten First MoversFootnote 4 eingliederte, die die Pandemie besonders gut bewältigt hatten, nahm die zweite Welle im Herbst ein ungeahnt verheerendes Ausmaß an, zeitweise wurden in Österreich sogar im weltweiten Vergleich die höchsten Pro-Kopf-Infektionsraten registriert.Footnote 5 Zudem blieb das Infektionsgeschehen über die gesamten Wintermonate hoch, wodurch vorerst (Stand April 2021) kein Ende der drastischen Einschränkungen sichtbar ist. Insofern lässt sich mittlerweile zweifellos konstatieren, dass Österreich – ähnlich wie viele andere Staaten – mit einer lang andauernden Mehrfachkrise konfrontiert ist; die gesundheitlichen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen der Pandemie überlagern sich. Im Rückblick auf das Jahr 2020 betrachtet, hat die Gesundheitskrise, in konzentrischen Kreisen neben der Wirtschaft, immer weitere Gesellschaftsbereiche in ihren Bann gezogen. Auch wenn wohl zum Erscheinungstermin des Buches die Impfungen weit fortgeschritten sind und die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr zur „neuen Normalität“ (wie auch immer diese gestaltet sein wird) überwiegen dürfte, bleiben die Nachwirkungen der Pandemie sicherlich länger erhalten.

In diesem Buch werden in drei Abschnitten empirische Befunde zur ersten Phase der Covid-19-Pandemie präsentiert. Der einführende Abschnitt gibt Einblicke in das Alltagsleben der Österreicher*innen während der Pandemie. Martina Beham-Rabanser, Karin Scaria-Braunstein, Sabine A. Haring-Mosbacher, Matthias Forstner und Johann Bacher befassen sich mit Arbeit und Familie in Zeiten des Lockdowns, Christoph Glatz und Otto Bodi-Fernandez mit sozialen Kontakten und der emotionalen Befindlichkeit in Zeiten der Krise und Dimitri Prandner mit dem Informationsverhalten in Zeiten der Pandemie. Der Abschnitt wird durch einen Beitrag von Franz Höllinger und Wolfgang Aschauer abgerundet, die auf die Rolle der Religiosität in der Krisenbewältigung fokussieren.

Das zentrale Thema von potenziell vergänglichen Solidaritätspotenzialen steht im zweiten Teil des Buches im Fokus. Franz Höllinger und Anja Eder thematisieren hierbei die Wahrnehmungen von Einkommensgerechtigkeit in der österreichischen Bevölkerung und gehen auf bestehende und wachsende Präferenzen für Umverteilung ein. Im Gegensatz dazu referenzieren Otto Bodi-Fernandez, Alfred Grausgruber und Christoph Glatz stärker auf die individuelle Ebene, indem sie auf das Sozialvertrauen, sowie auf solidarische Einstellungen und Handlungen in der Krise Bezug nehmen.

Der letzte Abschnitt des Buches spannt einen breiteren Bogen und geht auf grundlegende Werteorientierungen und Zukunftserwartungen der Österreicher*innen ein. Im Zuge eines Vergleichs mehrerer Umfragedaten der letzten Jahre beleuchten Wolfgang Aschauer, Anja Eder und Franz Höllinger potenzielle Werteverschiebungen in Zeiten der Krise und analysieren, wie diese Einfluss auf Vorstellungen einer Post-Corona-Gesellschaft nehmen. Es wird des Weiteren gezeigt, dass vorherrschende Wahrnehmungen, wie beispielsweise zur Klimakrise, (Beitrag von Rebecca Wardana, Markus Hadler und Beate Klösch) durch den Fokus auf das pandemische Geschehen in den Hintergrund treten und daraus auch eine stärkere Hinwendung zum Nationalstaat (Beitrag von Nico Tackner, Markus Hadler und Dieter Reicher) resultiert. Robert Moosbrugger und Dimitri Prandner rücken abschließend in den Fokus, wie die Österreicher*innen die eigene Lebenssituation, die nationale Lage und die europäische Situation beurteilen und wie stark das Ausmaß des Zukunftspessimismus auf diesen Ebenen ist. Einblicke in die Methodik der Umfrageforschung bilden den Abschluss des Buches und sollen den Leser*innen aufzeigen, welche Möglichkeiten und Grenzen mit Umfragedaten zur Abbildung der gesellschaftlichen Realität verbunden sind und wie quantitative Studien angemessen statistisch ausgewertet und interpretiert werden können.

Im Folgenden sollen nun die Datengrundlagen des Buches kurz umrissen werden, um einerseits die Potenziale der sozialwissenschaftlichen Datenanalyse zu bestimmen und andererseits die Grenzen der Aussagekraft der Daten herauszuarbeiten (siehe Abschn. 1.2). Des Weiteren wird die inhaltliche Rahmung des Buches vorgenommen und es werden zentrale soziale Herausforderungen durch die Pandemie in Österreich näher dargestellt (siehe Abschn. 1.3). Abschließend (siehe Abschn. 1.4) werden die einzelnen Beiträge des Sammelbandes näher vorgestellt und die zentralen Ergebnisse des Buches berichtet.

1.2 Zum Design sozialwissenschaftlicher Umfragen in der Corona-Krise

Die Corona-Krise hat auch die Sozialwissenschaften unvorbereitet getroffen, jedoch wurde sehr rasch erkannt, dass den politischen Entscheidungsträger*innen und der Öffentlichkeit belastbare Daten über die Akzeptanz von Maßnahmen, über bestehende Ängste der Bevölkerung und über vorherrschende Einstellungen und Verhaltensweisen in Zeiten der Pandemie zur Verfügung gestellt werden müssen. Zu diesem Zweck wurde bereits in den ersten Wochen des Lockdowns das Austrian Corona Panel Projekt (ACPP) ins Leben gerufen, das ein kontinuierliches Monitoring des Stimmungsbildes in der Bevölkerung erlaubt.

Obwohl für das erste Halbjahr 2020 die Durchführung von allgemeinen Umfrageprogrammen wie der Soziale Survey Österreich (SSÖ) geplant war und die Feldarbeit des European Social Survey (ESS) vorbereitet wurde, konnten diese etablierten Umfrageprogramme aufgrund der verordneten Einschränkungen nicht umgesetzt werden. Grund dafür ist, dass die meisten größer angelegten Umfragen wie eben SSÖ, ESS oder auch die European Values Study (EVS) auf die Durchführung von persönlichen Interviews setzen. Mittels differenzierter Erhebungsinstrumente und aussagekräftiger Bevölkerungsstichproben wird versucht, eine kontinuierliche, vergleichbare Dateninfrastruktur zur Dauerbeobachtung der Gesellschaft sicherstellen zu können (siehe für Beispiele zur Umsetzung bzw. Abweichung u. A. Bodi-Fernandez et al. 2019; Prandner 2019; Prandner und Weichbold 2019). Sowohl die gesellschaftliche Problemlage, als auch die methodischen Anforderungen einer Erhebung während der Pandemie, waren nicht mit den Rahmenbedingungen der regulären Umfrageprogramme in Einklang zu bringen. Die beiden hier verwendeten Projekte (ACPP und VIC) ermöglichen jedoch zumindest über den Online-Umfragemodus ein differenziertes und auch kontinuierliches Monitoring des Stimmungsbildes in der Bevölkerung. Beide Projekte wurden als Mehrthemenumfragen konzipiert, die vielfältige Themenkomplexe abdecken. Dabei gibt es allerdings Unterschiede in den Schwerpunktsetzungen und den Zielen. Eine detaillierte Gegenüberstellung der beiden Umfragen ist Tab. 1.1 zu entnehmen.

Tab. 1.1 Gegenüberstellung – Values in Crisis und Austrian Corona Panel Project (Grundlage: Archivierte Metadaten der Studien bei AUSSDA – the Austrian Social Science Data Archive; eigene Darstellung)

Die am ACPP beteiligten Wissenschaftler*innenFootnote 6 verfolgen das Ziel einer kontinuierlichen Beobachtung der österreichischen Gesellschaft, während der gesamten Dauer der Covid-19-Pandemie, um die kausalen Zusammenhänge zwischen dem Verlauf des Infektionsgeschehens, den politischen Maßnahmen und den dadurch entstehenden sozialen Dynamiken zu erfassen. Die Verantwortlichen des ACPP wollen so die wahrgenommene Betroffenheit auf gesundheitlicher und wirtschaftlicher Ebene, die Akzeptanz der gesetzten politischen Maßnahmen und die daraus erwachsenden demokratiepolitischen und sozialen Herausforderungen diskutieren (Kittel et al. 2020, S. 3). Durch die flexible Themensetzung decken die Umfragen eine große inhaltliche Bandbreite an Themen ab und es kann schnell auf Veränderungen in der Dynamik der Krisensituation reagiert werden.Footnote 7

Im Unterschied dazu handelt es sich bei der österreichischen VIC-Studie um eine jährliche Erhebung, die im Mai 2020 mit einer Stichprobe von 2000 Personen gestartet ist. Die Erhebung ist Teil einer internationalen InitiativeFootnote 8, ausgehend von der World Values Survey Association und ihrem Vice-Chair Christian Welzel, die sich der Frage annimmt, inwieweit die Corona-Krise sich auf die moralischen Werte und Einstellungen in Gesellschaften auswirkt. Zentraler Bestandteil des Umfrageprogramms ist dabei die Schwartz-Werteskala (Schwartz et al. 2001), wobei weitere Einstellungs- und Werteorientierungen abgefragt und um grundlegende Informationen zum alltäglichen Leben ergänzt werden. Die Umfrage ist weitestgehend standardisiert. Sie wurde an die österreichischen Gegebenheiten angepasst und um einzelne neue Fragen sowie Indikatoren aus früheren Wellen des Sozialen Survey Österreichs 2016 (Bacher et al. 2019a, b) bzw. 2018 (Hadler et al. 2019) ergänzt. Während das ACPP regelmäßig Umfragewellen durchführt, um die Veränderungen durch die Corona-Krise zu erfassen, ist das Ziel der VIC-Studie die Lage Österreichs international vergleichend einzuordnen.Footnote 9 Zwei weitere Erhebungswellen sind geplant, die zeitlich abgestimmt in rund 15 beteiligten Ländern durchgeführt werden (Welzel 2020).

In der aktuellen Form ermöglichen die Daten ein differenziertes Lage- und Stimmungsbild in der ersten Phase der Pandemie. Für das Buch wurden nur österreichspezifische Auswertungen vorgenommen. Zielsetzung ist, die sozialen Folgen der Pandemie für die Leser*innen über theoriegeleitete und empirisch gehaltvolle Beiträge entsprechend aufzubereiten. Wir blicken im Buchprojekt in die Vergangenheit und vergleichen Stimmungslagen in der Bevölkerung während der ersten Phase der Pandemie (im April/Mai 2020) mit sozialwissenschaftlichen Erhebungen vor der Krise. Wir beleuchten in großer Dichte die gegenwärtigen gesellschaftlichen Dynamiken und Aspekte des Alltagslebens in der Phase des ersten Lockdowns. Und schließlich wagen wir auch einen Blick in die Zukunft und analysieren, ob generell optimistische oder pessimistische Grundstimmungen in Österreich vorherrschend sind und welche Zukunftsvorstellungen einer Post-Corona-Gesellschaft in der Bevölkerung überwiegen. Im nächsten Abschnitt wird nun die gesellschaftliche Dynamik der Pandemie in einem „Jahresrückblick“ näher erläutert, und es werden die weitreichenden sozialen Folgen für Österreich umrissen.

1.3 Die weitreichenden gesellschaftlichen Folgen der Pandemie

Das Jahr 2020 zeigte eindrücklich, dass eine unvorhersehbar hereinbrechende Pandemie die Welt sehr rasch aus den Fugen geraten lässt. So unsichtbar und unkontrollierbar das Virus ist, so real ist es in seinen gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Die gesundheitliche Bedrohungslage bleibt diffus und viele Forschungen zur Charakteristik des Virus und zu Risikofaktoren und Langzeitfolgen der Erkrankung stehen noch am Anfang.Footnote 10

Das Trügerische an Covid-19 ist sicherlich die hohe Infektiosität, die sich auch darin manifestiert, dass Menschen, bevor sie mit Symptomen zu kämpfen haben bzw. sogar ohne Symptome zu Überträger*innen werden können. Insofern kann nur über weitreichende physische Distanzregeln, umfassendes Contact Tracing und damit verbundene Quarantänemaßnahmen wie die vorübergehende Schließung von Schulen, Geschäften, Gastronomie-, Kultur- und Freizeiteinrichtungen sowie mithilfe neuer Technologien der Massentestung bis hin zu weitreichenden Überwachungsmaßnahmen das Infektionsgeschehen ansatzweise kontrolliert werden.

Als schließlich im März 2020 die weltweite Ausbreitung des Virus offensichtlich wurde und Europa (nach China) das zweite Epizentrum der Pandemie bildete, ergab sich in rascher Abfolge eine Zuspitzung der Situation. Binnen weniger Wochen, nach dem Auftreten der ersten Fälle im Februar, wurde für Österreich Mitte März ein totaler Lockdown verhängt, der schlussendlich bis nach den Osterferien andauerte. Guanzini (2020, S. 257 f.) benennt bezugnehmend auf diese erste Phase der Pandemie drei aufeinanderfolgende Akzentuierungen im öffentlichen Diskurs. Parallel zu den steigenden Infektionszahlen gewannen die Aussagen von Virolog*innen, Infektiolog*innen und Simulationsexpert*innen an Gewicht, das politische Handeln war vollständig am Schutz der Gesundheit der Menschen und an einer Vermeidung der Überlastung des Gesundheitssystems orientiert. Alsbald begann jedoch der Diskurs rund um die wirtschaftlichen Folgen in den Mittelpunkt zu rücken, weil die Effekte der Krise auf die wirtschaftliche Konjunktur, den Arbeitsmarkt und die notwendigen budgetären Kraftakte zur Abwendung breiter sozialer Folgen bis heute für die betroffenen Staaten eine Mammutaufgabe darstellen. Die politischen Akteur*innen standen im Krisenmanagement vor der schwierigen Herausforderung, die potenziell verheerenden Auswirkungen im Gesundheitsbereich gegen wirtschaftliche Kollateralschäden und gegen Einschränkungen von Grund- und Freiheitsrechten entsprechend auszubalancieren. Wenn man den Verlauf der Krise in Österreich Revue passieren lässt, dann lässt sich aus den frühen Umfragedaten in der Zeitspanne des ersten Lockdowns herauslesen, dass die Bevölkerung damals ziemlich geschlossen hinter den Maßnahmen der Regierung stand.Footnote 11 Bis über den Sommer hinaus wurde das Krisenmanagement der Regierung überwiegend positiv beurteilt, die Maßnahmen wurden großteils eingehalten und als angemessen und effektiv betrachtet. Die Covid-19-Pandemie zwang allen ein Leben in einem Ausnahmezustand auf, weil die verheerenden Bilder der Triage in den Krankenhäusern des Nachbarlandes Italien um die Welt gingen und somit nicht nur das Virus, sondern auch die Angst vor dem Virus die Gesellschaft infizierte.Footnote 12 Der Erfolg in der Bekämpfung der Pandemie und die frühe Öffnung im Vergleich zu anderen Staaten haben sicherlich dazu beigetragen, dass der Vertrauensvorschuss für die österreichische Bundesregierung bis in den Sommer hinein relativ hoch war. Zeitgleich erfuhr auch der Sozialstaat neue Wertschätzung und viele nahmen mit Dankbarkeit zur Kenntnis, dass die ökonomischen Krisenfolgen in Österreich mit etablierten Sozialleistungen und budgetären Kraftakten deutlich besser als in anderen Ländern abgefedert werden können (z. B. Liedl et al. 2021).

Es ist deshalb wichtig zu betonen, dass in den Beiträgen nur auf diese erste Phase der Pandemie in Österreich Bezug genommen werden kann. Spätestens seit September hat sich das Stimmungsbild in der Bevölkerung deutlich verändert. Nach den jüngsten Ergebnissen steht ein erheblicher Teil der Bevölkerung mittlerweile (Stand März 2021) der Regierung kritisch gegenüber, auch die gesetzten Maßnahmen werden als wenig effektiv beurteilt.Footnote 13 Zudem zeigt sich die Bevölkerung in der Beurteilung des Krisenmanagements zunehmend gespalten. Während knapp ein Viertel der Bevölkerung für schärfere Maßnahmen plädiert und große Ängste vor einer Erkrankung äußert, findet sich ein ähnlicher Anteil beim gegenüberliegenden Pol, die Maßnahmen werden als zu drastisch beurteilt und es werden primär gravierende wirtschaftliche Folgen befürchtet.Footnote 14 Besonders um die Jahreswende 2020/2021 brechen aufgrund der wiederkehrenden Lockdowns Krisenerscheinungen auf mehreren Ebenen durch und es offenbart sich eine hohe PandemiemüdigkeitFootnote 15 in der Bevölkerung. Insofern muss man im Sinne der gesundheitlichen, ökonomischen und sozialen Stabilität des Landes hoffen, dass sich mit dem Fortschreiten der Impfung und mit den wärmeren Temperaturen im späten Frühjahr die Lage in Österreich mittelfristig entspannt, wobei sich das viel beschworene Licht am Ende des Tunnels anscheinend nur sehr zögerlich einstellt.

Diese, hier nur kurz skizzierten Dynamiken der Corona-Krise in Österreich, stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit Phänomenen des sozialen Wandels, die im Folgenden näher ins Blickfeld gerückt werden. Es sind dies die weitreichenden Eingriffe der Pandemie in den Lebensalltag der Bevölkerung, die Dynamiken sozialer Ungleichheit, die Solidaritätspotenziale in der Gegenwartsgesellschaft sowie die aktuell immer stärker aufbrechende Unvereinbarkeit zwischen Freiheit und Sicherheit. Diese gesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart bilden auch den Ausgangspunkt für die einzelnen Beiträge dieses Sammelbands.

1.3.1 Die Erschütterungen im Lebensalltag

Die Krise wirkt unmittelbar auf alle Gesellschaftsmitglieder ein, das Alltagsleben unterliegt massiven Einschränkungen, wodurch gravierende Änderungen im Beruflichen sowie im Privaten sichtbar werden. Einerseits könnten sich durch die Corona-Krise die Beziehungen innerhalb der Familie und im Umkreis der Nahestehenden sogar intensiviert haben, weil sich das gesellschaftliche Leben für viele Menschen über Monate auf das familiäre Umfeld beschränkte. Der Rückzug auf die eigenen vier Wände ist aber vor allem für Jugendliche und junge Erwachsene sehr belastend, weil in dieser Lebensspanne das Unterwegssein, die Pflege von Freundschaften und das Kennenlernen neuer Menschen einen besonders zentralen Lebensinhalt bilden.Footnote 16 Einerseits hat die Pandemie im Bereich der Online-Kommunikation zu einer boomenden Entwicklung geführt und anstehende Prozesse der Digitalisierung wurden beschleunigt. Aber auch wenn digitale Kommunikationsangebote zwangsläufig zum neuen Ankerpunkt des gesellschaftlichen Austausches geworden sind, kann die Sehnsucht nach Co-Präsenz und Face-to-Face-Beziehungen nicht entsprechend kompensiert werden. Insofern wird den jungen Betroffenen, die auf Home-Schooling und virtuellen Austausch angewiesen sind, immer deutlicher bewusst, was an realen Erlebnissen in der sozialen Welt verloren gegangen ist. Die Pandemie durchkreuzt bei jungen Menschen in Ausbildung auch die eigenen Zukunftspläne, weil wegweisende Entscheidungen über den weiteren Lebensweg nun öfter mit Ungewissheiten versehen sind. Nicht zuletzt aus diesen Gründen zeichnet sich – insbesondere bei jüngeren Menschen – ein Anstieg an Depressionen, Angst- und Schlafstörungen ab, wie repräsentative Studien in Österreich deutlich unter Beweis stellen (vgl. z. B. Pieh et al. 2020).

Auch wenn die ökonomischen Krisenfolgen für breite gesellschaftliche Gruppen vorerst noch weitgehend abgefedert werden, erleben jene Gruppen in gesicherten Arbeitsverhältnissen durch die Verlagerung der Arbeit ins Homeoffice vielseitige Reduktionen der Möglichkeitsspielräume für Kontakte. Der eigene Wohnbereich wird zu einer Art isoliertem Rückzugsort gegenüber den überbordenden Problemen im gesellschaftlichen Außen. Wenn diese Tendenzen überhandnehmen und länger andauern, könnte mit der Covid-19-Pandemie auch die Einkehr einer neuen BiedermeierhaltungFootnote 17 verbunden sein. Aus dem schützenden Kokon der unmittelbaren Wohnumgebung heraus könnte sich politische Entfremdung weiter fortsetzen und soziale Initiativen, die ebenfalls aktuell weitgehend in den virtuellen Raum verlagert werden (müssen), könnten an Relevanz verlieren.

Durch die erzwungene Verringerung der Mobilität ist auch der konkrete Arbeits- und Lebensalltag vielfältigen Änderungen und Belastungen ausgesetzt. Beruf und Freizeit vermischen sich und daraus resultierende Konflikte spitzen sich innerhalb des Haushalts zu. Vor allem Alleinerziehende sind durch die periodischen Schließungen von Schulen und Kindergärten stets mit großen Herausforderungen konfrontiert und müssen das gewohnte Leben umfassend reorganisieren. In traditionellen Familienverbänden mag diese Neuorganisation des Lebens zwar tendenziell leichter fallen, jedoch berichten zahlreiche Studien, dass hauptsächlich Frauen die neu hinzugekommenen Herausforderungen in der Kinderbetreuung übernehmen und bereits existierende Geschlechterhierarchien verstärkt werden.Footnote 18 Insofern wird durch die Schulschließungen im Zuge der Pandemie auch eine Retraditionalisierung der Geschlechterrollen befürchtet, welche die Emanzipationsbemühungen der Frauen um Jahre zurückwerfen könnte.Footnote 19 Andererseits deuten die Erkenntnisse aktueller Studien im Vergleich zu früheren Erhebungen darauf hin, dass die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, die häufig zu Lasten der Frauen ausfällt, weitgehend stabil bleibt. Die Auswirkungen von Schulschließungen werden jedoch auch in Hinblick auf eine Vertiefung ungleicher Bildungschancen dramatisch eingestuft. In der Inclusive-Home-Learning-Studie (2020) wird deutlich, dass bei zwei Drittel der Kinder in niedrigen Soziallagen, bei jedem zweiten Kind mit geringen Deutschkenntnissen und bei mehr als einem Drittel der Schüler*innen mit körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen ein massiver Förderbedarf besteht. Dass zudem bis zu 10 % der Schüler*innen im Home-Schooling digital nicht erreicht werden können, zeigt deutlich auf, dass Kinder in weniger privilegierten Schichten oft den Anschluss zur Schule oder zum Schulalltag verlieren.

1.3.2 Die Dynamiken sozialer Ungleichheit in der Krise

Eine sozialwissenschaftliche Betrachtung der Krise erfordert deshalb auch eine eingehende Analyse der Dynamiken sozialer Ungleichheit in der Krise und des Umgangs unterschiedlicher sozialer Gruppen mit der Krisensituation. Die Covid-19-Pandemie greift allumfassend in das Leben der Menschen ein und bewirkt einen nun schon lang andauernden Ausnahmezustand im Krisenmodus. Dennoch verlaufen die Grade an Betroffenheit entlang klassischer soziodemografischer Parameter wie Geschlecht und Alter sowie struktureller Charakteristika wie Einkommen und Bildung unterschiedlich. Die gesellschaftliche Krisenkonstellation verbunden mit der Bedrohung durch das Virus wirkt wie ein Scheinwerfer: Sie macht jene Personen sichtbar, die zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Funktionsfähigkeit dringend benötigt werden, sie richtet den Fokus auf jene Held*innen des Gesundheitssektors, die durch ihr unermüdliches Wirken als Lebensretter*innen fungieren, sie rückt jene Gruppe, die durch prekäre Beschäftigung stärker den gesundheitlichen und ökonomischen Gefahren ausgesetzt ist, ins Licht und sie beleuchtet verschiedene Dimensionen von Ungleichheit (wie die unterschiedlichen Folgen der Pandemie nach Geschlecht, sozialer Schicht oder ethnischem Hintergrund).Footnote 20

Existenzielle ökonomische Ängste liegen vor allem in jenen Branchen – wie Gastronomie, Tourismus und Kultur vor – die besonders massiv von den Schließungen durch die Pandemie betroffen sind. Zudem zeigt sich in Bezug auf Berufspositionen in der Gesellschaft, dass bestehende Ungleichheiten durch die Pandemie weiter vertieft werden. Die Beschäftigten in systemrelevanten Berufsfeldern, deren Tätigkeiten oft dem Mindestlohnsektor angehören, kämpfen um Anerkennung und Prestige und geraten nicht selten an die Grenzen ihrer Belastung. Es geht folglich nicht nur um materielle Ungleichheiten, sondern auch um Dynamiken der gesellschaftlichen Teilhabe sowie um Fragen der symbolischen Wertschätzung. Während bei älteren Personen die Sorgen vor wirtschaftlichen Folgen geringer ausfallen, ist die gesundheitliche Bedrohung deutlich ausgeprägter. Jeder persönliche Kontakt zu anderen ist mit der Sorge einer potenziell tödlichen Ansteckung verbunden und jegliche Nähe und Berührung wird zu einer Gefahr, die man tunlichst vermeiden sollte (vgl. Guanzini 2020, S. 260). Es braucht deshalb von den (oft wirtschaftlich betroffenen) Personen im Erwerbsleben ein hohes Ausmaß an Solidarität gegenüber den (gesundheitlich stärker betroffenen) Erwachsenen und Älteren, was folglich auch die Generationenverhältnisse in Österreich auf eine neue Probe stellt.

1.3.3 Solidaritätspotenziale in der österreichischen Gesellschaft

Wenn Personen lebensbedrohlich an Covid-19 erkranken, kommt erschwerend hinzu, dass im Falle einer Erkrankung auch alleine gelitten und im Ernstfall auch alleine gestorben werden muss. Während die ansteigenden Todeszahlen, durch die mediale Berichterstattung über die Situation in Norditalien bedingt, im Frühjahr 2020 noch vermehrt Aufmerksamkeit bekamen, erscheint mittlerweile (Stand April 2021) der Tod wieder weitgehend aus dem öffentlichen Leben verbannt. Trotz der hohen Anzahl an Todesfällen durch die Pandemie werden aktuell weitreichende Öffnungsschritte befürwortetFootnote 21, wodurch das Leid auf den Intensivstationen zunehmend in den Hintergrund tritt. Solidarität benötigt also in der Generationenbeziehung vor allem auch ein Mit-Gefühl, das mit Emotionalität verbunden sein muss. Während aus der potenziell tödlichen Bedrohung am Beginn sicherlich ein hohes Ausmaß an Betroffenheit resultierte, stumpfen diese starken Gefühle mit der Zeit ab, das Sterben normalisiert sich auf tragische Weise und die Empathie erschöpft sich.Footnote 22

Dennoch herrscht die weit verbreitete Vorstellung, dass die Krise die viel beschworene Solidarität in der Gesellschaft stärken könnte. Dieser Wunsch wird genährt, weil die Menschen in Krisenzeiten in der Regel näher zusammenrücken und sich folglich (vorübergehend) ein höheres Bewusstsein von Zusammengehörigkeit ausbildet. Dabei ist wesentlich, dass Solidarität aus verschiedenen Gründen aktiviert, aber nicht vorausgesetzt werden kann. In der ersten Phase der Pandemie wurde sowohl von populären Soziolog*innenFootnote 23, aber auch empirisch aus Sicht der Bevölkerung, über eine intensiver gelebte Solidarität berichtet, jedoch haben diese Wahrnehmungen im Kontext der weiteren Lockdowns im Herbst und Winter deutlich abgenommen.Footnote 24 Neben der erhofften Dauerhaftigkeit solidarischer Handlungen ist auch die Reichweite solidarischer Einstellungen für das gesellschaftliche Gefüge entscheidend. Auf der Mikroebene erstreckt sich die Solidarität auf Familie, Freundschaft und Nachbarschaft und ist stark durch soziale Bindungsemotionen (wie Liebe, Wertschätzung, Fürsorge) geprägt. Da das Virus nicht zwischen gesellschaftlichen Lagen unterscheidet und die Bevölkerung dem Eindruck unterliegt, dass jeder unverschuldet massiv von der Pandemie betroffen sein könnte, könnten neben solidarischen Handlungen im nachbarschaftlichen Kontext auch Präferenzen für Umverteilung neue Relevanz erfahren und ein sozialer Ausgleich zwischen gesellschaftlichen Schichten breiter befürwortet werden. Genau diese Art der Mesosolidarität (Denz 2003) wird derzeit propagiert und bezieht sich auf die Notwendigkeit einer innergesellschaftlichen Balance. Jedoch wird hier häufig die Grenze innerhalb der einzelnen Nationalstaaten gezogen. Solidarische Einstellungen beziehen sich dabei oftmals auf jene Personen, die als Teil der eigenen Gruppe und daher als „vollwertige Mitbürger*innen“ gesehen werden. Solidarität bleibt demnach exklusiv, sie betrifft nur jene, die der Solidarität als würdig angesehen werden und entsprechend in der Gesellschaft eingebunden sind (vgl. Poferl 2010, S. 143). Gewiss scheint, dass Solidarität aktuell stärker als früher in privaten oder nationalen Zusammenhängen gerahmt wird und dass das gesellschaftliche Engagement zu drängenden globalen Problemen, wie beispielsweise der Klimakrise und damit verbundene Fluchtbewegungen, derzeit gelähmt erscheint und wieder neu erstarken müsste. Ereignisse, wie die humanitäre Katastrophe im griechischen Flüchtlingslager auf Moria haben zwar mediale wie gesellschaftliche Beachtung gefunden, werden aber immer wieder durch die tagesaktuellen Herausforderungen der Corona-Krise überlagert. Derzeit sind wenig Anzeichen erkennbar, dass Vorstellungen des Gemeinwohls auf die europäische Ebene ausgedehnt werden und dass gegenüber stärker betroffenen Ländern, in Bezug auf die prekäre Lage von Zugewanderten und Geflüchteten oder in Hinblick auf global gerechte ImpfinitiativenFootnote 25, eine kosmopolitische Ethik praktiziert wird. Solidarität erfordert somit auch ein hohes Maß an Empathie, die Entwicklungen im größeren transnationalen und globalen Zusammenhang zu sehen und den eigenen Horizont in der Betrachtung der Krise zu erweitern. Insbesondere da diese Art der Krisenerfahrung für beinahe alle Österreicher*innen eine erstmalige Konfrontation mit derart weitreichenden Konsequenzen für die individuelle Lebenssituation darstellt.

1.3.4 Werteverschiebungen und damit verbundene Spaltungstendenzen in der Gesellschaft

Die Vorstellung, die eigenen Bedürfnisse und Interessen zurückzustellen und Solidarität als humanitäres Potenzial (Scherr 2013) universalistisch zu rahmen, hängt natürlich eng mit den eigenen Wertehaltungen zusammen. Werteorientierungen bieten generell einen wirkungsvollen Einflussfaktor auf alle menschlichen Lebensbereiche und prägen, quasi als kulturelle Marker, den Umgang mit der Krise. Insofern kann die Analyse des Wertewandels in der Bevölkerung, gerade in Zeiten der Krise als zentrales Forschungsfeld der Soziologie (vgl. Hillmann 2003, S. 11) gesehen werden, weil Werteverschiebungen bis hin zu fundamentalen Werteerschütterungen gesellschaftlichen Wandel hemmen oder verstärken können. Werte fungieren als Vorstellungen und Ideale, sie charakterisieren die eigene Identität und umschreiben die kulturellen Orientierungsmuster der Gesellschaft (vgl. Thome 2005, S. 389 f.) bzw. bestimmter sozialer Milieus in Zeiten von Pluralismus und Individualismus (Münch 2010). Sie symbolisieren das Wünschenswerte in der Gesellschaft und verkörpern in dieser Hinsicht auch die mehr oder weniger bewussten Entscheidungsgrundlagen für das eigene und kollektive Handeln. Insofern wird in vielen europäischen Ländern, wo neben einem ausgeprägten Sicherheitsbedürfnis auch die Werte der Freiheit und Unabhängigkeit tief verankert sind, stärker auf die eigene Verantwortung gesetzt werden (müssen), während in kollektivistisch geprägten Gesellschaften (z. B. Triandis 1995) Maßnahmen der Verhaltenskontrolle wohl einfacher durchgesetzt werden können.

Die etablierten europäischen Demokratien waren im Zuge der Pandemie dennoch Maßnahmen ausgesetzt, die tief in die Grund- und Freiheitsrechte der Bürger*innen eingegriffen haben. Gerade in der ersten Phase der Pandemie war überraschend, dass das Gros der österreichischen Bevölkerung die Verhaltenseinschränkungen akzeptiert hat. Stanley Milgram, der prägende und weithin bekannte Studien zum Massengehorsam durchgeführt hatte, spricht hierbei von einem Agens-Zustand (vgl. Milgram 1974, S. 156), wenn die Mehrheit ihr eigenes Handeln an den Vorstellungen der anderen ausrichtet. Dieser Zustand entfaltet sich dann am ehesten, wenn die Autorität als legitim angesehen wird und die Verhaltensanweisungen klar und transparent vorgegeben werden. Da die Eindämmung des Infektionsgeschehens in Österreich mit dem Aufflammen der zweiten Welle im Herbst sichtlich gescheitert ist, ist das zunehmende Unbehagen gegen die staatlich verordneten Maßnahmen zur Jahreswende 2020/2021 und im darauffolgenden Frühjahr nicht weiter verwunderlich. Die Proteste jener Gruppen, die weithin als Corona-Skeptiker*innen bezeichnet werden, resultieren auch daraus, dass neben den wirtschaftlichen Kollateralschäden der Maßnahmen signifikante Teile der Bevölkerung das aufoktroyieren einschneidender Verhaltenseinschränkungen nicht weiter hinnehmen wollen.Footnote 26 Wie Kröll et al. (2020, S. 8) betonen, ist die Zielsetzung des Lebens nicht nur „biologisch am Leben zu sein, sondern wir wollen leben, um Leben entfalten und genießen zu können.“

Die stärkere Ausrichtung auf den Nationalstaat in der Pandemie hat somit Licht- und Schattenseiten. Erstens zeigt die aktuelle Gesundheits- und Wirtschaftskrise, dass Staaten ohne ausgebaute Infrastrukturen (z. B. im Gesundheitssystem) und ohne weitreichende wohlfahrtsstaatliche Absicherungen im Krisenmanagement benachteiligt sind. Kritisch muss jedoch angemerkt werden, dass die Krise Zeitfenster schafft, in denen weitreichende Maßnahmen zur Verhaltenskontrolle auch längerfristig verankert werden können. In etablierten Demokratien ist der Staat gezwungen, diese Debatten rund um Freiheit und Sicherheit unter Einbindung der Bevölkerung zu führen und permanente Überzeugungsarbeit zu leisten. Dabei können auch die ausgetragenen Konflikte, im Idealfall durchaus integrationsfördernd wirken und zu gegenseitiger Verständigung führen. So beschreibt beispielsweise auch Dubiel (1997, S. 427), dass die Stärken von Demokratien in ihrer Fähigkeit zu „öffentlich ausgetragenem Dissens“ liegen. Die Auseinandersetzungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen um gegensätzliche Wertesysteme müssen im Rahmen „gehegter Konflikte“ stattfinden, wo im Idealfall im Ringen um die adäquate Gestaltung der Gesellschaft gegenseitiges Vertrauen gestärkt wird und alle Konfliktparteien das Gefühl haben, entsprechend gehört zu werden.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Virus die Gesellschaft nahezu vollständig in den Bann zieht und auch nach Bewältigung der Pandemie noch viele Folgen – wenn auch teils nur latent – nachwirken werden. Es wird sich zeigen, ob die Pandemie und die damit verbundenen Verschiebungen im globalen Geflecht des Waren- und Personenverkehrs entsprechend auch für eine Reflexionspause genutzt werden und nachhaltig positive Wandlungsprozesse hervorbringen können. Dies betrifft beispielsweise eine andauernde Stärkung des sozialen Zusammenhalts durch eine Stärkung wohlfahrtsstaatlicher Sicherung, die Fokussierung auf ausgewogene und notwendige Digitalisierungsschübe in einzelnen Wirtschaftssektoren, die Nutzung von Potenzialen hin zu einer stärker regional basierten und umweltverträglichen Wirtschaftsweise und Aushandlungen hin zu einer ausgewogenen Balance zwischen individuellen Freiheiten und staatlicher Lenkung. Da die „Rückkehr zum normalen Leben“ zur obersten Maxime hochstilisiert wird, sind größere Transformationen durch die Corona-Krise (z. B. Horx 2020) insgesamt aber wohl eher unrealistisch. Wahrscheinlicher ist, dass nach Bewältigung der Pandemie ein Wiederhochfahren des Konsums und des profitorientierten Wirtschaftens im Vordergrund steht und Aufrufe nach einer gravierenden Änderung der westlichen Lebensweise wieder leise verhallen dürften.

1.4 Eine Vorschau auf zentrale Ergebnisse der Beiträge

Im Folgenden möchten wir die einzelnen Beiträge des Buches analog zur Struktur des Buches kurz vorstellen, bevor zusammenfassende Gedanken über wesentliche empirische Befunde das Kapitel schließen.

Der erste Teil des Buches diskutiert die Auswirkungen der ersten Phase der Corona-Krise auf den Alltag der Befragten. In diesem Zusammenhang schildern Beham-Rabanser, Scaria-Braunstein, Haring-Mosbacher, Forstner und Bacher auf Basis quantitativer und qualitativer Daten eindrücklich, dass sich mit Beginn der Pandemie die Wichtigkeit von Arbeit, Familie und Kindern gewandelt hat. Ihre Analysen zeigen, dass bei Frauen der Stellenwert von Familie und Kindern im Unterschied zu den Männern anstieg, während insbesondere die Relevanz von Arbeit und Beruf bei Männern abnahm. Die Auswertungen verdeutlichen jedoch auch, dass für Befragte in einer Partnerschaft nicht nur Familie und Kinder, sondern auch Beruf und Arbeit einen höheren Stellenwert haben, als für alleinstehende Personen. Anhand von Einblicken aus drei Fallgeschichten wird des Weiteren deutlich, dass Familien – und vor allem Frauen mit Kindern – im Lockdown starken Stressphasen ausgesetzt waren. Insofern wurden die Vereinbarkeit von Familie und Arbeit, verbunden mit klassischen Geschlechterkonstellationen in der Haushaltsführung, auf eine neue Probe gestellt.

Anschließend stellen Glatz und Bodi-Fernandez dar, wie sich die krisenbedingte Verringerung der sozialen Kontakte auf die psychische Gesundheit auswirkt. Sie untersuchen über die ersten zehn Wellen des ACPP (April und Mai 2020) hinweg, welchen Einfluss soziale Kontakte auf einzelne Facetten des subjektiven Wohlbefindens aufweisen. Insgesamt werden interessanterweise nur schwache Zusammenhänge zwischen sozialen Kontakten und dem Wohlbefinden festgestellt, wobei die Autoren hierzu zwei Erklärungen anführen. Einerseits konnten viele Kontakte in den virtuellen Raum verlagert werden und zweitens war den meisten Personen im ersten Lockdown bewusst, dass die Phase der sozialen Enthaltsamkeit endlich ist und nicht mit einem langfristigen Verlust sozialer Ressourcen einhergehen wird.

Im folgenden Beitrag wird von Prandner aufgezeigt, dass sich das Informationsverhalten in Österreich in der Krise nur unwesentlich veränderte und insbesondere Social-Media-Kanäle nur eine nachrangige Rolle bei der Informationsbeschaffung der Österreicher*innen in der Krise einnahmen. Das befürchtete Phänomen einer Infodemie – also die unkontrollierte, weitreichende Verbreitung von ungesicherten oder falschen Daten – konnte also nicht nachgewiesen werden. Dennoch zeigen sich klare Trennlinien hinsichtlich des Informationsverhaltens: Während der ersten Phase der Krise wandten sich insbesondere jüngere Personen und Personen mit niedrigerem sozialen Status signifikant seltener journalistischen Inhalten zu als höher qualifizierte Milieus in der Gesellschaft.

Der erste Abschnitt des Buches endet mit einer Auseinandersetzung von Höllinger und Aschauer über die Bedeutung von Religion und Spiritualität während der Zeit der Pandemie und inwieweit Religiosität einen Einfluss auf den Umgang mit der Krise hat. Entgegen der religionssoziologischen Grundannahme, dass in Phasen starker emotionaler Belastungen und existenzieller Unsicherheit das Bedürfnis nach religiöser Sinngebung steigt, stellen die Autoren fest, dass die Religiosität im Zuge der Krise sogar eher tendenziell abgenommen hat, nur bei wenigen unmittelbar von gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen betroffenen Personen kann ein leichter Anstieg beobachtet werden. Andererseits hilft Religiosität und Spiritualität in der Krisenbewältigung, weil Personen mit einer hohen Ausprägung auf beiden Dimensionen tendenziell von einem höheren Wohlbefinden berichten und auch aktiver nach sozialer Unterstützung im Umgang mit der Krise suchen. Deutliche Unterschiede zwischen konventionell religiösen und spirituellen Personen zeigen die Autoren auf, wenn es um gesellschaftspolitische Einstellungen geht: Religiöse Personen waren zum Zeitpunkt der Umfrage mit der Regierung eher zufrieden und vertrauten in gesellschaftliche Institutionen, was -konsequenterweise auch im Vergleich zu spirituell aktiven Personen – in einer häufigeren Unterstützung der Maßnahmen zur Eindämmung der Krise resultierte.

Der zweite Abschnitt beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Fragen der Solidarität in Zeiten der Krise. Eingeleitet wird dieser Teil des Buches durch einen Beitrag zur sozialen Ungleichheit und Umverteilung (Eder und Höllinger). Dabei zeigt sich, dass sich die Befragten in der Zeit der Corona-Krise mehrheitlich wünschten, dass das Einkommen von Politiker*innen und Manager*innen deutlich niedriger sein sollte, als es derzeit ist. Besonders jüngere Personen, Frauen und Personen mit geringem Bildungsabschluss plädieren für einen Einkommensausgleich zwischen hoch- und niedrig qualifizierten Berufen. Zudem zeigt sich, dass gut die Hälfte der Befragten für ein bedingungsloses Grundeinkommen eintritt, wobei dieser Wunsch bei jüngeren Personen, bei Arbeitslosen und bei Wähler*innen der Parteien SPÖ, NEOS und Grüne besonders ausgeprägt ist. Die Autor*innen merken jedoch mit Verweis auf die jüngere Vergangenheit (z. B. Volksbegehren im Herbst 2019) kritisch an, dass auch hier die geäußerte Einstellung nur geringfügig mit einer konkreten Änderungsabsicht einhergehen könnte.

Im Anschluss daran wird von Bodi-Fernandez, Grausgruber und Glatz auf Grundlage der Paneldaten des ACPP das Solidaritätsempfinden bei Personen mit Vorerkrankungen, bei älteren Menschen, Bürger*innen in beengten Wohlverhältnissen, sowie Personen in aktuell prekären Beschäftigungsverhältnissen oder mit Kinderbetreuungspflichten spezifisch analysiert. Die empirischen Analysen der Autoren zeigen, dass das Sozialvertrauen in Zeiten der Krise leicht abgenommen haben dürfte, wobei jedoch insbesondere höher Gebildete und auch ältere Personen, ihren Mitmenschen ein hohes Vertrauen entgegenbringen. Besonders am Beginn des ersten Lockdowns würdigen viele Österreicher*innen den erhöhten sozialen Zusammenhalt in der Krise, sie beobachten jedoch auch, dass sich dieser mit der Abnahme des Infektionsgeschehens im Frühjahr wieder auf ein normales Niveau eingependelt hat. Insgesamt verdeutlichen die Indikatoren des Zusammenhalts tragfähige Ressourcen der Gesellschaft, die auch wirkungsvoll zu einer Stabilisierung der sozialen Ordnung beitragen.

Der dritte und letzte Abschnitt des Buchs widmet sich grundlegenden Werteorientierungen und Zukunftserwartungen der Österreicher*innen und umfasst vier Beiträge.

Im Beitrag „Werteveränderungen und Zukunftsvorstellungen“ diskutieren Aschauer, Eder und Höllinger grundlegende Werte der Österreicher*innen im Zeitverlauf, um potenzielle Werteveränderungen in Zeiten der Krise erklären zu können. Die Daten aus einzelnen Erhebungswellen des European Social Survey und der aktuellen VIC-Studie aus dem Mai 2020 zeigen dabei, dass sich die seit der Wirtschaftskrise 2008 belegbare Tendenz zu konservativen Wertehaltungen (z. B. mehr Traditionsgebundenheit) fortsetzt, ohne dass es zu einer fundamentalen Erschütterung anderer grundlegender Wertehaltungen (Macht- und Leistungsdenken vs. Engagement für Gleichberechtigung und Toleranz) kommt. Hinsichtlich der Zukunftserwartungen der Befragten können die Autor*innen zusätzlich aufzeigen, dass Vorstellungen hin zu einer solidarischeren und nachhaltigen Gesellschaft zwar klar kommuniziert werden, aber den meisten Teilnehmenden durchaus bewusst zu sein scheint, dass diese Wünsche nur bedingt in Erfüllung gehen dürften. Ältere Generationen positionieren sich deutlich solidarischer, während die jüngeren Generationen zwar europäisch und kosmopolitisch denken, aber stärker in der kapitalistischen Leistungslogik verstrickt sind. Die Autor*innen schließen daraus, dass jüngere Menschen aufgrund vorherrschender Systemzwänge einen tief greifenden gesellschaftlichen Wandel zunehmend als unrealistisch beurteilen dürften.

Im zweiten Beitrag des Abschnitts gehen Wardana, Klösch und Hadler der Frage nach, wie sich die Corona-Krise auf die Einstellungen zu Umweltfragen auswirkt, ob durch diese Krise die Notwendigkeit einer nachhaltigen, umweltschonenden Lebensweise stärker ins Bewusstsein tritt oder ob die Umweltproblematik durch die Sogwirkung der Pandemie in den Hintergrund gerät. Auf Basis von drei quantitativen Erhebungen in der Zeit vor, während und nach der ersten Welle der Covid-19-Pandemie kann klar nachgewiesen werden, dass die Bedrohung durch den Klimawandel in der Phase des ersten Lockdowns geringer wahrgenommen wird als vor der Krise. Die Relevanz der Einflussfaktoren wie Alter, Bildung und Einkommen auf diese Einstellungen hat sich jedoch nicht verändert.

Nach einer Analyse der Einstellungen zur globalen Herausforderung des Klimawandels stehen in einem weiteren Beitrag Tendenzen einer Erstarkung der nationalen Identität im Vordergrund. Tackner, Hadler und Reicher analysieren, inwiefern die Befragten den in vielen politischen Aufrufen beschworenen nationalen Schulterschluss in der ersten Phase der Corona-Krise mitgetragen haben und ob dieser Schulterschluss die nationale Identität, d. h. den Nationalstolz und das Zugehörigkeitsgefühl zum eigenen Land verstärkt hat. Ihre Ergebnisse zeigen, dass die Verbundenheit der Befragten zum Land Österreich sowie der Nationalstolz im internationalen Vergleich hoch ausfiel, aber im Frühling 2020 nicht merklich stieg.

Moosbrugger und Prandner befassen sich im abschließenden Beitrag mit den Erwartungen der Österreicher*innen an zukünftige Lebensumstände. Ein pessimistischer Blick nach vorn zeigt sich in den Analysen der Autoren tendenziell stärker bei Männern, vor allem bei älteren Menschen und bei Personen mit mittlerer Bildung. Insbesondere wenn Ungerechtigkeitsempfindungen dominieren, politische Entfremdung zutage tritt und wirtschaftliche Gefahren durch Corona im Vordergrund der Betrachtung stehen, äußern sich die Menschen pessimistischer über die Zukunft. Die aktuelle Krise bringt folglich nicht nur gesundheitliche und wirtschaftliche Risiken mit sich, sondern kann auch mit zunehmenden Erfahrungen der Orientierungslosigkeit einhergehen, weil eine fehlende gesellschaftliche Einbindung zu einem Verlust von Fortschrittsempfindungen führt.

Fasst man die Ergebnisse der drei Teilabschnitte des Buches zusammen, resultiert ein ambivalentes Bild über die sozialen Konsequenzen der Corona-Krise (siehe auch Tab. 1.2). Insgesamt offenbaren die Beiträge, wie vielschichtig – und teils auch unberechenbar – die Auswirkungen der Pandemie auf das soziale Gefüge sind.

Tab. 1.2 Auswirkungen der Krise. (Eigene Darstellung, mit Bezug auf die Inhalte der jeweiligen Kapitel)

In diesem Buch können naturgemäß nur erste Schlussfolgerungen abgeleitet werden, wie sich die österreichische Gesellschaft durch die Pandemie verändert, welche Dynamiken einer vielschichtigen Betroffenheit durch die Krise zunehmend sichtbar werden und welche Werte- und Einstellungsveränderungen in der Bevölkerung auftreten. Groß angelegte Projekte stellen meist nur Momentaufnahmen dar und brauchen Zeit, bis sie realisiert werden können, die Daten zur Analyse bereitstehen und die Ergebnisse entsprechend aufbereitet sind.Footnote 27

Die Beiträge zeigen deutlich, dass Krisen wie Vergrößerungsgläser wirken (Polak 2020). Es sind oftmals nur kleine, aber dennoch statistisch bedeutsame Veränderungen, die in den Texten beschrieben werden. In Summe machen diese Befunde das fragile politische, ökonomische und soziale Gefüge der Gesellschaft sichtbar. Sie zeigen einen Wandel im Stimmungsbild der Bevölkerung auf, dessen Dynamiken die sozialwissenschaftliche Forschung noch lange Zeit – auch über das Ende der Pandemie hinaus – begleiten werden. Die Verhärtung geschlechtsspezifischer Konstellationen, die latent vorhandene Kluft zwischen Generationen sowie auch Verteilungskonflikte und soziale Polarisierungen in der Gesellschaft machen deutlich, dass Anpassungsreaktionen auf die Krise in verschiedenen sozialen Milieus höchst unterschiedlich ausfallen. Sie reichen von Formen des radikalen Engagements (über Protestbewegungen), über einen zynischen Pessimismus und eine pragmatische Hinnahme der Krisenfolgen, bis hin zu einem durchgehaltenen Optimismus (Fortschrittsglauben). Entsprechend kann die Pandemie in vielerlei Hinsicht aufzeigen, wie sehr wir in unserer gewohnten Lebensrealität trotz des im Westen festgeschriebenen Individualismus (z. B. im Überblick Berger und Hitzler 2010) auf zwischenmenschliche Kontakte und gesellschaftlichen Zusammenhalt angewiesen sind und wie schnell Veränderungen im sozialen Zusammenleben die Stimmungslage in Gesellschaften weitreichend beeinflussen kann. Insofern sollte das Veränderungspotenzial der Gesellschaft auf Basis dieser Stimmungslagen nicht unterschätzt werden. Je nachdem, in welche Richtung das Pendel ausschlägt, entfalten diese Krisenwahrnehmungen naturgemäß einen subversiven Einfluss auf die Tragfähigkeit gesellschaftlicher Institutionen.Footnote 28 Das Ausmaß der Bewältigung der Krise in gesundheitlicher, ökonomischer und sozialer Hinsicht wird schlussendlich darüber entscheiden, ob Spaltungstendenzen in der Gesellschaft weiter zunehmen oder neue Wege in Richtung eines nachhaltigen und solidarischen Miteinanders beschritten werden.