Das folgende Kapitel stellt einleitend zentrale Problemfelder vor, die im Forschungs- und Themenbereich Active Assisted Living bereits identifiziert wurden, jedoch bis heute nicht zufriedenstellend gelöst sind. Im Fokus stehen vorhandene Marktbarrieren, die es strategisch und methodisch zu überwinden gilt. Welche Rolle spielt die Benutzerfreundlichkeit für eine nachhaltige Umsetzung, wie können die Entwicklungen finanziert werden und welche Argumente schmälern die großen Hoffnungen in die Technologien? Um den Diskurs zu eröffnen, werden die Herausforderungen bei der Markteinführung von AAL-Lösungen (Beitrag 4.1) analysiert. In einem interessanten Interview mit Vertreter*innen der Kostenträger wird anschließend die Frage der Finanzierungsstrukturen und Kostenübernahme der Technologien verfolgt (Beitrag 4.2). Gerade vor dem Hintergrund der Nutzenbewertung werden diese Entscheidungen die Entwicklungsprozesse maßgeblich prägen. Auch nach einigen Jahren der Pilotierung und Projektierung zeigt sich in der praktischen Anwendung mitunter eine Zurückhaltung professioneller Akteur*innen welche sich hinderlich auf Innovationsprozesse auswirken kann. Hier wird der Frage nach den Gründen für die Zurückhaltung, Skepsis oder gar Ablehnung in der Implementierung neuer Systeme nachgegangen (Beitrag 4.3).

4.1 Herausforderungen bei der Implementierung und Markteinführung von AAL-Lösungen

Einführung

Obwohl sich Wissenschaft und Praxis seit einigen Jahren zunehmend mit dem Thema AAL beschäftigen, können sich nur wenige AAL-Technologien auf dem Markt etablieren (Gersch et al., 2010; Offermann-van Heek et al., 2019; Wichert & Eberhardt, 2012). Gründe dafür sind fehlende Geschäfts- und Finanzierungsmodelle, mangelndes Know-how über die Integration von AAL-Lösungen in den Alltag und unzureichendes Wissen über die Bedürfnisse von Kunden und Nutzern (Calvaresi et al., 2017). Die Wissenschaft weist ausdrücklich auf die Bedeutung einer nutzerorientierten, statt einer rein technologieorientierten Entwicklung von AAL-Lösungen hin und betont, wie wichtig es ist, den Endverbraucher in den Entwicklungsprozess von AAL-Technologien einzubeziehen, um die Benutzerfreundlichkeit und Zugänglichkeit weiter zu fördern (Queirós et al., 2015).

Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten über das (Markt-)Potenzial von AAL in Deutschland untersucht dieser Artikel die Besonderheiten und Herausforderungen, die mit der Umsetzung und Markteinführung von AAL-Technologien verbunden sind. Es gibt bereits zahlreiche Studien (Aumayr, 2016; Bozan & Berger, 2019; Calvaresi et al., 2017; Queirós et al., 2015; Zhang et al., 2018; Mayer et al., 2018; Jaschinski et al., 2014), die auf das Potenzial von AAL-Assistenzsystemen und Lösungen zur Verbesserung der Lebensqualität und Gesundheit hinweisen, um der demografischen Entwicklung entgegenzuwirken. Auf der anderen Seite bleiben die Integration und Interoperabilität bestehender Technologien eine große Herausforderung. Im Rahmen dieser Anforderungen zielt die Studie darauf ab, die Hauptursachen zu identifizieren, die die Implementierung und Markteinführung von AAL-Technologien hindern. Die daraus resultierende Forschungsfrage lautet: Welche Faktoren wirken sich negativ auf die Implementierung und Markteinführung von AAL-Lösungen aus? Das Ziel der Untersuchung ist es schließlich, die einzelnen Faktoren zu identifizieren, die sich negativ auf die Umsetzung und Markteinführung von AAL-Technologien auswirken.

Methodik

Um die größten Herausforderungen bei der Umsetzung und Markteinführung von AAL-Lösungen zu identifizieren, wurde ein explorativer Forschungsansatz gewählt. Das Design der Studie basiert auf der qualitativen Forschungsmethodik der Grounded Theory (Glaser, 1998). Die Grounded Theory (GT) ermöglicht die induktive Entwicklung einer Theorie, indem das vorhandene Datenmaterial in einem mehrstufigen Verfahren ausgewertet wird (Glaser & Strauss, 1967, 2017). Im Zuge des Verfahrens wurden die Daten systematisch gesammelt und analysiert (Strauss & Corbin, 1998). Während des Forschungsprozesses, d. h. bei der Identifizierung und Entwicklung von Konzepten, die Bestandteil der zu entwickelnden Theorie sind, können mit der GT verschiedene Phänomene identifiziert werden (Cresswell, 1998; Stern et al., 1984).

Die qualitative Studie umfasst semi-strukturierte Interviews, um von den Expert*innen nützliche Erkenntnisse über die spezifischen Merkmale und Herausforderungen zu erhalten, die mit der Umsetzung und Markteinführung von AAL-Assistenzsystemen und -lösungen in Deutschland vertraut sind. Dazu wurden führende Expert*innen gesucht, die sich sowohl in der Forschung als auch in der Praxis mit dem Thema SmartHome, eHealth und AAL beschäftigen. Die Identifizierung geeigneter Interviewpartner*innen erfolgte anhand einer Liste, die alle Living Labs in Deutschland aufführt. Auf Grundlage dieser Liste, die durch ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördertes Projekt erstellt wurde, gibt es derzeit 98 Living Labs in Deutschland (InnoLab, 2019). Von den 98 Living Labs arbeiten derzeit 48 an dem Thema Smart Home im weitesten Sinne. Nach einer genaueren Recherche der einzelnen Living Labs konnten 15 Institutionen registriert werden, die sich besonders mit dem Thema Active Assisted Living befassen. Für jedes dieser Living Labs wurden geeignete Kandidaten aus den jeweiligen Institutionen und/oder Organisationen für die Experteninterviews identifiziert. Neben der beruflichen und praktischen Erfahrung mit AAL war ein besonderes Auswahlkriterium, dass die jeweiligen Interviewteilnehmer*innen entweder bereits über Forschungsleistungen in Form von wissenschaftlichen Publikationen oder über Berufserfahrung im Sinne einer leitenden Tätigkeit in diesem Bereich verfügen. Dabei konnten insgesamt sieben Teilnehmer*innen für die Studie gewonnen werden, die nicht nur über mehr als fünf Jahre Berufserfahrung verfügen, sondern auch wissenschaftlich anerkannte Forschungsleistungen auf diesem Gebiet erbracht haben. Dadurch waren die gewonnenen Personen nicht nur hoch motiviert, an der Befragung teilzunehmen, sondern verfügten auch über eine entsprechende Expertise in dem zu untersuchenden Forschungsthema.

Zu der Konzeption der semi-strukturierten Experteninterviews ist zu sagen, dass diese empirisch fundierten Forschungsmethoden unterliegt (Qu & Dumay, 2011). So wurden die telefonisch geführten Interviews über Sprachmemos auf einem mobilen Endgerät aufgezeichnet und anschließend transkribiert. Die persönlichen Daten der Expert*innen (Daten zur Person, zum Unternehmen oder zur Institution) werden aus Datenschutzgründen vertraulich behandelt und nur für Zwecke der Studie verwendet, weshalb sie nicht veröffentlicht werden. Ebenso wurden für alle Interviewteilnehmer*innen Pseudonyme (fingierte Namen/Fantasienamen) verwendet. Die Pseudonyme und Arbeitspositionen der Expert*innen sind in Tab. 4.1 aufgeführt.

Tab. 4.1 Pseudonyme der Befragten und Position

Die bisher durchgeführten Interviews wurden einzeln transkribiert, um das Datenmaterial der semi-strukturierten Expertenbefragungen auswerten zu können. Für die Datenanalyse wurde die Codierungsmethode von Strauss und Corbin verwendet (Strauss & Corbin, 1998). Diese Methode basiert auf einem stringenten System (siehe Abb. 4.1), das in eine offene, axiale und selektive Kodierung unterteilt ist (Corbin & Strauss, 1990).

Abb. 4.1
figure 1

Iterativer Prozess der Kodierungsmethode

Forschungsmodell und Ergebnisse

Nach der Analyse der empirischen Daten (mit der Methode der Grounded Theory) konnten verschiedene Einflussfaktoren identifiziert werden. Die Ergebnisse der Expertenbefragungen zeigen folglich wiederkehrende Begriffe und Argumente, welche sich speziell auf die Herausforderungen im Zusammenhang mit der Implementierung und Markteinführung von AAL-Lösungen beziehen. Die von den Expert*innen erwähnten Herausforderungen und deren Häufigkeit sind in Tab. 4.2 aufgeführt.

Tab. 4.2 Häufigkeiten der von den Expert*innen genannten Kategorien

Die in Tab. 4.2 aufgeführten Ergebnisse der Experteninterviews zeigen, dass sechs Expert*innen die beiden Kategorien bzw. Konstrukte „Akzeptanz“ und „Customization“ als größte Herausforderungen im Zusammenhang mit der Implementierung und Markteinführung von AAL-Lösungen sehen. Während fünf Expert*innen die „Usability“ und die „Integrationsfähigkeit“ als weitere Barriere angeben, sehen nur vier Expert*innen den „Datenschutz“ und die anfallenden „Kosten“ als Hindernis. Im Folgenden werden die verschiedenen Einflussfaktoren (Usability, Akzeptanz, Datenschutz, Integrationsfähigkeit, Customization und Kosten), unterlegt mit direkten Zitaten der interviewten Expert*innen, beschrieben. Alle Aussagen der Expert*innen sind direkt (wortwörtlich) übernommen worden.

Usability

In engem Zusammenhang mit der an den Nutzer angepassten Funktionalität steht das entsprechende Design und damit die Struktur und Benutzerfreundlichkeit der jeweiligen Anwendungen. Diese müssen einerseits dem Krankheitsbild und der Hilfebedürftigkeit des Patienten, andererseits aber auch den technologischen Fähigkeiten der Nutzer entsprechen (Wojciechowski, 2011).

Der Experte Martinek betont hierbei: „Systeme müssen benutzerfreundlich sein“ und ergänzt: „AAL-Lösungen sind nicht benutzerfreundlich“. Auch Stefan unterstreicht in diesem Zusammenhang, dass „Techniken nicht so wie geplant funktionieren“. Die älteren Generationen, und damit die Zielgruppe, sind nicht mit intelligenten Anwendungen aufgewachsen. Daher muss diese Zielgruppe von den Vorteilen der Interaktion und einer intelligenten Nutzbarkeit von AAL-Systemen im täglichen Leben überzeugt werden. Für eine erfolgreiche Implementierung von AAL-Lösungen in den Alltag muss diese Hürde überwunden und das Vertrauen der Nutzergruppe gewonnen werden (Costa et al., 2017).

Akzeptanz

Da die Zielgruppe der Nutzer von AAL-Systemen hauptsächlich die älteren Generationen betrifft und diese Gruppe nicht mit digitalen und technologischen Trends aufgewachsen ist, gibt es oft weniger Verständnis. Dies bezieht sich laut Literatur nicht nur auf die Handhabung aktuell vorhandener, technischer Komponenten, sondern auch auf die Akzeptanz neuer Dienste und Lösungen (Bettiga et al., 2019). Die beiden Expert*innen Martinek und Barbara-Sophie weisen wie folgt auf bestehende Ressentiments in Bezug auf AAL hin:

Martinek: :

„Es gibt klare Ängste gegenüber AAL-Systemen!“

Barbara-Sophie: :

„Bei manchen besteht regelrecht eine Angst vor Smart Home und AAL-Lösungen“

Auch Walter sieht derzeit, dass die Akzeptanz gegenüber AAL-Systemen „noch extrem gering“ sei, ist aber der Ansicht, dass die Akzeptanz „von der jeweiligen Lebenssituation, der Notwendigkeit und dem Komfort-Anspruch“ abhängt. Udo-Jürgen ergänzt dabei, dass „je höher die Notwendigkeit zur Verwendung der Technik ist, desto höher die Akzeptanz“.

Auch die ethische Einstellung der Benutzergruppe spielt dabei eine große Rolle. So hat jeder Mensch z. B. eine unterschiedliche Toleranz gegenüber der Nutzung eigener Daten, die für die Nutzung der Systeme zumeist aber notwendig ist. Es ist demnach Sache des Nutzers zu entscheiden, ob er die Nutzung von AAL für ethisch vertretbar hält bzw. wie viele Daten eine Person von sich preisgeben möchte oder nicht (Manzeschke et al., 2013).

Der Experte Sergej gibt aus seiner Erfahrung auch zu erkennen, dass die „Akzeptanz nicht immer so hoch ist, es aber langfristig eine steigende Akzeptanz bei älteren Menschen gibt“. Er ist demnach zuversichtlich, dass „die Ängste im Umgang mit Technologien (…) kleiner“ werden.

Stefan ist zudem der Meinung, dass „wenn [die] Mensch-Technik-Interaktion gelingt, ist Akzeptanz grundsätzlich da“, wobei er zusätzlich das Problem der Akzeptanz im Hinblick auf alle anderen Akteure und Nutzer als die Endnutzer, also den hilfsbedürftigen Menschen, sieht. Er gibt dabei zu bedenken, dass die „Offenheit der Gesundheitsförderer nicht immer gegeben [ist] und Kompetenzen nicht vorhanden [sind]“.

Datenschutz

Auch die Verwendung persönlicher Daten und Informationen weckt Zweifel bei den Anwendern. Diese Zweifel, welche oben genannte Ängste triggern und damit die fehlende Akzeptanz gegenüber AAL-Systemen bestärken, beziehen sich auf die sichere Handhabung von Kundendaten durch Diensteanbieter und Hersteller. Insbesondere im medizinischen Bereich ist die Privatsphäre aufgrund hochsensibler Daten und der möglichen Identifizierung einzelner Personen ein kritischer Faktor (Loi et al., 2019). Da die von den Nutzern zur Verfügung gestellten Informationen auch die Identifizierung von Persönlichkeiten ermöglichen, ist die Einhaltung der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) für AAL-Lösungen besonders wichtig.

Walter fügt in diesem Kontext hinzu: „Insellösungen sind problematisch, d. h. unterschiedliche Produkte von unterschiedlichen Herstellern, insbesondere von Cloud-Lösungen, stellen bei möglichen Cyberangriffen Probleme in der Datensicherheit und im Datenschutz dar“. Auch Martinek meint, die DSGVO „(…) behindert die Entwicklung bzw. Implementierung von AAL-Lösungen in der Praxis“. Auch wenn „(…) der Umgang mit persönlichen Daten manchmal unbedacht ist“, so ist „[d]as Risiko der Privatsphärenverletzung (…) immer gegeben“, erwidert Sergej. Während Birgida hierzu völlig unkritisch sagt: „da es derzeit noch wenige cloudgesteuerte Lösungen [gibt], (…) ist es noch unproblematisch“, ist Stefan der Ansicht, dass es generell „(…) keine Datenschutzbedenken gibt“ und lediglich „(…) vorgeschobene Argumente gegen AAL“ seien.

Integrationsfähigkeit

In Bezug auf die Integrationsfähigkeit zeigt sich, dass bestehende technologische Standards nicht flexibel genug sind, um die Interoperabilität mehrerer Geräte mit AAL-Lösungen zu gewährleisten. So sind ohne eine ausreichende Flexibilität in der Konnektivität, die technischen Geräte nicht in der Lage, optimal zu kommunizieren und zusammenzuarbeiten, um den Nutzer angemessen zu unterstützen (Costa et al., 2017). Dabei ist die Kompatibilität der angeschlossenen Geräte für eine adäquate, individuelle Nutzung unerlässlich.

Walter äußert sich diesbezüglich wie folgt: „Für eine bessere Integrationsfähigkeit sollte das AAL-Produkt bereits in bestehende Anwendungen problemlos integrierbar sein – man will ja beispielsweise nicht mehrere Apps für unterschiedliche Anwendungen nutzen müssen. Leider ist dies aber oft nicht der Fall, weil auch sehr individuelle Produkte benötigt werden.“

Stefan erweitert die Grundproblematik der Integrationsfähigkeit von AAL-Lösungen, indem er zu bedenken gibt, dass es nicht nur auf technischer Seite Herausforderungen gibt. Er ist der Meinung, dass „Nutzer (…) sich einen Kümmerer mit technischer und menschlicher Erfahrung [wünschen]“.

Unabhängig der zahlreichen Anforderungen an AAL-Systemen und der Herausforderung, diese in bereits bestehende Systeme zu integrieren, zeigt sich, dass mit steigender Komplexität von AAL-Lösungen, Schulungen bzw. weiterqualifizierende Maßnahmen, insbesondere des Pflegepersonals, notwendig sind. Der Experte Udo-Jürgen fordert daher: „Das Personal muss ausgebildet sein, um AAL-Lösungen zu nutzen.“

Customization

Da nicht jede hilfebedürftige Person die gleichen Anforderungen an die (medizinische) Versorgung stellt, muss diese genau auf das jeweilige Krankheitsbild bzw. auf die damit verbundenen individuellen Bedürfnisse zugeschnitten sein. So erfordert jede Hilfebedürftigkeit oder gar Behinderung, je nach Grad und Ausmaß, eine ganz unterschiedliche Form der Versorgung bzw. Behandlung (Cavallo et al., 2015). Es gibt demnach kein bestimmtes Schema, das auf jede*n Patient*in Anwendung findet.

Birgida äußert sich hierzu wie folgt: „Flexibilität und Individualisierung sind sehr wichtig, da die Bedürfnisse der betreffenden Menschen sehr individuell sind“. Die Herausforderung „Customization“ bezieht sich folglich auf die Anpassung der AAL-Lösungen an die Bedürfnisse der Nutzer*innen, mit dem Zielkonflikt, sowohl der Standardisierung als auch der Individualisierung der Produkte gerecht zu werden. Um insbesondere den individuellen Anforderungen zu entsprechen, weist Barbara-Sophie darauf hin, dass „AAL-Lösungen (…) vielmehr kundenzentriert sein [müssen]“.

Darüber hinaus ist Stefan der Ansicht, dass „[e]s (…) Anreizsysteme für die Nutzung von AAL-Lösungen [braucht]“. Diese könnten zum Beispiel in der Übernahme von (Teil-) Leistungen bzw. Kosten sozialer Einrichtungen und/oder (Kranken-/Pflege-)Versicherungen liegen.

Kosten

Die Befragung zeigt, dass die Kostenfrage ein herausforderndes Thema ist, wenn es um die Implementierung und Markteinführung von AAL-Systemen geht. Um die Verbraucher und damit hilfebedürftige Personen bei der Anschaffung von AAL-Lösungen finanziell zu unterstützen, verpflichten zahlreiche Expert*innen die öffentlichen Institutionen und Träger auf die demografische Entwicklung und die damit verbundenen Bedürfnisse der Bevölkerung zu reagieren (Zdravevski et al., 2017). Aktuelle Förderprogramme, insbesondere des Bundes, konzentrieren sich aber nach wie vor auf die Finanzierung von Forschung und Entwicklung, nicht auf die Implementierung von AAL-Systemen und -Produkten (Bundesministeriums für Gesundheit, 2019; Wichert et al., 2012). Darüber hinaus werden private Geldgeber nicht in einen Markt investieren, solange dieser nicht lukrativ ist (McMillen & Powers, 2017).

Auch Birgida deutet daraufhin, dass die Übernahme der anfallenden Kosten immer noch als große Herausforderung zu sehen ist, d. h. „[w]er das Ganze bezahlt ist das Problem!“

Udo-Jürgen ist dabei der Meinung, dass „[d]iejenigen, die es benutzen, (…) nicht gleichzeitig diejenigen sein [müssen], die es bezahlen“. Schließlich könnten öffentliche bzw. soziale Einrichtungen Träger der anfallenden Leistungen sein. Wobei Stefan in diesem Zusammenhang das Problem sieht, dass die meisten AAL-Systeme nicht nur wenig standardisierbar und damit auch nicht skalierbar sind, sondern dass der Transfer von AAL-Systemen oftmals so individuell ist, dass es kaum nachweisbare, wissenschaftliche Befunde über den Mehrwert dieser Lösungen gibt, welche aber wiederum wesentlich sind für die Übernahme von Kosten. Stefan zeigt sich deswegen diesbezüglich sehr skeptisch, da der „Transfer [von AAL-Lösungen] in der Praxis sehr aufwendig [ist] – der Nutzen(wert) dagegen [ist] nicht ausreichend wissenschaftlich belegt“. So zeigte die Untersuchung von Calvaresi et al. (2017) beispielsweise, dass ein großer Mangel bestehender Studien im AAL-Themenbereich ist, dass es keine angemessene Bewertung der verschiedenen Lösungen in der Praxis gibt.

Nach der Analyse und Auswertung der empirischen Daten mit GT wurde ein konzeptionelles Modell entwickelt (Abb. 4.2), das im Ergebnis sechs Variablen zeigt, welche die Herausforderungen bei der Implementierung und Einführung von AAL-Lösungen positiv beeinflussen. Das heißt, je höher der erwartete Einfluss eines einzelnen Konstrukts, desto größer ist die damit verbundene Herausforderung einer AAL-Lösung im Hinblick auf den Markteintritt. Mit anderen Worten: je größer die Herausforderungen der sechs vorgefundenen Einflussfaktoren (Usability, Akzeptanz, Datenschutz, Integrationsfähigkeit, Customization und Kosten), desto negativer ist die Auswirkung auf die Implementierung und Markteinführung von AAL-Lösungen, d. h. desto schwieriger ist es, entwickelte AAL-Lösungen auf dem Markt zu etablieren.

Abb. 4.2
figure 2

Konzeptionelles Modell

Schlussfolgerung

Die Untersuchung zeigt, dass Benutzerfreundlichkeit, Akzeptanz, Datenschutz, Integrations- und Anpassungsfähigkeit sowie Kosten große Herausforderungen bei der Implementierung und Markteinführung von AAL-Lösungen darstellen. Das konzeptionelle Modell liefert sechs Konstrukte (Usability, Akzeptanz, Datenschutz, Integrationsfähigkeit, Customizing und Kosten), die die abhängige Variable (Herausforderungen bei der Implementierung und Markteinführung von AAL-Lösungen) beeinflussen. Die Studie richtet sich dabei sowohl an Akademiker als auch an Praktiker, da sie nützliche Informationen über die Herausforderungen bei der Einführung von AAL-Lösungen auf dem Markt und Ansätze zur Überwindung bestehender Markteintrittsbarrieren liefert. Es gilt dabei zu diskutieren, inwieweit die im Zuge dieser Untersuchung identifizierten Herausforderungen tatsächlich einen Einfluss auf die Markteinführung von AAL-Lösungen haben. In diesem Kontext ist vor allen Dingen diskutable, welche der identifizierten Konstrukte einen relativ gesehen höheren bzw. niedrigeren Einfluss nehmen. Ausgehend von den bisher vorgefundenen Studien aus der Literatur (Calvaresi et al., 2017), deutet vieles darauf hin, dass bislang die größten Barrieren in der Überbrückung der einerseits bloßen Orientierung an der Technologie und andererseits der reinen Orientierung an den Bedürfnissen der Interessengruppen liegen. Dies bekräftigt demzufolge insbesondere die Wichtigkeit der Konstrukte Akzeptanz, Integrationsfähigkeit und Benutzerfreundlichkeit. Wohingegen Herausforderungen in der Markteinführung von AAL-Lösungen in Bezug auf die Übernahme anfallender Kosten beispielsweise vernachlässigt werden könnten. Ein Argument für die in diesem Zusammenhang relativ gesehen niedrigere Bedeutung der Kosten als Herausforderung könnte sein, dass erst nach der Markteinführung von AAL-Lösungen Produkte und Dienstleistungen skalierbar und damit erschwinglich für den Kunden sind. So muss, wie die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, davon ausgegangen werden, dass (Teil-) Leistungen bzw. Kosten sozialer Einrichtungen und/oder (Kranken-/Pflege-)Versicherungen erst übernommen werden, wenn entwickelte AAL-Lösungen sich auf dem Markt etabliert haben (McMillen & Powers, 2017).

Die Grenzen der Studie liegen in erster Linie in der Größe der Stichprobe. Mit der Befragung von lediglich sieben Expert*innen war es zwar aufgrund von umfangreichen Interviews und der zugrunde liegenden Datenlage möglich, erste Konstrukte zu bilden und eine Theorie abzuleiten, dennoch kann begründet Kritik geäußert werden, inwieweit einzelne Konstrukte ggf. anderweitig zusammengefasst werden könnten. So zeigen beispielsweise die beiden Konstrukte „Usability“ und „Customization“ im Hinblick auf Individualisierungsmaßnahmen von AAL-Lösungen Schnittstellen und könnten evtl. in einer geeigneten Kernkategorie zusammengefasst werden. Um diese Grenze der Studie zu beheben, bedarf es schließlich eine erweiterte Untersuchung mit einer erhöhten Anzahl an Probanden. Diese Untersuchung könnte zusätzlich über Ländergrenzen hinaus gehen und damit auch internationale Expert*innen einbeziehen. Es ist zu erwähnen, dass dieser qualitative Ansatz zwar eine Theorie mit konzeptionellem Modell liefert, dieses aber zusätzlich quantitativ überprüft und validiert werden muss. Hierzu ist eine hinreichend große Stichprobe von Expert*innen zur Messung des Modells sowie die Operationalisierung der einzelnen Konstrukte notwendig. Zukünftige Forschungsarbeiten, welche sich mit den Herausforderungen bei der Implementierung und Markteinführung von AAL-Lösungen beschäftigen, sollten aber unbedingt auch die Perspektive der Anwendenden einnehmen und letztlich eine Befragung der Nutzergruppe fokussieren.

Darüber hinaus lag das theoretische Ziel darin, die einzelnen Faktoren zu identifizieren, die sich negativ auf die Umsetzung und Markteinführung von AAL-Technologien auswirken. Ein weiteres, praktisches Ziel zukünftiger, wissenschaftlicher Untersuchungen sollte schließlich sein, Handlungsempfehlungen für alle Beteiligten, insbesondere für die Industrie, zu erarbeiten, wie Unternehmen die Barrieren bei der Implementierung und Markteinführung von AAL-Technologien reduzieren und überwinden können.

4.2 Finanzierungsstrukturen-wer bezahlt für AAL?

Bei AAL mit seinen Komponenten Gesundheit, Komfort und Sicherheit ist nicht immer einfach zuordenbar, wie die Kosten übernommen werden können. Die Projekte, Produkte und Dienstleistungen sind sehr vielfältig, teilweise auch in Form von Eco-Systemen angelegt. Selbst ein einfaches Produkt wie etwa ein Rollator kann bereits Finanzierungsgrenzen verwischen oder übertreten. Während ein „Standard Rollator“ von der Krankenkasse übernommen wird, trifft das auf einen höherwertigen und leichten Rollator aus Aluminium nicht zu, dies geht zulasten der Leistungsempfänger. Smart Home Technologien machen es älteren Menschen möglich, länger in der gewohnten Umgebung zu bleiben, aber die Kosten für ein teilweise automatisiertes Heim sind selbst zu tragen, mehr als eventuelle Zuschüsse sind nicht zu erwarten. Und auch die Finanzierungsquellen sind alles andere als übersichtlich. Gesetzliche Krankenversicherung und private Krankenversicherung unterscheiden sich schon systemisch, aber selbst wer privat versichert ist, hatte beim Abschluss die Wahl zwischen einer Vielzahl von Leistungsstufen zu ganz unterschiedlichen Beitragshöhen. Dazu kommt die Pflegepflichtversicherung, die um zusätzliche Lösungen ergänzt werden kann. Andere Maßnahmen, wie etwa der behindertengerechte Umbau eines Badezimmers, werden über die KfW Bank staatlich gefördert. Im Bedarfs- oder Leistungsfall, also wenn Menschen auf Hilfe zugreifen müssen, weil sie pflegebedürftig geworden sind, beginnt die Recherche nach der richtigen Zuordnung: wer bezahlt welche Leistung? Am Ende bleibt immer der eigene Geldbeutel der Leistungsempfänger. Und es stellt sich die Frage: Welchem Geldtopf sind neue Ideen rund um AAL zuzuordnen, die jetzt und in Zukunft entwickelt werden? Wer bezahlt etwa den Pflegeroboter im Heim, wer bezahlt den im Privathaushalt? Wir versuchen wichtige Fragen im Interview mit einer privaten Krankenversicherung zu klären, der Süddeutschen Krankenversicherung.

Die Süddeutsche Krankenversicherung (SDK) mit Sitz in Fellbach bei Stuttgart unterstützt ihre Versicherten dabei, gesund zu bleiben und wieder gesund zu werden. Ein Leben lang, Privatkunden ebenso wie Firmenkunden. Sie wurde 1926 gegründet. Heute bauen rund 630.000 Mitglieder bei der Gesundheit auf die SDK. Mit knapp 837 Mio. EUR Beitragseinnahmen zählt die SDK zu den 15 größten privaten Krankenversicherern in Deutschland. Die SDK ist Partner der Volks- und Raiffeisenbanken in Süddeutschland. 800 Beschäftigte im Innen- und Außendienst sorgen für leistungsstarke Beratung und unkomplizierte Unterstützung. Die SDK ist ein Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit, eine Unternehmensform, die sich an den Interessen der Mitglieder, also der Versicherten orientiert. Dem genossenschaftlichen Gedanken folgend, sind die Versicherten hier gleichzeitig als Mitglieder zu sehen.

Unsere Interviewpartner*innen sind Frau Marina Riecker, Abteilungsleiterin Leistungswesen und Herr Dr. Torsten Grzebiela, Abteilungsleiter Produktmanagement und Wettbewerbsbeobachtung der SDK.

Frau Riecker, Herr Dr. Grzebiela, mal ganz grundsätzlich: Die SDK hat ihre Leistungen mit der Zeit immer wieder angepasst, nicht nur in Form neuer Produkte, sondern auch in Form von Dienstleistungen, beispielsweise in der Betreuung von chronisch Kranken oder in der Prävention. Was außer der Pflegepflichtversicherung bieten Sie in Form von Versicherungsprodukten und Dienstleistungen rund um die Pflege an?

Dr. Grzebiela:

Wir bieten im Kontext Pflege produktseitig spezielle Pflegezusatzversicherungstarife an. Sowohl gesetzlich gefördert als auch ungefördert. Außerdem haben unsere Mitglieder die Möglichkeit, kostenfrei viele Assistance- und Gesundheitsberatungsdienstleistungen rund um das Thema Pflege in Anspruch zu nehmen. Im Kontext Assistance sind beispielsweise die Organisation von Einkaufs- und Haushaltshilfen zu nennen, die Vermittlung von Fahrdiensten zu Ärzten und Behörden, die Organisation von Essenslieferungen, aber auch die Vermittlung von Pflegediensten und Einrichtungen. Wir bieten eine 24 h Service-Hotline für den Notfall sowie eine telefonische Beratung zu vielen Gesundheits- und Pflegethemen an. Im Kontext Pflege ist dies z. B. die Unterstützung bei der Beantragung eines Pflegegrades oder bei der Begutachtung.

Riecker:

In unserer fast 100-jährigen Unternehmensgeschichte haben wir unseren familiären Charakter bewahrt. Unsere älteren und pflegebedürftigen Mitglieder liegen uns am Herzen. Was sie brauchen, sind Lösungen, die einfach zu bedienen sind und wirklich einen Nutzen bringen. Da ist noch nicht so viel auf dem Markt, was diese Qualitätskriterien nachweislich erfüllt. Aber wir halten einen wachen und interessierten Blick auf die Entwicklung.

…ist denn AAL, Active Assisted Living, bisher schon ein Thema im Hause der SDK gewesen? Gibt es möglicherweise schon konkrete Angebote oder Planungen?

Riecker:

Bisher haben wir uns die von der EU und dem Bundesforschungsministerium geförderten Projekte angeschaut und bleiben weiter dran.

Kennen Sie AAL-Lösungen, die es bereits auf dem Markt gibt und welche von Krankenkassen oder anderen Einrichtungen oder Ihren Mitbewerbern übernommen werden? Und wie sehen Sie sich da im Vergleich?

Dr. Grzebiela:

Eine Zusammenstellung von bestehenden AAL-Lösungen und deren konkrete Kostenübernahmen von privaten Krankenversicherungen oder Krankenkassen ist uns nicht bekannt. Wir denken, dass es sich bei AAL um ein Zukunftsthema handelt; eines mit gutem Potenzial. Daher beobachten wir die Entwicklungen mit Weitblick.

Riecker:

Der größte Unterschied zu den Mitbewerbern ist vielleicht, dass wir nicht ständig nur danach schauen: Was machen die anderen? Uns interessiert vor allem: Welche konkreten Forschungsergebnisse zeigen gute Lösungen für unsere Mitglieder?

Wie sehen Sie kurz-/mittel- und langfristig (in 1, 3 und 5 Jahren) die Entwicklungen und Fortschritte der AAL-Technologien und Dienstleistungen? Und inwiefern sind diese voraussichtlichen Entwicklungen für die SDK ein Thema?

Dr. Grzebiela:

AAL umfasst nach meinem Verständnis technische Entwicklungen bzw. auch Assistenzsysteme, welche es vermögen, die Selbstständigkeit und damit die Lebensqualität von älteren bzw. pflegebedürftigen Menschen zu erhöhen. Dies geschieht durch Hilfeleistungen, welche ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen.

Wir sehen die AAL-Technologien als Entwicklungen mit sehr vielen Möglichkeiten in der Zukunft. Die demografische Entwicklung mit dem „doppelten Alterungsprozess“ (immer mehr ältere Menschen in der Bevölkerung, die dazu auch noch immer älter werden) wird eine stetige Zunahme von Pflegedienstleistungen implizieren. Hier ergibt sich für Krankenversicherer die Möglichkeit, sich auch im Bereich Pflege als ganzheitlicher Gesundheitsdienstleister zu positionieren.

Damit wird auch eine zentrale gesellschaftliche Herausforderung, nämlich der Umgang und die Lösungsfindung eines steigenden Bedarfs an Pflegeunterstützung, angesprochen. Viele AAL-Technologien befinden sich nach meinem Kenntnisstand noch im Status der Erprobung bzw. werden im Rahmen von Forschungsansätzen entwickelt. Von einem Breiteneinsatz kann jedenfalls nicht die Rede sein. Dies mag an der noch viel zu geringen konkreten Kenntnis dazu liegen. Aber auch die Finanzierung – wie Sie dies ja auch ansprechen – ist oftmals unklar.

Ich persönlich sehe gerade mittel- und langfristig größere Fortschritte auf diesem Gebiet. Die Digitalisierung wird auch im Gesundheits- und Pflegewesen stetig vorangehen. Daher möchte ich im Rahmen unserer Produktentwicklung in der SDK auch einen Fokus auf AAL-Ansätze legen.

Riecker:

Der Pflegenotstand, Monitoring-Systeme für kontinuierliche Diagnostik, die Robotik, IoT werden den Umgang mit pflegebedürftigen Menschen massiv verändern. Wenn es gut läuft, werden Pflegende entlastet, Pflegebedürftige unterstützt und es wird wieder mehr Zeit für menschliche Zuwendung geben. Pflegebedürftige werden im Idealfall ein Stück Autonomie zurückgewinnen und gleichzeitig weniger unter Einsamkeit leiden. Wenn es schlecht läuft, wird Pflege immer unpersönlicher, maschineller und überfordernder für die Pflegebedürftigen werden. Wir als SDK werden uns dafür einsetzen, die Entwicklung mit klugen Entscheidungen in eine gute Richtung zu lenken.

Welche Anforderungen stellen sich aktuell an die Nutzenbewertung aus Sicht der Kostenträger? – Werden sich diese Anforderungen im Kontext der dynamischen Entwicklungen zukünftig verändern?

Riecker:

Nutzenbewertung darf sich nicht an Surrogatparametern ausrichten. Dies ist bis heute ein häufiger Fehler in Medizin und Pflege. Um es plastisch zu machen: Den Pflegebedürftigen interessiert nicht vor allem, ob die technische Performance des Pflegeroboters von Ingenieuren als gut bewertet wird. Sie brauchen Systeme, die tun, was der Nutzer sich wünscht, die ihn verstehen, die sein Leben leichter machen, die seine Alltagsprobleme lösen, nicht jene, die der Hersteller gerne lösen möchte. Daher wird die SDK darauf achten, dass Usability, Patient Reported Outcomes (PROs) und Lebensqualität in der Nutzenbewertung vorkommen. Nutzen, der sich nicht am Nutzer ausrichtet, ist keiner. Hier muss auch die Forschung noch ein gutes Stück Weg zurücklegen. Aber da tut sich langsam etwas.

Ein häufiger Vorwurf der Industrie: Solange die Technologien nicht in der Heilmittelverordnung angedacht sind, erfolgen keine großen Investitionen in die Entwicklung. Auf der anderen Seite steht Ihre Anforderung nach dem Nutzennachweis. Wie kann dieser circulus vitiosus durchbrochen werden?

Riecker:

Dieser Kreis ist längst durchbrochen. Die EU sowie das Bundesforschungsministerium engagieren sich seit Jahren für AAL. Gerade die EU unterstützt Netzwerke, die auch der Finanzierung helfen. Industrie und Forschungsförderung laufen also. Aufgabe der SDK ist die kluge Auswahl von AAL-Systemen für unsere Versicherten.

Können Sie uns mal grundsätzlich in ein paar Sätzen erklären, wie denn neue Produkte, Lösungen, Dienstleistungen überhaupt in den Leistungsumfang Ihrer Versicherungs-Produkte gelangen?

Dr. Grzebiela:

Unsere Mitglieder und deren Bedürfnisse stehen bei der SDK im Mittelpunkt. Wir entwickeln neue Produkte und Dienstleistungen mit einem starken Kundenfokus. Dazu nutzen wir auch innovative Ansätze wie Social Media Analysen, Kreativitätstechniken oder spezielle Methoden wie z. B. das Design Thinking. Aber auch Markt- und Bedarfsanalysen, Kundenbefragungen und ein laufendes „Produktcontrolling“ gehören dazu. Wir haben bei Produktentwicklungen i. d. R. Spezialisten aus allen Unternehmensbereichen als Team zusammengestellt, um somit auch alle Blickwinkel zu berücksichtigen. Natürlich werden dabei auch einschlägige Fachveröffentlichungen und Forschungsergebnisse berücksichtigt.

In welchen Feldern und Anwendungsszenarien sehen Sie das größte Potenzial für die Zukunft?

Dr. Grzebiela:

Pflegeroboter (z. B. das bekannte Beispiel „Pepper“) zur Unterhaltung und Verrichtung von einfachen Unterstützungsdienstleistungen können das Pflegepersonal entlasten.

Wenn man sich beispielsweise die Entwicklungen von „Pflegerobotic“ in Japan oder den USA ansieht, gibt es Einsatzszenarien in Kliniken zur Desinfektion über Lichtblitze, Verteilung von Essen, Transport von schweren Wäschesäcken o. ä. Man kennt entsprechende Systeme ja bereits schon länger aus der Industrieproduktion. Hier werden Maschinenbestückungen oder Lagergänge bereits auch schon vollautomatisiert über Roboter abgebildet.

Anwendungsszenarien im Kontext Pflege sehe ich auch in einer möglichen Unterstützung bei körperlicher Arbeit. Patienten aus dem Pflegebett zu heben bzw. diese zu drehen wäre hier als Beispiel zu nennen.

Riecker:

Devices, digitale Lösungen und Systeme, die die Autonomie von Menschen mit Demenz und deren Angehörigen stärken, adressieren aus unserer Sicht einige der drängendsten Probleme der nächsten Jahre und Jahrzehnte.

Welche der Ansätze sind vielversprechend zur Vermeidung von unnötigen Gesundheitsausgaben, welche sind notwendig, um überhaupt eine Versorgung sicherzustellen?

Riecker:

In „Science Robotics“, einem der weltweit führenden Fachmagazine, wurde im April 2020 eine interessante Arbeit zu „elektronischer Haut“ veröffentlicht. Dieses Device übermittelt via Bluetooth spezielle Messwerte wie Glukose, Temperatur, aber auch Muskelbewegungen zur Steuerung von technischen Unterstützungssystemen an Empfängermodule. Ihre Energie erhält die „electronic skin“ durch den Schweiß des Patienten. Solche Lösungen ersparen Ärzt*innen und Patienten Zeit und Wege, sie ermöglichen eine längere Versorgung in den eigenen vier Wänden und sie sparen den Krankenversicherern Ausgaben.

Ärztemangel, Pflegenotstand, Überalterung: Dies alles erfordert, dass vor allem Diagnostik und Monitoring effizient im Hintergrund ohne großen Aufwand ablaufen.

Sie kennen sicher das Vitality-Programm der Generali, das ja bisher im Markt nur eingeschränkt angekommen ist. Wäre aus Ihrer Sicht etwas ähnliches als Bonusprogramm auch in der Pflegeversicherung denkbar? Da könnten sich Querverbindungen zu AAL durchaus ergeben.

Dr. Grzebiela:

Ein klassisches Bonusprogramm sehen wir eher skeptisch. Als Gesundheitsspezialist möchten wir unsere Gesundheitsdienstleistungen ausbauen und diese dann unseren Mitgliedern im Sinne einer bestmöglichen Versorgung und Unterstützung aktiv anbieten. Eine Sammlung von Kundendaten über Lebensstil, Gesundheits- und Fitnesszustand mit daraus abgeleiteten Implikationen im Kontext Produkt und/oder Preis verfolgen wir nicht.

Riecker:

Bisher werden Bonusprogramme viel zu sehr aus Sicht der Versicherer konzipiert. Eine nachhaltige Lebensstiländerung erfordert eine andere Motivation. Im Bereich Pflege können wir uns vor allem eine engmaschige Begleitung von pflegenden Angehörigen vorstellen. Wer gut unterstützt wird dabei, die bürokratischen Hürden zu nehmen und wer zur Vermeidung von Überforderung gute Assistenz erhält, der kann den Wunsch seines zu pflegenden Angehörigen am besten erfüllen. Und dieser ist fast immer die Pflege zu Hause. Möglichst lange. Und das ist fast immer die günstigste Variante. Jedes AAL-System, das hier nachweislich hilft, könnte als „Querverbindung“ funktionieren.

Ein Thema bei der AAL-Forschung ist die Falldetektion, also der Einsatz von Technologien, die erkennen, ob eine hilfsbedürftige Person in der Wohnung gestürzt ist und Hilfe gerufen werden muss. Klingt banal, ist es aber nicht. Wenn es gelingt, können schwere Krankheitsverläufe verhindert werden. Wie groß ist das Interesse eines Krankenversicherers, mithilfe solcher Technologien Kosten am Ende zu reduzieren, aber zunächst Kosten aufzuwenden?

Riecker:

Da würden wir gerne viel früher ansetzen. Das Wichtigste ist doch, Stürze zu vermeiden. Sturzprophylaxe ist mit Sicherheit eine gute Investition. Dafür laufen bereits konkrete Forschungsprojekte (z. B. https://pflegewissenschaft.medunigraz.at/forschung/leitlinie-sturzprophylaxe/).

Natürlich ist es auch wichtig, nach einem Sturz rasch medizinische Versorgung zu erhalten. Ein Teil der Patienten wird dies über seinen Hausnotruf erreichen. Wer dazu nicht mehr in der Lage ist, kann von entsprechendem, digitalen Monitoring profitieren. Die Verhinderung schwerer Krankheitsverläufe wird in solchen Situationen jedoch nur noch sehr eingeschränkt gelingen. Daher schätzen wir die Möglichkeiten der Kostenreduktion hierfür nicht besonders hoch ein.

Kommen wir nochmal explizit zum Thema Kosten. AAL gibt es nicht kostenlos. Wie sehen Sie die Abgrenzungen? Was steht in den Heilmittelkatalogen, wann und wie schnell werden diese angepasst, erweitert? Der oft erwähnte Pflegeroboter wird sicher in unterschiedlichen Ausprägungen kommen, aber wer bezahlt ihn? Ist er in den Heimen einfach eine Maschine, die als Betriebsmittel angeschafft wird, weil sie etwa Wäsche sammelt und zur Wäscherei bringt? Was ist mit einem Assistenzroboter zu Hause? Oder ein einfacheres Beispiel: der Rollator, wo fängt der „Luxus“ an, der nicht erstattet wird? Es gibt ja beispielsweise Rollatoren mit Geländebereifung und iPad-Halterung…

Riecker:

Hier gilt wie überall: Die behaupteten Vorteile müssen auch nachgewiesen werden. Idealerweise in unabhängigen Forschungsprojekten. Denn es gibt zu viele Akteure, die sich vom großen Kuchen des Gesundheitswesens ein Stück sichern möchten und dabei vor allem die eigenen Interessen verfolgen.

Im Moment scheint eine gewisse Naivität zu bestehen im Sinne von „Was neu, was digital, was Robotik, was innovativ ist, muss gut sein.“ Diesem Trend wird die SDK nicht folgen. Wirklich innovativ ist, was tatsächlichen Nutzen im Sinne von Patienten-relevanten Outcomes gezeigt hat.

Wie helfen Krankenkassen und private Krankenversicherer den Versicherten und deren Angehörigen, um in diesem Dickicht an unterschiedlichen Kostenträgern zurecht zu kommen und die besten Lösungen zu bekommen?

Dr. Grzebiela:

Für Krankenkassen kann ich hier nicht sprechen. Wir als private Krankenversicherung bieten diverse Assistance- und Gesundheitsdienstleistungen an. Besonders hervorzuheben ist die seit 2018 existierende hausinterne, hochqualifizierte Gesundheitsberatung der SDK, die allen Mitgliedern zur Verfügung steht. Die Berater*innen dort arbeiten im multiprofessionellen Team, d. h. gesundheitswissenschaftliche, pflegerische, juristische sowie ärztliche Kompetenz sind vorhanden. Dies ermöglicht eine Beratung anhand der bestverfügbaren wissenschaftlichen Datenlage sowie der aktuellen Gesetzeslage und Rechtsprechung.

Wie lange wird es also noch dauern, bis ein Pflegeroboter wie zum Beispiel Pepper – in der DHBW Heidenheim testen wir schon, was er kann – in der Wohnung einer pflegebedürftigen Person erstattet wird?

Riecker:

Das wird abhängen von der Performance dieser Systeme im realen Pflegealltag. Sobald die Roboter ausgereift sind und ein tatsächlicher Nutzen für Pflegebedürftige und Pflegende nachgewiesen wurde, wird es eine Kostenübernahme geben. Dann werden die Preise wegen der Mengenproduktion auch in einem Rahmen bleiben, der die Systeme für das häusliche Umfeld erschwinglich macht.

Können Sie sich vorstellen, gemeinsam mit einem interdisziplinären Team einer Hochschule wie der DHBW Heidenheim AAL-Forschung zu begleiten, um zukünftige Pflege zu gestalten?

Dr. Grzebiela:

Natürlich kann ich mir aber gut vorstellen, gemeinsam einen Workshop oder eine projekthafte Zusammenarbeit mit der Hochschule Heidenheim umzusetzen. Bestimmt gibt es aus dem Hochschulumfeld gute innovative Impulse. Insbesondere bei der Ideengewinnung zu neuen Produkten und Gesundheitsdienstleistungen sehe ich eine Möglichkeit der Zusammenarbeit.

4.3 Zurückhaltung professioneller Akteur*innen

Technikakzeptanz

Die Implementierung technischer Assistenzsysteme im Versorgungsalltag ist maßgeblich davon abhängig, wie die beteiligten Akteur*innen sie aktiv fördern und innovationsfreudig unterstützen. In der vorliegenden Publikation wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass eine Lücke zwischen Produktentwicklungen und der Marktetablierung besteht. Grundsätzlich hinkt die Gesundheitsbranche anderen Branchen im Digitalisierungsgrad deutlich hinterher (BMWi, 2018), gesundheitspflegerische Berufe werden der traditionellen Low-Tech-Branche zugeordnet (Apt et al., 2016). Wissenschaftler*innen kritisieren wiederholt, dass „Early Adopters“, also Personen, die Techniken besonders früh anwenden und als Vorreiter eine treibende Rolle spielen, in untersuchten Szenarien der Gesundheitsversorgung praktisch nicht existent waren (vgl. Franke et al., 2019; Klobucnik et al., 2017). Vor diesem Hintergrund sollte kritisch erörtert werden, wer die Anwendungen im Markt fördert, wer eine zurückhaltende Position einnimmt oder die Entwicklungen gar ablehnt. Technische Assistenzsysteme unterliegen wie alle Innovationen Hemmnissen und Hindernissen in sogenannten Change-Prozessen. Neben organisationalen und systematischen Widerständen in den Einrichtungen des Gesundheitssystems spielen gerade die Haltungen und Einstellungen der Anwender*innen eine maßgebliche Rolle. Im Allgemeinen werden primäre Nutzergruppen (d. h. Hilfe- und Pflegebedürftige/Patient*innen) von sekundären Nutzergruppen (d. h. Angehörige, informelle Begleiter*innen und Helfer*innen) sowie tertiären Nutzergruppen (d. h. professionelle Akteur*innen wie Ärzt*innen, Pflegefachkräfte, Therapeut*innen, Mitwirkende in Beratungsstellen usw.) unterschieden. Auf die tertiäre Nutzergruppe wird nun ein besonderes Augenmerk gelegt, um Erkenntnisse für weitere Entwicklungsprozesse zu gewinnen. Das bedeutet, dass Gründe der Skepsis, Zurückhaltung oder Ablehnung als Ausgangspunkt für verbesserte, praxistaugliche Entwicklungen dienen können. Damit soll unter anderem vermieden werden, stereotypen Zuschreibungen zu unterliegen. Die plakative und pauschalisierende Zuschreibung, dass Menschen in sozialen oder gesundheitspflegerischen Berufen nicht sehr technikaffin sind, und deshalb Entwicklungen nicht proaktiv begleiten, wird deshalb an dieser Stelle vorab direkt entschieden zurückgewiesen. Im Gegenteil, verschiedene Erhebungen verweisen auf eine grundsätzlich hohe Technikakzeptanz (Braeseke et al., 2020; Hülsken-Giesler et al., 2019; Kuhlmey et al., 2019). Gleichzeitig muss attestiert werden, dass noch große Potenziale im Wissen über die technologischen Möglichkeiten, der experimentierfreudigen Anwendung sowie der Praxisvalidierung bestehen. Welche Faktoren führen also zur Zurückhaltung, technische Innovationen in die Gesundheitsversorgung zu integrieren?

Der Einsatz neuer Technologien beinhaltet eine weitreichende Auseinandersetzung mit ethischen, sozialen, professionsspezifischen und rechtlichen Fragestellungen, die es zu erörtern gilt. Dabei gilt es differenziert darzustellen, für welche Art der Technologien welche Art der Bedenken vorliegen. Die Diskussionen im Kontext technischer Hilfen werden hier mitunter indifferent auf unterschiedlichen Ebenen geführt. Zur besseren Beurteilung der Technikakzeptanz sollten deshalb neben den technischen Lösungen auch die Berufsgruppen im Gesundheitswesen und die Settings und Anwendungsszenarien unterschieden werden. Für die wenigsten Szenarien der Gesundheitsversorgung liegen aktuell hinreichende, professionsspezifische Erhebungen vor. Die größte Anzahl an Studien wurden in der jüngeren Vergangenheit bei Pflegekräften durchgeführt, die im Kontext der Pflegebedürftigkeit, der Selbstständigkeit von Menschen in der häuslichen Umgebung, aber auch mit der Entlastung der Berufsgruppe selbst verbunden werden. Diese werden deshalb in diesem Kapitel im Schwerpunkt erläutert.

Erhebungen bei Ärzt*innen fokussieren andere Fragestellungen, z. B. technische Lösungen zur Unterstützung der ärztlichen Versorgung in ländlichen Regionen. Hier stehen insbesondere Lösungen des Telemonitorings, Telekonsultationen oder Informations- und Kommunikationstechnologien im Vordergrund.

Technikbereitschaft

Zur differenzierten Beschreibung und Analyse der sogenannten Technikaffinität liegen verschiedene Modelle der Technikbereitschaft (technology commitment) vor. Weit verbreitet ist das Technikakzeptanzmodell (TAM) von Davis (1989). Dieses gründet auf einem handlungsregulatorischen Modell der sozialpsychologischen Forschung. Im Mittelpunkt steht die Theorie des überlegten Handelns (Theory of reasoned Action). Handlungsleitend für die Nutzung neuer Technologien ist nach Davis eine vorausgehende Handlungsabsicht, welche wiederum von einer individuell empfundenen Nützlichkeit sowie der Leichtigkeit/der Benutzerfreundlichkeit beeinflusst wird.

Verschiedentlich kritisiert wurde am Modell von Davis (siehe Abb. 4.3) ein Innovationspositivismus sowie eine fehlende Berücksichtigung von Persönlichkeitseinflüssen, beispielsweise der Technikkompetenz- und Technikkontrollüberzeugungen (vgl. Neyer et al., 2012). Aus diesen Gründen wurde das Modell von verschiedenen Autor*innen um weitere Konzepte ergänzt. Kontrollüberzeugungen sind in unterschiedlichen, psychologischen Modellen involviert, so z. B. in Modellen des individuellen Gesundheitsverhaltens. Dahinter verbergen sich, vereinfachend dargestellt, Selbstkonzepte zur Einschätzung der eigenen Situationsbewältigung sowie der Erwartung entsprechend positiver Ergebnisse in Folge eigener Handlungen. Also sehen sich die Anwender*innen in der Lage, die Anforderung zu bewältigen und erkennen sie als ein realisierbares, gutes Ergebnis. So können Technikkompetenzüberzeugungen als subjektive Erwartung von Handlungsmöglichkeiten definiert werden, die ein Selbstkonzept repräsentieren, welche auf biographischen Erfahrungen mit vertrauten Technologien beruhen (Neyer et al., 2012, S. 88). Ferner würden diese auch die subjektiv erwartete Anpassungsfähigkeit an noch unbekannte Technologien widerspiegeln. Die Technikkontrollüberzeugungen können als subjektiv wahrgenommene Einfluss- und Kontrollerwartungen über technische Prozesse und Ihre Konsequenzen in der persönlichen Umwelt definiert werden, und beschreiben damit das Ausmaß wahrgenommener Kontrollierbarkeit von Technik (ebd., S. 88).

Abb. 4.3
figure 3

Technology Acceptance Model nach Davies (1989)

In Anlehnung an das beschriebene Modell der Technikbereitschaft entwickelte Neyer einen validierten Test zur Technikbereitschaft (Neyer et al., 2012), welcher auch in verschiedenen Erhebungen bei Gesundheitsberufen eingesetzt wurde (Braeseke et al., 2020; Hülsken-Giesler et al., 2019). Der Test zur Bereitschaft zum Umgang mit Technik (siehe Abb. 4.4) untergliedert sich in die Subskalen Technikakzeptanz, Technikkompetenz- und Technikkontrollüberzeugungen. Die Konstruktvalidität wurde über Zusammenhänge mit theoretisch einschlägigen Referenzkonstrukten (Techniknutzung, Persönlichkeit, Indikatoren erfolgreichen Alterns) sowie konkurrierend gegenüber anderen Maßen der Technikakzeptanz überprüft (Neyer et al., 2012, S. 87).

Abb. 4.4
figure 4

Erweiterung des Technology Acceptance Model von Davies nach Neyer

Dazu ein kurzes Beispiel zur Einführung eines Systems zur Sturzerkennung im häuslichen Umfeld. Die Kontrollüberzeugungen der verantwortlichen Fachkräfte bauen zum einen auf Vorerfahrungen mit Technologien auf, ferner basieren sie auf einem individuellen Selbstkonzept, die Situation kontrollieren zu können und für eine Sicherheit der Hilfebedürftigen zu sorgen. Expert*innen wissen um die unzureichende prädiktive Einschätzung der Sturzrisiken sowie der Vielfalt von auslösenden Faktoren von Sturzereignissen. Technologische Lösungen können diese Gefahren nur eingeschränkt erfassen, letztendlich häufig nur den eigentlichen Sturz detektieren. Und selbst hier zeigen sich Probleme der eindeutigen Messung mittels Drehbewegungs- und Beschleunigungssensoren (Acceleration und Gyroskop-Sensorik). Die Systeme sollen nun die persönliche Visitation unterstützen oder gar ersetzen. Diese Zweifel der Zuverlässigkeit können dazu führen, dass Kontrollüberzeugungen nur eingeschränkt vorhanden sind und die Motivation und Volition für eine proaktive Umsetzung schwindet. Dies wird erheblich dadurch verstärkt, dass die Zweifel nicht nur das eigene Handeln und deren Konsequenzen betreffen, sondern sich auf die sturzgefährdete Person mit einer eingeschränkten Fähigkeit der Selbstregulierung übertragen wird. Die verantwortlichen Expert*innen handeln hier nicht nur für sich selbst, sondern verantworten die Gewährleistung einer sicherheitsförderlichen Umgebung auf ihre Hilfebedürftigen und deren Angehörigen. Die wahrgenommene Kontrollierbarkeit der technischen Entwickler*innen unterscheidet sich hier wesentlich von der Einschätzung der sekundären und tertiären Nutzer*innen. Auch wenn technische Entwickler*innen ein großes Augenmerk auf die Zuverlässigkeit und Sicherheit der Systeme legen, so unterscheiden sich die Perspektiven im Anwendungsbezug maßgeblich. Nicht zuletzt deshalb sollte eine Teilhabe der Expert*innen in den Gesundheitsberufen im Entscheidungsprozess über die Auswahl und Einführung neuer Technologien frühzeitig gefördert werden (Glock et al., 2018).

Befunde zur Technikbereitschaft

Die aktuell umfangreichste Datenlage wurde im Rahmen der UTiP-Studie (Umfrage zum Technikeinsatz in Pflegeeinrichtungen) des IGES-Instituts erhoben (Braeseke et al., 2020). Hier wurden 951 Einrichtungen (ambulante Pflegedienste, stationäre und teilstationäre Pflegeeinrichtungen) zum Technisierungsgrad von Pflegeeinrichtungen in einer repräsentativen Online-Umfrage inkludiert. In der Erhebung zeigte sich eine tendenziell hohe Technikbereitschaft, 71 % der Befragten zeigten sich gegenüber der Technik als sehr aufgeschlossen, lediglich 2 % zeigten sich wenig technikbereit. Befragt wurden bei der Untersuchung explizit die Hemmnisse für eine weitere Digitalisierung der Pflege. Am häufigsten wurden hier Finanzierungsprobleme genannt, gefolgt von wahrgenommenen oder befürchteten Akzeptanzproblemen bei älteren Beschäftigten und dem Zeitaufwand, der mit der Einführung neuer Technik in den Einrichtungen einzuplanen bzw. zur Verfügung zu stellen ist (ebd., S. 67). Ferner wird auf eigene, ethische Bedenken und eine Überschätzung der Möglichkeiten der Digitalisierung verwiesen. Das größte Potenzial wird in der Verringerung von körperlichen Beanspruchungen gesehen, gefolgt von der Verringerung psychischer Belastungen. Die geringste Zustimmung folgte auf die Aussage, dass der Technikeinsatz den Personalbedarf künftig in der direkten Pflege verringern könne. Grundsätzlich zeigen die Ergebnisse der Studie, dass der Technikeinsatz im Bereich Verwaltung und Organisation deutlich höher ausgeprägt ist als in der direkten Pflege, hinsichtlich der Erwartungshaltung, dass die Technik die Betreuung & Pflege verbessern kann, zeigte sich die Hälfte der Befragten skeptisch.

Kuhlmey et al. (2019) untersuchten ausgewählte Technologien zur körperlichen Unterstützung (z. B. Hebehilfen, Roboter zum Materialtransport), soziale und emotionale Unterstützung (z. B. Kuschelroboter PARO oder Tablets zur therapeutischen Beschäftigung), Monitoring (z. B. Sturzdetektion oder GPS-Tracker) und Dokumentation (z. B. Smartphones oder Tablets). Die Autor*innen konstatieren eine hohe Ausprägung der Anwendung, sofern diese in der Einrichtung vorhanden sind und unterstreichen das Hindernis zur Übersetzung von Kenntnis und Nutzung auf der institutionellen – weniger aber auf der Ebene der anwendenden Pflegekräfte. Bestätigt werden Vorbefunde, dass Hilfsmittel zur sozialen und emotionalen Unterstützung deutlich kritischer beurteilt werden als Technologien in anderen Funktionsbereichen. In diesem Aspekt zeigt sich eine deutliche Skepsis oder Ablehnung, die sich auch in anderen Untersuchungen wiederholt. Technologien, welche in die direkte Fürsorge der professionellen (Pflege-)Beziehung eingreifen, erfahren eine Ablehnung. Hier werden zwischenmenschlich-pflegerische Aktivitäten verändert, gestört oder ggf. ersetzt. Gerade Gesundheits- und Pflegeberufe, die in dieser Beziehungsgestaltung den Kern ihrer professionellen Arbeit verwirklichen, vertreten hier ethische und versorgungsspezifische Argumente, die bei der Entwicklung von Technologien wesentlich für deren Akzeptanz sind. Vereinfacht dargestellt könnte man sagen: Je direkter die Technologien in die Beziehungsgestaltung eingreifen, desto größer wird die Skepsis und desto wichtiger wird die Diskussion, welche Hilfeleistung hier von allen Beteiligten akzeptiert und gewünscht wird. Diese Diskussion kann nicht primär vor dem Hintergrund technologischer Machbarkeit, sondern muss gesellschaftlich, interprofessionell und insbesondere ausgehend von der Perspektive der Nutzer*innen und Pflegeempfänger*innen geführt werden (vgl. Abschn. 6.2).

Im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit erfolgte eine empirische Analyse zu Informations- und Kommunikationstechnologien IKT in der Pflege. Unter Beteiligung der Roland Berger Unternehmensberatung, des Deutschen Instituts für Pflegeforschung (dip) und der Hochschule Vallendar wurden über 200 Projekte analysiert, Erhebungen und Workshops durchgeführt (Roland Berger, 2017). Als zentrale Hemmnisse für die Etablierung von IKT-Lösungen wurde die fehlende Technikkompetenz, der fehlender Informationsaustausch und generell zu wenige Informationen der Akteur*innen festgestellt. Ferner wurde die fehlende Abrechenbarkeit und Refinanzierung sowie Förderpolitik bemängelt. Wesentlich für eine fehlende Akzeptanz wurde die unzureichende Einbindung in die Forschung und Entwicklung benannt.

Eine qualitative Analyse für den Einsatz von Telepräsenzsystemen im ambulanten Bereich ergänzt die dargestellten, empirischen Befunde. Geier et al. (2020) erhoben Aspekte, die zu einer ablehnenden Haltung bezüglich des Einsatzes von Telepräsenzsystemen führen. Dazu gehören ungenügende Funktionalitäten und Gefahren der Geräte, infrastrukturelle Bedingungen, Fürsorge nur von Menschen, Anforderungen an die Patient*innen durch die Technik und Rationalisierungsängste. Basierend auf den exemplarisch dargestellten Erhebungen sowie weiteren Befunden wird nun ein Modell gezeichnet, welches zentrale Hemmnisse der subjektiven Bewertung skizziert (siehe Abb. 4.5).

Abb. 4.5
figure 5

Hemmende Faktoren der subjektiven Technikakzeptanz

Konsequenzen für die Verbesserung der Technikakzeptanz professioneller Akteur*innen

An technologische Assistenzsysteme werden sehr hohe Anforderungen an die Funktionalität, Zuverlässigkeit, Sicherheit, Usability und Bedienbarkeit, Systemkompatibilität usw. gestellt. Vorerfahrungen mit technologischen Systemen spielen hier gerade bei erlebten Fehlleistungen für die Expert*innen eine große Rolle. Infrastrukturelle Hindernisse aufgrund limitierter finanzieller Mittel, der eingeschränkten Verfügbarkeit oder elementare Voraussetzungen wie eine hinreichende Internet- oder WLAN-Verbindung können vielversprechende Lösungen im Ansatz zum Scheitern bringen. Hinzu kommen institutionelle Rahmenbedingungen der täglichen Gesundheitsversorgung, welche von großem Zeitdruck, personellen Engpässen und limitierten Ressourcen geprägt sind. Wie bereits beschrieben stoßen ferner Technologien, die den menschlichen Kontakt ersetzen, auf eine große Skepsis und stellen ethische Fragen zur Teilhabe, Fürsorge, Gerechtigkeit und Privatheit. Dabei vertreten die Expert*innen auch eine anwaltschaftliche Position für ihre anvertrauten Personen mit entsprechendem Hilfebedarf. Zusammengefasst zeichnet sich hier eine komplexe Situation, die eine Skepsis oder große Vorsicht in der Implementierung neuer Technologien begründet oder nachvollziehbar erscheinen lässt. Nichtsdestotrotz weisen verschiedene Untersuchungen auf eine grundsätzlich hohe und mitunter steigende Technikbereitschaft der professionellen Akteur*innen hin. Vor dem Hintergrund der zusammengefassten Hemmnisse sollen nun Konsequenzen gezogen werden, um die Stakeholderperspektive der Expert*innen deutlicher zu berücksichtigen. In Anlehnung an die skizzierten Untersuchungen werden Handlungsempfehlungen zur Akzeptanzsteigerung zusammengefasst. Diese kann vor dem Hintergrund der Heterogenität nicht den Anspruch der Vollständigkeit beinhalten, fasst jedoch in einem 10-Punkte-Plan wesentliche Voraussetzungen zusammen:

  1. 1.

    Entwicklung von Strukturen zur Zusammenwirkung von Technologie, Organisation und Qualifikation, Vernetzung und Integration in bestehende Arbeitsprozesse

  2. 2.

    Aufbau von interprofessionellen & interdisziplinären, insbesondere regionalen Netzwerken

  3. 3.

    Entwicklung und Vernetzung von Assistenz-, Monitoring & Dokumentationssystemen

  4. 4.

    Prüfung von Kosteneffizienz und Aufnahme von technischen Anwendungen in die Pflege- und Hilfsmittelverzeichnisse

  5. 5.

    Aufbau niedrigschwelliger Informationsangebote für Expert*innen (Internet, Beratungsangebote, Aus-, Fort- und Weiterbildung); Offensiver Fachdiskurs; Transparenz- und Kommunikationsoffensive

  6. 6.

    Förderung von Strukturen der praxis- und anwendungsorientierten Forschung (Experimentierräume in Skills-Labs und Living-Labs, Verbindung von Konstrukteur*innen mit Anwender*innen)

  7. 7.

    Implementierung von Lern- und Tutorensystemen

  8. 8.

    Gezielte Forschungsförderung mit initialer Einbindung der Gesundheits- und Pflegeforschung

  9. 9.

    Stärkung der Nützlichkeit und Bedienbarkeit für Leistungsempfänger*innen, Nutzung des Expert*innenwissens im praktischen Anwendungsbezug

  10. 10.

    Förderung der Systemkompatibilität und des Datentransfers (z. B. Sensorikdaten in elektronische Dokumentationssysteme)

Das Thema der Mensch-Technik-Interaktion zählt seit längerem zu einem der wesentlichen Förderschwerpunkte des BMBF (Glock et al., 2018). In der Fortführung der Forschungs- und Entwicklungsprogramme sollte nun ein vermehrtes Augenmerk daraufgelegt werden, das entlastende Potenzial sowohl für die Hilfebedürftigen und deren Angehörige als auch für die Expert*innen in ihren direkten Arbeitsprozessen herauszuarbeiten. Die rasante Technologieentwicklung gibt hier ein deutlich höheres Tempo vor als die strukturelle Implementierung in die Versorgungsprozesse im Gesundheitswesen respektive deren Arbeitsprozesse im stationären und ambulanten Setting. Gerade hier müssen Experimentierräume geschaffen werden, um eine Anschlussfähigkeit herzustellen.