Kap. 6 beschäftigt sich auf Basis der identifizierten Herausforderungen und dargestellten Anwendungsszenarien mit theoretischen und praktischen Lösungsansätzen. Eine grundlegende Anforderung besteht darin, dass kunden- und marktorientierte AAL-Systeme geschaffen werden, welche einen unmittelbaren Mehrwert für den Nutzer erzeugen (Beitrag 6.1). Um den Mehrwert zu erhöhen, wird ein Problem-Reframing bei AAL-Entwicklungen vorgeschlagen, damit wichtige Aspekte der Anspruchsgruppen, insbesondere der Nutzer, wie Akzeptanz, Sicherheit, Wirksamkeit und Interoperabilität erfüllt werden können (Beitrag 6.2). Auf das Spannungsfeld zwischen Mensch und Technik wird ein kritisches Augenmerk gerichtet, um technologische Entwicklungen positiv für die Gesellschaft im Sinne der Förderung von Lebensqualität, Teilhabe und sozialer Gerechtigkeit zu nutzen (Beitrag 6.4). Die beiden folgenden Kapitel liefern zwei Best-Practice-Beispiele für eine Theorie-Praxis-Verzahnung in der interdisziplinären Zusammenarbeit. Das Konzept der Reallabore stellt den Austausch und die Kooperation aller beteiligten Nutzergruppen anwendungs- und lösungsorientiert in den Vordergrund (Beitrag 6.4). Um die Entwicklung ganzheitlicher AAL-Geschäftsmodelle zu fördern, wird der Managementansatz “Customer Centricity” mit dem kreativen Lösungsansatz des “Design Thinking” verwoben und repräsentiert damit einen expliziten, kundenorientierten Entwicklungsansatz (Beitrag 6.5). Abschließend wird aufgezeigt, wie die Entwicklungen sozusagen auf die Straße gebracht werden. Der Virtuelle Dorfmarktplatz repräsentiert das analoge Zusammenspiel von gesundheits- und alltagsbezogenen Versorgungskonzepten mit Hilfe einer digitalen Unterstützung (Beitrag 6.6).

6.1 Kunden- und marktorientierte AAL Systeme

Einleitung

Im vorliegenden Beitrag werden Inhalte und Ergebnisse aus aktuellen Studienergebnissen zum Thema „Herausforderungen bei der Markteinführung von alltagstauglichen Assistenzlösungen“ vorgestellt. Alle Ausführungen sind entsprechend als deskriptive, komprimierte Zusammenfassung der englischsprachigen Veröffentlichung „Challenges in the Market Launch of Active Assisted Living Solutions – Empirical Results from European Experts“ (Reichstein et al., 2020) zu verstehen.

Die empirische Untersuchung erscheint als Beitrag in dem Open-Access-Journal „Proceedings of the 24nd International Conference on Knowledge-Based and Intelligent Information & Engineering Systems, Elsevier B.V. 2020 (KES, 2020)“. Die englischsprachige Veröffentlichung liefert mittels multivariater Datenanalyse erste empirisch belegte Ergebnisse zu aktuellen Herausforderungen bei der Markteinführung von AAL-Lösungen aus Sicht der Expert*innen. Die in diesem Beitrag dargestellten deskriptiven Ergebnisse erheben demnach keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern dienen lediglich dazu, einen Einblick in die aktuellen Forschungsergebnisse zu erhalten. Für weiterführende Ausführungen und Argumentationen wird entsprechend auf die englischsprachige Publikation verwiesen.

Es sei darauf hingewiesen, dass die ausgewerteten Datensätze keinerlei persönliche Daten beinhalten, sie stellen lediglich einen Überblick der Expertenmeinungen dar. Die Darstellung erfolgt in Diagrammform und wird in gleicher Reihenfolge abgehalten, die der Form des Fragebogens entspricht. Im Anschluss daran ist eine Sammlung von Kommentaren im Bereich Herausforderungen bei der Markteinführung von AAL-Lösungen aufgelistet. Diese haben das Forschungsteam als Feedback, Eindruck und Darstellung verschiedener Sichtweisen während der Durchführung der Studie erreicht. Sie können als Impulsgeber für weitere Forschungsarbeiten genutzt werden.

Forschungsstand

Mit zunehmender Digitalisierung steigen Erwartungen an Systeme, die bedürftigen Menschen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Die rasante, technologische Entwicklung bringt jedoch auch Herausforderungen mit sich. Hersteller und Vertreiber von AAL-Produkten sehen sich vermehrt mit Schwierigkeiten konfrontiert, insbesondere bei der Markteinführung. Mit Hilfe von AAL-Lösungen soll hilfsbedürftigen Menschen ein längeres und selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wänden ermöglicht werden. Es ist bisher nicht möglich, Herausforderungen vollständig zu identifizieren, um sie anschließend zu beseitigen. Durch die Forschungsstudie wurden Hypothesen aufgestellt und hinsichtlich ihrer Signifikanz überprüft. Nach einer ausführlichen Literaturrecherche konnten wichtige Bestandteile des Forschungsthemas herausgearbeitet werden. Diese sind Aufwendungen, Nutzungsfähigkeit, kundenorientierte Anpassungen, Akzeptanz, Datensicherheit sowie Integrationsfähigkeit. Die Ausarbeitung der gesammelten Datensätze kann im relativen Vergleich der Antworten ausgewertet werden, um einen Eindruck der gesammelten Meinung aller Expert*innen darzustellen.

Deskriptive Darstellung der Umfrageergebnisse

Die Erhebung von Daten beschränkte sich aufgrund der deutschsprachigen Umfrage auf die DACH-Region. Mit insgesamt 102 vollständigen Datensätzen konnten Informationen zu Herausforderungen bei der Markteinführung von AAL-Lösungen gewonnen werden. Im weiteren Verlauf wird die Auswertung der in der Umfrage gestellten Fragen vorgenommen.

Die Auswertung im deutschsprachigen Raum konnte nicht gleichmäßig auf die Länder verteilt werden. Die meisten der befragten Expert*innen stammen aus Deutschland (95 aus 102). Darüber hinaus kamen sechs auswertbare Datensätze aus Österreich. Ein Datensatz konnte von einem deutschen Experten, der in den Niederlanden arbeitet, erhoben werden. Entsprechend beziehen sich die Auswertung und die Ergebnisse dieser Studie weitgehend auf den deutschen Markt für AAL-Systeme. Die Aufschlüsselung der Herkunft der befragten Expert*innen ist in Abb. 6.1 zu sehen.

Abb. 6.1
figure 1

Herkunft der befragten Expert*innen (Absolute Häufigkeiten, N = 102)

Die Befragten kommen aus Unternehmen mit unterschiedlicher Größe, wie in Abb. 6.2 dargestellt ist. Es wurde eine recht ausgewogene Stichprobe erreicht, wobei 35 % der Befragten aus Unternehmen mit bis zu 50 Mitarbeiter*innen, 28 % aus Unternehmen mit bis zu 250 Mitarbeiter*innen und 37 % aus Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeiter*innen stammen.

Abb. 6.2
figure 2

Unternehmensgröße der befragten Experten (Prozentualer Anteil, N = 102)

Ein weiterer wesentlicher Teil der Studie bezieht sich auf die Erfahrungen der befragten Expert*innen im Bereich der AAL-Systeme. Diese bilden die Grundlage für die Forschung. Abb. 6.3 zeigt, dass ein großer Teil der Befragten bereits mehr als fünf Jahre Erfahrung auf diesem Gebiet vorweist. Daraus ergibt sich, dass mehr als die Hälfte der Teilnehmer*innen seit mindestens 2015 an modernen Systemen arbeitet, die bedürftigen Menschen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Andere Teilnehmer*innen, fast 22 %, arbeiten seit drei bis fünf Jahren in diesem Themengebiet. Nur ca. 20 % der Befragten haben weniger als drei Jahre Erfahrung im Bereich der AAL-Systeme.

Abb. 6.3
figure 3

Erfahrung der Expert*innen (Absolute Häufigkeiten, N = 102)

Es zeigt sich, dass die meisten Expert*innen einen langjährigen Erfahrungsschatz vorweisen können. Allerdings sind etwas mehr als 40 % der Befragten seit maximal fünf Jahren neu in diesem Bereich tätig. Dies deutet auf eine gewisse Zukunftsfähigkeit und neue Möglichkeiten für Entwicklungen hin. Insbesondere bei der Integration modernster Technologien ergeben sich moderne Möglichkeiten, bedürftige Menschen im Alltag zu unterstützen.

Folgende Abbildungen (Abb. 6.4 bis 6.10) betreffen Hypothesen, bei denen gemäß der Literaturrecherche und einer bestehenden qualitativen Studie, die Herausforderungen bei der Markteinführung im AAL-Bereich untersucht wurden (Reichstein et al., 2019). Interessante Bewertungen betreffen die Aufwendungen für die Anschaffung von AAL-Systemen, wobei besondere Anstrengungen erforderlich sind. Einerseits müssen verschiedene Interessensgruppen angesprochen werden, andererseits liegt der Schwerpunkt auf den Anschaffungskosten, die je nach Situation von verschiedenen Gruppen finanziert werden müssen. Die unterschiedlichen Bedürfnisse der Nutzer*innen und Käufer*innen sind dabei ebenso wichtig wie die Beteiligung von Krankenkassen und anderen Institutionen.

Abb. 6.4
figure 4

Aufwendungen als Herausforderung – 67 % sehen Aufwendungen bei der Anschaffung von AAL-Lösungen als Herausforderung (Absolute Häufigkeiten, N = 102)

Abb. 6.4 zeigt die Verteilung der Meinungen der befragten Expert*innen. Zwei Drittel der Befragten stimmen der Hypothese zu, dass die Ausgaben eine große Herausforderung bei der Markteinführung darstellen. Etwas mehr als 10 % der Befragten stimmten der Hypothese zu oder lehnten sie ab. Die Expert*innen, die der Hypothese nicht oder nur wenig zustimmen, belaufen sich auf etwas mehr als 20 %.

Eine etwas deutlichere Verteilung im Antwortverhalten ergibt sich aus der Hypothese, dass die Akzeptanz moderner AAL-Systeme eine Herausforderung in Bezug auf deren Nutzer darstellt. Knapp 70 % der befragten Expert*innen sind der Meinung, dass die Akzeptanz der Systeme, welche hochmoderne Technologien enthalten, eine gewisse Hürde darstellt. 20 Teilnehmer*innen enthalten sich der Hypothese. Lediglich 10 % der Befragten geben an, dass aus der Akzeptanz keine Herausforderung hervorgeht und somit die Markteinführung neuer Produkte nicht beeinflusst. In Abb. 6.5 ist die Verteilung der Antworten zu sehen.

Abb. 6.5
figure 5

Akzeptanz als Herausforderung – 69 % sehen Herausforderungen in der Akzeptanz (Absolute Häufigkeiten, N = 102)

Neben der Akzeptanz bestehen weitere grundlegende Herausforderungen. Eine aktuelle und mit steigender Datenspeicherung immer wichtiger werdende Hypothese bezieht sich auf die Datensicherheit. Die Sicherstellung von gewonnenen Daten ist notwendig, wenn diese der Gesundheitsförderung von Personen dienen. Wie in Abb. 6.6 zu sehen sind sich die meisten Expert*innen einig, dass die Datensicherheit eine wichtige Rolle einnimmt und ebenso als Herausforderung gilt. Über 70 % der befragten Expert*innen geben an, die Sicherung der Daten spielt eine große Rolle in der Markteinführung von AAL-Systemen. Lediglich 10 % geben an, dass die Datensicherheit eine geringe bzw. überhaupt keine Herausforderung darstellt.

Abb 6.6
figure 6

Datensicherheit als Herausforderung – 10 % sehen nahezu keine Herausforderung bei der Datensicherheit (Absolute Häufigkeiten, N = 102)

Bei der Gestaltung von Lösungen wird i. d. R. versucht den Kundennutzen vollständig abzudecken. Sind Produkte vielseitig einsetzbar wird die individuelle Problemlösung zunehmend komplexer. Innerhalb der AAL-Systeme müssen verschiedenste Hilfestellungen auf unterschiedliche Situationen angepasst werden. Die Bedürfnisse der Kunden sind sehr vielfältig, weshalb Anpassungen der Geräte zu Herausforderungen führen. Knapp 30 % der befragten Expert*innen stimmen absolut zu, dass Anpassungen bei der Markteinführung eine bedeutende Rolle einnehmen. Weitere 40 % stimmen überwiegend zu. Wie aus Abb. 6.7 zu entnehmen, gab lediglich ein Experte an, dass es überhaupt keine Herausforderungen in diesem Feld gibt.

Abb. 6.7
figure 7

Kundenorientierte Anpassung als Herausforderung – 69 % geben individuelle Kundenanpassungen als Herausforderung an (Absolute Häufigkeiten, N = 102)

Mit zunehmender Technologisierung wird es immer schwieriger, Geräte so zu konfigurieren, damit alle Nutzer*innen die Funktionen ohne aufwendige Einarbeitungszeit bedienen können. Die Benutzerfreundlichkeit moderner Systeme stellt demnach eine Herausforderung dar. Nach Expertenmeinungen zu urteilen, stimmt diese Hypothese mit der Literatur überein. Über ein Drittel der Befragten, wie in Abb. 6.8 dargestellt, bestätigen große Herausforderungen in diesem Bereich. Weitere 40 % stimmen zumindest teilweise zu, dass bei der Markteinführung darin Probleme zu sehen sind. In dieser Kategorie lehnte kein Experte die Hypothese vollständig ab. Lediglich knapp 10 % sind der Meinung, dass eher keine Herausforderungen bei der Nutzbarkeit von AAL-Systemen bestehen.

Abb. 6.8
figure 8

Nutzungsfähigkeit als Herausforderung – 36 % sehen in der Benutzerfreundlichkeit von AAL-Lösungen große Herausforderungen (Absolute Häufigkeiten, N = 102)

Die in dieser Studie zuletzt betrachtete Hypothese beschreibt die Integrationsfähigkeit von AAL-Systemen in die bestehende Infrastruktur und deren Herausforderungen. Wenn moderne Technologien in neuen Systemen integriert und angewendet werden sollen, muss auch die Infrastruktur vorhanden sein, damit die Technologie genutzt werden kann. Darüber hinaus müssen die Systeme mit verschiedenen Geräten und Netzwerken verbunden werden können. Daher muss eine hohe Kompatibilität gewährleistet sein. Dies stellt laut der Studie ebenso Herausforderungen für die Industrie dar, die es zu bewerten gilt. Nur wenn die neuesten Technologien in eine Infrastruktur integriert werden können, ist diese hilfreich und nutzbar.

Abb. 6.9 zeigt eine Verteilung der Expertenmeinungen, die zu dieser Hypothese befragt wurden. Insgesamt geben die Antworten ein einheitliches Bild ab. Mehr als 80 % stimmen zumindest teilweise mit der Hypothese überein und bestätigen damit die Herausforderung mit der bestehenden Infrastruktur. Nur knapp sechs Prozent der befragten Expert*innen sind der Meinung, dass die Markteinführung moderner AAL-Systeme aufgrund ihrer Integrationsfähigkeit keine Herausforderung darstellt.

Abb. 6.9
figure 9

Integrationsfähigkeit als Herausforderung – 83 % geben die Fähigkeit zur Integration von AAL-Lösungen als Herausforderung an (Absolute Häufigkeiten, N = 102)

Die zentrale Frage innerhalb der durchgeführten Studie ist, ob es allgemeine Herausforderungen bei der Markteinführung von AAL-Systemen gibt. Die Forschungsfrage ist der grundlegende Baustein, der in der Studie untersucht wurde. Die Auswertung der Befragung ergibt ein einheitliches Bild des Forschungsthemas. Die Herausforderungen bei der Markteinführung von AAL-Systemen können sich grundlegend unterscheiden und unterschiedliche Interessensgruppen betreffen. Abb. 6.10 zeigt die Verteilung der Expertenmeinungen über das Ausmaß der Herausforderungen bei der Markteinführung.

Abb. 6.10
figure 10

Generelle Herausforderungen bei der Markteinführung – 95 % sehen generelle Herausforderungen in der Markteinführung von AAL-Systemen (Absolute Häufigkeiten, N  = 102)

Die Abb. 6.10 zeigt, dass 95 % der befragten Expert*innen in der Markteinführung besondere Herausforderungen sehen. Lediglich vier Prozent enthalten sich einer Stellungnahme zu allgemeinen Herausforderungen. Zwei Meinungen stimmen mit der Hypothese nicht überein, lehnen sie aber auch nicht vollständig ab. Es gab keine Expert*innen, welche die Hypothese vollständig ablehnen. Die Verteilung der Expertenantworten unterstreicht die Notwendigkeit, Herausforderungen bei der Einführung von AAL-Lösungen auf dem Markt zu identifizieren. Darüber hinaus ist es notwendig, Herausforderungen und Barrieren abzubauen oder so weit wie möglich zu vermeiden, damit optimale Lösungen das Leben von bedürftigen Menschen erleichtern können.

In diesem Fall hinkt die Entwicklung von Produkten und Lösungen entsprechend hinterher, mit der Folge, dass weniger Forschung und Entwicklung betrieben wird. Im Hinblick auf die Bedeutung des Themenfeldes ist es notwendig, sich mit verschiedenen Herausforderungen auseinanderzusetzen. Während des Studienverlaufs wurden viele Kontakte mit Expert*innen geknüpft, welche die Autoren auf die Probleme im Detail aufmerksam machten. Neben der Sammlung relevanter und interessanter Informationen wurde die Bedeutung der Herausforderungen im Bereich AAL deutlich. Dies bestätigt auch die Aktualität der Problemstellung.

Ergebnisse der Kommentarsammlungen

In der Umfrage wurde den Teilnehmer*innen die Möglichkeit gegeben, weitere Herausforderungen oder Thesen zu beschreiben, die aus Expertensicht die Markteinführung von AAL-Systemen erschwert. Hierbei konnten einige zusätzliche Eindrücke in Bezug auf Schwierigkeiten in der Nutzung gesammelt werden. Nachfolgend sind die Eindrücke (direkt übernommen!) aufgelistet.

  • „Notwendig für die Anerkennung und anschließende Genehmigung ist, dass die Assistenzlösungen anerkannt, bekannt und erprobt sind. Hier sehe ich die größte Herausforderung. Häufig scheitert es an der Kostenübernahme, die meist mit der Begründung zurückgewiesen wird, dass das gewünschte Hilfsmittel nicht ausreichend erprobt ist.“

  • „Oftmals hängt die Markteinführung an der Freigabe durch Land / Bund, damit das Produkt auf den Markt kommt.“

  • „Bekanntmachung und Aufzeigen der Vorteile der Systeme in den Zielgruppen. Digitalisierungsfremde Schichten mit den Systemen zu erreichen, Ängste vor Überwachung abzubauen, keine digitale Zwangsbeglückung betreiben. Die Systeme nicht nur als nützlich, sondern auch zur Steigerung der Lebensqualität und -freude zu betrachten und zu promoten.“

  • „Fehlende rechtliche Rahmenbedingungen (z. B. TeleCare wird als Kassenleistung anerkannt, etc.), mangelnde Kenntnisse über AAL Lösungen von Betroffenen bzw. deren Angehörigen, keine Förderung von präventiven Maßnahmen (z. B. Sturzsensoren, etc.).“

  • „Zu großer und vielfältiger Anbietermarkt, keine übersichtliche Möglichkeit die angebotenen Systeme zu vergleichen, Schulungsbedarf zur Nutzung gerade bei Älteren sehr hoch.“

  • „Großer Unterschied aus der Erwartungshaltung der Nutzer und den technologischen Möglichkeiten die größte Herausforderung. Das betrifft weniger die Umsetzbarkeit von speziellen Messverfahren (z. B. Bildauswertung zur Sturzerkennung) als vielmehr die technologischen Rahmenbedingungen zur Nutzung wie Verlässlichkeit des Systems, Ausgereiftheit des Usability-Konzepts, etc. Hier erwarten die Kunden ein über Jahre ausgereiftes Produkt, wohingegen die Entwicklung gerade erst stattfindet. Sätze wie „Das Produkt reift beim Kunden“ werden von den Kunden grundlegend abgelehnt, sind aber für Produkte die erst in Markteinführung heutzutage die Regel.“

  • „Internet in den Wohnungen, rasante technische Weiterentwicklung während Gekauftes nicht mehr unterstützt wird, Stabilität und Zuverlässigkeit des Systems, Wer trägt die Entscheidung für das System (Angehörige oder Betroffene), Unterschiede in der Akzeptanz, welchen Zweck das System verfolgt (Kommunikation, Teilhabe, Sicherheit,…).“

  • „Integration der Betreibermodelle in die bestehenden Infrastrukturen, politische Agenden, die die Ausrichtung der Landschaften für AAL Lösungen mitbestimmen.“

  • „Barrierefreiheit, Finanzierung für Menschen mit Behinderungen ohne eigenes Einkommen (bzw. „nur“ Grundsicherung), Nachhaltigkeit der AAL-Systeme (langfristige Nutzung auch bei etwaiger Weiterentwicklung).“

  • „Man benötigt möglichst objektive Bewertungen von Anwendern vorab, weniger Werbung als das genaue Aufzeigen des Nutzens und der Verbesserung dadurch.“

  • „Richtige Preisbalance zu finden, damit man auch für die Zukunft skalierfähig ist und nicht nur Erfindung für ein paar Nutzer macht.“

  • „Implementierung enthält weitere Herausforderungen. Je nachdem wie gut das (Wohn-)Viertel vernetzt ist in dem das System angewandt werden soll.“

  • „Es gibt grundsätzlich wenige Anbieter, die ein komplettes System anbieten. Der Markt wird von Inselsystemen dominiert. Wenige Systeme vereinbaren mehrere Funktionen. Aber erst die Kombination mehrerer Funktionen machen die Systeme wirklich sinnvoll.“

  • „AAL ist ein sehr schwieriger Markt mit einem enormen Potenzial. Ohne smarte Lösungen kann die anzunehmende Menge an Bedürftigen nicht mehr lange „gehändelt“ werden dringender Handlungsbedarf.“

  • „Gesellschaftliche Akzeptanz, gesetzliche Grundlagen“

  • „Wenn jemand nach AAL- Lösungen sucht ist es meist schon zu spät für den, der mit diesen Lösungen umgehen soll. Die AAL- Systeme sollten schon wesentlich früher in den Haushalten implementiert und durch die Kassen teilfinanziert werden.“

  • „Mangel an einem Reallabor bei dem die Praxistauglichkeit in jeglicher Hinsicht in einer geschützten Umgebung getestet werden können, sowohl im Längs- wie auch Querschnitt.“

  • „Bereitschaft der Krankenkassen und Zulassung als Heilhilfsmittel, Integration in bestehende Versorgungsstrukturen inkl. IT-Strukturen in stationären und ambulanten Settings (Kliniken-Haus-/Fachärzte/Pflegedienste), Investitionsanforderungen (Investitions- und Personalkosten) der Gesundheitsanbieter vs. Incentives.“

  • „Analyse der Nutzerbedarfe in Bezug auf Usability und Funktionsumfang.“

  • „Fehlende Unterstützung durch Kranken- und Pflegekassen: Ignoranz technischer AAL-Lösungen bei der Anwendung von SGB XI, § 40, Lange Bearbeitungszeiten von Anträgen (über Monate hinweg)“

  • „Demente oder morbide Menschen können hier teilweise nicht selber entscheiden und müssen einen Bevollmächtigten einsetzen“

  • „Individuelle Schulungsmöglichkeiten, technischer Support, langsames Internet im ländlichen Raum, Funklöcher“

  • „Oft treffen die Lösungen nicht die wirklichen (zu lösenden) Probleme der Nutzer, da sie mit technologischem Fokus entwickelt werden.“

  • „Die Herausforderung liegt in der Einbindung der Nutzer in den Entwicklungsprozess von Beginn an. Dies ist sehr ressourcenintensiv, für ein marktfähiges Produkt aber unabdingbar!“

  • „Interkonnektivität durch viele Insellösungen“

  • „Bestehende DSGVO und die Beschneidung für den Einsatz individuell zugeschnittener Anwendungen machen Endanwendungen sperrig und schränken die Usability ein“

  • „Fehlende Finanzierungsmöglichkeiten machen einen flächigen Einsatz von AAL Lösungen unattraktiv, den Vertrieb schwer und unnötig teuer“

  • „Gewährleistung und Unterstützung des langfristigen Betriebs als Teil neuer Dienstleistungen (durch Hausnotrufanbieter, Pflegedienste, Wohnungswirtschaft, Sonstige), Selbstüberprüfung und Warnungen bei technischen Störungen, Predictive Maintenance, Angaben zu Betriebskosten, …“

  • „Integrationsfähigkeit und Nutzung von smarten Umgebungen (Smart Home etc.) - im privaten Umfeld und in Einrichtungen der Sozialwirtschaft“

  • „Fokussierung auf die Finanzierung durch Versicherungen etc.“

  • „Entwicklung zusammen mit Nutzergruppen sehr kompliziert“

  • „Oft wird erst eine Lösung entwickelt und anschließend geschaut, welche Probleme sie löst.“

  • „Notwendige (technische) Supportstrukturen oft nicht verfügbar.“

  • „Lösungsanbieter ähnlich Sanitätshäusern nicht auf AAL ausgebildet.“

  • „Die Expertise der Gerontologie / von Gerontologinnen und Gerontologen wird zu wenig gehört und mit einbezogen.“

  • „Vernetzung der Akteure via Social Media ausbaufähig“

  • „Kein einflussreicher / großer dt. Lobbyverband und/ oder Interessenverband AAL vorhanden.“

  • „Keine dt. Beteiligung am europäischen AAL-Forschungsprogramm“

  • „Fehlinformation und Halbwissen und fehlende Vorstellungskraft, was heute (2020) für kleinsten finanziellen Aufwand hochtechnisch digital möglich ist.“

  • „Nutzennachweis, fehlende bzw. schleppende Interoperabilität / Standardisierung“

  • „Zentrale Herausforderung ist, dass die jeweiligen Lösungen auch tatsächlich die, sich zum Teil rasch verändernden Bedürfnisse der NutzerInnen fokussiert. Aktuell sind AAL-Lösungen eher aus dem „Spieltrieb“ junger Entwickler heraus geborene Elemente, die die tatsächlichen Bedarfe der Nutzergruppe nicht treffen. Die potentiellen Nutzer spüren, wenn etwas mehr Aufwand als Nutzen für sie darstellt und lehnen die Lösungen (die ja für sie keine sind) zu Recht ab. Viele Menschen benötigen bei Hilfe- und Pflegebedürftigkeit weniger smarte Techniken, als ausgereifte, bequem nutzbare, ggf. intelligent unterstützte mechanische Hilfsmittel. Rollatoren helfen nicht, wenn sie selbstständig navigieren, dafür aber schwer zu bedienenden Bremsen haben oder beim Fahren über Kopfsteinpflaster die Handflächen vibrieren lassen. Das grundsätzliche Element muss innovativ sein, nicht das „on-top“. Technik muss sich mehr an den tatschlichen Bedürfnissen der Menschen ausrichten, dann werden sie auch den Markt durchdringen. Die durch AAL-Technologien adressierten Menschen sind widerständiger gegenüber marktgetriebenen (Schein-) Innovationen als andere Menschen. Sie benötigen Ihre Ressourcen zur Aufrechterhaltung ihrer gewohnten und liebgewonnen Lebenspraxis, technische Spielereien werden da nur akzeptiert, wenn Sie helfen, genauso das zu unterstützen. Zudem sind Verordnungs- und Finanzierungspraxen im Hilfsmittelbereich ein zusätzliches bremsendes Element.“

  • „Systeme helfen sich auch im Quartier zu vernetzten, da ein Betreuer im Notfall vorhanden sein muss“

  • „Oft scheitert der Einsatz der Systeme am Unverständnis der Datensicherheit und der Sicherheit der Privatsphäre, Erklärungen sind zu kompliziert für ältere Bürger, Medien machen Angst davor ausspioniert zu werden.“

  • „Ein besonderer Aspekt liegt in der Finanzierung. Die Systeme können inkl. Herdabschaltung etc. helfen die Folgen eines Sturzes zu minimieren und einen Umzug in ein Heim zu verzögern. Dadurch werden Kosten im Gesundheitssystem vermieden. HTA’s und Assessments zu diesem Thema fehlen oder sind unvollständig. Die Pflegekasse könnte diese über § 40 SGB XI Pflegehilfsmittel und wohnumfeldverbessernde Maßnahmen bezahlen, aber dies ist nur eine Kann-Bestimmung. Die Unsicherheit bzgl. der Finanzierung und des Nachweises einer Kosten -Nutzen-Analyse sind Gründe für eine erschwerte Markteinführung.“

  • „Schnelllebigkeit und von technischem System erzeugt Käuferskepsis“

  • „Unübersichtlichkeit des Marktes (insbesondere Projektstatus gegenüber nachhaltig existierenden Produkten)“

  • „Barrierefreie Nutzung des Systems“

  • „Fehlende neutrale Informationen über aktuell auf dem Markt verfügbare Systeme, Preise und Möglichkeiten die Systeme zu beziehen (was ist aktuell?), welche Systeme sind wirklich gut, welche nicht?“

  • „Nutzerakzeptanzstudien gibt es genug, es fehlt die Erprobung in der tatsächlichen Praxis nach einer Projektphase (die zumeist unter kontrollierten Bedingungen stattfindet)“

  • „Erfahrungswerte fehlen“

  • „Primär und ausschlaggebend geht es jedoch um die Usability, einfache Handhabung und welchen Nutzen, Effekt hat AAL für den Nutzer wie Komfort, mehr Selbstständigkeit, Ausgleich von Einschränkungen u. Handicaps, Mobilität u. soziale Teilhabe etc.“

  • „Zuverlässigkeit, Wartungsaufwand, Störungsanfälligkeit der Systeme. Welche Dienstleistungen sind flankierend gegeben bzw. notwendig, Kosten der Wartung“

  • „Erfahrbarer Nutzen u. einfaches Handling überzeugen“

  • „Welche Dienstleister stehen vor Ort für Serviceleistungen (Notfall, Pflege, Hauswirtschaft) verknüpft mit den AAL-Systemen zur Verfügung?“

  • Fazit

  • Die zentrale Frage innerhalb der durchgeführten Studie war, welche maßgeblichen Herausforderungen bei der Markteinführung von AAL-Systemen bestehen. Die deskriptive Auswertung der Expertenbefragung im Hinblick auf die gesammelten Kommentare zeigt auf der einen Seite ein sehr differenziertes Bild über die Sichtweise der Thematik. Auf der anderen Seite wird deutlich, dass die Herausforderungen bei der Markteinführung von AAL-Systemen sich grundlegend unterscheiden können, da die unterschiedlichen Perspektiven abhängig sind von den jeweiligen Interessengruppen. So könnte selbst eine Datenerhebung in Europa, d. h. über die Grenzen Deutschlands hinaus, weitere interessante Unterschiede aufzeigen.

6.2 Problem Reframing bei AAL-Entwicklungen

Die Entwicklung von Digital-Health-Anwendungen stellt deren Akteur*innen vor enorme Anforderungen in punkto Sicherheit, Wirksamkeit und Interoperabilität. Erst wenn die für das jeweilige Produkt relevanten Anforderungen erfüllt sind, erhalten sie eine Zertifizierung als Medizinprodukt und/oder eröffnet sich der Zugang zu einer Vergütung über die gesetzliche Krankenversicherung (Knöppler & Oschmann, 2018, S. 4). Um eine zertifizierte Sicherheit für die Nutzer*innen zu erreichen, müssen Verfahren der Konformitätsbewertung und Zertifizierung durchlaufen, Medizinprodukteverordnungen eingehalten sowie eine Risikoklassifizierung vorgenommen werden. Aus diesem Grund scheitern schon viele innovative Ideen oder Start-Ups an den formalen Anforderungen zur Platzierung am Markt. Bei der Entwicklung von assistiven Technologien und Software arbeiten Forscher*innen daran, die Perspektive der Nutzer*innen zu integrieren und gebrauchs- sowie alltagstaugliche Systeme zu entwickeln. Die Erforschung der Usability und User Experience nimmt deshalb in der Literatur der Software- oder Produktentwicklung einen weiten Raum ein. Immer, wenn die Nutzung des Produktes ein hohes Maß an Interaktion vom Benutzer erfordert, entstehen besondere Anforderungen an einen benutzerzentrierten, iterativen Gestaltungsprozess (Burmester, 2007; Richter, 2013; Burmester et al., 2014; Zeiner et al., 2017). Dieser iterative Prozess sieht vor, dass Nutzer*innen bereits im Entwicklungsprozess in der Prototypphase einbezogen werden und den Usability-Prozess maßgeblich mitbestimmen. Soweit die Theorie. In der Praxis der Gesundheitsversorgung wird jedoch wiederholt kritisiert, dass die entwickelten Produkte nicht in die Lebenswelt älterer Menschen, beispielsweise in ihren häuslichen Umgebungen integriert werden kann (Roland Berger, 2017, S. 49). Die Technologien überfordern in der Bedienung, sind mit Sensibilitätseinschränkungen schwer zu bedienen, mit Sehverminderungen schwer ablesbar, nicht mit anderen Geräten kompatibel, im Alltag störanfällig, usw. Hinzu kommt, dass nicht nur die Endnutzer*innen, sondern auch professionelle Dienstleister mit der Bedienung hadern und ggf. überfordert sind (Roland Berger, 2017, S. 7). Dies resultiert in einem Vertrauensverlust und fehlender Akzeptanz, eine Alltagstauglichkeit ist demzufolge nicht gegeben und stört oder beendet den Implementierungsprozess. Grundsätzlich haben Investoren, Entwickler, Dienstleister oder Kostenträger kein Interesse an Produktentwicklungen ohne Praxistauglichkeit. Was läuft also schief? In diesem Kapitel werden grundlegende Fragen im Entwicklungsprozess thematisiert, welche die partizipative Technikgestaltung unterstützen und fördern soll.

Gegenstandsbezug und Konstruktionsmodell

Die Informatiker und Wissenschaftsphilosophen Stary und Fuchs-Kittowski widmen sich wissenschaftstheoretisch und philosophisch sehr tiefgreifend der Modellentwicklung einer Informationssystemgestaltung in der Softwareentwicklung (Stary & Fuchs- Kittowski, 2020). Dabei kritisieren sie eine tradierte, objektorientierte Sichtweise im Sinne einer tayloristischen Produktion von Software. In der Informatik/Wirtschaftsinformatik herrsche eine Tendenz, Software vorrangig als eigenständiges Produkt zu betrachten, ohne wirklichen Bezug zum Kontext der Herstellung und des Einsatzes (ebd., 2020, S. 10). Um dies zu überwinden, schlagen die Autoren für die Softwareentwicklung ein Prozessverständnis der Modell- und Theoriebildung vor, bei der die Software als vergegenständlichte Methode und informationelles Arbeitsmittel betrachtet wird. Erst in diesem Verständnis würde es gelingen, die zu enge Orientierung des klassischen Software Engineering zu überwinden, welches ursprünglich als Kern der Informatik, losgelöst von den Erfahrungen der Herstellung und Anwendung der Software (…) entwickelt wurde (ebd., 2020, S. 11). Dabei verweisen sie auf die Komplementarität von formaler (syntaktischer), technischer, produktorientierter Sichtweise und informaler, inhaltlicher (semantischer), sozialer, prozessorientierter Sichtweise in der Informatik (ebd., 2020, S. 10).

„Softwareentwicklung ist somit eine spezifische Konstruktion sozialer Realität mit dem Ziel, durch die Rechnerunterstützung ein neues Niveau körperlicher und geistiger Tätigkeit des Menschen zu erreichen, welches Produktivitäts- und Persönlichkeitsentwicklung ermöglicht“ (Stary & Fuchs-Kittowski, 2020, S. 11). Dadurch zeichnen die Autoren ein modernes Bild des Entwicklungsprozesses zur Überwindung einer technizistischen Position. Konventionelle Entwicklungsprozesse kennzeichnen sich häufig durch eine grundsätzliche Teilung zwischen dem eigentlichen Konstruktionsprozess, und dem anschließenden Matching im Handlungsfeld. Hier liegt ein Transferverständnis zugrunde, welches das Produkt (Source) auf den Anwendungsbezug (Target) adaptieren soll. Unterstützt werden soll dieser Prozess durch die methodische Integration der Problem- und Nutzeranalyse. Dieses Prozessverständnis kann unserer Ansicht nach eine konsequente Nutzerorientierung nicht hinreichend abbilden, eine kooperative Wissenserzeugung wird dadurch nicht ermöglicht. Stary und Fuch-Kittowski sprechen hier von wissensintensiven Arbeitsprozessen, der gemeinsamen Arbeit an der Entwicklung von Ontologien und der Wechselwirkung zwischen dem Prozess- und Produktaspekt (ebd., 2020, S. 12). Sie bezeichnen es als Schaffung einer gemeinsamen Sprache, der Einbettung der Software und ihrer Nutzung in einem gemeinsamen sozialen Kontext, um die Schaffung eines sozialen Raums in dem die Beteiligten ihre kooperative Arbeit koordinieren können (ebd., 2020, S. 12). Das Prozessverständnis gründet sich hier auf eine humanzentrierte sozio-technische Systemgestaltung und einem kreativ-explorativen Ansatz des Design Thinking. Als typisches Beispiel der Herausforderung verweisen sie auf Medical Internet of Things (M-IoT)-Anwendungen im Home Healthcare- Bereich. Hier müssten etwa Pflegekräfte die Bereitschaft entwickeln, humanoide Systeme auf Patienten einzustellen und diese derart konfigurieren, dass Patientendaten für die Notfallversorgung übergeben werden, um eine effektive Entlastung zu ermöglichen. Die Autoren beziehen sich im Übrigen auf den interessanten, erkenntnistheoretisch-methodologischen Bezug des sogenannten „konstruktiven Realismus“, welcher die Besonderheiten der Softwareentwicklung als Wirklichkeitskonstruktion im Kontext der Unternehmensorganisation als kreativ-lernende Organisation hervorhebt (ebd., 2020, S. 6).

Dem referenzierten Prozessverständnis und dem daraus abgeleiteten, sozio-technischen Design-Science-Modell schließen wir uns an dieser Stelle gerne an. Um den hehren Ansatz der Humanzentrierung hervorzuheben, sei auf eine explizite Betrachtung des Selbstmanagements verwiesen, um den Leitgedanken der Selbstorganisation und der Alltagskompetenz konkret aufzugreifen.

Selbstmanagement und Selbstpflege als zentraler Gegenstandsbezug

Wie bereits mehrfach beschrieben, stellt die Zielgruppe der älteren Menschen aufgrund altersgebundener physiologischer, sensorischer und kognitiver Veränderungen höchste Anforderungen an eine Nutzerorientierung, damit Hilfesysteme im Alltag auch ihren Einsatz und Nutzen finden. Deshalb verdeutlicht der Sachverständigenrat der Bundesregierung, dass ältere Menschen als Nutzer*innen bestmöglich in Forschungs- und Entwicklungsprozesse einbezogen werden sollten. Dies könne nur gelingen, wenn auch die Alltagswelten von älteren Männern und Frauen wie auch die kulturelle, soziale und bildungsrelevante Unterschiedlichkeit älterer Menschen berücksichtigt werden (BMFSFJ, 2020, S. 24). Die aktuelle Studienlage zur Bereitschaft und Nutzung neuer Techniken legt dazu eindeutige Kriterien fest. Es kommt auf die Praktikabilität und Einfachheit der Nutzung (z. B. Benutzeroberfläche) an, eine altersgerechte Produktgestaltung, einen klar erkennbaren Nutzungs und Mehrwert sowie eine hohe Zuverlässigkeit. Diese kann bei Senior*innen aufgrund eher niedriger Selbstwirksamkeit besonders relevant sein. Die Ängste vor der Überforderung stellen häufig ein größeres Hindernis dar als die kognitive Leistungsfähigkeit per se. Förderlich wirkten sich in Untersuchungen Zusammenhänge zwischen Selbstwirksamkeit, Technikkompetenz und der Bedienbarkeit aus. Vor diesem Hintergrund seien innovative Zusatzangebote im Bereich der technikbezogenen Altenbildung notwendig und wertvoll (Doh et al., 2016, S. 37). Je höher die eigene Computerkompetenz wahrgenommen wird, desto leichter wird die Bedienbarkeit von Geräten empfunden (Doh et al., 2016, S. 30). Ferner kann eine höhere Akzeptanz insbesondere dann erreicht werden, wenn die Technik in bereits vorhandene Handlungsabläufe und -praktiken integriert wird (Misoch, 2015, S. 564).

In den Gesundheits- und Pflegewissenschaften, aber auch in der Gesundheitspsychologie stellt das theoretische Konzept des Selbstmanagements einen täglichen, interaktiven und dynamischen Prozess dar, um gesundheitsbezogene Ziele zu setzen, relevante Entscheidungen zu treffen, Handlungen zu planen sowie mit dem Gesundheitspersonal effektiv zu interagieren (Lorig & Holman, 2003; Haslbeck, 2015; Peeters et al., 2013). Dazu gehören sowohl medizinisch-therapeutische Anforderungen, der Umgang mit Rollenveränderungen sowie die emotionale Bewältigung z. B. im Umgang mit chronischen Erkrankungen. In der Selbstmanagementförderung bedeutet dies, Hilfsmittel und Techniken anzubieten, um die betroffenen Personen und ihr soziales Umfeld zu unterstützen, individuelle Strategien im Alltag zu fördern, damit diese sich an verändernde Gesundheits- und Lebensbedingungen anpassen können (Haslbeck, 2015). Damit rückt die Selbstwirksamkeit und Eigenkontrolle in den Vordergrund, Methoden, Verfahren und Technologien wechseln von einem rein kompensativen Modus zu einem Unterstützungsmedium der proaktiven Bewältigung von Gesundheits- und Krankheitssituationen. Gerade in diesem proaktiven Prozess, welcher durch professionelle Hilfe unterstützt wird, liegt das wesentliche Grundprinzip der Bewältigung von der Erkennung der Erfordernisse über die Aktivierung von Ressourcen bis hin zum Umgang mit der chronischen Erkrankung.

Als zweites, weit verbreitetes Konzept in der Gesundheits- und Pflegewissenschaft ist die Selbstpflege (self-care) zu erwähnen. Dieses Konzept wurde von zahlreichen Autor*innen im Kontext eines naturalistischen Entscheidungsfindungsprozesses in der Gesundheitsbewältigung referenziert und weiterentwickelt (Peeters et al., 2013, S. 5542). Für die Pflegewissenschaften dient das grundlegende, pflegetheoretische Strukturmodell der Selbstpflegedefizit-Theorie von Dorothea E. Orem (Denyes et al., 2001) seit vielen Jahrzehnten als Referenzwerk eines charakteristischen, wissenschaftlichen Gegenstandsbezuges. Allgemein formuliert beschreibt das Selbstpflegesystem Zusammenhänge wie Handlungsabläufe und -sequenzen, welche von Individuen ausgeführt werden und dazu führen, dass sogenannte Selbstpflegeerfordernisse erfüllt bzw. reguliert werden können. Diese erlernten, bewussten Handlungen entstanden in der Abhängigkeit von zahlreichen Faktoren wie der Lernfertigkeit, der Wahrnehmung oder auch des Selbstbildes und -konzeptes. Die Durchführung der Handlungen spiegeln das alltägliche Engagement der Menschen für ihre Selbstpflege (self-care) wider, was auch als erworbene Selbstpflegekompetenz bezeichnet werden kann (Denyes et al., 2001). In der Erkenntnis, dass erfolgreiche Selbstpflegekompetenzen zu einer besseren Gesundheit per se sowie einer höheren Zufriedenheit in der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen führt, wurden in den vergangenen Jahren international einige Studien durchgeführt, welche die Beziehung zwischen der Selbstpflege/dem Selbstpflegeengagement und der Nutzung von Technologien untersuchten (Peeters et al., 2013; Sarasohn-Kahn, 2013). Insbesondere können durch den Bezug auf die Selbstpflege oder das Selbstmanagement die Auswirkungen der Technologien auf das Gesundheitsverhalten oder die Krankheitsbewältigung geschlossen werden. Konkret gemessen werden in den Evaluationsstudien z. B. die Dauer von Klinikaufenthalten respektive der Wiederaufnahmeraten, signifikante Reduktionen von Komplikationen, der Zuwachs an krankheitsspezifischem Wissen oder auch das Reagieren in kritischen Situationen. Gerade Studien im systematischen Review zu Telemonitoring bei Bluthochdruck oder chronischen Erkrankungen wiesen positive Effekte auf die Selbstpflege und das Selbstmanagement auf (Peeters et al., 2013, S. 5552). Limitierend für den Vergleich des Studienoutcomes im Review wird ein unterschiedliches, konzeptuelles Verständnis aufgeführt, bei dem Selbstpflege, Selbstmanagement, Selbstmonitoring, Selbstregulierung, Adhärenz und Compliance terminologisch nicht exakt definiert und trennscharf verwendet wird (ebd., 2013, S. 5553). Die heterogene Konzeptualisierung der Selbstpflege oder des Selbstmanagements wird sich wohl auch zukünftig kaum reduzieren lassen. Allerdings kann eine handlungsorientierte Analyse der Selbstpflege analog des skizzierten Modells dazu beitragen, die Effekte der Technologien deutlicher in punkto Wissenszuwachs, Entscheidungs- und Handlungskompetenz respektive Performanz zu messen.

Mit dem Konzept des Selbstmanagements oder auch der Selbstpflege wird eine Perspektive zugrunde gelegt, welche sich vom Fokus der externen, technischen Hilfestellung/Lösung für eine abhängige Person abwendet. Stattdessen wird das Selbstmanagement gerade in Situationen der Aufrechterhaltung, Sicherstellung und Förderung der persönlichen Gesundheit ins Zentrum der Überlegungen gestellt. In diesem Sinne lässt es sich sehr gut mit dem sozio-technischen Design-Science-Modell verknüpfen. Eine genuine Orientierung an Selbstpflegehandlungen stellt alle technologischen Entwicklungen und Hilfesysteme in den Dienst der personenbezogenen Erfordernisse bedürftiger Menschen(-gruppen). Im Kontext der Orientierung an Alltags- und Handlungskompetenzen lässt sich die Prämisse einer Orientierung an der Person operationalisieren. Damit werden kognitive Voraussetzungen, transitive Entscheidungen und konkrete Handlungen nicht nur als Bedingungsfaktoren berücksichtigt, sondern die Performanz in der Anwendung von Beginn an als zentraler Bezugspunkt verankert. In der Folge geht es damit nicht mehr darum, welches Problem durch das technische Hilfesystem gelöst werden kann, sondern ob das technische Hilfesystem in der Lage ist, die Einschränkung in der Selbstpflege/dem Selbstpflegemanagement zu unterstützen oder zu kompensieren.

Vernetzung der Akteur*innen zur Antizipation der Alltagswelten

Nachdem die partizipative Technikgestaltung sowohl aus prozessualer, als auch vor dem Hintergrund des Gegenstandbezugs thematisiert wurde, soll abschließend noch ein kurzes Statement für eine interprofessionelle Entwicklung und Kooperation folgen. Am Beispiel von Technikentwicklungen für Informations- und Kommunikationsprojekte in der Pflegeversorgung wird in Erhebungen deutlich, dass diese in der Vergangenheit größtenteils von technischen bzw. techniknahen Akteuren koordiniert und geleitet wurden, lediglich in 8 % (n = 217) von Vertreter*innen der Pflegepraxis (Roland Berger, 2017, S. 23). In der Schlussfolgerung wird ein Vernetzungsdefizit attestiert, welches technologische und fachliche Aspekte unzureichend verknüpft und dadurch die Interoperabilität bereits im Projekt- und Entwicklungsstatus behindere (ebd., 2017, S. 49). Die Kritik bezieht sich dabei nicht nur auf projektinterne Vorgehensweisen, sondern auch auf institutionelle Netzwerk- und Forschungsaktivitäten. Dies bedeutet in der Folge, dass auf allen Ebenen, der politischen Makroebene, der Mesoebene der Fachgesellschaften, Organisationen und Forschungsverbünde sowie der Mikroebene in den Entwicklungs- und Forschungsprozessen alle Aufmerksamkeit auf ein multiprofessionell entwickeltes Design und Vorgehen gelegt wird, um praktikable Lösungen zu generieren. Beispielhaft dafür stehen das Pflegeinnovationszentrum „Zukunft der Pflege“, bei dem Pflegewissenschaftler*innen und Ingenieur*innen gemeinsam neue Technologien unter realistischen Bedingungen erforschen (BMFSFJ, 2020, S. 15), oder auch die BMBF-Initiative „Pflegeinnovationen 2030“, welches sich mit der Bewertung und Evaluation von Robotik aus pflege-, sozial- und technikwissenschaftlicher Perspektive beschäftigt (ebd., 2020, S. 16). Ergänzend zu den bundesweiten Förderprogrammen sei an dieser Stelle auf die innovativen Ansätze im Kap. 6 verwiesen, welche die Grundgedanken in ihren Entwicklungsprozessen partizipationsorientiert und interaktiv aufgreifen.

Zusammenfassung

Eingangs wurde die Kritik einer technokratischen Entwicklung der Assistenzsysteme erhoben, welche die Nutzer*innen und Alltagsorientierung vermissen lässt und daher den Bedarf unterstützungs- oder hilfebedürftiger Menschen unzureichend antizipiert. Dies stellt aus Sicht der Entwickler*innen elementare Forderungen an den Designprozess der Systementwicklung. Moderne Ansätze setzen daher auf gestaltungsorientierte Vorgehensweisen im Zusammenhang mit sozio-technischen Designzyklen (Stary, 2020, S. 17; Ackerman et al., 2018; Prilla & Herrmann, 2018). Eine tradierte Sichtweise des System-Designs wird hier auf eine systemische Perspektive des Prozess-Designs transferiert, welches eben die sozio-technischen Prozesse respektive der beteiligten Akteure und Systeme fokussiert. Methodisch wird die Bedarfs- und Akzeptanzerhebung, die Leistungsidentifizierung, das Usability-Testing als zentrale Bezugsgröße in das Prozessmodell integriert, um die konkreten Lösungsansätze auch qualitativ zu explorieren. Dies kann z. B. durch den Einsatz von Kreativitätstechniken oder Workshops geschehen (Ackerman et al., 2018; Herrmann et al., 2018; Prilla & Herrmann, 2018). Die strikte Trennung von Produktentwicklung (Source) und Anwendungsbezug (Target) unter der Unterstützung der Methodik des Usability-Testing wird durch eine integrative und partizipative Prozessgestaltung ersetzt (Abb. 6.11).

Abb. 6.11
figure 11

(Eigene Darstellung)

Designzyklus.

Vor dem Hintergrund dieses systemischen Perspektivwechsels im Prozessdesign entwickelt sich ein riesiger Fundus an Methoden zur qualitativen Exploration und Partizipation der Nutzer*innen. Damit wäre ein großer Schritt zur aktiven Einbindung der Nutzer*innenperspektive erfolgt. Bleibt nun noch zu klären, wie der Bedarf der Nutzer*innen aus professioneller Sicht antizipiert werden kann. In Folge der Komplexität im Problemlösungsprozess müssen sich die beteiligten Professionen erheblich von den Alltagsperspektiven der Nutzer*innen entfernen. Die sehr heterogenen Lösungsansätze der Informatik, Technik, Pflege, Medizin, Therapie, Gesundheits- und Sozialversorgung usw. erfordern beides, sowohl die freie und unabhängige Lösungsentwicklung, als auch die Anschlussfähigkeit an die Alltagswelten der Anwender*innen. Auch hier verdeutlicht sich einmal mehr der systemische Gedanke der integrativen Prozessgestaltung. Es geht um viel mehr, als eine Beteiligung der Nutzer*innen zur vollständigen Erhebung der Bedarfe. Es geht um den zentralen Gegenstand der Entwicklung. Auch wenn die Dienstleistung der Problemlösung noch so komplex erscheint, letzten Endes wird sie nur erfolgsversprechend, wenn der Anwendungskontext verwoben wurde. In dieser Verbindung wird der vorgestellte Bezug zum Selbstmanagement oder zur Selbstpflege vorgeschlagen. Dieser stellt alle Lösungsansätze, Unterstützungssysteme und Hilfen immer unter das Primat der Selbstregulierung. Unter dem Bewusstsein dieser divergierenden Perspektiven kann ein Entwicklungsparadigma verfolgt werden, welches die selbstreferenzielle Geschlossenheit der Systeme – hier der beteiligten Professionen – methodisch gestützt reflektiert und die Kommunikation im sozialen System, also aller beteiligter Personengruppen im Prozess-Design fördert.

6.3 Neue Technologien im sozialstaatlichen und zivilgesellschaftlichen Kontext – Anforderungen an interdisziplinäres Lernen

Einleitung

Das Thema neue Technologien, insbesondere Ambient Assisted Living (AAL) (Meyer & Mollenkopf, 2010) und eHealth, kommt zunehmend auch in Studiengängen in den Hochschulen an, die nicht originär von diesen Themen tangiert waren. Vor allem von den Hochschulen der angewandten Wissenschaften wird erwartet, dass sie einen Beitrag zur Entwicklung von Lösungsoptionen für Zukunftsfragen leisten und sie ihre Studierenden auf ihre Berufstätigkeit in den Unternehmen vorbereiten. Dazu sollten sie eine Vorstellung haben, welche Anforderungen die künftigen Aufgaben an sie stellen.

Die demografischen, gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen verändern dynamisch unsere Lebens- und Arbeitswelt und stellen Verwaltung, Wirtschafts- und Sozialunternehmen vor neue Herausforderungen. Als Antwort läuten gesetzliche Vorgaben einen Paradigmenwechsel im intersektoralen Welfaremix im Sozial- und Gesundheitswesen ein, der erst noch gestaltet werden muss. In AAL-Systemen und eHealth werden nicht nur Lösungen für die künftigen Herausforderungen gesehen, sondern auch neue Absatzmärkte. Viele dieser Ansätze stecken noch in den Anfängen, sind z. T. widersprüchlich und nur begrenzt wirksam. Dies lässt sich nicht nur mit mangelndem Wissen zum Nutzen seitens der potenziellen Nutzer*innen oder einer skeptischen Haltung gegenüber technischen Systemen allein erklären. Notwendig ist eine Gesamtperspektive, die im interdisziplinären Diskurs soziale, sozialstaatliche, wirtschaftliche und technische Fragen und Interessen bearbeitet, Lösungen aufzeigt und geeignete Lernformate zur Verfügung stellt. Anforderungen im neuen sozialstaatlichen Kontext werden nicht nur den interdisziplinären wissenschaftlichen Diskurs nahelegen, sondern auch den Austausch aller Akteur*innen in der sozialstaatlichen Koproduktion (Roß, 2015), insbesondere auch des informellen Sektors, wie Familien und Nachbarschaft, und des dritten Sektors wie NGOs. Die Hochschule muss sich dieser Herausforderung stellen.

Das Thema neue Technologien und Digitalisierung spielt dabei in allen Disziplinen eine wichtige Rolle. Sei es bei der Organisation von Dienstleistungen, der Entwicklung neuer Produkte und Angebote, dem Umgang mit Kund*innen und Klient*innen, der Form des Arbeitens. In einer Gesellschaft, in der Gesundheit einen konstanten Megatrend darstellt (Heß, 2008) und Älterwerden allgegenwärtig ist, kommt dem Sozial- bzw. Gesundheitswesen eine wachsende Bedeutung zu. Angesichts der zunehmenden Zahl an chronisch erkrankten Menschen und älteren Menschen mit Hilfe- und Pflegebedarf verspricht man sich von technischen Innovationen Lösungen für Prozesse der Unterstützung und Pflege im häuslichen Umfeld und eine Abmilderung des Fachkraftmangels in der Pflege. Im Markt wird daher für AAL-Anwendungen ein großes ökonomisches Potenzial vermutet (Gersch & Hewig, 2012, S. 4). Aber es wäre irreführend, zu unterstellen, dass es per se ein gemeinsames Interesse gibt, das zu bearbeiten wäre. Denn es macht einen Unterschied, ob erstens ein technisches Produkt entwickelt wird und das primäre Interesse ist, dieses gewinnbringend zu verkaufen oder zweitens, ob ein soziales, gesellschaftliches Problem vorliegt und in einem technischen System die Lösung dafür gesehen wird, ob drittens ein Sozialunternehmen bzw. die öffentliche Sozialverwaltung durch ein technisches System die Lösung organisatorischer, managerieller Fragen sieht oder viertens Bürger*innen Teilhabe an gesellschaftlichen Mitwirkungsprozessen ermöglicht werden soll. Damit sind schon verschiedene Interessen und intersektorale Blickwinkel angesprochen und es ist zu befürworten, dass die DHBW Heidenheim mit dieser Veröffentlichung einen Impuls für den interdisziplinären und intersektoralen Austausch zum Thema neue Technologien und Digitalisierung gibt. Es geht um die Perspektiven für die Anpassung der Anforderungsprofile in unterschiedlichen Professionen aus den Bereichen Technik, Wirtschaft, Gesundheit und Sozialwesen.

Neue Technologien und Soziale Arbeit

Das Verhältnis von Mensch und Technik ist nicht spannungsfrei. Mit Technik formt der Mensch seine Welt und gleichzeitig nimmt Technik Einfluss auf den Menschen in seiner Selbst- und Fremdwahrnehmung, seinem Urteilen und Handeln (Manzeschke et al., 2013, S. 5). Technologische Entwicklungen können soziale Teilhabe, Teilhabe an Bildung und Arbeit fördern, können soziale Unterschiede durch digitale Kluft aber auch verschärfen (Zillien & Haufs-Brusberg, 2014). Die Soziale Arbeit sieht sich in besonderer Verantwortung gegenüber den Menschen mit denen und für die sie tätig ist, gegenüber Gesellschaft und Politik. Sie wird künftig ein besonderes Augenmerk darauf richten müssen, inwieweit technologische Entwicklungen einen positiven Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung im Sinne der Förderung von Lebensqualität, Teilhabe und sozialer Gerechtigkeit leisten oder Fehlentwicklungen möglich sind, wenn die technischen Entwicklungen keiner sozialwissenschaftlichen und ethischen Diskussion unterzogen werden.

Die Sozial- und Gesundheitswissenschaften sind eng mit gesellschaftlichen Trends, Veränderungen familiärer Strukturen, Entwicklungen in den sozialen Sicherungssystemen, Veränderungen rechtlicher Rahmenbedingungen und Entwicklungen bei den Organisationen der Leistungsanbieter verknüpft. Ihnen kommt somit als ein wichtiger Akteur die Aufgabe zu, bei der Entwicklung neuer Technologien diesen Bezugsrahmen zu vermitteln und anschlussfähig zu machen. Um dies bewerkstelligen zu können, verlangen die durch Digitalisierung aufgeworfenen Fragen nach einer theoretischen und empirischen Einordnung. Die ersten Beiträge zur systematischen Zusammenschau verdeutlichen die Breite der fachlichen Herausforderungen in der Auseinandersetzung von Digitalisierung und Sozialer Arbeit (Kutscher et al., 2020).

Neue technologische Entwicklungen und Anforderungen werden verstärkt im Bereich AAL und eHealth erwartet. Will sich die Technikbranche neue Märkte erschließen, ist sie auf das Wissen und ein Verständnis dafür angewiesen, was künftige Zielgruppen, seien es Endnutzer, Sekundäruser wie Angehörige, bürgerschaftlich Engagierte und Beschäftigte im Sozial- und Gesundheitsbereich oder die Organisationen der Hilfeerbringung erwarten, benötigen und finanzieren können. Andererseits könnten sich ganze Bevölkerungsgruppen gegebenenfalls keine unterstützende Technik anschaffen oder nutzen und damit benachteiligt sein, wenn Technikbranche und Wirtschaft Teile sozialer Anwendungsfelder als ökonomisch uninteressant bewerten. Es liegt im gegenseitigen Interesse, dass Akteure aus den Bereichen Technik, Wirtschaft, Soziale Arbeit und Pflege gemeinsam an einer ethisch vertretbaren Bereitstellung von technischen Innovationen und Infrastruktur arbeiten. Dabei sind verschiedene Hürden zu nehmen.

Nutzerorientierung und Systematisierungsfragen

Im Zusammenhang mit einer alternden Bevölkerung und dem wachsenden Unterstützungsbedarf älterer und chronisch Erkrankter wurde in den zurückliegenden Jahren viel in die Forschung und Entwicklung von Technologien im Bereich eHealth und Ambient Assisted Living (Bernnat et al., 2016, S. 35) investiert. Viele dieser Ansätze stecken noch in den Anfängen, sind zum Teil widersprüchlich und nur begrenzt wirksam (Meyer & Mollenkopf, 2010). Der mangelnde Absatz der Produkte wurde darauf zurückgeführt, dass die Entwicklung der Produkte zu sehr technologiegetrieben ist und nicht mit den Bedürfnissen der älteren Nutzer*innen übereinstimmt. Dies führte in den letzten Jahren dazu, dass verschiedene Vorgehensmodelle und Methoden entwickelt wurden, die Nutzer*innen von Technologien in den Fokus stellen, um ihre Bedürfnisse und Anforderungen an Technik herauszufinden, wie beispielsweise Nutzerzentriertes Design (User – centered Design, User Experience Design) und partizipative Gestaltung (Kunze & Müller, 2017, S. 105). Die Produkte werden zunehmend mit den Nutzer*innen gemeinsam und in deren Lebensumwelt getestet. Trotzdem bleibt zu konstatieren, dass die Entwicklung von einem defizitären und wenig differenzierten Altersbild geprägt ist. Die Covid-19-Pandemie hat uns deutlich vor Augen geführt, dass die Herausforderung eine gesamtgesellschaftliche und generationenübergreifende ist. Monatelanger Unterrichtsausfall an den Schulen machte deutlich, dass die erfolgreiche Anwendung neuer Technologien mit Nutzenabwägungen, Bildungsbereitschaft, dem äußeren Druck und der Bereitschaft Gewohnheiten zu modifizieren, der Mensch-Technik Passung, Technikbereitstellung und Finanzierungsmöglichkeiten zusammenhängt. Die technischen Entwicklungen haben zunehmend eine geringere Lebensdauer, nehmen schnell neue Formen an und zwingen Nutzer*innen aller Generationen zu einer zunehmenden Anpassungsfähigkeit (Elsbernd et al., 2014). Wer dies nicht leisten kann, läuft Gefahr, nicht nur den Anschluss an technische Entwicklungen zu verlieren, sondern auch an gesellschaftliche Teilhabe und Autonomie. Die Benachteiligung hängt von unterschiedlichen Faktoren ab, ältere Menschen mit Hilfe- und Pflegebedarf und soziale benachteiligte Menschen sind dabei besonders gefährdet. Es stellt sich die Frage, wie weitgehend in der Technikentwicklung dieser Komplexität Rechnung getragen werden kann, wenn Wirtschaftlichkeit und Effizienz im Vordergrund stehen. Im deutschsprachigen Raum fehlt es an theoretischen Rahmenmodellen, die diese komplexen Zusammenhänge aufgreifen und zugänglich machen (Elsbernd et al., 2014, S. 17). Kunze & König (2017) machen mangelnde Abgrenzung und Strukturierung als wesentliches Problemfeld für die Weiterentwicklung des Anwendungsfelds technischer Unterstützung in den Bereichen Pflege, Teilhabeförderung und aktives Leben im Alter verantwortlich. Schon in den Anwendungsfeldern Pflege und Soziale Arbeit ergeben sich unterschiedliche Perspektiven auf den Einsatz von neuen Technologien für ältere Menschen. Während die Pflegewissenschaft beispielsweise den Fokus auf pflegerische Interventionen und auf das Pflegemanagement legt, sieht die Soziale Gerontologie ihren Schwerpunkt bei der Techniknutzung und der Förderung von Teilhabe und Aktivitäten (Kunze & König, 2017, S. 17). Die Komplexität von Systematisierungsfragen erhöht sich weiter, wenn man die Entwicklung in sozialräumlichen Bezügen und an der Schnittstelle privater Finanzierung, sozialstaatlicher Daseinsfürsorge und zivilgesellschaftlichen Engagements betrachtet.

Spannungsfeld Welfaremix, Sozialgesetze und Ordnungsrecht

Will man den künftigen Beitrag technologischer Entwicklungen im sozialstaatlichen Kontext verstehen und entwickeln, muss man einen Blick auf die staatliche Sozialpolitik werfen, die starke Veränderungsprozesse beim Aufbau einer neuen sozialen Infrastruktur vorantreibt. Der demografische und gesellschaftliche Wandel hat unmittelbar Auswirkungen auf soziale Versorgungs- und Sicherungssysteme und stellt die Aufrechterhaltung von Infrastrukturangeboten und die Gewährleistung staatlicher und kommunale Daseinsfürsorge infrage. Als ein Leitkonzept, wie man den starken Veränderungen begegnen kann, entstand der Ansatz des Welfaremix, einer gemischten Wohlfahrtsproduktion. Er betrachtet neben den Sektoren Staat und Markt, den informellen Sektor mit Familie und Nachbarschaft und den dritten Sektor mit Non-Profit-Organisationen und bürgerschaftlichen Assoziationen als Akteur*innen bei der Produktion und Gestaltung von Wohlfahrtsleistungen (Roß, 2015). Im siebten Altenbericht wird mit dem Begriff der „Caring Community“ das Konzept der gesellschaftlichen Koproduktion in Bezug auf Sorge und Pflege ausformuliert (BMFSFJ, 2016a). Die Autoren plädieren für eine Neuordnung von Versorgungsstrukturen mit systematisch flächendeckender Stärkung von gemischten Pflegearrangements, alternsgerechten Wohnangeboten, Förderung der Selbstbestimmung und Teilhabe im näheren Wohnumfeld (BMFSFJ, 2016b, S. 32). Die künftige Ausgestaltung von Infrastruktur und Angeboten ist in der Regel mit einem Bündel aufeinander bezogener Sozialgesetze und weiterer Gesetze verbunden. Einen Eindruck, welche Fragen die aktuellen Gesetzgebungsnovellen aufwerfen und damit auch an der Umsetzung technischer Entwicklungen sei beispielhaft an der Pflegeversicherung und dem Bundesteilhabegesetz skizziert.

Angesichts der wachsenden Zahl älterer Menschen mit Hilfe- und Pflegebedarf wurde die Soziale Pflegeversicherung (PV) 1994 v. a. zur Entlastung der Sozialhilfe eingeführt und hat durch Übertragung der Finanzierung von Pflegeleistungen auf eine Sozialversicherung den Umbau des Wohlfahrtsstaates zum Sozialstaat eingeläutet. Mit der Ansiedlung der PV bei den Krankenkassen wurde die Altenhilfe zunehmend von einem pflegerischen Versorgungsmodell geprägt und die gerontologisch orientierte Soziale Arbeit kommt in ein Konkurrenzverhältnis zu der neu entstandenen Berufsgruppe der akademischen Pflege. Der entstehende „Pflegemarkt“ verdrängte die Kommunen aus der Daseinsfürsorge für ältere Menschen mit Hilfe und Pflegebedarf. 20 Jahre später wurde durch die Pflegestärkungsgesetze eine Richtungskorrektur vorgenommen: der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff rückt ab von einer verrichtungsbezogenen Betrachtung somatischer Defizite und richtet sich stärker am biopsychosozialen Modell der WHO aus. Die Kommunen sollen über die Pflegestützpunkte wieder mehr Gestaltungsmöglichkeiten der Infrastruktur für ihre älteren Bürger*innen vor Ort erhalten und die Leistungen der ambulanten und häuslichen Versorgung werden ausgeweitet. Mit Ablösung des bundesweit geltenden Heimgesetzes wurden zeitgleich die ordnungsrechtlichen Vorgaben für Wohnformen auf Länderebene neu bestimmt. Das Ringen um die Rahmung neuer Wohnformen wie beispielsweise ambulante Wohnpflegegruppen spielte sich zwischen den neuen Wohn- und Versorgungsbedarfen der älteren Bevölkerung und ihrer Familien bzw. Unterstützer, der Stärkung der Wohn- und Versorgungsstruktur im Welfaremix und im Finanzierungssetting unterschiedlicher Sozialgesetze und Leistungsträger ab und hält bis heute an.

Die Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) 2016 führt zu einem Paradigmenwechsel und zu einer strukturellen Neuausrichtung auch in der Eingliederungs- und Behindertenhilfe. Das BTHG fußt auf der UN-Behindertenrechtskonvention mit dem Leitbild der „Inklusion“ und zielt darauf ab, Prävention, Teilhabe und Mitbestimmung der betroffenen Menschen auf Basis bestehender Sozialgesetze zu verbessern (Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, 2017). Als gemeinsame Fallverständigungsgrundlage der verschiedenen Leistungsgesetze der Rehabilitation wurde das biopsychosoziale Modell der WHO bzw. die Anwendung der ICF bundesweit verbindlich festgelegt. Durch das BTHG sollen die ambulanten Wohnformen gestärkt werden. Die Länder sind angehalten, für eine flächen- und bedarfsdeckende, am Sozialraum und inklusiv ausgerichtete Angebote zu sorgen. Dies führt zu großen strukturellen Umgestaltungsanforderungen bei Leistungsanbietern der Eingliederungs- und Behindertenhilfe, die zur Ambulantisierung und Dezentralisierung aufgefordert sind.

Für die Eingliederungshilfe und Altenhilfe besteht insofern ein gemeinsames Anliegen als ein wachsender Bedarf an preisgünstigem barrierefreiem Wohnraum mit Unterstützungsleistungen und technischer Ausstattung entsteht. Auch in der Bevölkerungsgruppe der Menschen mit Behinderung ist mit einer steigenden Lebenserwartung zu rechnen (Dieckmann et al., 2016). Die Ziele, die im siebten Altenbericht für die ältere Bevölkerung gefordert werden, korrespondieren mit den Forderungen aus dem BTHG für die Behindertenhilfe – Wohnen, Teilhabe und Unterstützung in inklusiven Quartieren. Allerdings wurde im Verhältnis von Eingliederungshilfe und Altenhilfe mit dem sogenannten Lebenslagenmodell eine Regelung eingeführt, die eine wesentliche leistungsrechtliche Unterscheidung mit sich bringt: für Personen, bei denen vor Eintritt ins Rentenalter eine Behinderung auftritt gelten andere Leistungszuschnitte als für Personen, die erst nach dem Renteneintritt Hilfe- und Pflegeleistungen benötigen. Es stellt sich die Frage, ob in der Umsetzung der Neuregelungen im BTHG und der Pflegestärkungsgesetze eine gemeinsame Zielsetzung in den Vordergrund gerückt werden kann und leistungsrechtliche, sektorengeprägte Vorstellungen zugunsten der Teilhabe von Menschen mit Behinderung und Pflegebedarf im Quartier überwunden werden können.

Der Druck sektorenübergreifende Wohnformen und Dienstleistungen anzubieten und berufsgruppenübergreifenden Einsatz von Mitarbeitenden zu bewerkstelligen steigt. Die Berücksichtigung individueller Bedarfe und Dezentralisierung werden Effizienzanforderungen nach sich ziehen und die Umsetzung anhand technischer Lösungen noch drängender stellen. Die Chance an einer gemeinsamen Entwicklung könnte derzeit im Ansatz und Anwendung des biopsychosozialen Modells und der ICF liegen. Im biopsychosozialen Modell spielen Umweltaspekte und damit auch technische Lösungen für die Teilhabe und Aktivitäten von Menschen mit Einschränkungen bzw. Hilfe- und Pflegebedarf eine zunehmende Rolle. Komplexträger, die sowohl in der Altenhilfe als auch in der Behindertenhilfe Wohn- und Dienstleistungsangebote bereitstellen, entwickeln bereits Geschäftsmodelle, die eine geschäftsfeldübergreifende regionale Perspektive abbilden und technische Innovationen einbinden (Steiner et al., 2018). Einzelne regionale Konsortien von Dienstleistern und Technikentwicklern haben sich auf der Suche nach einer sinnvollen Systematisierung mit breiter Anwendbarkeit für die ICF entschieden (Fuchs & Friedrich, 2018). Wie die Entwicklung in den Quartieren bzw. Kommunen vor Ort, in welcher Form und mit welchen Akteur*innen ausgestaltet wird, steht noch am Anfang. Zumindest könnte für die beiden Handlungsfelder insofern ein gemeinsamer Strukturansatz gewonnen werden, als das biopsychosoziale Modell und eine ICF-gestützte Technikentwicklung angewandt werden könnte.

Fazit

Die Gesellschaft steht vor großen Herausforderungen, bei denen technologische Innovationen und Digitalisierung eine zunehmende Rolle spielen werden. Insbesondere in Bereichen der Daseinsfürsorge wie Gesundheit, Sorge und Pflege für Menschen mit Hilfe und Unterstützungsbedarf sind zunehmend technologische Lösungen gefragt. Diese sind vor allem im Kontext sozialstaatlicher Steuerung wie Welfaremix und der Ausgestaltung der Rahmenbedingungen im Bereich der Sozialgesetzgebung zu sehen. Mit den neuen Anforderungen müssen auch neue Geschäftsmodelle im Bereich der Angebote und Organisation der Dienstleistungen zwischen privater, öffentlicher und sozialversicherungsrechtlicher Rahmung entwickelt werden. Wie die gesetzlichen Neuregelungen am Beispiel des BTHG und der Pflegestärkungsgesetze zeigen, sind die Änderungen komplexer Natur, mit Paradigmenwechseln in verschiedenen sozialen Arbeitsfeldern und mit großen Umsetzungsanstrengungen verbunden. Sie tangieren nicht zuletzt die Versäulung des Hilfesystems und das Selbstverständnis der Professionen.

So wird verständlich, dass das zurückhaltende Interesse potenzieller Technikuser*innen an technologischen Innovationen neben vornehmlich individuellen Bezügen auch aus dem Licht komplexer Strukturanforderungen und Zielkonflikte gesehen werden muss. Diese Dynamik erschwert des Weiteren die notwendige Systematisierung in Bezug auf Anwendungsfelder und Versorgungspraktiken und die Herstellung von Anknüpfungspunkten zu theoretischen Grundlagen der Bezugswissenschaften (Kunze & König, 2017). Um erfolgreich zu sein, müssen die Technik- und Wirtschaftswissenschaften diese Veränderungen nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern sich aktiv an der gemeinsamen Gestaltung von Lösungen beteiligen. Andererseits gilt für die Sozial- und Gesundheitswissenschaften, dass sie sich aktiv mit technischen Systemen und ihrem Beitrag zur ethisch vertretbaren Gestaltung von Infrastrukturangeboten und der Gewährleistung staatlicher und kommunaler Daseinsfürsorge auseinandersetzen müssen. Dies hat wiederum Rückwirkungen auf Paradigmen, Methoden und Wissenschaftsverständnis der betreffenden Disziplinen. Die Weiterentwicklung sollte nicht nur im interdisziplinären wissenschaftlichen Diskurs, sondern auch im Austausch mit allen Akteur*innen sozialstaatlicher Koproduktion im Welfaremix erfolgen. Dazu müssen geeignete Formate des Lernens von der Hochschule entwickelt und angeboten werden.

6.4 Konzept AAL Lab Heidenheim – Die Nutzenpotenziale eines Reallabors für bedarfsorientierte Entwicklungen von AAL-Lösungen

Einleitung

Die Duale Hochschule Baden-Württemberg arbeitet am Standort Heidenheim an dem Aufbau eines Reallabors („Living Lab“) zur Förderung von Kooperationen zwischen Wissenschaft und Praxis sowie der gesellschaftlichen Wahrnehmung im Themengebiet Active Assisted Living (AAL). Das Reallabor „AAL Lab“ der DHBW Heidenheim soll ein zentrales, interdisziplinäres Instrument von Lehre, Forschung, Entwicklung und Vernetzung an der Schnittstelle von Pflegewissenschaft, Gesundheits- und Sozialwesen, sowie Wirtschafts-(Informatik) und Technik sein. Ein weiterer wesentlicher Vorteil ergibt sich aus dem Standort Heidenheim mit seiner in der Region breit gefächerten Industrie, die es dem Lab ermöglicht, zusätzlich die Vernetzung mit relevanten Unternehmen und auch den Pflegeeinrichtungen zu schaffen. Mit modernen Ansätzen der Customer Centricity kommen zudem methodisch Möglichkeiten hinzu, um Projektergebnisse zu erzeugen, die Kundenprobleme aus der Sicht der Zielgruppen lösen, das technisch Machbare ethisch abgewogen integrieren lassen und dennoch wirtschaftlich sind. Das unterscheidet dieses Konzept von anderen Living Labs.

AAL vs. Smart Home

Unter dem Begriff AAL werden alltagstaugliche Assistenzlösungen für ein selbstbestimmtes Leben, insbesondere für hilfebedürftige Menschen verstanden. Active Assisted Living, auch Ambient Assisted Living, umfasst alle technologischen und elektronischen Systeme sowie alle Produkte und Dienstleistungen, die das Leben in Alltagssituationen, insbesondere für Menschen mit Pflegebedarf, verbessern. AAL bietet daher die Möglichkeit, hilfebedürftige Menschen zu unterstützen, um trotz steigender medizinischer Bedürfnisse so lange wie möglich selbstständig zu Hause zu leben. Assistenzsysteme folgen damit dem in der Pflegeversicherung verankerten Grundsatz „ambulant vor stationär“ (Sozialgesetzbuch, 2019).

AAL stellt einen speziellen Aspekt des Smart Home dar, d. h. im Zentrum stehen hier die notwendigen Bedürfnisse hilfebedürftiger Menschen. Smart Home ist somit per Definition der Oberbegriff für technische Verfahren und Systeme in Wohnhäusern und Wohnungen mit übergeordneten Zielen, wie z. B. Senkung von Energieverbrauch, Erhöhung von Flexibilität, Sicherheit und Wohnkomfort (Strese et al., 2010, S. 8). Erreicht wird dies durch die Vernetzung, zentrale Steuerung und Automatisierung der gesamten Haustechnik und der elektrischen Geräte eines Haushaltes. Als Beispiele (vgl. Abb. 6.12) können die Vernetzung und Steuerung des Lichts, der Jalousien und Fenster, der Klimaanlage bzw. Heizung usw., mittels Smartphones und/oder anderem mobilen Endgerät aufgeführt werden (White, 2019). Unter den Begriff Smart Home fällt damit sowohl die Vernetzung von Haustechnik und Haushaltsgeräten, als auch die Vernetzung von Komponenten der Unterhaltungselektronik, etwa die zentrale Speicherung und heimweite Nutzung von Video- und Audioinhalten. Von einem Smart Home spricht man folglich, wenn sämtliche im Haus verwendeten Leuchten, Taster und Geräte untereinander vernetzt sind, (End-)Geräte Daten speichern und eine eigene Logik abbilden können (EKT, 2020). Das Smart Home besitzt schließlich eine eigene Programmierschnittstelle, die via Internet angesprochen und über im Smart Home integrierte Webserver oder erweiterbare Anwendungssoftware und Mobile Apps gesteuert werden kann (Strese et al., 2010, S. 8).

Der Übergang von Smart Home-Systemen hin zu AAL-Lösungen ist meist fließend, wodurch eine Abgrenzung letztlich nicht immer eindeutig ist. Die Bandbreite, die sich mit AAL-Systemen in der Wohnung abdecken lässt, ist jedoch ebenso breit gefächert. Auch hier fallen im weitesten Sinne Smart Home-Lösungen darunter (wie z. B. die Lichtsteuerung), doch die verwendeten Techniken und Technologien sind stärker nutzerzentriert, und damit voll und ganz auf die notwendigen Bedürfnisse hilfebedürftiger Menschen angepasst. So geht es hierbei besonders um spezielle Themen der Sicherheit, z. B. der Verwendung von automatischen Notrufsystemen in Kombination mit Sturzmeldern und Falldetektoren oder um das Thema Gesundheit und Versorgung, z. B. mittels automatischer Vitalfunktionsüberwachung. Sowohl das personalisierte Telemonitoring, z. B. durch ein dauerhaftes Elektrokardiogramm (EKG) mittels Tracking-Funktion, als auch das Medikamentenmonitoring, d. h. die automatische Erinnerung an das Einnehmen von Medikamenten, können an dieser Stelle beispielhaft aufgeführt werden (Backs, 2019; SmartHome Initiative Deutschland, 2019).

Ziele und Funktionen des Living Labs

Obwohl sich seit einigen Jahren die Wissenschaft und Praxis vermehrt mit dem Thema AAL, insbesondere mit AAL-Systemen und Lösungen beschäftigt, konnten sich bislang jedoch nur wenige AAL-Technologien auf dem Markt etablieren. Gründe hierfür sind u. a. fehlende Geschäfts- und Finanzierungsmodelle, fehlendes Know-how bzgl. der Integration von AAL-Lösungen in den Alltag und vor allem unzureichendes Wissen über die Bedürfnisse der Nutzer*innen (Schultze, 2017, S. 182; Jaschinski 2019). Das AAL Lab der Dualen Hochschule Baden-Württemberg am Standort Heidenheim verfolgt demnach drei Ziele:

  1. 1.

    Evaluation von bestehenden Lösungen in Zusammenarbeit mit Praktikern, um Stärken und Schwächen sowie Risiken und Chancen identifizieren und beheben zu können;

  2. 2.

    Analyse, (Weiter-)Entwicklung und Optimierung von Prozessen, Produkten, Dienstleistungen sowie Geschäftsmodellen mit Expert*innen aus der Praxis, Kooperationspartner*innen, Studierenden und der Öffentlichkeit;

  3. 3.

    Vorantreiben der anwendungsorientierten, interdisziplinären Forschung unter Einbeziehung aller betreffenden Anspruchsgruppen (Nutzer*innen, Hersteller, Händler*innen, Pfleger*innen, etc.) der Gesellschaft.

Living Labs = (dt.: Reallabore) können dabei als eine neue Form der Kooperation zwischen der Wissenschaft und der Praxis auf der einen Seite und der Zivilgesellschaft auf der anderen Seite verstanden werden, bei der das gegenseitige Lernen in einem experimentellen Umfeld im Vordergrund steht. Die Autoren Niitamo et al. beschreiben Living Labs als „(…) an emerging Public Private Partnership (PPP) concept in which firms, public authorities and citizens work together to create, prototype, validate and test new services, businesses, markets and technologies in real-life contexts (…)“ (Niitamo et al., 2006, S. 1). Living Labs sind daher prädestiniert für die (Weiter-)Entwicklung von innovativen Produkt- und Geschäftsideen, welche heutzutage meist in Zusammenhang mit der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT, engl.: ICT) im Zuge der voranschreitenden Digitalisierung stehen: „Living Labs are environments for innovation and development where users are exposed to new ICT solutions in (semi)realistic contexts, as part of medium- or long-term studies targeting evaluation of new ICT solutions and discovery of innovation opportunities“ (Følstad, 2008). Die reine Fokussierung auf die Verwendung der Informations- und Kommunikationstechnik ist jedoch unzureichend. Ziel sollte nämlich vielmehr sein, komplexe, interdisziplinäre Problem- und Fragestellungen mithilfe von interprofessionellen Ansätzen zu lösen. So ist es im Themenbereich AAL aufgrund von unterschiedlichsten Anspruchsgruppen nötig, verschiedene Perspektiven, insbesondere auch die der gesellschaftlichen Wahrnehmung, zu betrachten. Akteur*innen aus verschiedenen Fachbereichen der Wissenschaft und Praxis müssen folglich zusammengebracht werden, um auf Basis eines gemeinsamen Problemverständnisses unter Einbeziehung der Gesellschaft wissenschaftlich und sozial robuste Lösungen erarbeiten und ausprobieren zu können (Niitamo et al., 2006, S. 2). „Die Lösung des Problems liegt folglich im Ansatz der Co-Kreativität. Laut Hüther (2020) fußen die aktuell größten Probleme unserer Gesellschaft auf einer Beziehungskultur, in der wir uns gegenseitig dominieren wollen und damit zum Objekt unserer Bewertungen und Absichten machen“. Durch das Auflösen anzutreffender hierarchischer Strukturen und durch gegenseitige Unterstützung können wir eine neue Beziehungskultur schaffen, bei der ein Ausmaß an Co-Kreativität entsteht, welche es uns leicht macht, nachhaltige Lösungen zu finden (Hüther, 2020, S. 56). Eine Funktion des Living Labs kann in diesem Zusammenhang zum Beispiel die gemeinsame, interdisziplinäre (Weiter-)Entwicklung eines Produkts, einer Dienstleistung oder einer Anwendung über den co-kreativen Produktentwicklungsprozess sein, welcher sich über folgende vier Phasen erklären lässt (vgl. Abb. 6.12):

Abb. 6.12
figure 12

(Eigene Darstellung in Anlehnung an Reichart, 2002)

Die vier Phasen des co-kreativen Produktentwicklungsprozesses.

Der co-kreative Produktentwicklungsprozess beginnt mit der Idee und Konzeptionierung eines Produktes oder einer Dienstleistung und endet nach der Produktentwicklung bestenfalls mit einer erfolgreichen Markteinführung. Da es nach aktuellem Stand von Wissenschaft und Praxis aber eben oftmals im Übergang von Phase 3 zur Phase 4, sprich bei einer erfolgreichen Markteinführung von AAL-Produkten und Dienstleistungen, erhebliche Schwachstellen gibt, sollen diese über einen interdisziplinären Ansatz innerhalb des Living Labs aufgedeckt und reduziert werden. Bestenfalls lassen sich über den interdisziplinären Ansatz, welche bereits bei der Idee und dem Konzeptentwurf der Idee entstehen, Schwachstellen ganz auflösen. Ein Hauptziel des Livings Labs unter Verwendung des Produktentwicklungsprozesses ist also nicht nur, marktgerechte Produkte bzw. Dienstleistungen zu entwickeln sowie bestehende Produkte und Dienstleistungen zu testen und Optimierungsmöglichkeiten zu identifizieren, sondern auch aus betriebswirtschaftlicher Perspektive Markteinführungsstrategien und -potenziale zu prüfen.

Demzufolge liegt der Fokus u. a. auf der Entwicklung von ganzheitlich betrachteten, funktionierenden AAL-Geschäftsmodellen. Wiederkehrende Problem- und Fragestellungen beziehen sich z. B. auf die zu implementierenden AAL-Systeme und die Frage, wie diese teilweise sehr stark auf einzelne User individuell abgestimmten Systeme „massentauglich“ gemacht werden können, um eine ausreichende Skalierung zu erreichen (Ambient Assisted Living Deutschland, 2016; Handelsblatt, 2018; Rosliwek-Hollering, 2013). Gleichermaßen stellt sich die Frage bezüglich der Bereitschaft zur Übernahme der anfallenden Kosten bei der Implementierung von Assistenzsystemen, welche nicht nur die Endanwender, sondern auch Pflegeeinrichtungen, Wohnungsbaugesellschaften, Vermieter, Kranken- und Pflegekassen, etc., betreffen. So sind beispielsweise nicht nur die Technik, der Einbau und die Wartung der AAL-Anwendungen zu berücksichtigen, sondern auch die damit verbundenen sozialen Gesundheits- und Dienstleistungsangebote. Auch ein Dienstleistungsnetzwerk, das nur aus ehrenamtlichen Mitarbeitern besteht und z. B. telemedizinische Vitaldatenüberwachung anbietet, muss schließlich bei der Einführung und Verwendung von AAL-Lösungen koordiniert, qualifiziert und entsprechend finanziert werden. Eine gesamtheitliche Betrachtung erfordert eine Fokussierung auf verschiedenen Ebenen, wobei insbesondere drei wesentliche Perspektiven während der Geschäftsmodellentwicklung im Living Lab betrachtet werden sollen (vgl. Abb. 6.13): die nutzerzentrierte, die technologiegetriebene und die geschäftsorientierte Perspektive.

Abb. 6.13
figure 13

(Eigene Darstellung in Anlehnung an Niitamo et al., 2016)

Die drei Perspektiven während der Geschäftsmodellentwicklung im Living Lab.

Das Living Lab ermöglicht somit die Kooperation und den Austausch mit allen relevanten Anspruchsgruppen, um Ideen und Beiträge zu bestimmten Assistenzsystemen aus der Bevölkerung zu erfassen und um komplexe Sachverhalte im Einsatz von AAL-Technologien in konkreten Situationen verstehen und bewerten zu können, mit dem Ziel erfolgreiche Geschäftsmodelle zu kreieren (Niitamo et al., 2006, S. 3).

Anforderungen an das Living Lab der DHBW Heidenheim

Um die aufgeführten Ziele zu erreichen, benötigt die Duale Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) am Standort Heidenheim eine Laborfläche, welche für den Aufbau des Living Labs verwendet werden kann. Als Exemplar kann das Lab der Hochschule Kempten aufgeführt werden, welches eine Seniorenwohnung bereits als Reallabor nutzt.

Das AAL Lab der Hochschule Kempten ist eine 55 qm große Wohnung in einer Seniorenwohnanlage, welche zu einer Lehr- und Forschungswohnung umgestaltet wurde. Auf den ersten Blick ist die Wohnung eine völlig gewöhnlich eingerichtete Seniorenwohnung. Die Wohnung (Hochschule Kempten, 2019) verfügt jedoch über zahlreiche technische Unterstützungssysteme, welche Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen ein selbstbestimmtes Leben in der eigenen Wohnung ermöglichen, wie z. B.:

  • eine Küche mit unterfahrbaren, höhenverstellbaren und selbstöffnenden Schrankelementen,

  • eine Haussteuerungsanlage,

  • funktionale Möbelelemente,

  • ein Bad mit Dusch-WC,

  • ein telemedizinisches System,

  • ein Fußboden mit Sturzsensor sowie

  • biodynamisches Licht.

Ein wesentlicher Unterschied zu allen bisherigen Active Assisted Living Labs (InnoLab, 2019) und damit auch zum AAL Lab der Hochschule Kempten, soll die starke Verzahnung zwischen Wissenschaft, Praxis und Gesellschaft sein, weswegen neben der (Erst-)Ausstattung, besonders die Lage für das AAL Lab der HDBW Heidenheim eine entscheidende Rolle spielt. Die Räumlichkeit sollte demnach nicht nur Smart-Home-Ready sein (für die Möglichkeit einer mobilen Steuerung der Standard-Ausstattungen via App, z. B. für Heizung, Rollläden und Beleuchtung), sondern sich auch bestenfalls in einem Erdgeschoss mit Schaufensterfront im Zentrum der Stadt Heidenheim befinden, um in der Öffentlichkeit präsent sein zu können. Die Möglichkeit zur Verwendung des Reallabors als „Showroom“ soll dabei einer erhöhten öffentliche Wahrnehmung dienen, d. h. der Zustand sowie die Modernität der Immobilie sind für eine attraktive Außendarstellung des Reallabors und damit für die DHBW Heidenheim von großer Bedeutung. Zusätzlich ist die Nähe zur DHBW Heidenheim wichtig, damit interne und externe Interessenten das Reallabor ohne große Umstände erreichen können.

Damit das Living Lab der Dualen Hochschule Heidenheim seine Funktion erfüllen kann, steht neben der Anmietung einer oben beschriebenen, repräsentativen Laborfläche und der Erstausstattung, eine sukzessive Erweiterung der „gewöhnlichen Ausstattung“ mit modernen technischen Assistenzsystemen im Vordergrund, z. B. Heimvernetzung durch zentrale Benutzerschnittstelle, sensorische Raumüberwachung und Alltagshelfer (Vitalüberwachung zur Notfallhilfe, Aufstehhilfen, etc.). Folgende Mindestanforderungen soll die anzumietende Fläche jedoch von Beginn an erfüllen:

  • barrierefreie Räumlichkeit, bestehend aus Flur, Küche, Bad, Wohnzimmer, Schlafzimmer, WC (behindertengerecht), ca. 60 bis 85 qm.

  • Heizung, Strom-, Wasser- und TV-Anschluss; W-Lan mit LTE-Verbindung.

Das Active Assisted Living Lab der DHBW Heidenheim soll relevant für alle Akteur*innen aus der Industrie, Wissenschaft und Lehre sowie der Gesellschaft sein. Es spricht somit Praktiker*innen Wissenschaftler*innen, Studierende und Privatpersonen gleichermaßen an. Das AAL Lab bietet zudem zahlreiche Möglichkeiten zum fachlichen Austausch und zur Kooperation aus allen relevanten Feldern und Berufsgruppen, u. a. aus den Bereichen Gesundheit, Medizin, Pflege, Soziale Arbeit, Wirtschafts-/Ingenieurwissenschaften, (Wirtschafts-)Informatik, Architektur, Bauwesen und der Betriebswirtschaft. Das AAL Lab der DHBW kann – neben der Darstellung begleitender Dienstleistungen und Organisationsformen von AAL Lösungen – darüber hinaus eine Vielzahl an Leistungen anbieten und somit auch einen Überblick über aktuelle AAL-Entwicklungen bzw. AAL-Technologien geben. Als Testzentrum kann das Living Lab AAL-Produkte und Dienstleistungen zur Anwendung für die Industrie, Wissenschaft, Forschung und Praxis bereitstellen, wodurch nicht nur auf der einen Seite, insbesondere für die Zivilgesellschaft eine Sensibilisierung für Technik im AAL-Umfeld stattfindet, sondern auch auf der anderen Seite, die bereits beschriebene Entwicklung und Umsetzung marktgerechter Geschäftsmodelle vorangetrieben werden kann. Zudem kann das Reallabor für Workshops, Seminare und Beratungsgespräche den Anspruchsgruppen und/oder Studierenden genutzt werden, um z. B. auch Einschätzungen zu künftigen Trends treffen zu können.

Folgende beispielhaft aufgezählte Assistenzsysteme können im Reallabor ausgestellt und getestet werden, wobei auf Dauer beliebig weitere hinzukommen werden (Wetzig, 2020):

  • Sicherheit durch multisensorische Überwachung

    • Sensoren für Rauch, Feuer, Gas, Wasser beugt effektiv Brand-/Gas-/Wasserschäden vor

    • Intelligente Einbruchsicherung, Alarmanlage

    • Automatische Abschaltung von elektrischen Geräten beim Verlassen der Wohnung (z. B. Herd mit automatischem Abschaltsystem)

    • Verschlusssensoren an Fenstern und Türen (Einbruchsschutz von Haus-/Terrassentüren sowie Fenstern)

    • Sensorische Raumüberwachung zur Sturzdetektion (automatischer Notruf bei Sturz oder Bewusstlosigkeit)

  • Vitalsensoren

    • Überwachung von Vitalwerten (Telemonitoring)

    • Lebenszeichen-Rückmeldung: Vitalsensoren/-überwachung zur Notfallhilfe

  • Komfort

    • Intelligente Steuerung der Raumtemperatur: Wärmesteuerung über Thermostate regelt z. B. Heizung während des Lüftens

    • Steuerung der Rollläden (zeit- und wettergesteuerte Verschattung der Räume: Rollläden bequem mit einem Tastendruck oder per Sprachbefehl auf- und zufahren)

    • Elektronische Steuerung von Jalousien und Fenstern

    • Biodynamische Beleuchtung: Imitation von natürlichem Licht

    • Beleuchtung in der Nacht: Steuerung durch Bewegungsmelder

    • Schlüssellose Türöffnung

    • Zentral bedienbare Unterhaltungselektronik

  • Soziale Komponenten

    • Videokonferenz mit Familie und Betreuungspersonal

    • Elektronischer Gesundheitsdienst

  • Gesundheit

    • Überwachung der Luftfeuchtigkeit

    • Bett mit Aufstehhilfe

    • Medikamentendispenser mit Erinnerungsfunktion

    • Personalisiertes Gesundheitsmanagement durch erfasste Verhaltensmuster

  • Sonstiges

    • Pflegerobotik (Soziale Pflegeroboter als soziale Komponente, als Aufstehhilfe, als Alltagsunterstützer mit intelligenter Sprachsteuerung, zur Medikationserinnerung, zur Unterhaltung, etc.)

    • Integrierte Aufstehhilfen (z. B. Sessel/Sofa/Bett)

    • Toilette mit Intimpflege

Fazit

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Relevanz assistierter (insb. ambulanter) Pflege weiter zunimmt (Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2016). Darüber hinaus gibt es aktuell zahlreiche Förderprogramme von Bund, Land und EU zu interdisziplinären Themen rund um Wirtschaft, Technik, Medizin und Gesundheit, insbesondere zum Themenbereich AAL, welche die Bedeutung dieser Thematik unterstreichen. Zwar gibt bereits einige Living Labs in Deutschland, die sich bereits mit dem Thema Smart Home im weiteren Sinne und mit dem Thema Active Assisted Living im engeren Sinne beschäftigen, doch es besteht aufgrund der beschriebenen Interdisziplinarität und der damit verbundenen Komplexität des Themas weiterhin Forschungs- und Handlungsbedarf – nicht zuletzt aufgrund des fortschreitenden demographischen Wandels, der rasanten technologischen Entwicklungen, und aufgrund der Tatsache, dass es aktuell noch sehr wenige Geschäftsmodelle im Bereich AAL gibt. Living Labs befördern damit zukünftig nicht nur den Wissens- und Technologietransfer, sondern ermöglichen in einem besonderen Maße auch praxisorientierte, interdisziplinäre Forschung.

Ein Living Lab bietet folglich vielfältige Kooperationsmöglichkeiten aus relevanten Berufsgruppen/-feldern und ermöglicht fakultätsübergreifende, praxisorientierte Forschung an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg. Zudem fördern Living Labs den Austausch und die Kooperationen zwischen Wissenschaft und Praxis. Ein wesentlicher Vorteil ergibt sich dabei aus dem Standort Heidenheim mit seiner in der Region breit gefächerten Industrie, die es dem Lab ermöglicht, zusätzlich die Vernetzung mit relevanten Unternehmen und auch den Pflegeeinrichtungen zu schaffen. Das AAL Lab bietet somit sowohl aus ökonomischer als auch aus sozialer Perspektive für den Landkreis Heidenheim und für die Region Ostwürttemberg eine große Chance. In unserem stark ländlichen Raum lässt sich so ein besseres Verständnis von existierenden Bedürfnissen sowie präzisere Marktanalysen von Assistenzsysteme (AAL-Lösungen) in Zusammenarbeit mit relevanten Praxispartner und hiesigen Firmen gewinnen. Nur wenn die individuellen Bedürfnisse der Anspruchsgruppen bekannt sind, können flächendeckende Bedarfe erstellt und befriedigt werden.

Das Konzept des AAL Labs in Heidenheim forciert schließlich im besonderen Maße die Nutzenpotenziale eines Reallabors für eine bedarfsorientierte Entwicklung von AAL-Lösungen und AAL-Geschäftsmodellen, in dem es – im Rahmen der Customer Centricity – Kunden und Nutzer in den Mittelpunkt stellt. Das AAL Lab Heidenheim adressiert die wichtigen Zukunftsthemen Gesundheit, Mobilität und Digitalisierung, und bietet darüber hinaus durch die anwendungsorientierte Forschung die Möglichkeit zur intelligenten Gestaltung und nachhaltigen Sicherung von Fachkräften in den Pflegeberufen.

6.5 Kundenzentrische Entwicklung von AAL-Geschäftsmodellen mittels Design Thinking

Das vorliegende Kapitel beschreibt den Zusammenhang zwischen Active Assisted Living (AAL), Customer Centricity, Design Thinking und annahmenbasierter Geschäftsmodellentwicklung. Dabei wird die Bedeutung des Konzepts Customer Centricity, der Zusammenhang zwischen Customer Centricity und Design Thinking und daraus abgeleitet die Nutzung von Design Thinking für die Erarbeitung neuer AAL-Lösungen herausgearbeitet. Aufbauend auf diesem Vorgehen wird konzeptuell dargestellt, wie aus den dabei identifizierten Kundenbedürfnissen und Lösungsansätzen mittels annahmenbasierter Geschäftsmodellentwicklung validierte, ganzheitliche und damit profitable Geschäftsmodelle erarbeitet werden können.

Was ist Customer Centricity?

Customer Centricity ist ein ganzheitliches Managementkonzept, welches grundsätzlich dieselben Ziele verfolgt wie die meisten Managementkonzepte: Ein Unternehmen langfristig so profitabel wie möglich zu gestalten. Im Gegensatz zu rein produktorientierten Konzepten, welche dem Schema Entwicklung, Vermarktung und Verkauf folgen, richtet Customer Centricity die Wertschöpfung konsequent an den Kundenbedürfnissen aus. Dies trägt unserer sich zunehmend schneller wandelnden Gesellschaft, der Verschiebung von einem Angebots- zum Nachfragemarkt, sowie der steigenden Erwartung nach mehr Individualisierung Rechnung.

Peter Fader, der als Schöpfer des Konzepts gilt, definiert Customer Centricity als „[…] eine Strategie, die die Entwicklung und Lieferung der Produkte und Dienstleistungen eines Unternehmens an den aktuellen und zukünftigen Bedürfnissen einer ausgewählten Gruppe von Kund*innen ausrichtet, um deren langfristigen finanziellen Wert für das Unternehmen zu maximieren“ (Fader, 2020).

Trotz des gemeinsamen, neoklassischen Ziels der Erzeugung langfristiger Profitabilität („a firms goal is to maximize its profits“ (Marshall, 1890)) zeigt dieser Ansatz deutliche Unterschiede zum Neuklassizismus auf. Eine der zentralen Annahmen ist, dass es keine zwei gleichen Kund*innen gibt, diese also individuell sind. Damit distanziert sich Customer Centricity vom Ansatz des Homo Oeconomicus, einem Individuum, dessen Kundenbedürfnisse sich in einer Nutzenfunktion abbilden lassen, welche aggregiert die Präferenzen der Gesamtheit abbilden. Der Bruch mit dieser Vereinfachung stellt die Heterogenität innerhalb der Zielgruppe in den Fokus und wird als Chance verstanden. Im Mittelpunkt steht nicht mehr die Akquise möglichst vieler homogener Kund*innen, sondern das Zufriedenstellen und Halten der richtigen Kund*innen mit ihren individuellen Ansprüchen.

Da die Neukundengewinnung der teuerste Schritt im Lebenszyklus eines Kunden ist und entsprechend das Geschäft mit und der Erhalt von Bestandskunden (Customer Development und Customer Retention) am profitabelsten sind, sind die wichtigsten Kennzahlen der Customer Lifetime Value, welcher das gesamte Umsatzpotential eines spezifischen Kunden über dessen Lebenszyklus abbildet, sowie die Customer Equity als die Summe aller Customer Lifetime Values. Die Maximierung dieser Customer Equity durch die Erfüllung der individuellen Kundenbedürfnisse ist das ausgewiesene ökonomische Ziel im Konzept der Customer Centricity (Fader, 2020).

Customer Centricity im Kontext von Active Assisted Living

Die Ziele von Active Assisted Living (AAL), wie die Verlängerung der selbstbestimmten Lebenszeit, der Erhalt von Gesundheit und Funktionsfähigkeit, sowie die verbesserte Integration in ein soziales Umfeld sind inhärent kundenorientiert, da sie die Bedürfnisse der Kund*innen explizit in den Mittelpunkt stellen.

Dabei steht AAL jedoch vor besonderen Herausforderungen. Die Probleme die damit einhergehen, dass AAL-Lösungen durch eine jüngere Generation für Ältere entwickelt werden (Zagler & Panek, 2009), werden dadurch verstärkt, dass die Bedürfnisse der Älteren grundsätzlich weniger erforscht sind, da viele Studien bei knapp über 60-jährigen enden, obwohl die Bedürfnisse von über 80-jährigen deutlich abweichen. In den letzten Jahren wurde vielfach erkannt, dass Innovationen im Bereich AAL zu sehr auf neue Technologien und zu wenig auf die Integration der Kund*innen in den Ideengenerierungs- oder Lösungsprozess zurückzuführen sind (Kött, 2010), weswegen sich vermehrt nutzerzentrische Ansätze und entsprechende Projekte durchsetzen (siehe hierzu beispielsweise SOPRANO (Sixsmith, et al., 2009) oder E-Health@Home (Pfaffner et al., 2011). Nichtsdestotrotz werden die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen und Hemmungen der Älteren zur Nutzung dieser Lösungen in der Praxis häufig übersehen (Schelisch & Spellerberg, 2012). Eine weitere Hürde ist die Diskrepanz zwischen dem Lebenszyklus neuer AAL-Produkte und dem Lebenszyklus des angebotenen Gesundheitsdienstes; sowie die sich daraus ergebene Anforderung, den nutzer- bzw. humanzentrierten Lebenszyklus in den Vordergrund zu stellen (Kosta et al., 2010).

Dabei ist es für Unternehmen bereits ohne diese spezifischen Hürden eine Herausforderung, sich kundenzentrisch auszurichten. Aus organisatorischer Sicht bedeutet Customer Centricity, dass Unternehmen stetig lernen und damit Fehler zulassen müssen. Dies steht häufig im Widerspruch zu typischen Handlungsweisen und Anreizsystemen in Unternehmen (Hemel & Rademakers, 2016). Eine weitere Barriere ist, dass Fortschritte bei der Kundenorientierung in der Regel in kleinen Schritten erfolgen und damit der kurzfristigen Gewinnoptimierung im Weg stehen (Hemel & Rademakers, 2016), sowie der negative Einfluss von finanziell als unumgänglich gesehenen Sparmaßnahmen auf die Kundenorientierung (Shah et al., 2006). Zudem müssen Prozesse funktionsübergreifend aufgesetzt werden und Kundenbedürfnisse den richtigen Angeboten zugeordnet werden (Shah et al., 2006).

Während das große Marktpotenzial für weitreichendes Interesse an AAL-Lösungen sorgt, bleibt die profitable Nutzung dieses Potenzials eine Hürde für Unternehmen, was an der schleppenden Einführung dieser Technologien deutlich wird. Dies wird zum einen den Innovationshürden im Gesundheitssystem, den damit verbundenen Datensicherheitsanforderungen (Bleja et al., 2019), aber vor allem den fehlenden profitablen Geschäftsmodellen zugeschrieben (Fachinger et al., 2012).

Da solche AAL-Systeme neben den älteren Menschen ebenfalls das pflegende Personal, die Anforderungen des Gesundheitssystems und den Angehörigen beachten müssen, ist die kundenzentrische Entwicklung derartiger Geschäftsmodelle unerlässlich. Ein bewährter Ansatz für die Identifikation von Kundenbedürfnissen ist Design Thinking.

Identifizieren von Kundenbedürfnissen mit Design Thinking

Wieso Design Thinking?

Seit den 90er Jahren hat sich Design Thinking als Gestaltungsansatz für die Erzeugung innovativer, kundenorientierter Lösungen etabliert. Design Thinking bedient sich dabei, wie der Name darstellt, der Werkzeuge von Designern, um mit diesen innovativen Lösungen für und mit dem Kunden zu entwickeln. Dieser durch die Design Agentur IDEO und dessen Gründer David Kelley bekannt gewordene Ansatz bringt das aus menschlicher Sicht Erstrebenswerte mit dem technologisch und wirtschaftlich Umsetzbaren zusammen (Gerstbach, 2017).

Neue Herausforderungen fordern kreative Lösungen. Der Design Thinking Ansatz strukturiert und nutzt die menschlichen Fähigkeiten der Intuition, Mustererkennung und Ideengenerierung in einem iterativen Ansatz. Kelleys Überzeugung nach sind Menschen von Grund auf kreativ, bis Sie mit dem Bildungssystem in Berührung kommen.

George Land und Beth Jarman konnten in einer 1968 mit 1600 Kindern begonnen Longitudinalstudie diesen Kreativitätsverlust nachweisen. Hierfür nutzten sie denselben Kreativitätstest, den sie für die NASA entwickelt hatten, um das kreative Potenzial ihrer Raketenwissenschaftler und -ingenieure effektiv zu messen. Der Test misst die Fähigkeit des divergenten Denkens – also der Fähigkeit, die es erlaubt, ein Problem mittels möglichst vieler Optionen zu lösen. Das Ergebnis: 98 % der getesteten drei bis fünfjährigen Kinder erzielten eine Punktzahl, die sie als kreatives Genie einordnet. Dieser Test wurde im Rahmen einer Longitudinalstudie mit der entsprechend gleichen Gruppe von Kindern nach 5 Jahren wiederholt. Von den dann ungefähr 10-jährigen Kindern galten nur noch 30 % als kreatives Genie. 5 Jahre später sank der Anteil auf 12 % und bei einer Vergleichsgruppe von durchschnittlich 31-Jährigen galten nur noch 2 % als kreatives Genie (Land & Jarman, 1993).

Land und Jarman führen ihre Ergebnisse auf die zwei Arten von kreativitätsbezogenen Denkprozessen zurück:

Konvergentes Denken zielt darauf ab, die beste (oder richtige) Antwort auf eine klar definierte Frage zu erhalten. Damit ist diese Form des Denkens auf Geschwindigkeit, Genauigkeit und Logik fokussiert und konzentriert sich auf das Erkennen des Vertrauten, die Wiederanwendung von Mustern und das Sammeln von Informationen. Daher ist diese Denkweise am effektivsten in Situationen, in denen eine vorgefertigte Antwort existiert, aus gespeicherten Informationen abgerufen oder aus dem bereits Bekannten herausgearbeitet werden kann, indem konventionelle und logische Such-, Erkennungs- und Entscheidungsstrategien angewendet werden (Land & Jarman, 1993).

Im Gegensatz dazu zielt divergentes Denken darauf ab, aus verfügbaren Informationen mehrere oder alternative Antworten zu erzeugen. Es erfordert unerwartete Kombinationen, das Erkennen von Verbindungen zwischen entfernten Assoziationen, das Umwandeln von Informationen in unerwartete Formen und sind oft neu, ungewöhnlich oder überraschend (Land & Jarman, 1993).

Land schlussfolgert aus seinen Untersuchungen, dass während der Schulzeit vor allem konvergentes Denken gefordert wird. Dieser Fokus findet sich ebenfalls in den typischen Tätigkeiten im Arbeitsalltag. Die meisten Menschen sind es also nicht gewohnt, kreativ und offen neue Ideen zu generieren. Dementsprechend fällt es den meisten schwer, neue und kreative Ideen aus dem „Nichts“ zu generieren.

David Kelley zielte darauf ab, dieses konvergente und divergente Denken systematisch zu verbinden, um kreative Lösungen zu erzeugen. 1992 wurde dann der Name Design Thinking eingeführt. IDEO hat es geschafft mit dieser Methode mehr als 1000 Patente einzureichen und über 300 Design Awards zu gewinnen (Gerstbach, 2017).

Wie funktioniert Design Thinking?

Der von Kelley entworfene Design Thinking Ansatz ist erstmal nur ein Denk- und Arbeitsansatz mit einem Set unterschiedlicher Methoden. Diese Methoden werden vier verschiedenen Phasen zugeordnet. In der ersten Phase liegt der Fokus auf dem Verständnis des Kunden. Zuerst geht es darum zu verstehen. Indem sich das Team empathisch in den potenziellen Kunden hineinversetzt und am Ende dessen Bedürfnisse in ein „Problem Statement“ überführt. Beobachtungen aus verschiedenen Blickwinkeln und Empathie Maps sind die Kernelemente dieser Phase. Mittlerweile existiert eine Vielzahl unterschiedlichster Werkzeuge, die helfen, die Beobachtungen aus der Perspektive des Nutzers zu strukturieren um am Ende zu eine klaren, nutzerorientierten Problembeschreibung zu gelangen.

In der zweiten Phase werden Ideen generiert. Zentral dabei ist die Erkenntnis, dass die Quantität und Qualität neuer Ideen durch zusätzliche externe Stimuli gesteigert werden kann, weswegen diese in den meisten Brainstorming-Varianten Einzug gehalten haben. Entsprechend finden sich in den Ideation Werkzeugkästen des Design Thinkings viele Ansätze, die diesen frühen Phasen auf die Visualisierung der Lösungen setzen. Die dabei erarbeiteten möglichen Lösungen werden in der dritten Phase des Experimentierens prototypisch umgesetzt. Diese Prototypen können viele Formen annehmen, von einfachen Papierskizzen bis zum Clickdummy – wichtig ist, dass die Lösungen so greifbar wie möglich gemacht werden, um möglichst realitätsnahes Feedback zu erhalten (Kelley, 2016).

In der vierten Phase geht es dann darum die erarbeitete Lösung zu testen und zu überprüfen, ob die ausgedachte Lösung auch tatsächlich ein relevantes Kundenbedürfnis intelligent auf ansprechende Art lösen kann und zudem eine attraktive Erfahrung für den Nutzer bietet (Kelley, 2016).

Mittlerweile wurde Design Thinking vielfach aufgegriffen, sodass zum Zeitpunkt des Verfassens über 6000 Bücher zu diesem Thema auf Amazon und 16.000 Präsentationen auf SlideShare zu finden sind. Auf der einen Seite kommen ständig neue Tools in den Werkzeugkasten und auf der anderen Seite entstehen viele Prozesse, welche auf den Ideen des Design Thinking aufbauen und Vorschläge liefern wie Teams innovative Produkte oder Lösungen entwickeln können.

Der wohl bekannteste Prozess ist der Design Sprint von Google, welcher im Jahre 2016 von Jake Knapp in dem Buch „Sprint“ publiziert wurde. Dort beschreibt Knapp, wie ein crossfunktionales Team aus Designern, Technikern Marketing- und Fachexperten in 5 Tagen einen Prozess durchläuft an dessen Ende eine von den potenziellen Nutzern validierte Lösung steht (Knapp, 2016).

Um die Grundidee von Kelley zu veranschaulichen, beziehen wir uns im Folgenden auf den Double Diamond Prozess, welcher im Jahre 2004 vom British Design Council eingeführt wurde. Der Prozess wurde intern entwickelt, um kreative Arbeiten aus den unterschiedlichsten Bereichen zu vereinen und zu konkretisieren. Abb. 6.14 stellt dar, wie sich das divergente und konvergente Vorgehen abwechselt, um in einem iterativen Prozess durch die einzelnen Phasen zu führen, an dessen Ende eine validierte Lösung steht (British Design Council, 2004).

Abb. 6.14
figure 14

Double Diamond nach Britisch design Council

Im Sinne der Customer Centricity ist das Lösen individueller Kundenbedürfnisse das zentrale Erfolgsprinzip und Design Thinking ein Ansatz, um diese Bedürfnisse möglichst schnell zu identifizieren und Lösungen dafür zu entwickeln. Dies geschieht am effektivsten durch den frühen, direkten Kontakt mit den potenziellen Kundengruppen. Vielen etablierten Unternehmen fällt dies schwer, da dieser frühe Kontakt ungewohnt ist und Mitarbeiter sich dabei typischerweise außerhalb ihres Komfortbereichs bewegen, da sie mit ungewohnt wenig Wissen auf Kund*innen zugehen müssen. Gleichzeitig ist dieses Vorgehen im Kontext von AAL umso bedeutsamer, da die Zielgruppe besondere Bedürfnisse ausweist, die häufig übersehen werden (Schelisch & Spellerberg, 2012).

Während Design Thinking darauf abzielt, Kundenbedürfnisse zu identifizieren und zu lösen, wird geht der Anspruch beim Konzept der Customer Centricity darüber hinaus: die erarbeiteten, individuellen Lösungen sollen den Profit maximieren.

Von der Idee zur validierten, marktfähigen Lösung.

In den letzten Jahren sind viele AAL-Pilotprojekte entstanden, die sicherstellen, dass die entwickelten Lösungen die Bedürfnisse und Probleme der Betreuten und Betreuenden lösen. Damit sich diese Lösungen verbreiten, müssen jedoch ganzheitliche, profitable Geschäftsmodelle am Markt etabliert werden. Gerade innovative Geschäftsmodelle werden als Lösung für das Dilemma der stark steigenden finanziellen Anforderungen und der geringen Marktdurchdringung identifiziert (Deutsch & Deiters, 2011; Horneber et al., 2011; Rong, 2008). Um von einem validierten Nutzenversprechen zu einem ganzheitliches Geschäftsmodell zu gelangen, müssen jedoch weitere Dimensionen erarbeitet und validiert werden.

Geschäftsmodelle, Effectuation und Lean Startup

Nach Gassmann et al. (2014) besteht ein Geschäftsmodell aus vier Dimensionen (siehe Abb. 6.15). Im Zentrum steht der Kunde und dessen Bedürfnisse (Wer). Darauf aufbauend stellt das Nutzenversprechen dar, was dem Kunden angeboten wird, um dessen Bedürfnisse zu erfüllen (Was). Diese beiden Dimensionen werden mittels des Design Thinking Vorgehens detailliert erarbeitet und überprüft (Gassmann et al., 2014).

Abb. 6.15
figure 15

Das Magische Dreieck des Geschäftsmodells. (Gassmann et al., 2014)

Um das Nutzenversprechen und damit die Lösung jedoch profitabel umzusetzen, muss ein Unternehmen zudem die Erbringung der Leistung sicherstellen: Unternehmen müssen bestimmte Prozesse und Aktivitäten ausführen, ihre Ressourcen und Fähigkeiten einsetzen und ihre Partner*innen in der Wertschöpfungskette koordinieren (Wie). Hierzu gehört ebenfalls die Integration der Lösung in das (Gesundheits-) Ökosystem. Nicht zuletzt müssen Kostenstruktur, Preismodell und Erlösströme definiert und getestet werden, um eine profitable Lösung zu gewährleisten (Warum).

Die Komplexität und damit die Ungewissheit dieser Geschäftsmodelle wird durch die starke Regulierung, die Multidimensionalität der Kostenträgerlandschaft und die Vielschichtigkeit der Kunden- bzw. Nutzergruppen im Gesundheitswesen erhöht. Diese Innovationsbarrieren werden vielfach unterschätzt (Horneber et al., 2011).

Herausforderungen sind beispielsweise, dass ältere Menschen trotz hoher Qualitätsanforderungen ein beachtliches Interesse an günstigen Dienstleistungen zeigen – was sich nur über neuartige Preismodelle realisieren lässt (Osl et al., 2010). Um dies zu erreichen, sind partizipative, sektoral übergreifende Modelle, welche medizinische und pflegerische Leistungserbringen und kommerzielle Industriepartner effektiv vernetzen, von entscheidender Bedeutung (Deutsch & Deiters, 2011; Rong, 2008).

Entscheidend ist somit, über den kundenorientierten Entwicklungsansatz hinaus Geschäftsmodelle innerhalb der Komplexität des Systems so schnell und günstig wie möglich zu validieren. Neue Geschäftsmodelle zu etablieren bedeutet jedoch inhärent, unbekannte Wege zu gehen. In einem derartigen Umfeld verhalten sich sowohl Kund*innen als auch Wettbewerber, Partner*innen und Regulatoren unvorhersehbar.

Typische Projektmanagement-Methoden greifen in einem solchen Umfeld nicht, da Unternehmen nicht auf Erfahrungswerte und etablierte Lösungen zurückgreifen können. Um sich der Lösung dennoch strukturiert zu nähern, müssen zielgerichtet die Ungewissheiten im Geschäftsmodell reduziert werden. Ein in der Praxis erfolgreicher Ansatz ist die durch Saras Sarasvathy entstandene Methode der Effectuation (Sarasvathy, 2009). Im Gegensatz zu den zielorientierten, bewussten Entscheidungsfindungsprozessen (Causation-Modelle), basieret die Effectuation-Logik darauf, dass Unternehmen mit einem allgemeineren Ziel starten und dieses dann unter Einsatz der zur Verfügung stehenden Ressourcen versuchen zu erreichen. Dabei ist das Gesamtziel zu Beginn nicht klar umrissen, wodurch das Vorhaben flexibel genug bleibt, um auf Umwelteinflüsse und Hindernisse zu reagieren. Derartige Vorkommnisse werden als Lernprozess begriffen und führen entsprechend zur Anpassung des Vorhabens (Sarasvathy, 2009).

Der Schlüssel zur Vermeidung unnötiger Ressourcen- und Zeitverschwendung für die Ausarbeitung eines Geschäftsmodells liegt in einer der Effectuation Logik folgenden Überprüfung der wichtigsten Aspekte dieses Modells. Auf diese Weise erhalten Unternehmen schnelles Feedback von Kundschaft, Anwendern und Partner*innen über die Machbarkeit des Modells. Wie Eric Ries in seiner Lean Startup Methodik (siehe Abb. 6.16) zeigt, ist für die Überprüfung gesamter Geschäftsmodelle die Identifikation und Validierung kritischer Annahmen durch den Build-Measure-Learn Loop entscheidend (Ries, 2011).

Abb. 6.16
figure 16

Build-Measure-Learn Loop nach Eric Ries. (Ries, 2011)

Die Entwicklung eines neuen Geschäftsmodells umfasst viele solcher Annahmen: angefangen bei den vermuteten Kund*innen und deren Bedürfnissen, welche mittels des Design Thinking Ansatzes bereits überprüft werden, über die eigene Fähigkeiten und benötigten Partner*innen zur Leistungserbringung, der Integration in das (Gesundheits-) Ökosystem, bis hin zu akzeptierten Preisen und damit verbunden Bezahlmodellen. Diese systematische Validierung bzw. Falsifizierung der erarbeiteten Annahmen bildet die Grundstruktur für die Implementierung neuer Geschäftsmodelle.

Erfolgreiche Implementierung von AAL-Geschäftsmodellen

Aus diesem Vorgehen ergibt sich, dass nach der erfolgreichen Durchführung des Design Thinking Prozesses die Geschäftsmodelldimensionen Wie und Warum noch nicht detailliert und validiert worden sind. Wie zuvor, sollten hier die zu erreichenden Ziele und die zugrunde liegenden Annahmen frei formuliert werden, sodass im weiteren Verlauf auf neu entdeckte Kundenwünsche flexibel reagiert werden kann. Diese Flexibilität impliziert, dass nicht mit festen Renditeerwartungen, sondern mit tragbaren Verlusten kalkuliert werden sollte: in festen Zeitintervallen werden zu erreichende Meilensteine festgesetzt, die explizit zu erwartende Lerninhalte definieren. Basierend auf den gewonnenen Erkenntnissen wird der weitere Verlauf der Exploration geplant bzw. bisheriges angepasst und im Zweifel die entsprechenden Phasen wiederholt (Iteration) (Abb. 6.17).

Abb. 6.17
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Vereinfachte Darstellung des Zusammenhangs von annahmenbasierter Geschäftsmodellentwicklung und Design Thinking

Die Zahlungsbereitschaft der Kund*innen erst nach dem Design Thinking Prozess zu überprüfen, fällt vielen Unternehmen schwer, da dies aus ihrer Sicht der entscheidende Aspekt ist. Letztlich ist jedoch das direkte Interesse des Kunden, welches in den vorherigen Phasen überprüft wird, der bis dahin beste Hinweis darauf, dass ein profitables Geschäftsmodell gefunden werden kann. Erst wenn die Lösung ausgereift genug ist und klar kommuniziert werden kann, was genau angeboten wird, kann eine erste belastbare Einschätzung der Zahlungsbereitschaft erfolgen. Ansonsten laufen Unternehmen Gefahr, unspezifische Zustimmung aus den vorherigen Phasen zu stark zu gewichten und dann zu schnell zu viel zu riskieren. Gerade im komplexen und regulierten Gesundheitswesen ist die Erarbeitung neuartiger Lösungen mit allen Stakeholdern und Kostenträgern eine besondere Herausforderung, die nur bewältigt werden kann, wenn der zu erwartende Nutzen für alle Beteiligten deutlich gemacht werden kann.

Im Anschluss an diese Validierung kann über die Erkenntnisse aus der prototypischen Nutzung, den zu erwartenden Zahlungsströmen, sowie der Auswahl und Integration der Partner*innen in der Wertschöpfungskette die skalierbare und profitable Produktion bzw. Erbringung der Lösung ausgearbeitet werden. Pilotlösungen liefern in dieser Phase belastbarere Erkenntnisse zur tatsächlichen Leistungserbringung und Verbesserung des Angebots, ermöglichen konkrete Nachweise der Effektivität der Lösung und erlauben es, die Leistungserbringung im komplexen Gesundheitsökosystem zumindest abschnittsweise zu verproben.

Im letzten Schritt vor dem Markteintritt muss festgelegt werden, wie ein Erfolg des Geschäftsmodells überhaupt aussieht und gemessen werden kann. Hier können typische Wachstums- und Finanz-Kennzahlen ausreichen, aufgrund des strategischen Charakters neuer Geschäftsmodelle sind jedoch Aspekte wie Synergieeffekte und Skalierungspotenziale ebenfalls wichtige Faktoren. Ebenfalls muss sichergestellt werden, dass die dafür zuständige Organisation fähig ist, die neugeschaffene Lösung effizient anzubieten, was Aspekte wie die Organisationsform, Prozesse, Unternehmenskultur, Mitarbeiterqualifikationen und Managementfähigkeiten umfasst.

Selbstverständlich handelt es sich bei der Annahmen basierten Geschäftsmodellentwicklung nicht um einen linearen Prozess: das Vorgehen ist grundsätzlich iterativ, da sich typischerweise einige Annahmen als falsch herausstellen und neue hinzukommen, wodurch das zugrunde liegende Geschäftsmodell angepasst und die neuen bzw. geänderten Annahmen überprüft werden müssen. Die systematische Reduzierung der Ungewissheit erlaubt es Unternehmen, zu Beginn kostengünstig viele Optionen zu verfolgen und schrittweise die besten Alternativen auszuwählen. Somit wird bei der zu Beginn inhärent hohen Ungewissheit von innovativen AAL-Geschäftsmodellen vermieden, zu früh zu viel Zeit und Ressourcen zu investieren.

Das Ziel zukünftiger AAL-Pilotprojekte sollte somit sein, nicht nur die technische Machbarkeit zu überprüfen, sondern schrittweise die Gesamtheit von AAL-Geschäftsmodellen unter den Gesichtspunkten der Customer Centricity zu validieren.

Zusammenfassung

AAL zielt grundsätzlich auf die Verbesserung der Lebensqualität und den Erhalt der selbstbestimmten Lebenszeit ab. Damit liegt der Fokus inhärent auf der Lösung von Problemen von älteren beziehungsweise eingeschränkten Menschen und stimmt mit dem grundlegenden Ziel von Customer Centricity, der individuellen Bedürfnisbefriedigung der Zielgruppe, überein. Die übereinstimmend mit den Zielen von Customer Centricity entwickelten Prozesse und Werkzeuge wie Design Thinking erlauben es, auf kreative Weise neuartige Lösungen zu generieren, die auf die Verbesserung der Lebensumstände von älteren und eingeschränkten Menschen unter aktiver Einbeziehung dieser selbst abzielen. Die Adressierung dieser Probleme resultiert jedoch nicht per se in Lösungen, welche am Markt Bestand haben. Hierfür müssen ganzheitliche Geschäftsmodelle erarbeitet werden, welche sowohl die Probleme lösen als auch im Rahmen des Gesundheitswesens profitabel angeboten werden können. Die ganzheitliche Entwicklung derartiger Geschäftsmodelle Bedarf eines Vorgehens, das von Beginn an die Ungewissheiten solcher Unterfangen adressiert. Annahmenbasierte Geschäftsmodellentwicklung ist ein systematisches Vorgehen, dass es ermöglicht, die Ergebnisse von Design Thinking Ansätzen und Pilotprojekten in einem ganzheitlichen Rahmen weiterzuentwickeln. Damit kann sichergestellt werden, dass zukünftige AAL-Lösungen die Bedürfnisse von älteren und eingeschränkten Menschen nicht nur im Rahmen von Einzelprojekten erfüllen, sondern sich am Markt etablieren und damit allen zur Verfügung stehen.

6.6 Das Zusammenspiel von gesundheits- und alltagsbezogenen Lösungsansätzen – die Chancen eines virtuellen Dorfmarktplatzes für eine optimale Gesundheitsversorgung

Was sind die Herausforderungen?

Die zunehmende Zahl der Menschen über 65 Jahren in der Gesellschaft ist unbestritten (DeStatis, 2020; Generali Deutschland AG, 2017). Alternative Versorgungsangebote werden benötigt, um die Auswirkungen des demografischen Wandels und des Fachkräftemangels abzumildern (SVR, 2014). Je älter ein Mensch wird, desto mehr nimmt sein Wirkungs- und Aktionsradius ab. Das führt dazu, dass sein Lebensraum sich auf die mittel und unmittelbare (Wohn-)Umgebung konzentriert und somit eine hohe Bedeutung für diese Person einnimmt (Deutscher Bundestag, 2016). Der Wunsch der älteren Bürger*innen so lange wie möglich im eigenen zu Hause wohnen zu bleiben ist elementar (Seeling & Blotenberg, 2017). Hinzu kommt, dass diese Zielgruppe sich regional durch Übernahme von Sorgestrukturen und Mitverantwortung für das Gemeinwohl engagiert. Somit hängen Lebensqualität und Teilnahme dieser Menschen von regionalen Strukturen ab. Die Versorgung durch familiäre Netze ist nicht mehr selbstverständlich, aus persönlichen oder beruflichen Gründen zeigt sich hier eine Veränderung. Dementsprechend bedarf es der Konstitution eines regionalen Sorge- und Unterstützungsnetzwerks (Deutscher Bundestag, 2016).

Zum Erreichen des Wunsches so lange wie möglich zu Hause wohnen zu bleiben sollten weiterführende Unterstützungsangebote von den Bürger*innen genutzt werden. Dies betrifft z. B. die Inanspruchnahme von ambulanten Pflegediensten, den Zukauf von Dienstleistungen wie Essen auf Rädern oder Haushaltshilfen; ebenso Angehörige, Freunde oder Nachbarn um Hilfe zu bitten. Des Weiteren könnten die Freizeitangebote von Mehrgenerationenhäusern oder eine Tagespflege notwendig sein. Solche Hilfsangebote sind nicht im Blick der potenziellen Hilfebedürftigen. Dabei wird die Techniknutzung durchaus als Erleichterung im Alltag gesehen, um den gewohnten Lebensstandard beizubehalten oder auch zu erhöhen. Bisher beschränkt sich die technische Affinität der Bürger*innen allerdings auf die Informationsbeschaffung, z. B. Wegbeschreibungen im Internet, und erleichterte Kommunikation, z. B. Telefonate mit den Angehörigen (Seeling & Blotenberg, 2017). Hier liegt der Ansatz für die Chance zur Anwendung von technischen gesundheits- und alltagsbezogenen Unterstützungsmöglichkeiten, denn oftmals fehlt das Wissen über die Existenz und die Verwendung von neuen, digitalen Versorgungs- und Unterstützungsmöglichkeiten. Ambient Assisted Living (AAL) Systeme sind den Befragten größtenteils nicht bekannt, werden aber in Bezug auf das tägliche Leben als relevant eingeschätzt. Da die Angst vor dem Neuen und Unbekannten, vor der Anonymisierung durch Technik sowie ein hoher Informationsbedarf bzgl. Nutzen und Handhabung erkennbar ist, sehen Expert*innen gesundheits- und technikbezogene Versorgungskonzepte mit einem frühzeitig ansetzenden Präventionsgedanken als regionale Lösungsansätze (Haupeltshofer et al., 2019).

Es zeigt sich eine Veränderung in der Fachlichkeit von Pflegenden. Seit 2020 ist ein Pflegestudium legalisiert und bringt somit Pflegefachfrauen und -männer mit wissenschaftlichen Kompetenzen für eine hochkomplexe Versorgung von Menschen in das Tätigkeitsfeld (PflBRefG, 2017). An deutschen Hochschulen/Universitäten werden in Modulhandbüchern hauptsächlich undefinierte, allgemeine Begriffe wie Technologieeinsatz in der Pflege, digitale und technologische Aspekte in der Gesundheitsbranche, elektronische Dokumentation in der Pflege und Telemedizin genutzt, um die technologiebezogenen Lerninhalte zu beschreiben.Footnote 1 In Österreich und der Schweiz werden dagegen feste Begriffe wie Medizinische Informatik (MI) und Pflegeinformatik (NI) für die eher pflegebezogenen Studienrichtungen und somit potenziellen Handlungsfelder verwendet.Footnote 2 Die Fachkommission nach dem Pflegeberufegesetz (2020) gibt Hinweise darauf, wie E-Kompetenzen in der Pflege vermittelt werden sollten. Studierende des Bachelorstudiengangs Pflege dual (Hochschule Osnabrück, 2020) erlernen am Campus Lingen von Beginn an den Umgang mit digitalen Lösungsangeboten, sodass sie mit diesen vertraut sind und sie optimal nutzen können. Dazu gehören z. B. die Nutzung eines Living Labs, Smart Home Showroom Einweisungen oder die Einführung in technisch unterstützte Hilfsmittel wie E-Rollatoren. Auch die Funktionen einer persönlichen, digitalen Gesundheitsakte (E-Akte) werden gelehrt sowie deren Vor- und Nachteile diskutiert. Vitabook ist bspw. eine frei verfügbare App zur Nutzung des Netzwerkes zwischen Haus ärztin*Arzt und Apotheke, um sich ein Rezept ausstellen und ein Medikament ausgeben zu lassen.Footnote 3 Diese ist unter den aktuellen Beschränkungen durch die Corona-Pandemie in Deutschland (RKI, 2020) und die zu schützende Zielgruppe hoch relevant. Die Nutzung von Living Labs, im Rahmen dessen die Studierenden das Zusammenspiel der einzelnen Funktionen solch einer App erproben und diskutieren können, ist wichtig, sodass sie als Gatekeeper den Nutzen nachvollziehen und die Anwendung eigenständig weitergeben können.

Was ist eine Lösung?

Die präventive Ausrichtung von Pflege setzt genau an dieser Zielgruppe an, um den Verbleib in der eigenen Häuslichkeit, Erhaltung des funktionalen Status und der definierten Lebensqualität bzw. die gewollte Mitverantwortungsübernahme durch Ehrenämter, unabhängig von der persönlichen Gesundheitsbilanz, zu ermöglichen. Prävention ist ein Tätigkeitsfeld für den Bachelor Pflege, welcher nun gesetzlich legalisiert, aber in der Gesundheitsversorgung noch nicht verortet ist. Es wird eine pflegebasierte, kompetente, präventiv ausgerichtete und kommunale Sorgeverantwortung durch einen Bachelor Pflegefachfrau/-mann fokussiert, sodass die Gesundheitsversorgung mithilfe der digitalen Unterstützung optimal umgesetzt werden kann. Das Präventive Gesundheitsmanagement in der Kommune würde demnach real und virtuell als deren Aufgabenfeld im Sinne einer „Prevention Nurse“ (PrN) ausgeführt, da sie die ersten Ansprechpartner zu den Themenbereichen Gesundheit und Krankheit sind.

Ein gesundheitsbezogenes Versorgungskonzept kann bspw. durch eine digitale Softwarelösung unterstützt werden, um einen kontinuierlichen Zugang zu Informationen und Dienstleistungen zu schaffen, unabhängig von Zeit und Ort. Solch ein um technische Unterstützung erweitertes Konzept wird Auswirkungen auf das (Wieder-)Erlangen der Selbstbestimmung der älteren Bürger*innen haben, demnach sollte es zukünftig weiter in den Fokus von Wissenschaft und Praxis gelangen. Eine Herausforderung ist jedoch, dass diese Tätigkeitsfelder einer PrN in der Gesellschaft noch nicht präsent sind. Es ist aber gewünscht sie in Anspruch zu nehmen, da die Bürger*innen darin einen hohen Nutzen vermuten. Diese Vermutung entsteht aus der veränderten Lebensart heraus, gepaart mit dem Wunsch des Verbleibes in der Häuslichkeit und des vertrauten sozialen Netzes.

Die Zielgruppe zeigt seit ein paar Jahren mehrheitlich eine optimistische, aktive und motivierte Lebenshaltung und diese Ressource gilt es für die Gesellschaft wahrzunehmen (Generali Deutschland AG, 2017).

Was bietet ein virtueller Dorfmarktplatz?

Ziel ist, das analoge Zusammenspiel von gesundheits- und alltagsbezogenen Versorgungskonzepten mithilfe einer digitalen Unterstützung als Lösung für eine optimale Gesundheitsversorgung auf regionaler Ebene zu ermöglichen, was auch im 7. Altenbericht (Deutscher Bundestag, 2016) empfohlen wird. Es bedarf veränderter Versorgungs- und Partizipationsstrukturen für die älteren Bürger*innen, besonders in ländlichen und strukturschwachen Regionen.

Das gesellschaftlich erforderliche Sorge- und Unterstützungsnetzwerk funktioniert primär durch die Personen, die bereit sind sich gesellschaftlich zu engagieren. In einem sehr begrenzten Quartier ist der persönliche Kontakt dominierend und auch zu pflegen. Die Ländlichkeit dagegen zeigt lange und weitläufige Wege, um miteinander in persönlichen Kontakt zu treten. Dazu bedarf es einer Mobilität, etwa selber durch die Nutzung von einem Auto bzw. dem öffentlichen Nahverkehr. Für Personen, die ihren Wohnort in der Ländlichkeit haben, ist es eine Selbstverständlichkeit solange sie körperlich dazu in der Lage sind diese Mobilität autonom zu nutzen. Beim Auftreten von körperlichen Einschränkungen (z. B. eingeschränkte Sehfähigkeit, Sensibilitätsstörungen in den Extremitäten) ist der Prozess dieser eigenverantwortlichen Mobilität gestört. Ein weiterer Grund könnte das Fehlen von einem Führerschein sein, was erst nach dem Tod eines Ehepartners zum Tragen kommt. Dieser Umstand, gepaart mit dem nicht in der Lage sein den öffentlichen Nahverkehr zu nutzen, ist eine potenzielle soziale Isolation bzw. ein Rückzug aus der Gesellschaft nahbar. Hier greift die technische Vernetzung, um eine soziale Teilhabe mit den oben geschilderten Störungen weiter oder fortan zu gewähren.

Der virtuelle Dorfmarktplatz (vDM) wurde unter Beachtung der aktuellen deutschen Ethik- und Datenschutzrichtlinien entwickelt.Footnote 4 Dieser stellt gesundheits- und alltagsbezogene Unterstützungsmöglichkeiten digital in Form von Widgets bereit (Abb. 6.18). Ein Vorteil ist, dass er von verschiedenen Personen genutzt werden kann. Hier werden regionale Angebote wie die vom örtlichen Mehrgenerationenhaus, der regionalen Nachrichten, der öffentlichen Verkehrsmittel platziert. So bietet sich die Vernetzung zur Teilhabe und Alltagsunterstützung im ersten Schritt an. Ältere Menschen bringen aufgrund von manifester Chronizität schon gesundheitliche Einschränkungen mit und hätten hier vor allem den Vorteil ihre Gesundheits- und Diagnostikergebnisse zu bündeln. In diesem Beitrag liegt der Blick primär auf der Nutzung der Gesundheitsdaten bzw. Diagnostikergebnisse. Diese sind auf dem vDM innerhalb der gesundheitsbezogenen Widgets möglich zu bündeln.

Die Rechte an den persönlichen Gesundheitsdaten obliegen stets dem Bürger*in, welcher seine Daten aktiv für weitere Akteur*innen (z. B. Hausärztin*Arzt, Physiotherapeut*in, Angehörige, etc.) freischalten kann. Jede*r Nutzer*in auf dem vDM kann den Zugriff auf seine Daten durch verschiedene Beteiligte individuell freigeben. Dabei können spezielle Daten freigeschaltet werden oder auch einzelne Widgets. Die Abb. 6.18 zeigt beispielhaft unterschiedliche Widgets, unterteilt in alltags- und gesundheitsbezogene. Jedes Widget kann einzeln mit Daten (z. B. Termine und Terminerinnerungen, Vitalwerte, Routinedaten) gespeist werden.

Abb. 6.18
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(Eigene Darstellung)

Darstellung von verschiedenen Widgets auf dem virtuellen Dorfmarktplatz.

Wie interagieren die gesundheitsbezogenen Widgets auf dem virtuellen Dorfmarktplatz?

Auf dem vDM sind Widgets speziell für den Bereich der Gesundheitsversorgung platziert (Abb. 6.19), um für die Zukunft eine individuelle Gesundheitsversorgung mit Unterstützung durch die Technik zu konzipieren. Das heißt, dass z. B. Beratungsangebote wie Präventive Hausbesuche, die persönlich in Anspruch genommen werden, mithilfe eines Widgets auch nach dem Gespräch eng und unabhängig vom nächsten Termin begleitet werden können. Anwendungsorientierte Beispiele sind, dass die PrN über das AAL/Smart Home System auf dem vDM die Heizung steuern kann, um im Winter das Badezimmer für das Duschen am Morgen vorzuheizen, ebenso könnte ein Sturzereignis direkt an den Notdienst weitergegeben werden. Zudem kann eine Datenweitergabe im Rahmen der Gesundheitsversorgung (Überleitungsbogen, Arztbriefe, Onlinerezepte, Inhalte über Beratungstermine etc.) initiiert werden.

Abb. 6.19
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(Eigene Darstellung)

Darstellung der gesundheitsbezogenen Widgets.

Die E-Akte kann mittels Sensorik gemessene Vitalparameter digital erfassen. Dazu gehören u. a. Puls, Blutdruck, Atemfrequenz, Sauerstoffsättigung, Blutzucker, deren Werte in der E-Akte abgespeichert werden und wenn gewünscht an andere Personen, z. B. Hausärztin*Arzt, übermittelt werden. Zudem besteht die Möglichkeit Normwerte der Vitalparameter im System zu hinterlegen. Sobald die gemessenen Werte über oder unter diesen Normwerten liegen wird ein Warnhinweisen ausgesandt, sodass zeitnah interveniert werden kann. Wenn möglich durch die betroffene Person selbst oder durch Angehörige, Ärzt*innen etc. Zudem bietet die E-Akte die Möglichkeit sich an Vorsorgeuntersuchungen und das Auffrischen von Impfungen erinnern zu lassen. Dies kann besonders vorteilhaft sein, wenn solche Termine gerne vor sich hergeschoben werden.

Wichtig bleibt jedoch, dass es eine*n Ansprechpartner*in vor Ort geben muss, die bei Fragen wie der korrekten Anwendung und individuellen Unterstützungsmöglichkeiten des vDMs für die Bürger*innen verfügbar ist. Dies verdeutlicht das nachfolgende Szenario.

Ein exemplarisches Anwendungsszenario

Frau Meyer ist 71 Jahre alt, nicht pflegebedürftige Bürgerin der Samtgemeinde Emlichheim im westlichen Niedersachsen. Sie ist pflegende Angehörige ihres Ehemannes und lebt mit ihm in ihrem Einfamilienhaus mit Garten. Familie Meyer hat zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Die Tochter wohnt eine Stunde Autofahrt entfernt, kommt regelmäßig zu Besuch, ist jedoch voll berufstätig und hat selbst zwei Kinder. Frau Meyers Sohn wohnt in Süddeutschland und kommt höchstens drei Mal im Jahr zu Besuch. Da Frau Meyer pensionierte Sekretärin ist, hat sie bereits Erfahrungen im Umgang mit einem Computer und weist eine gewisse Technikaffinität auf.

Frau Meyer benötigt von Zeit zu Zeit immer mehr Unterstützung bei der Versorgung ihres Ehemanns, dem Bewältigen des Haushalts, der wöchentlichen Termine und vor allem über die Termine im Alltag und die gesundheitlichen Bedarfe ihres Ehemannes einen Überblick zu behalten. Sie möchte ihre Tochter nicht weiterhin mehrmals die Woche für die Planung und Umsetzung der Termine wie Arztbesuche und den Wocheneinkauf sowie zur Pflege und Betreuung ihres Ehemannes um Hilfe bitten. Sie benötigt diesbezüglich Unterstützung, möchte diese jedoch über kurz oder lang von extern und nicht wie bisher ausschließlich familienintern erhalten. Aufgrund dessen meldet sie sich beim örtlichen Mehrgenerationenhaus (MGH), das im Ort als unterstützende Institution bekannt ist, und schildert ihr Anliegen. Sie erhält bereits für den nächsten Tag einen Termin und wird zu dem Thema der Selbstständigkeit im Alter und ihrer individuellen Situation zu Hause beraten. Hier wird ihr von einer PrN das Angebot des virtuellen Dorfmarktplatzes vorgestellt. Da sie das Angebot sofort begeistert, da es mehrere ihrer Bedarfe wie die bessere Terminplanung, Überblick verschiedener AAL Funktionen, des Smart Home Systems, einen digitalen Einkaufszettel usw. abdeckt, legt sie noch vor Ort mit der Beraterin ihr eigenes Nutzerkonto an. Zudem verwenden den vDM bereits viele ihrer Nachbarn und Freunde, sodass sie hofft hierüber den Kontakt wieder aufleben zu lassen, den sie in den letzten Monaten aufgrund der zeitlich intensiven Pflege und Betreuung ihres Mannes vernachlässigt hat. Dass der Zugriff über ein Tablet und ein Handy erfolgen kann, ermutigt Frau Meyer den vDM tatsächlich zu nutzen, da sie je nachdem das eine oder andere Technikprodukt in der Handhabung präferiert oder es auch gemeinsam mit der Tochter teilen könnte.

Es werden ihr die Funktionen des vDMs erklärt, und sie trägt bereits ihre ersten Termine selbstständig in den Kalender ein. Zudem lädt sie zu den Arztterminen ihre Tochter mit ein, sodass hier keine weiteren Missverständnisse wie bisher bzgl. der Uhrzeit und des Ortes passieren können. Automatisch werden zeitgleich Terminerinnerungen angezeigt, die einen Folgetermin 6 Monate später als Vorschlag/Platzhalter anzeigen. Sofort spürt Frau Meyer das Gefühl der Erleichterung, da die Organisation von Terminen für sie mittlerweile viel Zeit in Anspruch nimmt. Da das MGH mit dem Senioren- und Pflegestützpunkt Niedersachsen (SPN) zusammenarbeitet werden Frau Meyer durch die Anmeldung auf dem vDM automatisch die Pflegeberatungstermine für Ihren Ehemann und sie angezeigt. Auch erhält sie Terminvorschläge zu den Treffen der Selbsthilfegruppe „pflegende Angehörige“, Kaffee und Kuchen Nachmittage im MGH etc.

Im weiteren Gespräch erfährt sie, dass es als pflegende Angehörige mit Betreuungsvollmacht ebenfalls möglich ist ein Benutzerkonto für ihren Ehemann anzulegen. Hierüber können seine Blutzuckerwerte digital erfasst werden – das passende Blutzuckermessgerät besitzt sie bereits – und automatisch an die Ärzt*innen weitergeleitet werden. Dies erspart Frau Meyer zukünftig das detaillierte Notieren der Werte und die regelmäßige Weitergabe an die Praxis. Des Weiteren ist es eine große Entlastung, dass sie zukünftig über die E-Akte die Rezepte ihres Mannes erhalten und an die Apotheke weiterleiten kann bzw. diese automatisch weitergeleitet werden. Frau Meyers Hausapotheke bietet einen Lieferservice an, daher wird ihr ab sofort der Besuch beim Arzt und der Apotheke bzgl. des Erhalts der Medikamente abgenommen. Für die Kommunikation mit der Kurzzeitpflege, die sie manchmal für die Versorgung ihres Mannes in Anspruch nimmt, wird Frau Meyer ebenfalls durch die digitale Unterstützung des vDMs entlastet. Durch die Freigabe der letzten Gesundheitsdaten und den Überleitungsbogen seines letzten Krankenhausbesuchs liegen zukünftig den Mitarbeiter*innen alle notwendigen Informationen vor, die sie selbst nicht mehr mühselig zusammentragen muss.

In weiteren Treffen im MGH erlernt Frau Meyer die Anwendung und Nutzung aller Vorteile dieser E-Akte, um sie für sich anzuwenden und für ihre Angehörigen, ihren Hausarzt oder auch anderen Anbietern freizuschalten. Hierdurch erlangt sie die Hoheit über ihre eigenen Gesundheitsdaten und entscheidet selbst wem sie diese weitergibt. Frau Meyer kann es kaum glauben, dass sie nun wieder zeitliche Ressourcen aufgrund der technischen Unterstützung des vDMs hat. Sie plant direkt einen gemütlichen Abend mit der Familie und Freunden, um sie an ihrem Glück über den ganz persönlichen Nutzen des vDMs teilhaben zu lassen.

Die Selbstständigkeit, die Frau Meyer durch das digitale Angebot zurückerhält, beeinflusst sie physisch und psychisch. Sie kann wieder mehr Zeit im Garten verbringen ohne sich ständig Gedanken darum zu machen Termine zu verpassen – ihr Handy wird sich schon melden. Das Gefühl ihrem Mann, ihrem Alltag, der Häuslichkeit sowie der Familie und Freunden nicht mehr gerecht zu werden, schwindet von Tag zu Tag, da sie nun – auch unabhängig zur Pflege ihres Mannes – eine*n Ansprechpartner*in im Ort hat. Über den vDM hat sie jederzeit auf Angebote wie Information über eine Selbsthilfegruppe für pflegende Angehörige, Vorsorge, Gesundheitseinrichtungen, Ehrenamt, Techniknutzung und weiterführende Informationen Zugriff. So kann der Großteil ihrer ganz persönlichen Versorgungslücken dank der Unterstützung durch Technik geschlossen werden. Aufgrund dieser individuellen Beratung wird Frau Meyer das eigenständige und selbstbestimmte Leben in ihrer gewohnten Umgebung auch zukünftig ermöglicht und einer potenziellen fortbestehenden Überforderung vorgebeugt.

Fazit

Der vDM wurde im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Verbundprojektes „Dorfgemeinschaft 2.0 – Das Alter im ländlichen Raum hat Zukunft“ konzipiert.Footnote 5 Visionär zu sehen wäre, dass die Widgets auf dem vDM zukünftig auch untereinander Daten austauschen und miteinander agieren, sodass die technische Unterstützung eine noch größere Arbeitserleichterung darstellt. Durch das Zusammenspiel der Anbieter vor Ort und der digitalen Unterstützung mittels vDM wird bereits eine Grundlage für ein regionales Sorge- und Unterstützungsnetzwerk geschaffen, welches jedoch durch eine PrN koordiniert werden sollte. Hier würde sich die PrN als Ansprechpartner*in unbedingt anbieten, da sie die Bürger*innen ausführlich beraten, Versorgungslücken identifizieren und schließen kann. Ein*e ansässige Ansprechpartner*in, z. B. verortet in dem vom Gesundheitssystem her unabhängigen MGH oder zukunftsweisend in einem Gesundheitszentrum, würde die Bürger*innen für das Themenfeld der Prävention und Gesunderhaltung im Alter sensibilisieren und das Zugehörigkeitsgefühl jedes Einzelnen stärken. Die Anwendung eines Assessments zur Technikaneignungsstrategie der interessierten Bürger*innen könnte zudem genutzt werden, um die Ängste gegenüber Technik zu identifizieren und in Folge dessen zu reduzieren.

Das langfristige Ziel unter der Nutzung von Technik ist, Gesundheit im Alter zu erhalten, zu fördern und somit auch den Verbleib in der Häuslichkeit bzw. im kommunalen sozialen Ankerpunkt zu ermöglichen. Mit der Integration des vDMs als unterstützendes Element für die Bürger*innen gelingt die Schaffung einer ersten virtuellen und persönlichen Sorgestruktur in der Kommune und Sensibilisierung dieser für neue Aufgabenbereiche. Zudem wird die Bildung eines regionalen Netzwerks von Gesundheitsanbietern mit Blick auf die Bürger*innen, die so individueller betreut werden können, in den Fokus genommen.