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Fall 1: Der „Fall Gehrig-Gonzales“ – Eine Fallkonstitution im Kontext der Schulsozialarbeit

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Fallkonstitution in Gesprächen Sozialer Arbeit

Part of the book series: Edition Professions- und Professionalisierungsforschung ((EPP,volume 13))

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Zusammenfassung

Als erster Fall wird die Herstellung des Falles der Familie Gehrig-Gonzales, bestehend aus Frau und Herrn Gehrig-Gonzales mit den Zwillingen Marisol und Diego, im Kontext der Schulsozialarbeit dargestellt. Diese Fallkonstitution kennzeichnet sich dadurch, dass auf der Grundlage oberflächlicher Deutungsprozesse des Sozialarbeiters zentrale Schritte in der Herstellung des Falles und seiner Problematik noch vor einem ersten Gespräch mit den Eltern vollzogen werden. Seine frühe Verortung der Probleme im Erziehungsverhalten der Mutter zeigt sich in der Prozessierung des Falles stabil und ist auf einer „hidden agenda“ interventionswirksam in der Auswahl der Methoden und Mittel. Mit Blick auf die untersuchten Prozesse und Praktiken der Herstellung des fallrelevanten Wissens im Gespräch zwischen dem Sozialarbeiter und Herrn Gehrig zeigt sich die Gesprächseröffnung als besonders interessant. Im Kontrast zu den anderen zwei Fällen wird hier durch den Sozialarbeiter in sequentieller Erstposition bereits schon fallrelevantes Wissen eingeführt. Dies tut er, indem er bestimmte objektive Daten zum Fall einführt, wie z. B. das Alter der Mutter bei der Geburt der Zwillinge. Seine damit verbundenen Bewertungen und Problematisierungen bleiben aber unausgesprochen. Die Herstellung des geteilten Fallwissens vollzieht sich nun immer nach dem gleichen Muster: Der Professionelle unterbricht diese Einführung von ausgewähltem Wissen aus der Lebensführung der Klientel mit einer kurzen Frage an den Klienten in der Form eines Rückversicherungssignals (bspw. „gället“ [nicht wahr]). Der Klient ratifiziert in der zweiten Sequenzposition die eingeführten Informationen zum Fall. In der dritten Position nimmt der Sozialarbeiter das Rederecht wieder an sich und führt weiteres Wissen ein. Sozusagen „en passant“ wird auf diese Weise Schritt für Schritt fallrelevantes Wissen im Gesprächsverlauf etabliert und ein bestimmter Fallzuschnitt in den zwei unterschiedlichen Beteiligungsrollen interaktiv produziert. Implizit stellt dieser Fallzuschnitt einen Zusammenhang zu der vom Sozialarbeiter bereits festgelegten Fallproblematik her, doch diese bleibt durch diese Praktik des Ausklammerns von Problematisierungen in diesem Moment noch unausgesprochen. Begleitet wird das Vorgehen mit wei-teren Praktiken zur Vermeidung oder Abschwächung gesichtsbedrohender Aktivitäten. Mit Beginn des zweiten Handlungssegmentes, der Problemschilderung und Exploration, wird der Klient aufgefordert, nun seine Perspektive einzubringen. Doch es geht im Kern nicht darum, das subjektive Wissen des Klienten über Schwierigkeiten im Familienalltag hervorzubringen und dieses dann mit dem Wissen des Sozialarbeiters zu relationieren. Der Sozialarbeiter bietet dem Klienten jeweils eine Umdeutung zu dessen Problemsicht an, wobei er aus den Schilderungen des Klienten selektiv nur das Thema der schwierigen Paarbeziehung aufgreift, anderes weglässt und in der Interaktion eine Art „geteilte“ Problemsicht im Sinne eines geteilten deskriptiven Fallwissens herstellt. Aber im Gegensatz zur Sichtweise von Herrn Gehrig, dem Klienten, sind aus der Perspektive des Sozialarbeiters die von Herrn Gehrig thematisierten Beziehungsprobleme nicht beim Verhalten der Ehefrau zu verorten. Dieser Dissens bleibt aber unausgesprochen, da der Sozialarbeiter auf eine explizite Problemdiagnose aus seiner Perspektive verzichtet. Vielmehr zielen die Praktiken des Sozialarbeiters auf das Auffinden von möglichen motivationalen Ansatzpunkten beim Klienten, um die schon geplante Problemlösung, nämlich sozialpädagogische Familienbegleitung, passgenau zu bewerben und argumentativ durchzusetzen. Solche Ansatzpunkte sind einerseits gemeinsame Interessen und Ziele, wie sie durch den Sozialarbeiter in der Gesprächseröffnung etabliert wurden, wie zum Beispiel die Förderung der schulischen und beruflichen Perspektiven der Kinder, aber auch ein durch den Sozialarbeiter instrumentell-strategisch miterzeugter Leidensdruck. Im ganzen Prozess überwiegt die Relevanz des Expertenwissens im Verhältnis zum selbstreferentiellen Wissen des Klienten, aber immer in verdeckter Form.

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Notes

  1. 1.

    Ein Teil der Ergebnisse zu diesem Fall wurden bereits in Rüegger (2017, 2019) veröffentlicht.

  2. 2.

    Alle Angaben sind anonymisiert

  3. 3.

    Weil das Konzept im Netz zu finden ist, wird aus Datenschutzgründen hier auf die Abbildung von Originalauszügen verzichtet.

  4. 4.

    Im der vorliegenden Studie sind die untersuchten Gespräche zwischen den Sozialarbeitenden und ihrer Klientel zu Zwecken der Datenauswertung mittels der Methode der objektiven Hermeneutik nach dem gesprächsanalytischen Transkriptionssystem GAT2 transkripiert. Die Interviews der Forscherin mit den Sozialarbeitenden und mit der Klientel wurden hingegen wörtlich transkribiert (nicht lautsprachlich) und hier für das bessere Verständnis in die deutsche Schriftsprache übersetzt. Sprache und Interpunktion sind leicht geglättet. Diese Genauigkeit erwies sich für die inhaltsanalytische Auswertung der Interviews als ausreichend (siehe Kapitel 2.5).

  5. 5.

    Das Herausarbeiten der diagnostischen Arbeitsweise dieses Sozialarbeiters war Teil des gemeinsamen SNF-Forschungsprojekt mit Roland Becker-Lenz und Joel Gautschi zu „Diagnostik und Arbeitsbeziehungen in der Sozialen Arbeit“ und es werden hier punktuell gemeinsame Analyseergebnisse genutzt. Deshalb wird auch auf die gemeinsame Publikation verwiesenen. Die Ergebnisse werden hier als Kontextwissen für die Gesprächsanalyse eingeführt.

  6. 6.

    Weil der Bericht im Netz zu finden ist, wird auf Originalzitate verzichtet, um den Datenschutz zu gewährleisten.

  7. 7.

    So stellt sich bspw. die Frage, ob ein kräftiger 14-Jähriger sich wirklich ruhig hinsetzt, um sich von seiner kleinen zierlichen Mutter als Bestrafung die Haare abrasieren zu lassen. Bei den Schilderungen wie es zu dem Schlag auf Marisols Backe kam zeigen sich in den Akten Widersprüche: Während in Marisols Akte im ersten Eintrag vermerkt ist, dass der Schlag eine Reaktion der Mutter auf Marisols Verhalten sei, so ist in einem späteren Akteneintrag aufgrund eines Gespräches mit dem Stiefvater notiert [originalgetreue Abschrift]: „Der Grund für dieses Hämatom war in einem Gerangel zwischen Tochter und Mutter andere Tücht zum Schlafzimnmer der Tochter. Die mMutter hat die geschlossene Tür mit Wucht aufgestossen, die Tochter stand dahinter.“

  8. 8.

    Methodisch stellt sich bei der objektiven Hermeneutik vor dem Beginn der Analyse die Frage nach der Interaktionseinbettung bzw. dem sogenannten Protokollstatus. Gefragt wird nach der Art des Datenmaterials, das analysiert wird. Zum Beispiel unter welchen Bedingungen es entstanden ist, warum es erzeugt wurde, und was sich vom Datenmaterial in Bezug auf das Erkenntnisinteresse (nicht) erwarten lässt. Die nachfolgende Beschreibung versucht, die Besonderheiten der protokollierten Praxisform, die fallunspezifisch die Textstruktur charakterisieren, kenntlich zu machen (Wernet 2009).

  9. 9.

    zu GAT 2 vgl. http://www.gespraechsforschung-ozs.de/heft2009/px-gat2.pdf

  10. 10.

    Hier erzeugt die Studie einen Mehrwert gegenüber den vorhandenen sprachwissenschaftlichen Analysen von Gesprächen in Beratungskontexten. Wie ausgeführt, liegen im Fachdiskurs bereits vergleichbare Benennungen der Handlungssegmente vor, aber mit der Studie wird gezeigt, dass „Problemexploration“ nicht gleich „Problemexploration“ ist. Die latente Sinnstruktur kann stark variieren.

  11. 11.

    Solche gedankenexperimentellen Überlegungen vor der Analyse einer Sequenzstelle sind Teil des methodischen Vorgehens in der objektiven Hermeneutik. Durch die Explikation des vorangegangenen Interakts (bzw. hier der Überlegung, wie der erste Redebeitrag formuliert sein könnte) und der Frage, welche Handlungsaufgabe sich für den/die folgenden nun stellt, können gedankenexperimentell möglichst viele sinnhafte Handlungsoptionen expliziert werden. Daraus entsteht die analytische Folie, vor der dann der nächste Interakt beschrieben und dessen Bedeutungsfacetten, Funktionen frei gelegt werden können. Die konkrete Fallstruktur bildet sich so im Laufe der Feinanalyse vor dem Hintergrund der explizierbaren Möglichkeiten jeweils als fallspezifische Selektion aus den objektiven Möglichkeiten ab.

  12. 12.

    Die Analyse der Gesprächseröffnung ist bereits in Rüegger (2017) erschienen.

  13. 13.

    Da die Gesprächsbeteiligten gemäss den Akteneinträgen einige Monate zuvor schon ein Gespräch geführt haben, ist anzunehmen, dass jetzt in diesem Gespräch der Verankerung in den Kontext Soziale Arbeit nicht mehr dieselbe Bedeutung zukommt wie in einem Erstgespräch. Dennoch ist zu erwarten, dass im weiteren Verlauf der Einleitung der Sozialarbeiter etwas über den aktuellen Kontext erwähnt, bspw. warum der Sozialarbeiter den Klienten eingeladen hat, was er besprechen möchte usw.

  14. 14.

    Gemäss den Akteneinträgen und dem Interview hat der Sozialarbeiter „eingeladen“ und es wäre zu erwarten, dass er einleitend sagt, worum es nun geht, nämlich wie er in der Akte vermerkt: „Das Gespräch findet statt, weil von Seiten der installierten Familienbegleitung nach der Rückkehr von Herrn Gehrig von seinem halbjährigen Aufenthalt in [genannt wird die karibische Insel], Widerstände auszumachen waren. Einerseits äusserte sich die mutter nicht mehr in dem Masse und dieser Offenheit, welche vor der Rückkehr Realität war, andererseits sind auch Widerstände betr. der kosten auszumachen.“ (Quelle: Akte Herr Gehrig)

  15. 15.

    Von der Forscherin wurde der Sozialarbeiter darauf hingewiesen, dass er das Gespräch führen soll, wie es seiner üblichen Praxis entspricht. Es ist zwar zu erwarten, dass der Sozialarbeiter im Wissen um die Gesprächsaufzeichnung zunächst von seiner üblichen Routine abweicht, aber in dem erfolgten Ausmass doch etwas überraschend. Fast scheint es, dass er sich mit dieser Einleitung auch als Teil des Forschungsteams präsentiert.

  16. 16.

    Eine andere mögliche Lesart wäre, dass der Sozialarbeiter, wie der Aktenführung und dem Interview zu entnehmen ist, zwar vor der Gesprächseröffnung eine klare Vorstellung hat, aufgrund welcher Probleme sie sich für das Gespräch treffen, welche Probleme die Familie bzw. die Mutter aus seiner Perspektive hat, und was nun geklärt werden muss, aber dass er nun im Gespräch mit dem Klienten dieses Fallwissen dialogisch entwickeln möchte. Diese Lesart musste aber auf der Basis der Analyse des weiteren Gesprächsverlaufes verworfen werden, wie sich noch zeigen wird.

  17. 17.

    Herr Gehrig erklärt im Interview (2), dass aus seiner Sicht aus einer Mücke ein Elefant gemacht wird und sein Ziel darin liegt, das Ganze zu beenden.

  18. 18.

    Die Inanspruchnahme sozialarbeiterischer Beratung erfolgt in vielen Fällen „keineswegs freiwillig, sondern vor dem Hintergrund rechtlicher Regulierungen und möglicher Sanktionen“ (Scherr 2004: 99). Mit anderen Worten: Der Ausgangspunkt einer Fallkonstitution in der Sozialen Arbeit – und somit auch der Bezugspunkt der Hilfe – basiert oft nicht auf einem Interesse der Klientel (Stichwort Zwangskontext der Sozialen Arbeit). Dies zeigt sich bspw. bei der sozialen Diagnostik im Rahmen sogenannter Abklärungen durch Sozialarbeitende im Feld der Kinder- und Jugendhilfe, die gestützt durch entsprechende gesetzliche Grundlagen im Auftrag der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) im Zuge einer eingegangenen Kindeswohl-Gefährdungsmeldung erfolgen. Diese Abklärungen erfolgen oftmals nicht aus einem Interesse der Eltern. Es ist anzunehmen, dass sich hier der Aufbau von Vertrauen und damit verbunden von einer Arbeitsbeziehung als notwendige Grundlage der Abklärung (und allenfalls der erforderlichen Intervention) als besonders anspruchsvoll erweist.

  19. 19.

    Gemäss Heritage (2012) können die Interagierenden in der Aushandlung von Wissen zueinander eine epistemisch höhere (prioritäre) oder eine inferiore Position einnehmen. Labov/Fanshel (1977) haben verschiedene epistemische Status herausgearbeitet, welche die Beteiligten in Bezug auf einen Sachverhalt oder ein Ereignis einnehmen bzw. beanspruchen können: (1) Bei einem sogenannten „A-Event“ handelt es sich um Wissensbestände, für die der Sprecher, die Sprecherin die sogenannte epistemische Autorität beanspruchen kann. Dazu gehören autobiographische Erfahrungen, Gefühle und Wissensbestände aus dem Bereich seiner prioritären Expertise. (2) Bei „B-Events“ liegt die Expertise bei dem Adressaten/bei der Adressatin. Dem Sprecher/der Sprecherin kommt der geringere epistemischen Status dazu. (3) Zu „AB-Events“ zählen solche, bei denen alle Beteiligten die gleiche Expertise für sich beanspruchen können. (4) „D-Events“ sind Sachverhalte, über welche die Interaktionsbeteiligten in einem bekannten Dissens stehen. Deppermann (2015) verweist jedoch darauf, dass für die interaktive Verhandlung von Wissen nicht der absolute Status, sondern der relative epistemische Status entscheidend ist.

  20. 20.

    Die kognitiven Figuren der Erzählung sind „die elementarsten Orientierungs- und Darstellungsraster für das, was in der Welt an Ereignissen und entsprechenden Erfahrungen aus der Sicht persönlichen Erlebens der Fall sein kann und was sich die Interaktionspartner als Plattform gemeinsamen Welterlebens wechselseitig als selbstverständlich unterstellen.(…) Jedes der Kommunikationsschemata der Sachverhaltsdarstellung schöpft aus dem Gesamtvorrat kognitiver Figuren und verwendet spezifische Versionen und Zusammenstellungen von ihnen als elementare Ordnungsbausteine für die Erfahrungsrekapitulation. Im Kommunikationsschema der Sachverhaltsdarstellung des Erzählens sind das: Biographie- und Ereignisträger nebst der zwischen ihnen bestehenden bzw. sich verändernden sozialen Beziehung; Ereignis- und Erfahrungsverkettung; Situationen, Lebensmilieus und soziale Welten als Bedingungs- und Orientierungsrahmen sozialer Prozesse (…).“ (Schütze 1984: 80 f.)

  21. 21.

    Diese Informationen sind gemäss der gewählten sprachlichen Formulierung auch an die nicht anwesenden Dritten adressiert, was die Vermutung zulässt, dass er diese Vorgeschichte nur für diese erzählt. Doch das Vorgehen entspricht offenbar unabhängig vom Forschungskontext einer Routine des Sozialarbeiters. Denn in einem späteren Interview berichtet er, dass er immer zu Beginn eines Gespräches mit der Klientel gewisse „Vorausgeschichten“ wiederhole, um die Klientel „abzuholen“. „Ich muss verifizieren, dass die Sichtweise für ihn [Herrn Gehrig] immer noch gängig, stimmig ist. Das muss ich jedes Mal machen“. (Quelle: Interview 1 mit Sozialarbeiter)

  22. 22.

    Zu Rückversicherungssignalen siehe bspw. Schwitalla (2012).

  23. 23.

    Die Herstellung eines solchen „common ground“ (Deppermann 2015), das heisst eines geteilten Wissens (zum Fall) wird im weiteren Verlauf dieses Gespräches permanent aktualisiert, wobei das bevorzugte Muster der Verständigungssicherung über die eben beschriebene Art erfolgt.

  24. 24.

    Zum Beispiel als Geschichte von Zwillingen, die in der Karibik bei ihrer Grossmutter und ihrer Tante aufwachsen, während ihrer Pubertät von der in der Schweiz lebenden Mutter und ihrem Mann in die Schweiz geholt werden, um eine Zukunftsperspektive zu haben und nun nebst den vielen Herausforderungen, die eine solche Migration während der Pubertät mit sich bringen kann, auch noch unter eher ungünstigen Bedingungen den biographischen Übergang von der Schule ins Berufsleben meistern müssen; oder als Geschichte eines Stiefvaters und Ehemann, der aus nicht weiter bekannten Gründen trotz wiederholten Hilferufe der Tochter während 6 Monaten getrennt von seiner Familie in der Karibik lebt, obwohl es zu Hause mehrere Probleme gibt, und sogar infolge einer Gefährdungsmeldung die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde aktiv wurde.

  25. 25.

    Das ist hier auch zu erwarten, da es sich um einen laufenden Fall handelt. Wie jedoch oben ausgeführt wurde, beginnt auch bei neuen Fällen die Fallkonstitution bereits vor den Gesprächen mit der Klientel, d. h. der Sozialarbeiter wird auch bei vielen Erstgesprächen mit einem bestehenden Bild zur Fallproblematik ins Gespräch einsteigen.

  26. 26.

    Das „ungefähr“ bezieht sich noch auf die Inhalte der vorherigen Ausführungen (siehe 08/09).

  27. 27.

    Wie den Akten zu entnehmen ist, dauerte die „Auslandsreise“ von Herr Gehrig ca. 7,5 Monate. Im Interview (Quelle: Fall 1/Interview 1 Forscherin mit Herrn Gehrig) begründete er den Aufenthalt in der Karibik mit gesundheitlichen Gründen (Arthrose). Der Akte von Frau Gonzales ist zu entnehmen, dass sie davon ausgeht, dass ihr Ehemann in der Karibik eine Freundin hat. Das scheint mit ein Grund für ihre Trennungsabsichten zu sein.

  28. 28.

    Der Sozialarbeiter verwendet an der Stelle das erste Mal die „wir-Form“ und macht eine bestimmte – nicht näher ausgeführte – Zugehörigkeit bzw. ein Kollektiv sichtbar. Es wird für den weiteren Gesprächsverlauf von Interesse sein, an welchen Stellen er auf diese Zugehörigkeit bzw. das Kollektiv (nicht) zurückgreift bzw. welche Funktion dem zukommt.

  29. 29.

    Gemäß der Aktenführung greift der Sozialarbeiter hier nicht den effektiven Ausgangspunkt der Fallarbeit auf. Dort ist beschrieben, dass der Sozialarbeiter nach einem Hinweis der Lehrerein von Marisol auf deren „blaue Backe“ mit Marisol sprach und dann bei Herrn Gehrig einen Hausbesuch machte. Aber auch der Klient insistiert hier nicht und ratifiziert diese neue Version.

  30. 30.

    An der Stelle ist noch unklar, ob der Fachjargon und die damit dargestellte Expertise (Selbstpositionierung) sich an das Forschungsteam richtet oder an Herrn Gehrig.

  31. 31.

    In diesem Konstruktions- und Transformationsprozess werden gemäss Gildemeister/Robert (1997: 32) die von den Professionellen zu bearbeitenden lebensweltlich entstandenen Probleme „zwar dort verstanden, aber gerade nicht in ihrer lebensweltlichen Bestimmung ggfs. Diffusität und lebenswirklichen Verwobenheit belassen“. Vielmehr werden die zu bearbeitenden Probleme ausgehend von professionellen Wissensbeständen redefiniert und ein anderes Bezugssystem übersetzt (auch Stichweh 1992). Ziel dieses „für professionelles Handeln konstitutiven Transformationsprozesses“ (Bauer 2010: 250) liegt mitunter in der Überschreibung der Probleme in den Zuständigkeitsbereich der jeweiligen Profession (oder auch daraus fernzuhalten) (bspw. Pfadenhauer 2003; Bauer/Ahmed/Heyer 2010). Oder wie mit den interaktionstheoretischen Ausführungen von Bommes/Scherr (2012) zum Verhältnis von Organisation und Interaktion deutlich wird, liegt ein weiteres Ziel darin, die Probleme so zu konzipieren, dass sie mit den jeweiligen Lösungsangebote der Organisation bearbeitbar werden.

  32. 32.

    Argumentativ lässt sich dieser Beobachtung entgegenhalten, dass es sich um einen laufenden Fall handelt und das Herausarbeiten der sozialen Diagnose nicht im Zentrum steht, dennoch ist auffallend, dass der Sozialarbeiter bis zu dieser Stelle die Benennung der spezifischen Fallproblematik ausklammert. Er produziert sprachlich bis zu dieser Stelle eine Art „Problem-Ellipse“.

  33. 33.

    Wie den Akteneinträgen (Akte Marisol; Akte Diego) zu entnehmen ist, hat der Sozialarbeiter dies als geeignete Massnahme noch vor einem Gespräch mit den Eltern festgelegt.

  34. 34.

    Wird an diesem Punkt das Kontextwissen (Akten, Interviews) zur familiären Lebenspraxis herangezogen, wird um ein noch vielfaches deutlicher, wie der Sozialarbeiter hier selektiv und punktuell aus der familiären Lebenspraxis bestimmte Aspekte hervorhebt und andere weglässt.

  35. 35.

    Wie in Kapitel 2.5 erwähnt, stammen die Daten aus dem gemeinsamen SNF-Projekt zu Diagnostik und Arbeitsbeziehung mit Roland Becker-Lenz und Joel Gautschi.

  36. 36.

    Da keine Videoaufnahme vorliegt, kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass der Klient zumindest genickt hat.

  37. 37.

    Zum Eingriff als sozialarbeiterische Interventionsform siehe Burkhard Müller (1997).

  38. 38.

    Zum Beispiel K: „weil die Kinder haben so Angst vor der Mutter“ (Z46)

  39. 39.

    Mit der Formulierung „an dene Kindern“ ist im Vergleich zu „ich hänge an den Kindern“ oder gar „ich hänge an meinen Kindern“ eine Distanz zum Ausdruck gebracht, die sich sprachlich im Gespräch immer wieder zeigt. Zudem kommt der Stiefvater wie erwähnt gerade zurück aus einem mehrmonatigem Aufenthalt in der Karibik, die er mit seiner Arthrose begründet. Die Abreise war zu einem Zeitpunkt, als der Fall ins Rollen kam, die Kindes- und Erwachsenschutzbehörde eingeschaltet wurde und insbesondere Marisol sehr grosse Probleme mit dem Weggehen des Stiefvaters bekundete, was auch in Akteneinträgen festgehalten wurde.

  40. 40.

    Burkhard Müller unterscheidet idealtypisch drei Arten sozialpädagogischer Intervention: Eingriff, Angebot, gemeinsames Handeln. „Den Charakter des Eingriffes hat sozialpädagogische Intervention immer, wenn sie mit der Ausübung von Macht verbunden ist.“ (Müller 1997: 107)

  41. 41.

    Sie sind aber auf der praktischen Ebene für die Betroffenen von grosser Relevanz, da diese im untersuchten Fall die vom Professionellen gewählten – und der Familie unter Erzeugung eines Leidensdrucks zugemuteten – Interventionen nach sich zogen.

  42. 42.

    Die Gesprächseröffnung ist geprägt durch den Verwendungszweck Forschung, womit ein Teil der herausgearbeiteten Praktiken (auch) dem Forschungskontext geschuldet sind.

  43. 43.

    Der epistemische Status in Bezug auf das Wissen zum Fall wird aber gemäss der Analyse im Gesprächsverlauf laufend neu angezeigt bzw. ausgehandelt und verändert sich dynamisch.

  44. 44.

    Im dritten Fall mit einer Fachperson aus einem sogenannten Abklärungsdienst wird sich zeigen, dass dies nicht immer so ist. Diese andere Fachperson nutzt das erste Gespräch, um sich ein Bild zum Fall zu machen.

  45. 45.

    Letzteres kann auch dem Forschungskontext geschuldet sein.

  46. 46.

    Unproblematisch in dem Sinne, dass die als Ausgangspunkt der Zusammenarbeit genannte Verabschiedung von Tochter und Vater anlässlich seiner Auslandreise Teil einer erwartungskonformen familiären Lebensführung sein kann und nicht unbedingt in den Gegenstandsbereich der Sozialen Arbeit fällt.

  47. 47.

    Letzteres kann aber auch als Darstellung von Expertise gegenüber dem Forschungsteam interpretiert werden.

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Rüegger, C. (2021). Fall 1: Der „Fall Gehrig-Gonzales“ – Eine Fallkonstitution im Kontext der Schulsozialarbeit. In: Fallkonstitution in Gesprächen Sozialer Arbeit . Edition Professions- und Professionalisierungsforschung, vol 13. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-34193-0_3

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