Vor Ihnen liegt ein weiteres Buch, das aus einem Integrationsseminar an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Heidenheim entstanden ist. Im Integrationsseminar werden Studierende im dritten Jahr mit einer komplexen Fragestellung des eigenen Fachbereichs konfrontiert, die so aktuell ist, dass sie noch keinen Eingang ins reguläre Curriculum gefunden hat. Die Studierenden analysieren und strukturieren das Problem, um anschließend Lösungsansätze zu entwickeln. Ziel des Seminars ist, zu lernen, wie Problemstellungen wissenschaftlich bearbeitet, Instrumente und Methoden sicher angewendet und Anwendungsszenarien mit den Praxiseinrichtungen kritisch evaluiert werden. Vorgegeben wird hier nur das Themenfeld, entsprechend ihrer persönlichen Fragestellungen und Präferenzen entwickeln Studierende im Team ihre eigenen Schwerpunkte. So können Themen bearbeitet werden, die so interessant sind, dass die Studierenden gerne viel Arbeit investieren. Dies ermöglicht es jedem Teilnehmer, Studierenden wie Dozent*innen, ihre Perspektive und eigene Erfahrung aus der Praxis einzubringen. In der Vergangenheit wurden Themenbereiche wie das Internet der Dinge, eHealth, Industrie 4.0 und der Einsatz von Blockchains bearbeitet. Die Ergebnisse einiger dieser Seminare sind bereits im Springer-Verlag erschienen.

FormalPara Interprofessionelle Bearbeitung

Im letzten Jahr beschäftigte sich eine Gruppe von Kolleg*innen der DHBW Heidenheim in einer Reihe mehr oder weniger förmlicher Diskussionen mit dem Thema Active Assisted Living (AAL) und erkannte dies als für alle Fakultäten spannend und herausfordernd. Als Ergebnis dieser Gespräche entstand der Plan, dieses Gebiet fachübergreifend zu einem gemeinsamen Schwerpunkt zu entwickeln. Insbesondere der Perspektivwechsel zwischen technischen Fragestellungen und Entwicklungen sowie der Anwenderperspektive in Settings der Gesundheitsversorgung erwies sich als äußerst anregend. Der erste Schritt in die Umsetzung war ein gemeinsames Integrationsseminar der Studiengänge Wirtschaftsinformatik und Angewandte Gesundheits- und Pflegewissenschaften im ersten Quartal 2020. Dort sollte aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln der Teilnehmenden untersucht werden, welche Probleme aus der Praxis mit verfügbaren oder aufkommenden technischen Mitteln gelöst werden können. Und vor allem, welche technischen Lösungen von den Praktikern in der Pflege akzeptiert werden und welche nicht. Das Ergebnis dieses Seminars in Form von Artikeln der Studierenden, begleitet und ergänzt durch Beiträge der Dozent*innen, liegt vor Ihnen.

„Wir“ umfasst hier zuerst die Studierenden und Dozent*innen der Studienbereiche Gesundheit, Technik, Sozialwesen und Wirtschaft. Dazu gehören die Studiengänge der angewandten Gesundheits- und Pflegewissenschaften, (Wirtschafts-)Informatik, Maschinenbau und Sozialmanagement. Und natürlich und vor allem unsere dualen Ausbildungspartner. Das Besondere der Dualen Hochschule liegt in der engen Verzahnung von Theorie und Praxis, von akademischer Erkenntnis und praktischer Erfahrung bei den dualen Ausbildungspartnern. So sind in den studentischen Arbeiten zahlreiche Unternehmen der Wirtschaft sowie Gesundheitseinrichtungen involviert.

Eine erste, wesentliche Einsicht aus diesem ersten Integrationsseminar ist die enorme Perspektiverweiterung. Ein sprudelnder Think Tank von Studierenden, die sich völlig unvoreingenommen von eigenen professionsspezifischen Allüren auf den Weg kreativer Bearbeitungsprozesse einlassen. Damit erweitern wir primär monoprofessionelle Ansätze, beispielsweise der technischen Entwicklung, welche um Kompetenzen der Betriebswirtschaft, des Datenschutzes oder der Ethik ergänzt werden. Solche Ansätze gibt es zu Genüge. Wie wir im Folgenden zeigen wollen, sind diese in Umsetzungsprozessen eben nicht erfolgreich genug. Wir möchten damit den Startschuss geben, Entwicklungen und Forschungen von Beginn an interprofessionell voranzutreiben. Und das mit einem festen Ziel: Technologien praxis- und bedarfsgerechter zu entwickeln. Facta, non Verba.

FormalPara Grundproblematik

Die demografische Entwicklung aufgrund von niedrigen Geburtenraten und steigenden Lebenserwartungen europäischer Industrienationen, insbesondere im deutschsprachigen Raum, führt zu nie dagewesenen gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Herausforderungen. Während die Anzahl älterer Menschen innerhalb der Bevölkerung seit Jahren stetig zunimmt, verringert sich die Anzahl jüngerer Menschen. So ist aktuell bereits jede zweite Person in Deutschland älter als 45 und sogar jede fünfte Person älter als 66 Jahre (Destatis, 2020). Die Gesellschaft wird dadurch infolge des Wandels der Altersstrukturen seit geraumer Zeit mit einer Zunahme von pflege- und hilfsbedürftigen Menschen konfrontiert, welche vor allem Berufstätige in den sozialen Bereichen immer mehr unter (Leistungs-) Druck setzt, da dem erhöhten Pflegebedarf ein sinkendes Angebot an professionellen Pflegekräften gegenübersteht (Ates et al., 2018).

Trotz dieser großen Herausforderungen infolge des demografischen Wandels und in Bezug auf den bestehenden Fachkräftemangel in den sozialen Berufen, bieten gerade diese Entwicklungen, insbesondere in Anbetracht technologischer Möglichkeiten, ein enormes Potenzial! So verweisen jüngste Studien aus unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen auf Methoden, Konzepte und Systeme, welche das alltägliche Leben älterer, behinderter bzw. pflege- und hilfebedürftiger Menschen unterstützen können, um den oben aufgeführten Herausforderungen entgegenwirken zu können (Aumayr, 2016; Wichert & Mand, 2017).

Zahlreiche vom Bund geförderten Projekte zeigen, dass es bei den bisher entwickelten „Alltagstauglichen Assistenzlösungen für ein selbstbestimmtes Leben“ (kurz: AAL-Lösungen) nicht an den technischen Möglichkeiten scheitert, die es im AAL-Bereich gibt, sondern vielmehr Barrieren in der Implementierung und Markteinführung von entsprechenden AAL-Lösungen existieren (Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2016; Reichstein, 2019; Wichert et al., 2012). Eine besonders große Hürde liegt in diesem Kontext in der Interoperabilität von AAL-Systemen. So ist für die Implementierung von AAL-Systemen beispielsweise wichtig, dass diese sich in den Alltag von hilfsbedürftigen Menschen integrieren lassen. Dies ist wiederum nur durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit bei der Entwicklung gewährleistet. Nur durch das Hinzuziehen unterschiedlicher Expertisen, Denkweisen und Lösungsansätze aus den verschiedensten Fachrichtungen und Bereichen (Gesundheit, Medizin, Pflege, Soziale Arbeit, Wirtschafts-/ Ingenieurwissenschaften, Informatik, etc.) in Zusammenarbeit mit den betroffenen Anspruchsgruppen (Pflegebedürftige, Pflegepersonal, Angehörige, etc.). können die komplexen Herausforderungen bewältigt werden. Um marktfähige AAL-Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln, müssen hinter den AAL-Lösungen nutzer- bzw. kundenzentrierte Geschäftsmodelle stehen (Reichstein, 2019). Erst wenn geklärt ist, was die Anspruchsgruppen wirklich benötigen, kann auf deren individuellen Bedürfnisse angemessen eingegangen werden.