Zusammenfassung
In diesem Beitrag wird gezeigt, dass wichtige liberal-ökonomische Klassiker wie Smith oder Mill einen ganzheitlichen Blick auf den Menschen hatten, den Zusammenhang von Körper und Geist bei der Herausbildung menschlicher Fähigkeiten beachteten und auch schon frühe Schlüsse für notwendige staatliche Unterstützungen gerade im Bildungs- und Erziehungsbereich zogen. Durch die Formalisierung der Ökonomik in der Neoklassik gingen viele dieser Überlegungen verloren und es kam zur Überinterpretation des Modells des Allgemeinen Gleichgewichts als Abbild der Realität statt eines intendierten Idealmodells zur Identifizierung realer Abweichungen von diesem Kristallisationsgebäude. Mit der erweiterten Neoklassik wurden die Marktsteuerungsprobleme wieder deutlicher fokussiert, aber erst mit neueren, paradigmatisch offeneren Ansätzen wie der Verhaltensökonomik oder der kontextualen Ökonomik rücken die Vorstellungen der Klassiker wieder in den analytischen Mittelpunkt. Die damit rechtfertigungsfähige Sozialpolitik ist allerdings im Rahmen des tendenziell alimentierenden und fragmentierten Aufbaus des Sozialstaats nicht trivial umsetzbar. Zudem ist eine gewisse Vorsicht bei Vorschlägen aus der Ökonomik zu erkennen, die Körperlichkeit explizit zu thematisieren, weil befürchtet wird, damit eugenische Diskussionen ungewollt zu beleben.
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Notes
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Es gibt aus der Ökonomik und anderen Disziplinen aber im Gegensatz zu Smith oder Mill auch Extremposition libertärer Überlegungen, die die Sozialpolitik i. S. eines Eingriffs des Staates in Marktergebnisse völlig ablehnen. Freiheit wird in diesen Theorien gemäß Schmidt (2017) ausschließlich als negative Freiheit verstanden, als Abwehrrecht vor allem gegen den Staat. Extrempositionen vertreten die sogenannten Anarchokapitalisten, unter ihnen vor allem Hans-Hermann Hoppe (2006) und Steven Landsburg (1997). Ihr normatives Argument fokussiert in erster Linie die Eigentumsrechte. Hoppe (2006) z. B. schließt aus seinen Überlegungen, dass eine Eigentumsrechtsordnung umfassend sein müsse. Alle Güter sollen sich danach im Privateigentum befinden und sollen unantastbar sein. Nur freiwillige Verträge sollen Veränderungen rechtfertigen können und vor allem soll es unzulässig sein, diese Eigentumsrechte durch eine nachträgliche Korrektur im Sinne politischer Interventionen zu verändern (Hoppe 2006, S. 332). Daher sind nach Hoppe die Eigentumsrechte gegenüber allen anderen Rechten lexikographisch vorrangig. Man erkennt bei Hoppe eine deutliche Überschneidung normativer und positiver Argumente. Denn einerseits widersprechen in seiner Argumentation sozialpolitische Eingriffe der Unantastbarkeit und Vorrangigkeit der Eigentumsrechte, andererseits wird unterstellt, dass solche Eingriffe der a priori gesetzten Überlegenheit einer rein marktlichen Organisation der Gesellschaft mit unabwendbaren Effizienzverlusten verbunden sind. Schmidt (2017) hebt besonders hervor, dass bei den Radikalkapitalisten nicht einmal das Existenzrecht der Menschen als Argument akzeptiert wird, Eigentumsrechte anzutasten. Das führt dann zu Vorstellungen, Umverteilung als Diebstahl anzusehen und dem Recht auf die Unantastbarkeit des eigenen Körpers keine höheren Status zuzugestehen als dem Recht auf die Unantastbarkeit des eigenen Bruttoeinkommens. Natürlich sind viele der Argumente angreifbar, so etwa hinsichtlich der Fragen zur Idee vorpolitisch entstandener und institutionenunabhängiger Eigentumsrechte. Diese anarcholiberale Position ist aber tatsächlich auch eine deutliche Minderheitenposition. Selbst von Hayek (z. B. 1982) plädierte zumindest für eine Grundsicherung, die allerdings eine Sicherung der physischen Existenz nicht weit überschreiten sollte, um hinreichend Anreize zur Eigeninitiative zu bieten. Hayek lehnte auch nicht eine Marktregulierung an sich ab, wenn sie rechtsstaatlich gedeckt ist. Ebenso billigte er weitergehende sozialstaatliche Setzungen wie Versicherungen oder Soziale Dienste. Seine Kritik richtete sich eher – gebunden an die Erfahrungen Mitte des 20. Jahrhunderts – auf komplett zentralistisch ausgerichtete Planwirtschaften (Caldwell 2020). Seine politischen Ansichten und Empfehlungen nach dem Putsch Pinochets in Chile sind zu dieser theoretischen Position allerdings im Widerspruch, auch wenn Hayek es mit einem speziellen Demokratieverständnis zu rechtfertigen suchte.
Hinter all diesen Ideen der staatskritischeren Liberalen und speziell der Anarchokapitalisten stecken natürlich völlig andere Menschen- und Gesellschaftsbilder als die der Klassiker wie Mill und Smith.
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Walras selbst hat übrigens die Grenzen seines Modells durchaus gesehen. Er hat sich auch nicht auf die Position gestellt, dass Marktkoordination stets Vorrang vor dem Staat haben sollte. Vielmehr hatte er marktsozialistische Vorstellungen mit vielen Freiheitsrechten für die Bevölkerung, aber einer Sozialisierung von Grund und Boden mit dem Ziel, dass sich der Staat über Mieten und Pachten, aber nicht allgemeinen Steuern finanzieren sollte.
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Kubon-Gilke, G. (2022). Laissez faire, Alimentierung, Befähigung. Begrenzter Perspektivwechsel der Ökonomik oder die Ökonomik der sozial ‚Unnützlichen‘. In: Huster, EU., Schache, S., Wendler, M. (eds) Körper(lichkeit) im Grenzbereich sozialer Ausgrenzung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-34013-1_6
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