Seit etwas mehr als 6 Jahren beschäftige ich mich mit AAL. Bei der Unternehmensberatung, bei der ich damals arbeitete, war es das übriggebliebene Thema, nachdem andere Kolleg*innen die Zukunftsfelder Mobilität, eHealth, Internet der Dinge bereits besetzt hatten. Ich war neu und bei Weitem der Älteste in der Firma, ein Mittfünfziger. Da war es ja auch quasi naheliegend, mich mit diesem „Älterwerdenthema“ zu betrauen. Tue was du liebst und liebe was du tust. Nehmen wir den zweiten Halbsatz als Ausgangsbasis. Das kann man ja auch so entscheiden und sich dran gewöhnen. Mein heutiger Blick auf AAL ist gereifter, eingebettet in ein ganzes Netzwerk aus Themen, die ich anfangs nur ahnen konnte. Heute, mit den Meldungen zur Corona-Pandemie in ständiger Präsenz, erhält AAL noch einmal eine dringendere Bedeutung.

AAL war zunächst einmal eine Abkürzung, mit der ich zuvor nicht wirklich, nicht bewusst in Berührung gekommen war. Ambient Assisted Living. Eher sperrig und eher nicht selbsterklärend. DeepL würde es heute mit „betreutes Wohnen“ übersetzen, aber das trifft es natürlich nicht. Gemeint war ein gewohntes privates Umfeld, in dem älter werdende Menschen mit gut organisierter und orchestrierter technischer und menschlicher Unterstützung möglichst lange sicher, komfortabel und gesund leben können. Klingt aber natürlich nach Gebrechlichkeit, Zerfall der körperlichen und geistigen Kapazitäten eines Menschen, nach Unselbständigkeit, Hilfsbedürftigkeit, also fast so negativ wie Versicherung. Die braucht man ja auch nur, weil immer etwas schiefgeht und man irgendwann stirbt.

Die internationale AAL-Community konnte natürlich auch beobachten, dass sie tolle Ideen entwickelte, aber gleichzeitig auch, dass die nicht „auf die Straße“ kamen. Sehr viele Forschungsgelder sind in Projekte geflossen. Aber die, denen es helfen sollte, nahmen es nicht wahr, verstanden es nicht, wussten nicht, wie sie in den Genuss kommen könnten, wer passende Angebote machte und wer es bezahlen sollte. Oder könnte. Oder die Lösungen blieben gleich im Forschungsstatus stecken, wurden gar nicht erst zum Produkt.

Die Geldgeber wurden nervös, die Community fragte nach Ursachen. Lag es an der Kommunikation? Gar am Namen? Kann man den positiver formulieren? Man konnte. Aus Ambient Assisted Living wurde Active Assisted Living. Kommunikativ und marketingtechnisch ein Fortschritt, ohne Zweifel. Positiv besetzt, aktiv alt werden. Sonnengebräunt auf der Segelyacht, dem Motorrad, zumindest dem Pedelec. Und da, wo es ein wenig zwickt, hilft ein Roboter. Das könnte das Interesse steigern.

Um AAL besser zu verstehen, begann ich also 2014 zu stöbern, zu lesen, Internetseiten zu scannen. Ich besuchte Unternehmen, die dieses Feld schon beackerten. Schaute mir ihre Lösungen an. Reiste im Laufe der nächsten Jahre zu AAL- und eHealth-Kongressen nach Nizza, Bukarest, Riga, Amsterdam, St. Gallen. In Bukarest fing die AAL-Community 2014 gerade an, sich mit Design Thinking zu befassen. Ein erster Workshop wurde dazu angeboten. Da ich der Einzige war, der damit in der Gruppe Erfahrung hatte, war der Jungfrau-Kind-Effekt unvermeidlich. Und beim AAL-Forum in Ghent konnte ich 2015 gemeinsam mit einer Kollegin einen Halbtags-Workshop ausrichten. Wie bekommt man aus guten Ideen der AAL-Szene gute Geschäftsmodelle entwickelt. Die Methode Business Design kam bei den Teilnehmer*innen sehr gut an. Aber warum war das nötig? Sich mit Methoden zu befassen, zu besseren Geschäftsmodellen zu kommen. Müsste AAL nicht ein Selbstläufer sein? Haben wir nicht einen Pflegenotstand? Haben wir nicht alle auf Lösungen gewartet? Händeringend?

Das Händeringen wird vermutlich noch deutlich zunehmen. Unsere Gesellschaft altert. Zu viele Kinder wurden nicht geboren. 2020 sind laut Statista in Deutschland 43,9 Mio. der Menschen zwischen 20 und 59 Jahre alt, für 2030 liegt die Prognose bei 39,6 Mio. Der Anteil der ab 60jährigen nimmt von 24,1 Mio. auf 27,8 Mio. zu. Vorerst stagniert die Bevölkerungszahl bei etwa 83 Mio. Wenn die Prognosen sich bewahrheiten, dann haben wir 2060 33,3 Mio. Menschen im Alter zwischen 20 und 59, 27,8 Mio. ab 60. Ein Exkurs zu den Problemen der Sozialsysteme, die sich daraus insgesamt ableiten, ist an dieser Stelle nicht erforderlich.

Speziell zum Thema Pflege sehen die Zahlen (Statista) so aus: Im Jahr 2013/2014 gab es in Deutschland 2.626.206 pflegebedürftige Menschen. 821.647 von ihnen lebten in Heimen. 743.430 Personen waren vollstationär dauerpflegebedürftig. 21.001 waren in Kurzzeitpflege, teilstationär waren es 57.216. Für 2030 werden es 3.553.826 Pflegebedürftige sein. In Heimen werden mehr als 1,1 Mio. Menschen gepflegt werden. Die benötigten Heime zu erweitern oder neu zu bauen ist dabei das geringere Problem. Das Personal reicht heute schon nicht. Ein Gutachten mit der Überschrift „Situation und Entwicklung in der Pflege bis 2030“ im Auftrag der Deutschen Krankenhausgesellschaft kommt zu dem Ergebnis, dass 2030 mindestens weitere 187.000 Pflegekräfte fehlen, davon 73.000 in der ambulanten Pflege, also dort, wo Menschen in ihren eigenen Wohnungen versorgt werden. Dort, wo mit AAL ein besonders großer Nutzen gestiftet werden könnte.

Aber schon jetzt, während der Pandemie, wo wir seit Monaten sehen, was das Gesundheitssystem und die darin arbeitenden Menschen leisten und aushalten müssen, fehlen ja zigtausend Pflegekräfte. Die, die da sind, arbeiten zwischen Enthusiasmus, liebevoller Zuwendung, maßlosen Überstunden, Resignation, Frust und Fließbandarbeit. Alles ist getaktet, wer sich ein paar Minuten für die menschliche Zuwendung zu den Pflegebedürftigen mehr nimmt, riskiert Diskussionen mit der Pflegedienstleitung. Oder die Zeit wird den Pflegebedürftigen in Rechnung gestellt. Effizienz und Gewinnorientierung zerstören Menschlichkeit. Pflegekräfte bekommen Applaus, 1500 € einmaliger Bonus für Pflegekräfte wird gefeiert, noch bevor er überhaupt ausgezahlt ist und verblasst bereits wieder in der Diskussion, trotz der Ankündigung eines weiteren Bonus. Und dabei sieht es in Ländern, die wir eigentlich auf Augenhöhe sahen, noch viel schlimmer aus. England. 40 % der Corona-Toten starben in Heimen. Die NHS empfahl Ärzt*innen, nicht das Risiko einzugehen, ihre Patient*innen in den Altenheimen zu besuchen. So starben nicht nur Corona-Erkrankte ohne adäquate Versorgung, auch andere Krankheiten blieben unbehandelt. Palliativbehandlungen sind ausgefallen. Ein qualvoller isolierter Sterbeprozess ohne Kontakt mit den Angehörigen. Ethik geht anders.

Aber wir müssen nicht in andere Länder schauen, auch in Deutschland läuft die Pflege nicht immer perfekt. Das Buch „Albtraum Pflegeheim“ von Eva Ohlerth, einer Altenpflegerin, gibt Einblicke in Zustände, die niemand im Alter aushalten möchte. Also gibt es mehr als genug Gründe, sich mächtig anzustrengen, um wenigstens einen Teil des Defizits durch intelligente AAL-Lösungen auszugleichen. Aber die liegen in den Schubladen, treffen nicht genau den Bedarf, sind zu sehr an technischer Machbarkeit orientiert, weniger an der Akzeptanz der Zielgruppe, zu teuer, sie stehen nicht in den Erstattungskatalogen der Kranken- und Pflegeversicherer…

Beispiele: Ein Rollator. Die Kassenmodelle sind billig, aber meist schwer und unkomfortabel. Die bequemen und leichten sind teurer, werden nicht erstattet. Aber braucht es wirklich einen Rollator mit Stollenreifen für Feldwege, mit Elektrounterstützung und iPad-Halterung? Für die Navigation? Genau solch ein Produkt wurde bei einer AAL-Konferenz 2013 prämiert. Brauchen wir einen intelligenten Kochtopf, der Rezepte aus dem Internet lädt und besonders große Knöpfe für Alte hat? Und ein weiteres Beispiel: Sturzerkennung. Nein, es ist nicht trivial, es scheint nur so. Es müsste doch einfach sein, zu erkennen, ob in einer Wohnung eine ältere Person gestürzt ist und Hilfe benötigt. Technisch bieten sich diverse Ansätze an. Spezielle Matten als Fußboden, Bewegungssensoren, Sensoren an Türen und Schränken, die ein Bewegungsmuster erlernen und dessen Unterbrechung zum Alarm führt. Oder eben Kameras. Beim AAL-Forum in St. Gallen gab es genau zu diesem Thema eine Veranstaltung, einen Workshop mit den Beteiligten eines Projekts, das sich während der Entwicklung der Idee unerwartet mit der Ablehnung der Zielgruppe konfrontiert sah. Die Zielgruppe wollte keine Kameraüberwachung in der Wohnung. Man hat sie aber erst gefragt, als schon größere 6stellige Beträge in das Projekt geflossen waren. Jetzt erst sprachen wir also über Customer Centricity, oder besser: über die Sicht der Zielgruppe auf die Lösung des Problems, auf das Produkt. Zu spät.

Natürlich werden nicht nur in Japan Roboter getestet. Das KIT hat vor fast 10 Jahren in einem Altersheim in Stuttgart zwei Roboter getestet. Aber Roboter haben in Europa nicht den Stellenwert, den sie in Japan haben, wo sie vor dem dortigen kulturellen Hintergrund viel besser akzeptiert sind, oft wie ein Familienmitglied behandelt werden, weil sie wie ein belebtes Wesen gesehen werden.

Das Fazit: Die AAL-Forschung wurde über die Jahre mit Fördergeldern aus unterschiedlichen, EU-weiten und nationalen Quellen unterstützt. AAL Joint Programme, Horizon 2020 mögen zwei Beispiele sein. Deutschland hatte sich vornehmlich auf nationale Programme konzentriert. Es fehlten in der Entwicklung der Projekte wichtige Elemente. Dass man nun anfing, mit Design Thinking an die Thematik heranzugehen, war folgerichtig, kam aber zu spät und es kam mit zu wenig Wirkmacht. Das AAL Joint Programme heuerte beispielsweise einen Experten aus Finnland an. Er konnte von den Projekten gebucht werden. Sein Job war es, die Methodik des Design Thinking in der Community zu schulen. Ein oder zwei Expert*innen europaweit, das reicht nicht. Der Workshop zu Business Design in Ghent wurde sehr positiv aufgenommen. Nur blieb es eben dabei. Dabei wäre ja auch das nur ein zusätzlicher Mosaikstein gewesen. In einem Netz mit großen Löchern.

Immerhin wurden inzwischen auch in der Community richtige Schlüsse gezogen, die wichtigsten, gesammelt in Ghent und St. Gallen:

  • „Ein alter Mensch ist ein junger Mensch in einem alten Körper“

  • „Er ist insbesondere ein erfahrener Verbraucher und nimmt nur Lösungen an, die seinen Bedarf decken und seinen Vorstellungen entsprechen und die er bezahlen kann“

  • „AAL ist kein Problem mangelnder Innovation, sondern von Vertrieb und insbesondere Akzeptanz“

  • „Manche Lösungen überwachen den Menschen, ja, aber es ist doch eine Frage, ob und wie wir das sicher machen. Viele Menschen nutzen Tracker, freiwillig, es gibt eine Bereitschaft in der Bevölkerung. Es ist eine Frage des Nutzens und wie er transparent wird“

  • „AAL ist Fortsetzung der Prävention im Alter“

  • „Der Verzicht auf High-End Lösungen und maximaler Perfektion zugunsten bezahlbarer gangbarer Wege würde AAL beflügeln. Kosten runter, Benefit raus = Erfolg“

  • „Vier entscheidende Faktoren für den Erfolg von AAL: Gesetze, Ethik, Kosten, Interoperabilität“

  • „Und ganz wichtig: wir müssen mit AAL die Pflegekräfte entlasten, damit sie wieder mehr Zeit für die Menschen haben, die Hilfe benötigen und AAL muss Pflege für die Pflegenden körperlich leichter machen, was wiederum den Beruf attraktiver macht“

Wer AAL nach vorne bringen möchte, trägt eine hohe gesellschaftliche Verantwortung. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass es nicht genügt, das technisch Machbare zu denken und eine Reihe von Expert*innen in ein Projektteam zu stecken. Es genügt auch nicht, das Marketing zu verbessern und mit attraktiveren Begriffen zu agieren. Es genügt nicht, nebenbei ein wenig moderne Methoden einfließen zu lassen, auch Design Thinking ist kein Allheilmittel, sondern auch wiederum nur ein weiteres kleines Mosaiksteinchen. Erfolg ohne ein größeres Ganzes, etwas Vernetztes, Ganzheitliches ist nicht denkbar. Die Defizite fallen später auf, zu spät.

Erfolg in einem so sensiblen Umfeld wie AAL braucht eine sorgfältig diskutierte gesellschaftliche Basis. Die kann, wenn sie menschlich sein soll, nicht gewinnorientiert sein. Die Grundlage bildet viel besser ein System, das gesamtgesellschaftlich betrachtet für andere systemrelevante Infrastrukturen ebenso Gültigkeit besitzen muss, die nicht an Gewinnen und Effizienz orientiert sind, sondern am Gemeinwohl. Gesellschaftlich, systemisch, philosophisch müssen wir uns erst einmal klar werden, wie wir neue Produkte, Dienstleistungen und Lösungen erschaffen wollen. Es ist wie Richard David Precht sagt: "Wir haben fast gar keine gesellschaftliche Debatte über die Frage, welchen Fortschritt wollen wir und welchen Fortschritt wollen wir nicht. Normalerweise sind auf den Podien Zukunftsforscher, die erzählen, wie wir leben werden, die aber nicht mit uns darüber reden, wie wir leben wollen." Dafür braucht es einen Diskurs, insbesondere um Werte. Einen Dialog, oder besser noch: „Dialogische Intelligenz“, wie es Martina, Johannes F. und Tobias Hartkemeyer in ihrem Buch mit genau diesem Titel beschreiben, der „aus dem Käfig des Gedachten in den Kosmos gemeinsamen Denkens“ führt. Ohne eine derartige Diskussion werden auch weiterhin zu oft Ethik, Nachhaltigkeit und Gemeinwohl außen vor bleiben. Wie soll ein Green New Deal gelingen, wenn wir weiterhin entwickeln und planen wie bisher. Aber neue Produkte entwickeln, ohne per Default Umweltaspekte von Anbeginn mit einzubeziehen kann heute nur noch schiefgehen.

Auf dieser Basis kommen die Menschen in den Fokus. Customer Centricity ist eine Worthülse und bleibt eine Worthülse ohne die gemeinsame Basis. Und Customer Centricity muss auch definiert sein. Es soll ja doch der Blick durch die Augen der „Zielgruppe“ auf das zu lösende Problem sein. Die Vorgehensweise muss interdisziplinär sein, also Forschung und Industrie und Technologie und Praxis und die Co-Creation mit Menschen aus der Zielgruppe. Diversity ist nötig. Erst jetzt geht es um Methoden, denn sie sind nur Werkzeuge, die auf Basis des zuvor genannten in´s Spiel kommen. Design Thinking oder die ursprünglichen Ansätze des Business Model Generation nach Osterwalder reichen dafür vermutlich in Reinform nicht, besser taugen Methoden wie Business Design, die weitere wichtige Elemente und Detaillierungen mitbringen. Und ganz zum Schluss kommt die Sicht auf die Technologien, die wir nutzen können, um die Lösungen zu bauen. Technologien sind Bauteile, die zusammen mit nicht-technologischen Elementen die Lösung ergeben. Sie sind nicht der Ausgangspunkt der Lösung.