Dieser Teil widmet sich einer ausführlichen Darstellung der Situation mehrsprachiger Pflegebedürftiger in Deutschland. Dafür soll zunächst ein Einblick in demografische Zahlen die Relevanz und auch zugleich die Heterogenität der Gruppe verdeutlichen. Im Anschluss werden besondere Bedarfe herausgearbeitet, die dann zu einer genaueren Darstellung der (sprachlichen) Situation mehrsprachiger Menschen in deutschsprachigen Pflegeheimen überführen. Anhand von drei Fallbeispielen werden unterschiedliche sprachliche Konstellationen beschrieben, wobei ein besonderes Augenmerk auf die Folgen der sprachlichen Situation für die Pflegebedürftigen gelegt wird. Schwerpunktmäßig wird in diesem Teil die Situation russischsprachiger Menschen fokussiert.

Werden auch Mehrsprachige pflegebedürftig? Ein Überblick über aktuelle Zahlen

Laut Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge aus dem Jahr 2019 (u. a. veröffentlicht in der 9. Ausgabe des Minas: Atlas über Migration, Integration und Asyl und basierend auf den Ergebnissen der Zahlen des Statistischen Bundesamtes aus dem Mikrozensus 2018) lebten im Jahr 2018 in Deutschland 81,6 Mio. Menschen, von denen 19,6 Mio. einen Migrationshintergrund aufwiesen. Als Person mit Migrationshintergrund wird dabei definiert, wer „selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt“ (Destatis, 2019, S. 4). Von diesen entfällt mit 16,8 % die größte Anzahl auf Menschen, die aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion stammen, gefolgt von 13,3 % mit einem türkischen und 10,8 % mit einem polnischen Migrationshintergrund (Minas, 2019, S. 14). Damit stellt bei dieser statistischen Berechnung eine potenziell russischsprachige Gruppe an Menschen den größten Anteil. Daraus jedoch abzuleiten, dass (1) alle auf diese Weise erfassten Personen zwangsläufig russischsprachig sozialisiert sind oder (2) damit die gesamte Gruppe russischsprachiger Personen in Deutschland erfasst wäre, ist unzulässig. Dies basiert auf vielen Gründen, vorrangig darauf, dass nicht aus der Erfassung der ursprünglichen Herkunft und Staatsangehörigkeit auf die erworbene Sprache geschlossen werden kann (und letzteres in keinen Erhebungen systematisch abgefragt wird). So kann es sein, dass Personen aus der ehemaligen Sowjetunion nicht (oder nicht nur) Russisch erworben haben und auch eine zahlenmäßig gewichtige und wachsende Gruppe an Menschen mit nicht sowjetischer oder russischer Staatsangehörigkeit russischsprachig aufgewachsen sein kann. Letzteres betrifft v.a. die Menschen, die als sog. Russlanddeutsche bzw. Spätaussiedler bezeichnet werden und die stetig wachsende Anzahl an Kindern, die in russischsprachigen Familien aufwachsen und bereits in zweiter Generation in Deutschland geboren sind (womit sie nicht länger den definierten Migrationshintergrund aufweisen). Diese Problematik der statistischen Erfassung betrifft z. T. auch die Gruppen der Personen mit türkischem und polnischem Hintergrund, ist aber in der jeweiligen Ausprägung für jede Migrantengruppe gesondert zu analysieren (da z. B. nicht jede Gruppe auch in zweiter oder dritter Generation die Sprache beibehält). Dennoch bleibt auf der Grundlage dieser Zahlen wohl zu behaupten, dass die Gruppe russischsprachiger Menschen eine, wenn nicht die zahlenmäßig am stärksten vertretene sprachliche Minderheit in Deutschland ist, während die polnischsprachigen Menschen auf Rang drei anzusehen sind. Damit gehören zwei slavische Sprachen zu den am meisten verbreiteten Sprachen – neben Deutsch – in Deutschland. Ihre zahlenmäßige Vertretung ist damit logischerweise in jeder Altersgruppe entsprechend bedeutsam zu erwarten.

Verweilen wir hier jedoch weiterhin auf der größten Gruppe – die der russischsprachigen Menschen: Betrachtet man sich etwas genauer die Schätzungen der Anzahl russischsprachiger Menschen in Deutschland, so differieren die Angaben hier recht stark. Die bereits oben zitierten Angaben des Statistischen Bundesamtes belaufen sich auf umgerechnet ca. drei Millionen aus der ehemaligen Sowjetunion, bzw. an anderer Stelle werden 1,4 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund aus der Russischen Föderation ausgeflaggt (Destatis, 2019, S. 128 ff.). Diese Zahlen sind als statistisches Minimum zu sehen und werden je nach Art der Zählung unterschiedlich hochgerechnet, wenn man von der Staatsangehörigkeit abstrahiert und somit auch die o.g. Gruppen inkludiert. So kam Brehmer (2007) mit seiner Auswertung der damals vorliegenden statistischen Angaben bereits für das Jahr 2006 auf knapp drei Millionen russischer Sprecher (vgl. Brehmer, 2007, S. 167), Pabst ging für denselben Zeitraum von fünf Millionen aus (vgl. Pabst, 2007, S. 10). In einer Sendung des Deutschlandfunk Kultur aus dem Jahr 2018 werden „etwa 6 Millionen russischsprachige Menschen“ in Deutschland angesetzt (Dornblüth & Franke, 2018), womit eine Verdopplung der ministerialen Zahl erreicht wäre.

Widmen wir uns nun vor diesem Hintergrund der Frage nach der Verteilung der Altersstrukturen. Betrachtet man auch hier zunächst die gesamte Gruppe von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland und legt die offiziellen Zahlen zugrunde, so ist dort eine Verschiebung der Altersstruktur im Vergleich zur Gruppe ohne Migrationshintergrund zu beobachten: letztere ist in den höheren Lebensjahren überdurchschnittlich mehr vertreten, erstere in den jüngeren Lebensjahren, was eindrücklich durch die prozentuale Aufschlüsselung der Bevölkerungszahlen des Statistischen Bundesamtes (Destatis, 2019, S. 37) dargestellt ist. Dort ist abzulesen, dass bis zum Alter von 45 Jahren eine höhere Prozentzahl auf die Gruppe mit Migrationshintergrund entfällt, während es sich ab 45 Jahren umdreht.

Für diesen Fakt gibt es viele Erklärungsansätze (vgl. hierzu u. a. den Schwerpunktbericht des Robert Koch-Instituts von Razum et al., 2008), unter ihnen wird häufig auf den sog. „Healthy-migrant“ Effekt, der von einer Migration von jungen und gesunden Menschen ausgeht (vgl. z. B. ebd., S. 131 oder ausführlicher Razum & Rohrmann, 2002 und auch Razum, 2006) sowie auf eine höhere Geburtsrate in der Gruppe von Menschen mit Migrationshintergrund verwiesen (vgl. hierzu auch die informative Box 2 „Grundlegende Annahmen der Bevölkerungsvorausberechnung von Personen mit Migrationshintergrund“ aus dem Bericht der Friedrich-Ebert-Stiftung, 2015, S. 14). Hinzu kommt jedoch auch eine (möglicherweise) geringere Lebenserwartung von Migrant/innen (ausführlicher dazu unten, vor allem bedingt durch die körperlichen und psychischen Auswirkungen der z. T. traumatischen Migrationserfahrung oder damit einhergehender schwerer körperlicher Arbeit) oder auch die mögliche Remigration im Alter (einen Überblick hierzu geben auch Baykara-Krumme et al., 2012). Evtl. wird sich dies im Laufe der kommenden Jahrzehnte durch die besseren Lebensbedingungen sowie einem dauerhaften Verbleib in Deutschland angleichen – dies legen zumindest die Vergleichszahlen von 2017 zu 2018 des Statistischen Bundesamtes (Destatis, 2019, S. 39) nahe, bei denen auch für die älteren Gruppen ein prozentualer Zuwachs verzeichnet ist. Grundsätzlich bleibt gleichermaßen in der Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund zu erwarten, dass ein demografischer Wandel stattfindet und mehr Menschen in ein höheres Alter kommen. Dies bestätigen auch Baykara-Krumme (2007) oder auch Teczan-Güntekin und Razum (2015, S. 1564), die von einem zu erwartenden Anstieg bis 2030 sprechen und prognostizieren, dass „[d]ann […] in Deutschland jeder vierte Mensch über 60 Jahre einen Migrationshintergrund haben [wird]“.

Für das Jahr 2018 lässt sich von einer offiziellen Zahl aus dem Mikrozensus von 1,9 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund ab einem Alter von 65 ausgehen. 75 Jahre und älter sind 787.000 von ihnen (vgl. Destatis, 2019). Damit ist eindeutig, dass zum aktuellen Zeitpunkt zahlreiche Menschen mit Migrationshintergrund das Rentenalter und höher erreicht haben.

Mit steigendem Alter erhöht sich die Wahrscheinlichkeit von Alterserkrankungen und damit einhergehend von Pflegebedürftigkeit (vgl. 6. Bericht der Bundesregierung = Bundesgesundheitsministerium, 2016, S. 18 und auch den Pflege-Report von Jacobs et al., 2017, S. 73). Dies gilt ebenso für die Gruppe von Migrant/innen, obgleich hier die Frage nach begünstigenden oder verstärkenden Faktoren unter Migrations- und/oder Mehrsprachigkeitsbedingungen (noch) nicht einfach zu beantworten ist (darauf weisen auch Razum & Spallek, 2012, S. 162 f. hin, indem sie die unzureichende Datengrundlage für diese Bevölkerungsgruppe anmerken). Einige Studien weisen z. B. einen vermehrten sozialen Zusammenhalt unter Migrant/innen nach und leiten daraus einen gesundheitlichen Vorteil ab (vgl. Razum & Spallek, 2012, S. 169, die dies jedoch als bislang hypothetisch darstellen, aber an unterschiedlichen Stellen betonen). (Psycho)Linguistische Studien diskutieren einen sog. Mehrsprachigkeitsvorteil im Alterungsprozess, andere nehmen einen psychischen (Spallek & Zeeb, 2010 und auch Aichberger & Rapp, 2011) und physischen Nachteil bzw. höhere allgemeine Gesundheitsrisiken (u. a. zusammenfassend die Friedrich-Ebert-Stiftung, 2015, S. 36) und auch ein erhöhtes Armutsrisiko an (vgl. Razum et al. 2008, Kap. 5) und sprechen davon, dass Menschen mit Migrationshintergrund um bis zu 10 Jahre früher entsprechenden Alterskrankheiten bzw. Pflegebedürftigkeit unterliegen (vgl. Teczan-Güntekin et al., 2015, S. 9). Einen differenzierten Überblick inkl. Darstellung der vielfach verzahnten Faktoren hierzu liefern Razum und Spallek (2012) und schlagen ein lebenslaufbezogenes Modell vor, mit dessen Hilfe die gesundheitlichen Auswirkungen von Migration auf das Altern sichtbar werden.

Diese Debatte rankt sich dabei vorrangig um die Personen, die im Laufe ihres Lebens eine eigene Migrationserfahrung durchlebt haben. Hierbei wird häufig davon ausgegangen (vgl. u. a. Aichberger & Rapp, 2011), dass die Migration, die dahinterstehenden Gründe und Erfahrungen im Ankunftsland inkl. Fremdheitsgefühl und resultierendem sozialem Abstieg traumatische Folgen haben, die oft im Laufe der Biografie verdrängt bzw. verschwiegen werden. Gerade diese Verdrängung begünstigt jedoch ein Aufbrechen und verstärktes erneutes Durchleben im Alter, ganz besonders bei Erkrankungen, die mit einer Störung der Realitätswahrnehmung (wie bspw. Demenz) einhergehen (vgl. ebd.). Dies gilt in gleicher Weise für andere traumatische Erfahrungen und deren Aufarbeiten im Laufe der Biografie und damit logischerweise auch für Menschen ohne Migrationshintergrund (vgl. z. B. Glaesmer, 2014 oder diverse Ausführungen dazu von Radebold et al., 2009). Die mögliche Verdrängung durchlebter traumatischer Ereignisse betrifft die momentane Gruppe älterer Menschen. Wie es für die nachfolgenden Generationen aussieht, ist aktuell nicht abschließend festzuhalten. Es ist allerdings bekannt, dass sich grundlegende biografische Einschnitte und Traumaerfahrungen auch in den Folgegenerationen festsetzen (vgl. hierzu die in anderen Kontexten bekannte Weitergabe von traumatischen Erfahrungen bis in die dritte und auch vierte Generation, wie bspw. beschrieben in Drescher et al., 2018). Welche Auswirkungen im Alter hier zu erwarten sind, ist zum gegebenen Zeitpunkt nicht absehbar, von einer direkten Vergleichbarkeit der gesundheitlichen Ausprägungen mit der Gruppe ohne entsprechenden Migrationshintergrund bleibt jedoch auch auf längere Sicht nicht auszugehen.

Zugleich dürfte aus den bisherigen Ausführungen ersichtlich geworden sein, dass es sich bei „der Gruppe von (älteren) Menschen mit Migrationshintergrund“ natürlich keineswegs um eine homogene Gruppe handelt, auf die alle genannten Probleme und Auswirkungen gleichermaßen zutreffen. Wie bereits oben erwähnt, muss hier die jeweilige Subgruppe genau betrachtet und für sie differenziert die Spezifika benannt werden. Dies belegen auch die entsprechenden Ausführungen im Pflege-Report (Jacobs et al., 2017, S. 74), in denen vor einem solchen verallgemeinernden Fehlschluss gewarnt und von daraus resultierenden Entwicklungen von speziellen Angeboten für eine solch vermeintliche homogene Gruppe berichtet wird, die jedoch in der Folge nicht von der Gesamtheit der Gruppe angenommen werden.

Unzweifelhaft bleibt, dass es eine Gruppe an Menschen mit Migrationshintergrund gibt, die bereits in einem Alter ist, in dem mit Erkrankungen und Pflegebedürftigkeit zu rechnen ist. Auch hierüber lassen sich statistische Zahlen unterschiedlichster Art finden, die einen mehr oder weniger guten Eindruck von der Quantität liefern. Das Hauptproblem dieser statistischen Angaben liegt auch hier darin, dass in entsprechenden Befragungen selten die HerkunftFootnote 1 und noch seltener die im Laufe des Lebens verwendeten Sprachen mit erhoben werden (vgl. die Ausführungen dazu im Bericht der Friedrich-Ebert-Stiftung, 2015, S. 37 und im Pflege-Report von Jacobs et al., 2017, S. 73). Die vorliegenden Zahlen sind damit als Schätzungen einzustufen, denen zufolge „der Anteil der Pflegebedürftigen dem in der Gesamtbevölkerung [ähnelt]“ (ebd.). Zugleich wird dort als durchschnittliches Alter für Pflegebedürftigkeit von Menschen mit Migrationshintergrund 62,1 Jahre im Vergleich zu 72,7 Jahre der „autochthonen Bevölkerung“ (ebd., S. 74) angegeben. In welcher Weise dieser logische Widerspruch aufgelöst werden kann, wird dort nur sehr kondensiert benannt. Letztlich bietet sich – neben einer weiten Definition von „ähneln“, die 10 Jahre nicht als nennenswerten Unterschied ansieht – der Rückgriff auf oben bereits ausgeführten Unterschied in der Altersstruktur der Menschen mit und ohne Migrationshintergrund an: Menschen mit Migrationshintergrund sind im Durchschnitt jünger, weisen aber zugleich einen gleichen Anteil an Menschen mit Pflegebedürftigkeit auf, da diese im Durchschnitt früher in selbige geraten (und dies ist wiederum mit dem ebenfalls bereits ausgeführten anders gearteten Gesundheitsrisiko verbunden). In der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (2015, S. 38) wird hingegen das Problem klar benannt: „Da keine validen migrationsspezifischen Pflegequoten vorliegen, werden für die Personen mit Migrationshintergrund die gleichen Pflegequoten angesetzt, wie sie für die Gesamtbevölkerung vorliegen“Footnote 2. Die auf dieser Prämisse beruhenden Berechnungen und Prognosen pflegebedürftiger Menschen mit Migrationshintergrund sehen eine Zahl von 257.600 im Jahr 2013 und ein Anstieg auf 481.200 Personen für 2030 (bei insgesamt 3,53 Mio. pflegebedürftiger Personen in Deutschland) vor (vgl. ebd.). Aus der entsprechenden Abbildung („Anzahl pflegedürftiger Migrant_innen 2013–2030 bei konstanten Pflegequoten“ ebd., S. 39) ist für 2020 von einer ungefähren Zahl von 350.000 Personen auszugehen.

Welche Bedürfnisse und Besonderheiten bringt nun diese zahlenmäßig als nicht kleines Randphänomen einzuschätzende Gruppe an Menschen mit? Unter Berücksichtigung der o.g. Limitationen in der Vergleichbarkeit der Bedürfnisse innerhalb der Gruppen von entsprechenden Personen mit Migrationshintergrund sei darauf hingewiesen, dass Aussagen darüber existieren, inwiefern von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Pflegebedürftigen mit und ohne Migrationshintergrund ausgegangen werden kann. So verweist der Pflege-Report (Jacobs et al., 2017, S. 75) auf Ähnlichkeiten, wie z. B. im vorrangig geäußerten Wunsch, von Familienangehörigen und so lange wie möglich im eigenen Heim gepflegt zu werden. Unterschiede werden in der sprachlichen Situation und daraus resultierenden Nachteilen der Informationsbeschaffung gesehen (ebd., S. 76). Des Weiteren wird an unterschiedlichen Stellen (ebd. und Kohls, 2012, S. 2) darauf hingewiesen, dass Pflegebedürftige mit Migrationshintergrund häufiger in einer höheren Pflegestufe eingruppiert sindFootnote 3, das Pflegegeld häufiger für den Lebensunterhalt notwendig ist und Angehörige häufiger dem Wunsch nach familialer Pflege nachkommen (vgl. den Wert von 98 % zu Hause gepflegter türkeistämmiger Personen im Pflege-Report von Jacobs et al., 2017, S. 76 unter Verweis auf Okken et al., 2008). Dabei wird für den letzten Punkt ein Wandel in Richtung Akzeptanz professioneller Pflege und entsprechender Einrichtungen prognostiziert (vgl. Jacobs et al., 2017, S. 77).

Hinsichtlich der Zusammensetzung dieser in sich heterogenen Gruppe lassen sich wiederum aus mittlerweile bekannten Gründen keine gesicherten Aussagen treffen. Die oben zitierten statistischen Zahlen legen jedoch nahe, von Vertretern aus den drei größten Migrantengruppen auszugehen, womit russisch-, türkisch- und polnischsprachige Pflegebedürftige determiniert wären. Hinsichtlich ihrer Verteilung differieren die Angaben wiederum: Einige gehen von der größten Gruppe Türkeistämmiger aus, wie es Schouler-Ocak (mit Verweis auf eine nicht mehr aufrufbare Quelle von Kohls 2015) tut und von der größten Gruppe von 65-jährigen und älteren Personen „aus der Türkei, gefolgt von Polen und der Russischen Föderation“ spricht (Schouler-Ocak, 2018, S. 38). Die Grundlage ist dabei einerseits die allgemein verbreitete Annahme, dass dies die insgesamt angenommene größte Migrantengruppe in Deutschland sei und andererseits die historische Entwicklung der Migration aus der Türkei: Eine Vielzahl kam als Gastarbeiter nach Deutschland und verblieb hier bis zum aktuellen Zeitpunkt. Mittlerweile sind sie in dem vulnerablen Alter angekommen, das eine Pflegebedürftigkeit wahrscheinlich macht. Diese Dominanz des Türkischen lässt sich leicht in der aktuellen (Wissenschafts)Debatte ablesen: Von den in überschaubarer Anzahl vorliegenden Studien zu Bedarfen und Besonderheiten von pflegebedürftigen Migrant/innen entfällt ein großer Teil auf die TürkischsprachigenFootnote 4, wohingegen nur einige Studien, aber auch einige Angebote für russischsprachige Pflegebedürftige existieren, für polnischsprachige Betroffene hingegen kaum. Andere Schätzungen gehen jedoch von einem überproportional großen Anteil russischsprachiger Menschen aus, wie ebenfalls Schouler-Ocak schreibt (2018, S. 38), die hier auch die Gruppe der Spätaussiedler mit bedenkt. Gleiches konstatiert der vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Auftrag gegebene Wegweiser Demenz. Dies erscheint auch vor dem Fakt wahrscheinlich, dass die russischsprachige sog. vierte Migrationswelle, einsetzend mit Beginn der Perestrojka (vgl. z. B. Karl, 2012, S. 40), alle Altersstufen umfasste, damit also bereits zu dem Zeitpunkt auch ältere Menschen nach Deutschland kamen, hier durch die besseren Lebensbedingungen vergleichsweise (noch) älter wurden und aus gleichem Grund mehr von ihnen über die Jahrzehnte hinweg in die älteren Lebensjahre kommen. Vergleichbare Zahlen für das Polnische sind mir nicht bekanntFootnote 5, für alle Gruppen gilt hier, dass gesicherte Zahlen nicht existieren. Dennoch ist schlussfolgernd davon auszugehen, dass unter der identifizierten Gruppe pflegebedürftiger Menschen mit anderssprachigem Hintergrund in Deutschland Personen mit Russisch als (einer) ihrer Erstsprache zu einem nicht geringen Anteil vertreten sind (dies bestätigen auch Gladis et al., 2014, S. 25, die Personen aus Russland als zahlenmäßig größte Gruppe an Pflegebedürftigen mit Migrationshintergrund in Baden-Württemberg identifizieren. Interessanterweise deckt sich die Zahl fast mit der o.g. Zahl von Personen aus der ehemaligen Sowjetunion und liegt bei 16,9 %).

Widmet man sich nun der Frage, welche Gründe hinter einer Pflegebedürftigkeit stehen, so muss dies mit dem Hinweis auf den Zusammenhang von Alter, Pflegebedürftigkeit und Demenz beantwortet werden. Die steigende Prävalenz der Pflegebedürftigkeit mit steigendem Alter ist z. B. im Pflege-Report (Jacobs et al., 2017, S. 258) eindeutig dargelegt: Bei der Gruppe von Menschen bis 60 Jahre betrifft dies eine Person von hundert, steigt für die 60–65-Jährigen auf 2,5, bis 79-Jahre betrifft es bereits jeden Zehnten, bis 84 jeden Fünften und steigert sich bei den über 90-Jährigen auf mehr als die Hälfte aller Personen (60,4 %). Grundsätzlich wird mit einem Anstieg der erwarteten Zahlen von Pflegebedürftigen ausgegangen, was vor allem mit einem Anstieg der sog. „Hochaltrigen“ – gemeint sind hier Menschen, die 80 Jahre und älter sind – verbunden ist (vgl. hierzu die Zahlen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, 2016, S. 3, die von einer Steigerung dieser Personengruppe von 5 % der Gesamtbevölkerung im Jahr 2013 auf prognostizierte 12 % für das Jahr 2060 ausgehen). Dies wiederum hängt mit den besseren Gesundheitsbedingungen und dem demografischen Wandel zusammen (vgl. ebd.). Hier sei auch auf den wachsenden Geschlechterunterschied hingewiesen: Grundsätzlich sind mehr Frauen als Männer von Pflegebedürftigkeit betroffen, was sich mit wachsendem Alter noch verschärft (vgl. z. B. Pflege-Report von Jacobs et al., 2017, S. 258) – dies hängt u. a. mit der höheren Lebenserwartung von Frauen zusammen.

Als einer der wichtigsten Gründe für Pflegebedürftigkeit im Alter ist eine demenzielle Erkrankung zu nennen. Laut dem Robert Koch-Institut (Weyerer, 2005, S. 7) ist sie gar der häufigste Grund für Pflegebedürftigkeit. Demenz ist dabei auf zweierlei Weisen mit Pflegebedürftigkeit und Alter verbunden: Zum einen steigt die Prävalenz für Demenz mit zunehmendem Alter (vgl. Deutsche Alzheimer Gesellschaft, 2016, S. 3, wo für 65-69-Jährige eine Prävalenz von 1,5 % angegeben wird, die auf rund 40 % in der Gruppe der über 90-Jährigen steigt), und zum zweiten steigt im Verlauf der demenziellen Erkrankung die Wahrscheinlichkeit, pflegebedürftig zu werden (vgl. Pflege-Report von Jacobs et al., 2017, S. 77 und Deutsche Alzheimer Gesellschaft, 2016, S. 6, die auf eine 100%ige Pflegebedürftigkeit im schweren Stadium verweisen). Dies gilt besonders mit den Änderungen des Ersten Pflegestärkungsgesetzes (Bundesgesundheitsministerium, 2015), in deren Folge die Anerkennung von Pflegegraden gerade für Demenzerkrankte verbessert wurde (Informationen dazu finden sich u. a. auf der Internetseite Wegweiser Demenz (wegweiser-demenz.de) des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend).

Was die Zahlen Demenzerkrankter in Deutschland anbelangt, so sind diese bereits ohne Berücksichtigung von Mehrsprachigkeit bzw. Migration „unbefriedigend“ (Deutsche Alzheimer Gesellschaft, 2016, S. 2), da weder Statistisches Bundesamt noch die Statistischen Landesämter rechtlich befugt sind, diese gesundheitlichen Daten zu erheben (vgl. ebd.). Die Angaben in z. B. Statistiken von Pflege- und Krankenversicherungen „basieren nicht auf validierten Diagnosen“ (ebd.). Die Deutsche Alzheimergesellschaft führt daher aus, dass die verlässlichste Zahl auf demografischen Angaben (wie Altersstrukturen) und der Prävalenzrate für Demenzerkrankungen beruht und zieht selbst die Raten heran, die durch das Projekt EuroCoDe von Alzheimer Europe ermittelt wurden (vgl. ebd., S. 3). Für das Jahr 2016 ergaben diese eine Krankenzahl von ca. 1,6 Mio. Menschen in Deutschland, im Jahr 2018 veröffentlichte das Informationsblatt 1 der Deutschen Alzheimergesellschaft die Zahl von rund 1,7 Mio. Menschen mit mehr als 300.000 Neuerkrankungen pro Jahr und einem mittleren Anstieg der Zahl um 40.000. Die aktuellsten Zahlen, auch wiederum von H. Bickel im Auftrag der Deutschen Alzheimer Gesellschaft erstellt, sind im Informationsblatt 1 von Juni 2020 veröffentlicht. Interessanterweise ist hier von einer etwas niedrigeren Zahl als 2018 zu lesen („rund 1,6 Mio.“) bei gleicher Höhe an Neuerkrankungen, die Hochrechnungen für das Jahr 2050 liegen zwischen 2,4 und 2,8 Mio. Erkrankten (vgl. Deutsche Alzheimer Gesellschaft, 2020, S. 1).

Bezogen auf die Gruppe von Menschen mit Migrationshintergrund können abermals die bereits hinlänglich kommentierten statistischen Unzulänglichkeiten ins Feld gezogen werden. Dennoch gibt es auch hierzu geschätzte Zahlen, die sicherlich als ungefähre Orientierung dienen können. So zitiert Schouler-Ocak (2018, S. 38) eine Quelle aus dem Jahr 2016, die eine Zahl von 108.000 Menschen mit Migrationshintergrund und einer Demenz angibt. Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (2015) berechnete mit Bezugsjahr 2013 (92.300 Menschen) den Zuwachs an Demenzerkrankungen bei Personen mit Migrationshintergrund für das Jahr 2020 (ca. 130.000) und 2030 (203.300)Footnote 6. Geht man für diese Zahl nun davon aus, dass sie (zumindest über kurz oder lang) in die Pflegebedürftigkeit geraten, so wird klar, von welcher Relevanz dieses Thema im Bereich der Pflege und damit auch der Pflegekommunikation istFootnote 7.

Schlagen wir nun den Bogen zur Verteilung der Pflegebedürftigen auf die unterschiedlichen (Langzeit-)Versorgungsformen (zu Hause durch Angehörige, zu Hause mit ambulantem Pflegedienst und vollstationär in Pflegeheimen). Hier soll zunächst die Zahl des Statistischen Bundesamtes (Destatis, 2019) zugrunde gelegt werden, die von 3,4 Mio. Pflegebedürftigen in Deutschland für 2017 ausgeht. Von ihnen werden 76 % zu Hause versorgt – der Großteil durch Angehörige (51,7 %), 24,3 % mit Unterstützung von ambulanten Pflegediensten. 24 % (dies entspricht 820.000) von ihnen sind vollstationär in einem Pflegeheim versorgt.

Diese Angaben lassen sich dabei jedoch keineswegs auf die Gruppe von Personen mit Migrationshintergrund umrechnen. Wie bereits oben erwähnt, fließt hier eine Vielzahl an Besonderheiten ein, die eine Verschiebung der Versorgungsformen verursachen. Oben wurde bereits eine angenommene Zahl von 98 % der Menschen mit türkischem Hintergrund angesprochen, die von Angehörigen gepflegt werden. Aus der Studie von Gladis et al. (2014, S. 26) entstand eine aufschlussreiche Aufgliederung von Pflegebedürftigen verschiedener Herkunftsländer auf die Einrichtungsarten in Baden-Württemberg. Hier entfallen für die Türkei 88 % auf ambulante und nur 12 % auf stationäre Pflege, während sich dies für Russland leicht zugunsten der stationären Pflege verschiebt, jedoch eine Dominanz der ambulanten Form bestehen bleibt (32,2 % zu 67,8 %) und sich für die Polnischsprachigen gar umkehrt (knapp 60 % stationär vs. 40 % ambulant). Damit ist offensichtlich, dass hier bedeutende Unterschiede zwischen den Migrantengruppen vorliegen, die auch aus Studien zur Akzeptanz der unterschiedlichen Versorgungsformen unter älteren Migrant/innen in anderen Teilen Deutschlands hervorgehen und bestätigen, dass für die russischsprachige Gruppe eine stärkere Skepsis gegenüber vollstationären Einrichtungen zu beobachten ist und somit auch für diese Gruppe eine überdurchschnittlich hohe Anzahl an zu Hause Gepflegten angenommen werden muss (vgl. die Ergebnisse der Befragung, die durch die Friedrich-Ebert-Stiftung (2015, S. 44) unter 78 Personen mit Migrationshintergrund über 65 Jahren durchgeführt wurde und ergab, dass speziell die Personen aus der ehemaligen Sowjetunion der stationären Pflege ablehnend gegenüberstehen). Für die Wahl der Pflegeform fallen dabei unterschiedliche Gründe für die jeweiligen Gruppen ins Gewicht. Während z. B. für Türkeistämmige ein freundlicher und respektvoller Umgang sowie Pflege durch gleichgeschlechtliches Personal im Vordergrund stehen, benennen Russischsprachige die Relevanz einer Pflege in ihrer Muttersprache (vgl. ebd.). Je nach existierendem Angebot in den unterschiedlichen Institutionen und Regionen und der Möglichkeit der Informationsbeschaffung aufseiten der Betroffenen können so die Prozentzahlen bzgl. der Versorgungsformen extrem variieren (vgl. hierzu die Aufschlüsselungen der Versorgungszahlen von Menschen mit Migrationshintergrund in ländlichem, mittelstädtischem und großstädtischem Raum in Baden-Württemberg von Gladis et al., 2014, S. 16). So sind bspw. in Ballungszentren mehr und diversere Pflegeheime aufzufinden, die mit speziellen sprachlichen und kulturellen Angeboten eine gezielte Klientel ansprechen und für diese attraktiv sein können, wie es z. B. in Pflegeheimen der Fall ist, die russischsprachige Stationen einrichten, in denen ausschließlich russischsprachiges Personal die Pflege übernimmt. Kultursensible Angebote existieren mittlerweile in vielen Einrichtungen. Insgesamt muss konstatiert werden, dass in allen Versorgungsformen das Bewusstsein für mehrsprachige und kulturspezifische Pflege gewachsen ist und unterschiedliche Ansätze gesucht werden, diese speziellen Bedürfnisse abzudecken (vgl. hierzu u. a. Zanier, 2015, Marquardt et al., 2016 und die Ausführungen und exemplarischen Beispiele der Friedrich-Ebert-Stiftung, 2015; S. 44 ff., wenngleich der Pflege-Report von Jacobs et al., 2017, S. 79 zu Recht anmahnt, dass hier noch ein weiter Weg zu gehen ist, der nach Meinung der Autoren stärker in Richtung allgemeiner Diversität gelenkt werden sollte). Welche speziellen Angebote hier in welchen Kontexten existieren und wie diese wiederum von den unterschiedlichen Gruppen angenommen und evaluiert werden, ist Gegenstand einer eigenen Untersuchung, die bislang – zumindest flächendeckend bzw. kontrastierend – noch aussteht. Momentan bleibt zu konstatieren, dass es punktuelle Angebote gibt, jedoch keineswegs von einer übergreifenden Strategie im Bereich Sprache und Kultur in der Pflege die Rede sein kann. Dies korreliert mit einer überproportional großen Zahl an Pflegebedürftigen mit Migrationshintergrund, die (noch?) zu Hause (kombiniert durch ambulante und dort auch häufig sprachlich spezialisierte Dienste) gepflegt werden.

Die konkretesten Zahlen liefert Kohls (2012, S. 5), der davon ausgeht, dass sich 2009 die Zahl pflegebedürftiger Personen mit Migrationshintergrund (insgesamt 192.000 Pflegefälle) abgeschätzt verteilt auf „8 % der Pflegebedürftigen in Privathaushalten, 7 % der von ambulanten Diensten Betreuten sowie 9 % der vollstationär Versorgten“ (eine übersichtliche Aufschlüsselung und Interpretation dieser Daten inkl. Erhebungshintergrund bietet Neuffer, 2014). Eine umfangreichere Erhebung zur Versorgungssituation älterer Menschen mit Migrationshintergrund in der Pflege erhoben Gladis et al. (2014) für Baden-Württemberg und kommen hier auf eine vergleichbare Zahl von 9,7 % an Versorgten mit Migrationshintergrund bezogen auf die Gesamtgruppe in stationären Einrichtungen (ebd., S. 14). Bei Anwendung dieser Prozentzahl auf die Zahl der Pflegebedürftigen in stationären Einrichtungen insgesamt (820.000 für 2017) ergibt sich eine Rundung von 80.000 pflegebedürftigen Menschen mit Migrationshintergrund in stationären Einrichtungen bundesweit, von denen wiederum geschätzt (unter der Prämisse der hergeleiteten knapp 20 %) ca. 16.000 auf Russischsprachige entfallen. Dabei ist von einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit auszugehen, dass ein großer Anteil von ihnen (zusätzlich) an Demenz erkrankt ist.

Damit ist einschätzbar, von welcher Relevanz die im Folgenden im Fokus stehende Gruppe von russischsprachigen, an Demenz erkrankten Pflegebedürftigen im Bereich der Pflege und der Pflegekommunikation ist. Studien, die sich spezifisch auf ihre sprachliche Situation in deutschsprachigen Pflegeheimen konzentrieren, sind mir nicht bekannt. Mit der vorliegenden Ausarbeitung soll somit ein erster Schritt in die Richtung gemacht werden, diese Situation zu beleuchten.

Was bedeutet Pflegebedürftigkeit für Mehrsprachige? Einblicke in sprachliche Konstellationen

Was geschieht, wenn Menschen mit einer mehrsprachigen Sprachbiografie in ein höheres Alter kommen und damit einhergehend ihr Risiko steigt, an altersspezifischen Krankheiten zu leiden und in die Pflegebedürftigkeit zu geraten? Hier stoßen mehrsprachig geprägte Lebensroutinen auf deutschsprachige institutionelle Kontexte – ein nicht immer reibungsloser Ablauf ist vorprogrammiert. Vieles wird durch Familie und Angehörige bzw. das soziale Netzwerk aufgefangen und dadurch abgemildert. Dennoch kommt es zu Reibungsverlusten, die am deutlichsten werden, wenn das familiäre Umfeld nicht die Pflege übernimmt, sondern die mehrsprachige Person in ein Pflegeheim zieht. Dort trifft sie auf sprachliche Routinen und Kommunikationsverhalten, denen sie sich anpassen muss, wozu sie zugleich aber krankheitsbedingt nicht mehr zwangsläufig in der Lage ist. Besonders nachdrücklich zeigt sich dies bei allen Krankheitsbildern, die die kognitiven und damit einhergehend sprachlichen und kommunikativen Fähigkeiten beeinträchtigen, wie es bei allen demenziellen Erkrankungen der Fall ist. Im Verlauf einer Demenz fällt es den Erkrankten immer schwerer, sich der Situation angemessen zu artikulieren, weswegen die Kommunikation mit an Demenz Erkrankten für alle Pflegenden eine besondere Herausforderung darstellt. Welche Besonderheiten diese Kommunikationssituation aufweist, zeigen Sachweh (z. B. 2000) und Posenau (2014) in ihren Studien, die sich jedoch ausschließlich auf einen rein deutschsprachigen Kontext konzentrieren. Dabei illustrieren sie eindrücklich, zu welchen vielfältigen Herausforderungen es für alle Beteiligten kommt. Was somit unter monolingualen Bedingungen bereits nachgewiesen ist, erscheint für mehrsprachige Kontexte nicht minder komplex. Es liegt nahe, für mehrsprachige Erkrankte ähnliche kognitive und daraus resultierende kommunikative Schwierigkeiten anzusetzen, die jedoch durch eine andere Sprachbiografie zu anderen Verhaltensweisen und damit kommunikativen Ausprägungen führen. Welcher Art diese genau sind, ist bislang nur sehr selten Gegenstand von wissenschaftlichen Studien gewesen. Ein Desiderat ist dabei die Untersuchung der Kommunikation zwischen mehrsprachigen demenziell erkrankten Pflegebedürftigen und ihren Pflegekräften in deutschen Pflegeheimen. Gerade dieser Gegenstandsbereich ist jedoch vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und prognostizierten Zahlen für entsprechende Erkrankte und ihre Versorgung von wachsender zukünftiger Relevanz. Hier gilt es, die aktuelle, noch zahlenmäßig überschaubare Situation in Augenschein zu nehmen, zu beschreiben und daraus Ansätze abzuleiten, die helfen können, die zukünftigen Herausforderungen und wachsenden Fallzahlen zu meistern.

In diesem mehrsprachigen Kontext stellt sich eine Vielzahl an Fragen, wie jene, die sich um den mehrsprachigen erkrankten Sprecher ranken (z. B. nach der Verteilung der Sprachen und damit auch nach Sprachbiografie und aktuellem Sprachstand, nach Art und Grad der Erkrankung, Verlust der Sprachen im Verlauf der Erkrankung etc.), jene, die die Pflegekräfte in den Blick nehmen (z. B. ihren sprachlichen Hintergrund, ihre Erfahrungen im mehrsprachigen und interkulturellen Kontext, ihre kommunikativen Strategien, ihre Probleme, die sich aus der mehrsprachigen Situation ableiten lassen etc.) und jene, die die individuelle Ebene verlassen und den institutionellen (und gesellschaftlich-politischen) Blickwinkel einnehmen (wie z. B. Sprachenpolitik des Pflegeheims, Verteilung der Pflegebedürftigen auf unterschiedliche Versorgungsformen, spezifische Unterstützungsangebote, Sichtbarkeit der Bedürfnisse etc.). Diese Felder sind in unterschiedlicher Intensität in der Vergangenheit forschungsseitig angerissen worden, zugleich jedoch nicht detailliert oder flächendeckend erforscht.

Die vorliegenden Ausführungen können nicht allen diesen Fragen gerecht werden, geschweige denn, sie alle umfangreich darstellen und Lösungsansätze ausarbeiten. Dies ist vielmehr eine gesellschaftlich relevante Aufgabe der zukünftigen Forschung. Hier sollen aus dieser Vielzahl einige Fragestellungen aufgegriffen werden. Im Konkreten handelt es sich dabei um die Frage danach, wie sich die Kommunikationssituation im Pflegeheim für Mehrsprachige gestalten kann. Hierfür sollen insgesamt drei mögliche Konstellationen zunächst in Kürze dargestellt und die sprachlichen Routinen zugeordnet werden. Diese werden im Anschluss mit jeweils einem Fallbeispiel illustriert. Dabei sind diese Konstellationen aus Sicht des Pflegebedürftigen charakterisiert und fokussieren sich darauf, in welcher Sprache die Kommunikation mit ihm stattfindet. Es wird dabei nicht berücksichtigt, ob es andere Pflegebedürftige mit weiteren Sprachen oder ihrerseits mehrsprachige Pflegekräfte gibt. Es geht also um die Darstellung der sprachlichen Situation aus Sicht einer konkreten pflegebedürftigen Person, die – in diesen Fällen – eine andere Sprache mitbringt als die Umgebungssprache Deutsch.

In der ersten Konstellation handelt es sich um den Fall, dass ein Mensch mit einer anderen Erstsprache als Deutsch in ein grundsätzlich deutschsprachig orientiertes Pflegeheim kommt und dort von deutschsprachigen Pflegekräften versorgt wird. Die Person befindet sich damit in einer quasi monolingualen Sprachumgebung innerhalb des Heimes und ist dort gezwungen, in ihrer nicht Erstsprache zu kommunizieren. Die andere Sprache – ihre Erstsprache – kann sie nur im Austausch mit Personen außerhalb des Heimes pflegen. Damit bleibt die Person natürlich mehrsprachig (im Sinne unserer Definition aus Teil I dieses Buches), ist aber in der überwiegenden Mehrheit in einer einsprachig deutschen Sprachumgebung.

Im zweiten Fall lebt ein mehrsprachiger Pflegebedürftiger zwar in einem grundsätzlich deutschsprachig orientierten Pflegeheim, dort aber arbeiten mehrsprachige Pflegekräfte, die gleichsprachigen Pflegebedürftigen zugeordnet werden. In dieser Konstellation trifft der/die mehrsprachige Pflegebedürftige auf Pflegekräfte, die mit ihm entweder Deutsch (als Erst- oder auch Zweitsprache) oder seine eigene Erstsprache sprechen. Es handelt sich dabei um ein nicht ausgewogenes bilinguales Setting, in dem meist die deutsche Sprache überwiegt (so z. B. auch mit anderen Bewohner/innen des Heimes), dennoch aber der Kontakt zur Erstsprache auch innerhalb des Heimes in der Pflegekommunikation bestehen bleibt.

Die dritte Konstellation tritt bislang eher selten auf und ist dadurch charakterisiert, dass es sich um ein Pflegeheim (bzw. meistens eine Station oder auch eine feste Zuordnung von Bewohner/innen und Pflegekräften) handelt, in dem alle Pflegekräfte und Bewohner/innen die gleiche Sprache – und dabei nicht Deutsch – sprechen. Solche Einrichtungen gibt es in unterschiedlicher Anzahl in Ballungsgebieten in Deutschland (vgl. für einen Überblick Schwarzer, 2017), ein Pflegeheim mit einer solchen rein russischsprachigen Station nimmt seit drei Jahren als Kooperationspartner an UnVergessen teil. Als Sonderform dieser Konstellation ist zu nennen, wenn ein Pflegeheim eine feste Zuordnung von Pflegekräften zu Bewohner/innen aufgrund der gleichen Sprache trifft. In allen diesen beschriebenen Fällen ist aus Perspektive der/s Bewohners/in eine quasi monolinguale Sprachsituation anzusetzen: Seine Kommunikation innerhalb des Heimes bzw. mit den ihm zugeordneten Pflegekräften findet (meist ausschließlich) in seiner Erstsprache statt. Hier ist nicht länger von einer mehrsprachigen Sprachsituation auszugehen, da aus Perspektive des Pflegebedürftigen jegliche Kommunikation mit ihm in seiner Erstsprache stattfindet. Die Umgebungssprache Deutsch wird nicht mehr verwendet.

Konstellation 1: Pflegebedürftige Person in der Interaktion mit deutschsprachigen Pflegekräften (monolingual deutsche Pflegekommunikation)

In dieser Konstellation verlässt die pflegebedürftige Person mit dem Umzug in das Pflegeheim ihre vertraute meist mehrsprachig oder in der Erstsprache (nicht Deutsch) einsprachig geprägte Sprachumgebung und befindet sich in einer quasi monolingualen deutschsprachigen (nicht ihre Erstsprache) Versorgung. Meist ist dabei nur durch den Außenkontakt (Besuche der Familie/Freunde, Telefonate oder Medienkonsum) der Kontakt zur Erstsprache möglich. Mit dem Umzug in ein Pflegeheim geht also eine doppelte Heimatlosigkeit einher: Nicht nur die vertraute Wohn- sondern auch die vertraute Sprachumgebung wird verlassen. Negative psychische und physische Konsequenzen sind dabei keine Seltenheit.

In der Forschungsliteratur (vgl. hier z. B. Plejert et al., 2017) und auch in Berichten aus der Pflege finden sich schnell – häufig anekdotische – Berichte über solche Personen. Ich möchte jedoch auf die Aufbereitung dieser Forschung verzichten, sondern stellvertretend eine betroffene Person zu Wort kommen und für diese Gruppe sprechen lassen. Es handelt sich dabei um eine russischsprachige Frau, die von Beginn des Projektes an von UnVergessen begleitet wird. Somit ist sie seit fünf Jahren Teil des Projektes. Wir haben sie in vielen unterschiedlichen Situationen begleitet und vielfältige eigene Eindrücke gewinnen können, die durch gezielte Befragung und Aufnahmen ihrer Pflegekräfte ergänzt wurde. Durch diese Daten liegt ein recht umfangreiches Bild von ihr als Person und von ihren jeweiligen sprachlichen und kommunikativen Fähigkeiten vor. Dieses möchte ich hier mithilfe von zwei kurzen Ausschnitten aus mündlichen Aufnahmen von ihr darstellen. Wichtig ist zu betonen, dass diese Frau keinesfalls als Stereotyp für alle Pflegebedürftigen in mehrsprachigen Konstellationen verstanden werden soll, sondern vielmehr ein lebendiges Beispiel für diese Personengruppe ist. Letztere ist natürlich genauso divers wie jeder einzelne Mensch im Vergleich zu anderen ist.

Die russischsprachige Frau, die hier porträtiert werden soll, wird mit Frau S. abgekürztFootnote 8. Sie ist Anfang 70, in der ehemaligen UdSSR geboren, hat Russisch als ihre Erstsprache erworben und ist im Erwachsenenalter nach Deutschland gekommen. Dort war sie noch berufstätig, sodass über mehrere Jahre von einer mehrsprachigen Lebenswirklichkeit mit Russisch als Erstsprache und dominanter Sprache und Deutsch als Umgebungssprache ausgegangen werden kann. Über die Deutschkompetenzen vor Einzug in das Pflegeheim ist nichts bekannt, da es keinen Kontakt zu Familienangehörigen und somit keine gesicherten Auskünfte darüber gibt. Frau S. ist 2008 in das Pflegeheim gezogen und ist an Demenz erkrankt. Sie befindet sich in der mittleren Phase der Demenz, der Abbau ihrer Fähigkeiten durch die Erkrankung ist seit ihrer Projektteilnahme dokumentiert. Sie ist seit 2016 im Projekt dabei und wird seit dieser Zeit jährlich wechselnd von einer/m neuen studentischen Teilnehmer/in wöchentlich besucht. Dabei werden regelmäßig Audioaufnahmen von ihr gemacht.

Zusammenfassend zur Sprachsituation kann bei Frau S. gesagt werden, dass Russisch ihre dominante Erstsprache ist und sie in einer deutschsprachigen Umgebung lebt (Deutsch ist also die Umgebungssprache). Im Pflegeheim hat sie keine Möglichkeit, ihre russische Erstsprache aktiv zu verwenden, da keine der Pflegekräfte Russisch spricht und auch keine weiteren russischsprachigen Bewohner/innen auf ihrer Station sind, sie lebt damit also in einer quasi monolingualen Umgebung, die aber nicht mit ihrer Erstsprache übereinstimmt. Besuche bekommt Frau S. fast gar nicht. Lediglich seit Projektbeginn hat sie einmal die Woche die Möglichkeit, sich auf Russisch zu verständigen. Subjektiv lebt Frau S. in einer mehrsprachigen Umgebung (Russisch „in ihrem Kopf“, Deutsch als in der Umgebung verwendete Sprache), objektiv hat sie jedoch kaum Möglichkeiten, ihre Erstsprache zu verwenden. Zugleich sind ihre Ausdrucksfähigkeiten im Deutschen so gering, dass sie kaum mehr in der Lage ist, das Deutsche aktiv zu verwenden. Damit stellt sich also die Situation dar, dass sie die dominante Sprache, die sie aktiv noch verwenden kann (wie ich unten darstellen werde) in ihrem Alltag nicht einsetzen kann, während sie die im Alltag verwendete und an sich notwendige Sprache aktiv nicht (mehr?) beherrscht. Damit kommt es zu einer starken Asymmetrie der sprachlichen Kompetenzen zwischen den Gesprächsteilnehmern. Eine Konstellation, die in der Mehrsprachigkeitsforschung eigentlich als Übergangsphänomen beschrieben wird, da sie meist dann auftritt, wenn ein Mensch mit einer anderen Erstsprache neu in eine Umgebung mit einer anderen Sprache kommt, wie bei Migration oder im klassischen Fremdspracherwerb. Meist ändert sich diese Situation im Laufe des kontinuierlichen Erwerbs der Umgebungssprache. In diesem Fall ist sie jedoch durch die Lebensumstände und die demenzielle Erkrankung hervorgerufen und eine dauerhafte Situation, die sich perspektivisch – durch den Verlauf der Krankheit – noch zuspitzen wird. Der Fall von Frau S. ist dabei kein Einzelfall. Da, wie oben bereits dargestellt, Demenz als eine der wichtigsten Gründe für Pflegebedürftigkeit genannt werden muss, sind viele Pflegebedürftige an Demenz erkrankt und zugleich werden mehrsprachige Pflegebedürftige häufig erst im weiteren Verlauf einer Demenzerkrankung von ihren Angehörigen in eine pflegende Institution gegeben. Die familiale Pflege wird häufig so lang wie möglich gedehnt, sodass unter den mehrsprachigen Pflegebedürftigen in vollstationären Einrichtungen demenzielle Erkrankungen überproportional vertreten sind. Diese sprachliche Asymmetrie zwischen den Pflegekräften als Interaktionspartner und den Pflegebedürftigen kommt im Kontext einer solchen mehrsprachigen Pflegesituation noch zu den bereits oben erwähnten von Sachweh und Posenau identifizierten Asymmetrien hinzu.

Frau S. wird in der Befragung der Pflegekräfte als sympathische, ruhige Person dargestellt, die kaum kommuniziert, wenig auf sich aufmerksam macht und sich zugleich in Pflegesituationen kooperativ zeigt. Sie ist entweder auf ihrem Zimmer oder passiv bei Aktivitäten dabei, sitzt ruhig auf ihrem Stuhl und lächelt freundlich, wenn sie angesprochen wird. In letzter Zeit schläft sie vermehrt ein, ist aber, wenn sie geweckt wird, dennoch freundlich. Sprachlich reagiert sie kaum mit eigenständigen Äußerungen, teilt sich aber auf nonverbale Art mit. Ihr Äußeres und eine gepflegte Erscheinung sind ihr sehr wichtig.

Als Eindruck für eine typische Interaktion zwischen ihr und ihren deutschsprachigen Pflegekräften sollen hier Auszüge aus einer Aufnahme wiedergegeben werden, die im Rahmen der Morgenpflege entstanden sind. Auf den Aufnahmen sind die Pflegekraft und Frau S. zu hören, weitere Personen sind nicht anwesend, beide Personen waren über die Aufnahme informiert und haben ihr zugestimmt (bzw. im Fall von Frau S. der gesetzliche Vertreter). Die Aufnahmen wurden mithilfe der Platzierung zweier portabler Aufnahmegeräte erstellt. Eines befand sich im Zimmer von Frau S. neben dem Bett, ein zweites im Badezimmer. Die Pflegekraft ist selbst Sprecherin einer anderen Erstsprache als Deutsch (Bulgarisch), spricht jedoch sicher und flüssig auf Deutsch. Die Kommunikation zwischen ihr und Frau S. findet ausschließlich auf Deutsch statt. Die Gesamtlänge der Aufnahme beträgt 16:55 min und umfasst den Moment, an dem die Pflegekraft das Zimmer von Frau S. betritt, sie weckt und alle erforderlichen Schritte der Morgenpflege durchführt bis zu dem Moment, an dem die Pflegekraft das Zimmer wieder verlässt und Frau S. bereit zum Frühstück ist.

Ich möchte im Folgenden einige wichtige Charakteristika der Interaktion zwischen den beteiligten Personen skizzierenFootnote 9. So erscheint von Beginn an recht charakteristisch, dass die Pflegekraft Frau S. sehr deutlich und langsam anspricht. Sie weist dabei keine Anzeichen des sog. Secondary Baby Talk auf – einer vereinfachten und verniedlichten Sprachform, die häufig in der Interaktion mit Kindern oder Pflegebedürftigen auftritt – verlangsamt aber deutlich ihr Sprechtempo. Sie adressiert Frau S. durchgängig mit Frau + Nachname + Sie. Dies zeugt zwar einerseits von Respekt (und ist in dem Fall dieses Pflegeheimes Konvention), schafft zugleich aber auch eine gewisse Distanz (davon wird wiederum häufig im Fall der Pflege und Adressierung Demenzerkrankter abgeraten). Lange Teile der Morgenpflege laufen im Schweigen ab, viele Aktivitäten werden rein nonverbal begleitet. Dennoch ist in klassischer Weise jeweils die Ankündigung der Pflegehandlung durch die Pflegekraft verbalisiert, in manchen Fällen wird sie auch sprachlich begleitet, wiederum nur manchmal entsprechend abgeschlossen.

Zur Illustrierung dessen ist hier ein kurzer Ausschnitt aus der Morgenpflege als Transkript eingefügtFootnote 10. Dort ist nachzulesen, wie die Pflegekraft in das Zimmer kommt, Frau S. begrüßt (dies geschieht mit Frau + Nachname) und sie auffordert, aufzustehen. Wie (nicht) zu lesen ist, erfolgt keine verbale Reaktion von Frau S., es wird aber in der verbalen Folgehandlung der Pflegekraft klar, dass sie der Aufforderung folgt:

Transkript 1:Footnote 11 Ausschnitt aus der Morgenpflege, Interaktion zwischen einer deutschsprachigen Pflegekraft und einer russischsprachigen an Demenz erkrankten Pflegebedürftigen: Begrüßung

Dauer der Aufnahme::

10 Sekunden

Sprecher/innen::

Pflegerin (P1) in einem Altenheim,

Bewohnerin eines Pflegeheims (B1) (hier ohne Wortbeitrag)

Transkription:

P1:

guten morgen frau s (2 Sek. Pause) einmal aufstehen (5 Sek. Pause) so, langsam

Über die gesamte Dauer der Aufnahme der Morgenpflege hört man nur an drei Stellen Äußerungen von Frau S., alle anderen Reaktionen laufen nonverbal ab. Diese drei Äußerungen umfassen jeweils genau eine einzige Wortform: einmal ein ja und zweimal der Versuch ‚heiß‘ zu sagen (das erste Mal ist es nicht verständlich, evtl. sogar der Versuch, es auf Russisch zu sagen, beim zweiten Mal ist es ein sehr leises abgebrochenes hei, das die Pflegekraft jedoch aus dem Kontext heraus versteht).

Auch hier sind die entsprechenden Ausschnitte illustrierend als Transkript beigefügt. In der folgenden Wiedergabe lässt sich erschließen, wie die Pflegekraft Frau S. zu einer verbalen Aussage führt. Dies tut sie – in für die empfohlene Kommunikation mit an Demenz erkrankten Personen klassischer Weise – durch eine geschlossene Frage und die Aufforderung, mit „Ja“ oder „Nein“ zu antworten. Wie die Reaktion ja zeigt, war dies erfolgreich, wenn sie zugleich auch sehr leise realisiert wurde:

Transkript 2: Ausschnitt aus der Morgenpflege, Interaktion zwischen einer deutschsprachigen Pflegekraft und einer russischsprachigen an Demenz erkrankten Pflegebedürftigen: Sprachliche Äußerung der Pflegebedürftigen

Dauer der Aufnahme::

7 Sekunden

Sprecher/innen::

Pflegerin (P1) in einem Pflegeheim,

Bewohnerin eines Pflegeheims (B1)

Transkription:

P1:

haben sie gut geschlafen frau s? (2 Sek.) sagen sie ja oder nein?

B1:

ja (sehr leise)

P1:

ja gut

Im dritten Transkript sind die zwei weiteren Äußerungen von Frau S. enthalten. Beim Waschen fragt die Pflegekraft nach, ob ihr das Waschen gut tue, daraufhin reagiert Frau S. und möchte mitteilen, dass das Wasser, mit dem sie gewaschen wird, zu heiß ist. Im ersten Versuch versteht die Pflegekraft sie nicht – die Äußerung ist in der Tat auch auf der Aufnahme nicht eindeutig zu identifizieren, im Transkript ist die rekonstruierte Äußerung eingetragen, die aber nicht eindeutig zu hören ist – und denkt anscheinend, dass Frau S. versucht hat, etwas auf Russisch zu sagen. In der Folge fordert sie sie auf, es ihr „auf Deutsch“ noch einmal zu wiederholen. Mit dieser Aufforderung lässt sich eine bislang in der Literatur noch nicht beschriebene Gesprächsstrategie beobachten: die Thematisierung der Sprache und die Aufforderung, die jeweils notwendige Sprache zu wählen. Auch in diesem Fall führt die gewählte Strategie der Pflegekraft zum gewünschten Erfolg: Frau S. wiederholt ihre Äußerung (auf Deutsch) und dieses Mal versteht die Pflegekraft sie und kann reagieren, die Situation wurde gelöst:

Transkript 3: Ausschnitt aus der Morgenpflege, Interaktion zwischen einer deutschsprachigen Pflegekraft und einer russischsprachigen an Demenz erkrankten Pflegebedürftigen: Zwei sprachliche Äußerungen der Pflegebedürftigen

Dauer der Aufnahme::

15 Sekunden

Sprecher/innen::

Pflegerin (P1) in einem Pflegeheim,

Bewohnerin eines Pflegeheims (B1)

Transkription:

P1:

tut das gut? (Pause) nein? (Pause) möchten sie sich nicht waschen?

B1:

(kaum hörbare Reaktion, rekonstruiert: gorjačaja)

P1:

auf deutsch!

B1:

hei/

P1:

heiß? ist zu heiß? (Pause) oh tschuldigung!

Im Laufe der gesamten Aufnahme wird deutlich, dass die Pflegekraft mit Frau S. und ihrem nonverbalen Verhalten gut vertraut ist. Die Interaktion läuft auf bewährte Weise zwischen ihnen ab und die Morgenpflege gelingt. Dennoch muss man festhalten, dass es kaum zu nennenswerten sprachlichen Äußerungen zwischen ihnen kommt, Frau S. erscheint als nahezu sprachlos.

Nun könnte man meinen, dass diese Sprachlosigkeit im Kontext der demenziellen Erkrankung und ihres fortgeschrittenen Stadiums zu erklären ist. Schließlich ist der Verlust von Sprache und Kommunikationsfähigkeit wie oben dargestellt ein Charakteristikum der Krankheit. Allerdings lässt sich dies durch die Beobachtungen, die wir durch das Projekt von Frau S. machen konnten, sehr schnell widerlegen. Hat sie die Möglichkeit, in ihrer Erstsprache zu kommunizieren, präsentiert sich eine vollkommen andere Person mit zwar krankheitsbedingten Einschränkungen, die aber in der Lage ist, an einem Gespräch aktiv teilzunehmen, sprachliche Aufgaben erfolgreich auszuführen und sich auf einem hohen Niveau mit vollständigen Sätzen und komplexen grammatischen Formen auszudrücken. Als kleiner Eindruck soll hier ein kurzer Ausschnitt wiederum als Transkript zur Verfügung gestellt werden. Hier ist sie im Gespräch mit einem russischen Studenten, der ihr eine Bildergeschichte (den „Sturz ins Tulpenbeet“) gezeigt hat und sie gebeten hat, diese nachzuerzählen. Bei dem Ausschnitt schildert sie, was ein Mädchen und ein Junge tun, macht eine kurze Pause und schließt dem, auf Nachfrage des Studenten, eine Schilderung dessen an, was der Vater (‚Mann‘) tut. Besonders bemerkenswert erscheint dabei die Beschreibung, wie die Kinder ‚ermüdet‘ (ycтaвшиe / ustavšieFootnote 12) – Frau S. verwendet hier ein schriftsprachliches Partizip – auf der Bank sitzen:

Transkript 4: Ausschnitt aus dem Gespräch zwischen einer russischsprachigen an Demenz erkrankten Pflegebedürftigen und einem russischen Studenten: Nacherzählung einer Bildergeschichte

Dauer der Aufnahme::

21 Sekunden

Sprecher/innen::

Bewohnerin eines Pflegeheims (B1),

Studentischer Teilnehmer (S1) des Projekts UnVergessen

Transkription:

B1:

mal’čik i devočka vsp spuskajutsja vnis, opjat’

S1:

chmm (Pause) a čto potom proischodit na vtoroj kartinke? (2 Sek. Pause)

B1:

nu mužčina rasskazyvaet vsë pro kart / (weiter unverständlich)

S1:

chmm (3 Sek. Pause)

B1:

a oni deti ustavšie sidjat

Übersetzung:

B1:

ein junge und ein mädchen gehen wieder hinunter

S1:

mhm (Pause) und was passiert dann auf dem zweiten bild? (2 Sek. Pause)

B1:

nun der mann erzählt alles über (weiter unverständlich)

S1:

mhm (3 Sek. Pause)

B1:

und sie die kinder sitzen ermüdet

Auch wenn nicht alle Äußerungen von Frau S. einwandfrei verständlich sind, so zeigt doch dieser kurze Ausschnitt, dass sie von Sprachlosigkeit weit entfernt ist und durchaus zu zusammenhängenden, logischen und komplexen Aussagen in der Lage ist. Sicherlich sind dabei die Gesprächskonstellationen nicht miteinander vergleichbar. In dem einen Fall ist die Aufnahme im Pflegekontext entstanden, die, wie oben dargestellt, auch in der Kommunikation höchst funktional ausgerichtet ist. Aber auch die zweite Aufnahme findet nicht in einem vollkommen privaten Rahmen ohne vorgegebenes Thema statt. Durch die Aufgabe der Nacherzählung der Bildergeschichte ist auch hier der Gesprächsrahmen offizieller und der Gesprächsverlauf determiniert. Der Grad der Vertrautheit zwischen den Interaktionspartnern erscheint dabei auch relativ vergleichbar. Mit der Pflegekraft ist Frau S. seit Jahren bekannt, den Studenten kennt sie zwar zu dem Zeitpunkt erst seit einigen Monaten, durch die wöchentlichen und exklusiven Besuche bei ihr ist jedoch eine Beziehung aufgebaut. Insofern handelt es sich nicht um im klassischen Sinn vergleichbare Aufnahmesituationen, dennoch erscheint es logisch anzunehmen, dass die Unterschiede im sprachlichen Verhalten von Frau S. nicht auf die Unterschiede im Setting – und auch tendenziell nicht auf persönliche Affinitäten zu den PersonenFootnote 13 – zurückzuführen sind, sondern auf die unterschiedliche Sprache. Zudem muss auf direkt vergleichbare Aufnahmen identischer Situation in jeweils beiden involvierten Sprachen (also Russisch und Deutsch) im Fall von Frau S. zwangsläufig verzichtet werden, da sie in eben jener oben beschriebenen Situation lebt, dass ihre Sprachumgebung im Pflegeheim monolingual deutsch ist. Es gibt keine russischsprachigen Pflegekräfte, mit denen entsprechende Vergleichsaufnahmen hätten durchgeführt werden können.

In der Zusammenfassung lässt sich festhalten, dass die hier dargestellte Person Frau S. in den beiden Sprachen wie zwei unterschiedliche Personen erscheint, deren sprachlichen Kompetenzen stark differieren. In der Interaktion auf Deutsch zeigt sich eine Person, die kaum mehr in der Lage ist, verbal zu kommunizieren und vermehrt auf nonverbale Kanäle ausweicht. In der Konsequenz passt sich die Pflegekraft diesen kommunikativen Strategien an, spricht selbst nur das Notwendigste und versucht, so viel wie möglich außersprachlich aufzufangen. Dass dies gelingt, zeigt die Tatsache, dass die Morgenpflege erfolgreich durchgeführt werden konnte. Insofern ist durch die Asymmetrie in der Sprache nicht die Pflegetätigkeit gefährdet. Zugleich ist es jedoch so, dass bei der Pflegekraft der Eindruck entsteht, dass die Pflegebedürftige durch ihre Erkrankung zu nicht mehr Kommunikation als die gezeigte in der Lage ist. Und gerade darin liegt die Brisanz dieser Konstellationen. Wie der kontrastive Einblick in die sprachlichen Fähigkeiten derselben Person in ihrer anderen Sprache, der L1, zeigt, ist sie auf der kognitiven Ebene zu weitaus mehr in der Lage. Sie kann komplexe Sätze bilden, besondere grammatische Formen produzieren und zugleich Geschichten nacherzählen und an einem Dialog gleichberechtigt teilnehmen. All diese linguistischen, narrativen und kommunikativen Fähigkeiten bleiben in der Interaktion auf Deutsch verborgen und sind damit zwangsläufig den Pflegekräften unbekannt. Sie urteilen daher über die kognitiven Fähigkeiten der Pflegebedürftigen nur auf der ihnen zugänglichen Ebene, die jedoch nicht die gesamte Realität abbildet. Sie ist letztlich nur ein Spiegel dessen, wie gut die sprachlichen Kompetenzen im Deutschen abrufbar sind, aber keineswegs ein Hinweis darauf, dass die Person nicht zu mehr Kommunikation in der Lage ist.

Die Anpassung der kommunikativen Strategien der Pflegekraft an die spärlichen sprachlichen Äußerungen der Pflegebedürftigen ist ihr dabei nicht vorzuwerfen. Es ist ein natürlicher Mechanismus, dass die Komplexität der eigenen Äußerungen der des Gegenübers angeglichen wird. Dennoch verbirgt sich hier die Gefahr einer Abwärtsspirale für die betroffene Pflegebedürftige. Durch die vereinfachte Form der Kommunikation und vermehrtes Ausweichen auf den nonverbalen Austausch wird sie dauerhaft kognitiv unterfordert. Sie kann damit die Fähigkeiten, über die sie eigentlich noch verfügt, nicht mehr einsetzen. Dies kann zu einer Frustration und vermehrtem Gefühl des Verlusts der Selbstständigkeit sowie in der Folge zu einem schnelleren Abbau der an sich noch vorhandenen Kompetenzen führen.

Diese Konstellation ist zunächst einmal aus Sicht der Pflegekräfte nicht weiter dramatisch. Aus dieser Perspektive kommt es zu keinem Reibungsverlust: Die Pflege ist durch entsprechende Ausweichstrategien möglich, der notwendigste Austausch funktioniert. Den Nachteil trägt hier vorrangig die anderssprachige pflegebedürftige Person, die dauerhaft hinter ihren eigentlichen Möglichkeiten bleibt. Je nach Persönlichkeit und Grad der Pflegebedürftigkeit bzw. auch Art der Erkrankung ist die Folge dessen sehr unterschiedlich und kaum zu verallgemeinern. Festzuhalten bleibt jedoch, dass hier keine optimale Förderung stattfindet und eine Beeinträchtigung der Psyche fast unausweichlich erscheint. Tragischerweise verfügt diese Person zugleich nicht über die Möglichkeiten, ihren Zustand zu verbalisieren, somit ist sie von Angeboten von außen bzw. Sprachrohren abhängig.

Konstellation 2: Pflegebedürftige Person in der Interaktion mit deutsch- und gleichsprachigen Pflegekräften (bilinguale Pflegekommunikation)

In dieser Konstellation leben Pflegebedürftige mit einer anderen Erstsprache als Deutsch in einem Pflegeheim, in dem die Pflegekommunikation mit Pflegekräften sowohl in der Umgebungssprache Deutsch als auch in der Erstsprache des jeweiligen Pflegebedürftigen stattfindet. Auch diese Konstellation soll anhand eines Fallbeispiels illustriert werden. Es handelt sich hier um einen russischsprachigen Mann, Herrn M. Er ist zum Zeitpunkt der Aufnahme 80 Jahre alt, lebt seit 2 Jahren im Pflegeheim und ist an Demenz erkrankt. Er befindet sich in der mittleren Phase und weist die dafür typischen kognitiven Einschränkungen auf: Er hat Einschränkungen in der Erinnerungsfähigkeit, ist aber durchaus in der Lage, in der Situation adäquat zu reagieren. Sein sprachliches Verständnis ist da, seine Ausdrucksfähigkeit zumindest im Russischen gegeben. Herr M. ist in der ehemaligen UdSSR geboren. Er hat Russisch als seine Erstsprache erworben und die meiste Zeit seines Lebens in russischsprachiger Umgebung gelebt. Er ist im höheren Erwachsenenalter nach Deutschland gekommen und hat in zweiter Ehe eine deutschsprachige Frau geheiratet, die mittlerweile verstorben ist. Über seine Kenntnisse des Deutschen vor seiner demenziellen Erkrankung ist nichts bekannt, da auch Herr M. keinen Besuch von Angehörigen oder nahen Freunden bekommt. Dennoch ist aus seinen jetzigen Sprachkenntnissen und dem aus den Aufnahmen ersichtlichen Verständnis abzuleiten, dass Herr M. über Kenntnisse des Deutschen verfügt (hat). Man kann also durchaus eine über mehrere Jahre, wohl eher Jahrzehnte andauernde mehrsprachige Lebenswirklichkeit annehmen, die in seiner jetzigen Lebenssituation fortgeführt wird. Herr M. wird vonseiten der Pflegekräfte als freundlicher Mann beschrieben, der vorrangig den Austausch mit weiblichen Pflegekräften sucht und ihnen gerne Komplimente macht. Bedingt durch Begleiterkrankungen ist Herr M. in regelmäßigen Abständen zeitweilig im Krankenhaus. Meist gehen diese Aufenthalte mit einer Verschlechterung seiner Orientierung und seines emotionalen Zustandes einher. In der Interaktion mit anderen Pflegebedürftigen wird Herr M. als freundlich, aber schweigsam bezeichnet. Er spielt gerne Karten, spricht dabei aber ausschließlich Russisch, sodass Gespräche mit anderen Bewohner/innen nicht möglich sind. Herr M. lebt in einem Pflegeheim, in dem es russischsprachiges und deutschsprachiges Pflegepersonal gibt (ebenso sind weitere Sprachen vertreten, die hier jedoch nicht von Relevanz sind). Dabei werden keine festen Zuordnungen zwischen Pflegepersonal und Bewohner/innen getroffen, sodass die einzelnen Bewohner/innen von jeweils wechselnden Pflegekräften betreut werden. Somit kommt es im Fall von Herrn M. dazu, dass er abwechselnd von Pflegekräften gepflegt wird, die ihrerseits russischsprachig sind, und von solchen, die kein Russisch sprechen. Die Pflegekommunikation findet dabei mit russischsprachigem Personal vorrangig auf Russisch statt (allerdings klassisch geprägt durch die Kontaktsituation mit dem Deutschen, was z. B. durch die beiderseitige Verwendung deutscher Lexik ersichtlich ist), während im anderen Fall die Pflegekraft Herrn M. auf Deutsch anspricht. Wie unten ersichtlich wird, bedeutet dies nicht, dass entsprechend Herr M. auch auf Deutsch reagiert. Vielmehr ist diese Interaktion dadurch geprägt, dass es zur fast konsequenten Verwendung zweier unterschiedlicher Sprachen durch die Gesprächspartner kommt. Interessanterweise führt das jedoch nicht dazu, dass die Pflege nicht erfolgreich durchgeführt werden kann, ist aber in Hinblick auf den Austausch von Begleitinformationen als hinderlich einzuschätzen. Somit lässt sich zunächst zusammenfassen, dass sich Herr M. in einem bilingualen Pflegesetting befindet. Er kommt in unterschiedlichem Umfang in der Pflegekommunikation mit beiden Sprachen in Kontakt.

Dabei gestaltet sich die Interaktion mit den Pflegekräften abhängig von der jeweiligen Sprache. Im Fall von Herrn M. wurden an unterschiedlichen Tagen innerhalb von zwei Wochen Aufnahmen der Morgenpflege mit unterschiedlichen Pflegekräften durchgeführt. Es handelt sich insgesamt um sechs Aufnahmen mit deutschsprachigen Pflegekräften (diese umfassen vier Personen, zwei sind jeweils an mehr als einem Tag vertreten, z. T. haben die Pflegekräfte eine andere Sprache als Deutsch als ihre Erstsprache, kommunizieren mit Herrn M. aber ausschließlich auf Deutsch) und um sieben Aufnahmen von insgesamt drei unterschiedlichen russischsprachigen Pflegekräften. In welcher Weise sich die Sprachwahl auswirkt, soll hier mithilfe von Auszügen aus zwei Aufnahmen illustriert werden: Einer Aufnahme der Morgenpflege mit einer deutschsprachigen Pflegekraft und einer mit einer russischsprachigen.

Um einen Eindruck zu vermitteln, werden auch hier wieder Transkripte zur Verfügung gestellt. Dabei liegt erneut der Schwerpunkt auf der Zusammenfassung der wichtigsten Charakteristika der Interaktion, auf gesprächsanalytische Details soll verzichtet werden. Diese Ausführungen dienen dem Zweck, einen ersten Einblick in den Sprachalltag der jeweiligen Pflegebedürftigen zu bekommen.

In allen Aufnahmen mit deutschsprachigen Pflegekräften wird Herr M. von der jeweiligen Person mit seinem offiziellen Vornamen verbunden mit dem Pronomen der 2. Person Singular Du angesprochen. Diese Anrede entspricht den Konventionen dieses Pflegeheimes. Übergreifend über alle Pflegekräfte ist auffällig, dass, vergleichbar, aber zugleich stärker ausgeprägt als im Fall der oben ausgeführten Sprachdaten bei Frau S., eine sehr deutliche und langsame Aussprache festzuhalten ist, die hier z. T. mit überdeutlich ausgeprägter Intonation einhergeht. Dies sind Anzeichen von Secondary Baby Talk, der sich u. a. durch genau diese Merkmale charakterisieren lässt. Von einer vollausgeprägten Variante mit weiteren Merkmalen wie vermehrten Diminutivformen, vereinfachten Sätzen etc. kann hier jedoch in keiner der Aufnahmen die Rede sein. Auch in diesen Aufnahmen sind die sprachlichen Äußerungen der Pflegekräfte sehr ähnlich zu beschreiben wie im obigen Fall bei Frau S. Die Morgenpflege startet in allen Fällen mit einer Begrüßung und sehr häufig mit der Frage nach dem Schlaf. Dem folgt – variierend nach der erfolgten Antwort von Herrn M. und dem Abschluss dieses Gesprächsabschnitts – die Aufforderung zum Aufstehen und das Hinüberbegleiten in das Badezimmer. Der weitere Ablauf des Waschens und Ankleidens wird auch hier von sprachlichen Handlungen begleitet, z. T. mit unterschiedlichen Nebengesprächen ausgekleidet. Die Länge der Aufnahmen und damit auch die Durchführung der Morgenpflege variiert hier z. T. recht stark und reicht von der kürzesten mit 12:45 min zu einer, die mit 24:14 min fast doppelt so lang ist. Diese Varianz hängt dabei zum einen von der Tagesform und den notwendigen Schritten v.a. im Badezimmer ab (längerer Toilettengang, gründlicheres Waschen etc.), aber auch von der Anzahl und Dauer der begleitenden Nebengespräche.

Insgesamt gesehen sind die Gesprächsanteile von Herrn M. in allen Aufnahmen als gering zu bezeichnen. Auf Deutsch spricht er kaum, wenn, dann verbalisiert er Floskeln oder einzelne Wörter, dabei reagiert er aber adäquat auf Anweisungen und führt diese entsprechend aus. Über die Dauer einer Aufnahme hört man Herrn M. an vielen Stellen stöhnen. Eine weitere Strategie, die übergreifend bei ihm festzustellen ist, ist ein Lachen, mit dem er bestimmte für ihn evtl. unangenehme Situationen überspielt. Dies können intime Momente sein, aber auch Situationen, in denen er versucht, sich sprachlich mitzuteilen, und dies aber nicht gelingt. Auch in der Interaktion mit Pflegekräften, die kein Russisch verstehen und sprechen, wechselt Herr M. regelmäßig (in jeder Aufnahme mehrfach) ins Russische und führt z. T. lange Passagen auf Russisch aus. Entsprechend kommt es auch hier zu der bereits oben beschriebenen Strategie der Pflegekräfte, die Sprachwahl zu kommentieren und Herrn M. aufzufordern, auf Deutsch zu sprechen. Dem kommt er in einigen wenigen Fällen nach, meist folgt dem jedoch Schweigen.

Als Illustration sollen hier zwei Ausschnitte dienen, in denen die oben genannten Merkmale deutlich werden: Die floskelhaften deutschsprachigen Reaktionen von Herrn M., der Wechsel in die russische Sprache sowie daraus resultierende unterschiedliche Kommentare von den Pflegekräften zur Sprachwahl.

Im ersten Beispiel betritt die Pflegekraft das Zimmer, begrüßt Herrn M. und fragt ihn, wie er geschlafen hat. Nach einer adäquaten deutschen Reaktion (ja) erfolgt prompt der Wechsel ins Russische, den die Pflegekraft kommentiert:

Transkript 5: Ausschnitt aus der Morgenpflege: Interaktion zwischen einem russischsprachigen an Demenz erkrankten Pflegebedürftigen und einer deutschsprachigen Pflegekraft, Bsp. 1

Dauer der Aufnahme::

15 Sekunden

Sprecher/innen::

Pflegerin (P1) in einem Pflegeheim,

Herr M., Bewohner eines Pflegeheims (B2)

Transkription:

P1:

was soll ich sagen, guten morgen oder mahlzeit? (Pause) du hast heute so lange geschlafen! (Pause) gut geschlafen?

B2:

ja (gedehnt)

P1:

ja?

B2:

vot ne davno prosnulsja

P1:

oh! (gedehnt) hab ich kein übersetzer!

Übersetzung:

P1:

was soll ich sagen, guten morgen oder mahlzeit? (Pause) du hast heute so lange geschlafen! (Pause) gut geschlafen?

B2:

ja (gedehnt)

P1:

ja?

B2:

bin erst vor kurzem aufgewacht

P1:

oh! (gedehnt) hab ich kein übersetzer!

Ähnlich gelagert ist es in dem Folgebeispiel. Auch hier betritt die Pflegekraft das Zimmer und begrüßt Herrn M. Er erwidert den Gruß – interessanterweise sogar mit einer sehr ähnlichen Intonation. Die Pflegekraft schließt wieder die Frage nach dem Schlaf an, auf die Herr M. in diesem Fall sogar mit ja und jawoll antwortet, um dann jedoch seinerseits ins Russische zu wechseln. Er möchte ganz eindeutig der Pflegekraft mitteilen, dass ihm etwas fehlt (кoe-чтo нe xвaтaeт / koe-čto ne chvataet), diese versteht ihn jedoch nicht, reagiert durch eine eingeschobene Interjektion (oooh!), übergeht aber letztlich seinen Versuch, indem sie ihrerseits einen neuen Turn mit neuer Frage beginnt. Hier wiederholt sich das oben beschriebene Muster: Herr M. versteht ganz eindeutig die Pflegekraft, reagiert aber seinerseits auf Russisch, was einen Kommentar der Pflegerin hervorruft:

Transkript 6: Ausschnitt aus der Morgenpflege: Interaktion zwischen einem russischsprachigen an Demenz erkrankten Pflegebedürftigen und einer deutschsprachigen Pflegekraft, Bsp. 2

Dauer der Aufnahme::

33 Sekunden

Sprecher/innen::

Pflegerin (P1) in einem Pflegeheim,

Herr M., Bewohner eines Pflegeheims (B2)

Transkription:

P1:

guten morgen! (sehr gedehnte und stark intonierte Aussprache)

B2:

guten morgen (greift die Aussprache auf)

P1:

na? gut geschlafen?

B2:

ja, jawoll!

P1:

ja, wunderschön. [komm/

B2:

[tol’ko koe-čto ne chvataet]

P1:

oooh! (Intonation geht nach unten) ich hab gehört dass du heute um fünf uhr wach warst

B2:

was/

P1:

fünf uhr jaaa

B2:

vot vot ėto to i est’ ja na/

P1:

jooaaa, das weiß ich nicht leider

Übersetzung:

P1:

guten morgen! (sehr gedehnte und stark intonierte Aussprache)

B2:

guten morgen (greift die Aussprache auf)

P1:

na? gut geschlafen?

B2:

ja, jawoll!

P1:

ja, wunderschön. [komm/

B2:

[aber irgendetwas fehlt]

P1:

oooh! (Intonation geht nach unten) ich hab gehört dass du heute um fünf uhr wach warst

B2:

was/

P1:

fünf uhr jaaa

B2:

genau das ist es ja. ich/

P1:

jooaaa, das weiß ich nicht leider

Dieses Muster zieht sich durch die gesamte Interaktion mit dieser und auch anderen deutschsprachigen Pflegekräften. Dabei kommt es immer wieder zu den oben bereits beschriebenen Situationen, in denen die Kommunikation mehr oder weniger stark aneinander vorbeiläuft. Ein weiteres Beispiel soll dies noch einmal stärker illustrieren. Hier ist die Situation zu beobachten, dass Herr M. während der Morgenpflege versucht, die Pausen zu überbrücken und beginnt, auf Russisch zu sprechen. Dabei ist aus der Adressierung nicht ganz klar, ob er diese Äußerungen für sich formuliert – in dem Wissen, dass seine Gesprächspartnerin ihn sowieso nicht versteht –, oder ob er sie tatsächlich konkret an die Pflegekraft richtet in der Hoffnung, dass sie ihn versteht. In diesem Fall macht Herr M. im gesamten Verlauf der Morgenpflege der Pflegekraft Komplimente und kommt an unterschiedlichen Stellen immer wieder darauf zurück, ihr mitteilen zu wollen, wie schön und toll er sie findet und dass sie ‚seine Freude‘ sei (ты мoя paдocть / ty moja radost’). Dies findet ausschließlich auf Russisch statt, in den meisten Fällen übergeht die Pflegekraft diese Äußerungen (sie scheint daran, wie auch aus Gesprächen mit ihr bestätigt, gewohnt zu sein), in dem folgenden Ausschnitt greift sie sie jedoch auf und fragt nach, was denn dieses immer wieder wiederholte Wort paдocть / radost’ ‚Freude‘ bedeutet:

Transkript 7: Ausschnitt aus der Morgenpflege: Interaktion zwischen einem russischsprachigen an Demenz erkrankten Pflegebedürftigen und einer deutschsprachigen Pflegekraft, Bsp. 3

Dauer der Aufnahme:

17 Sekunden

Sprecher/innen:

Pflegerin (P1) in einem Pflegeheim

Herr M., Bewohner eines Pflegeheims (B2)

Transkription:

B2:

radost’

P1:

was ist denn rades? was ist das?

B2:

rado/ vot kogda radueš’sja, vot

P1:

vodka gorbačov?

B2:

aaaa, nee, nee, nee!

P1:

nee?

B2:

nee!

P1:

(lacht)

Übersetzung:

B2:

freude

P1:

was ist denn rades? was ist das?

B2:

freu/ also wenn du dich freust, ja

P1:

vodka gorbačov?

B2:

aaaa, nee, nee, nee!

P1:

nee?

B2:

nee!

P1:

(lacht)

Besonders bemerkenswert an diesem Ausschnitt ist die Tatsache, dass Herr M. auf die Frage der Pflegerin, was denn rades bedeuten soll, in vollkommener Hinsicht adäquat reagiert und ansetzt, die Bedeutung des Wortes paдocть / radost’ ‚Freude‘ zu erklären. Dieser Erklärungsansatz ist dabei korrekt (вoт кoгдa paдyeшьcя … / vot kodga raduešsja ‚nun, wenn du dich freust…‘), nur leider auf Russisch realisiert, sodass die Pflegerin ihn logischerweise nicht versteht. Vielmehr schnappt sie eine phonetische Ähnlichkeit auf und assoziiert mit der Lautfolge [vot kʌgda] das ihr bekannte lautlich ähnliche Wort Wodka und nutzt dies, um die Situation zu lösen. Aus Herrn M.s Reaktion ist wiederum herauszudeuten, dass er durchaus in der Lage ist zu verstehen, dass diese Gesprächswendung an sich thematisch nicht passend ist. Im weiteren Gesprächsverlauf versucht er, das aufzuklären, allerdings wieder auf Russisch.

Dieser Wechsel zwischen russischen Äußerungen vonseiten Herrn M.s. und deutschen vonseiten der Pflegekraft zieht sich dabei durch alle Aufnahmen. Wie die einzelnen Situationen gelöst werden, unterscheidet sich dabei jeweils, sehr häufig kommt es entweder zur Thematisierung dessen, dass die Pflegekraft ihn nicht versteht, zur Bitte bzw. Aufforderung, Deutsch zu sprechen, oder aber zur Nichtthematisierung und Versuch des Themenwechsels.

Aus all diesen Beispielen und aus den restlichen Aufnahmen geht zweifelsfrei hervor, dass Herr M. alle deutschsprachigen Äußerungen der Pflegekräfte versteht, aber in vielen Fällen nicht in der Lage ist, entsprechend auf Deutsch zu reagieren. Hingegen kann er sich durchaus – auch ausführlicher – auf Russisch mitteilen, dies kommt aber logischerweise bei der Pflegekraft nicht an. In der Folge ist die Pflegekraft damit in der unangenehmen Situation, ihn nicht zu verstehen und damit auch nicht den konventionellen Gesprächsregeln gemäß adäquat reagieren zu können. Herr M. ist zugleich in der z. T. misslichen Situation, nicht verstanden zu werden. Dies ist in einigen Fällen evtl. nur auf der pragmatischen, bzw. allgemeinen Beziehungs- und emotionalen Ebene als ungünstig anzusehen, in anderen Fällen kann es jedoch durchaus relevant sein und zu Nachteilen auf seiner Seite führen. Ein Beispiel ist dafür, dass bei einer der Aufnahmen Herr M. versucht mitzuteilen, dass er Schmerzen hat, die Pflegekraft ihn aber nicht verstehen kann und damit diese Information ins Leere läuft.

Grundsätzlich ist, ebenso wie im Fall von Frau S., zu konstatieren, dass die konkrete Pflegesituation erfolgreich abläuft. In allen Fällen ist die Morgenpflege durchführbar und kann mit dem gewünschten Ziel abgeschlossen werden. Ebenso gibt es sehr viele Situationen, in denen sich die Pflegekräfte sehr bemühen, Herrn M. zu verstehen und sich ihm insgesamt freundlich zuwenden. Dies bestätigt auch Natalja Friesen in ihren Ausführungen im fünften Teil dieses Bandes, in denen sie ebenfalls diese Kommunikationssituation untersucht und in einigen wichtigen Aspekten darstellt. Es lässt sich in der Mehrzahl der Fälle eine Zugewandtheit feststellen, gesichtsbedrohende Akte kommen sehr selten vor. Zugleich hält auch Friesen die Verwendung von Secondary Baby Talk-Strategien bei fast allen deutschsprachigen Pflegesituationen fest. In der Zusammenfassung kann damit gesagt werden, dass in allen vorliegenden Morgenpflegeaufnahmen mit dieser sprachlichen Konstellation die Pflege erfolgreich durchgeführt wurde und sich beide Seiten darum bemühen, eine Kommunikation aufzubauen und sich auch über die reine Pflege hinaus auszutauschen. Dabei kommt es jedoch zu Situationen, in denen die zur Verfügung stehenden Kommunikationsmittel nicht (mehr) ausreichen und es zu Missverständnissen oder ins Leere laufenden Informationen kommt. Es wird aus diesen Aufzeichnungen ersichtlich, dass neben der reinen Gewährleistung der Morgenpflege noch vielfältige andere Aspekte in der Pflegekommunikation eine Rolle spielen, die hier, wie aus den Ausschnitten ersichtlich wurde, unter der Sprachkonstellation leiden.

Im Fall von Herrn M. und der in diesem Pflegeheim vertretenen Situation der Mehrsprachigkeit vonseiten der Pflegekräfte liegen Aufnahmen mit russischsprachigen Pflegekräften vor, die eine kontrastive Analyse erlauben und Einblicke geben können, in welcher Weise die Sprachwahl die Pflegekommunikation beeinflusst. Wie oben bereits beschrieben, handelt es sich um sieben Aufnahmen der Morgenpflege, womit eine direkte Vergleichbarkeit in diesem Fall gewährleistet ist. Die Länge der einzelnen Aufnahmen variiert hier zwischen knapp 12 min und 17:22 min – eine im Rahmen der morgendlichen Pflege durchaus normale Abweichung, die auch keinen nennenswerten Unterschied zu den deutschen Aufnahmen zeigt.

Hinsichtlich der überwiegenden Anredeform ist jedoch ein Unterschied zu bemerken. Herr M. wird von allen russischsprachigen Pflegekräften überwiegend mit der im Russischen üblichen höflichen Form der 2. Person Plural ( / Vy) adressiert, in einigen konkreten Fällen geschieht ein Wechsel in die 2. Person Singular (ты / ty), meist kombiniert mit einer imperativischen Form, wenn einer Bitte mehr Nachdruck wie z. B. bei Wiederholung verliehen wird. Dies überrascht wenig: Die Form / Vy entspricht der üblichen höflichen Anrede und auch ein Wechsel zum familiäreren ‚Du‘ in solchen pragmatisch zu begründenden Fällen ist durchaus keine Seltenheit und sowohl von Sachweh (u. a. 2000) als auch von Posenau (2014) bereits für den Pflegekontext beschrieben. Überraschend erscheint hingegen die auf allen Aufnahmen zu beobachtende Form der Adressierung mit Herr und Nachname (auf Deutsch). Im russischen Kontext wäre hier die Kombination mit Vorname und Vatersname zu erwarten, die familiärere Option sieht eine Verwendung einer Variante des Vornamens (dann allerdings kombiniert mit ты / ty ‚du‘) vor. Mit der Anrede Vy + Herr M. liegt also eine eindeutig kontaktbedingte Variante vor, die nur aus dem deutschsprachigen Umfeld zu erklären ist. Dabei passen die jeweils gewählten höflichen Distanzformen zusammen, es kommt aber zu einer hybriden russisch-deutschen Form, die zugleich in anderen Arbeiten zur russisch-deutschen Kontaktsituation bereits beschrieben ist und damit keineswegs als Novum oder Besonderheit einzelner Sprecher bzw. dieser Konstellation gelten kann. Sie kann damit als Zeichen gewertet werden, dass diese russischsprachige Kommunikation in einem bilingualen Setting verortet ist und entsprechende Merkmale bilingualer Ausdrucksweisen aufweist.

Im Gegensatz zu den deutschsprachigen Aufnahmen sind in allen russischsprachigen Aufnahmen keinerlei Anzeichen für Secondary Baby Talk zu finden. Das Sprechtempo erscheint normal, die Intonation ebenfalls. Hier liegt somit der zweite Unterschied vor. Der wohl wichtigste Unterschied ist jedoch im Gesprächsverhalten von Herrn M. zu finden. Hier ist zunächst ein quantitativer Unterschied zu verzeichnen: Herr M. spricht insgesamt mehr. Aber auch qualitativ kommt es zu gewichtigen Unterschieden: Es ist in den Interaktionen ein normaler Gesprächsablauf zu beobachten. Herr M. reagiert angemessen auf Fragen, führt Dinge und Bedürfnisse aus und stellt von sich aus aktiv Fragen. Gerade letzteres ist im Zusammenhang mit einer demenziellen Erkrankung von großer Relevanz, da dies ein wichtiger Punkt in Bezug auf die Einschätzung des Grades der Erkrankung ist. Er wird in seinen Äußerungen von der Pflegekraft verstanden, wodurch ein Gespräch und ein Austausch ermöglicht wird. Als weiterer Hinweis für die Qualität dieser Interaktionen ist die Frequenz des Lachens anzusetzen. Im Kontrast ist zu beobachten, dass in den russischsprachigen Aufnahmen Herr M. und auch die Pflegekraft häufig gemeinsam lachen. Insgesamt wirkt die Atmosphäre entspannter und freundlicher.

Um diesen Unterschied aussagekräftig illustrieren zu können, müssten längere Ausschnitte aus beiden Gesprächssituationen kontrastiert werden, wozu hier jedoch der Raum und die inhaltliche Ausrichtung fehlen. Es soll dennoch nicht auf ein Beispiel für eine Interaktion mit einer russischsprachigen Pflegekraft verzichtet werden. Um eine Vergleichbarkeit zu gewährleisten, wurde auch hier die Eingangssituation gewählt. Die Pflegekraft betritt den Raum und begrüßt Herrn M. auf Russisch. Er reagiert mit dem Gegengruß und einer familiären Adressierung der Pflegerin (mit coлнышкo / solnyško ‚wörtl. kleine Sonne‘, hier als Kosename verwendet). Auf die folgende Frage nach seinem Nachtschlaf reagiert er zunächst mit ничeгo / ničego (in der umgangssprachlichen Form ничë / ničë), was hier soviel wie ‚normal‘ bedeutet und führt kurz darauf noch einmal etwas länger mit einem vollständigen Satz aus: cпaл xopoшo! / spal chorošo! ‚Ich habe gut geschlafen!‘ Aus diesem Beispiel geht ein natürlicher Wechsel zwischen den Gesprächsbeiträgen der beiden Personen hervor, die nicht durch sprachliche Schwierigkeiten oder den Wechsel in eine andere Sprache gestört werden. Es entwickelt sich ein ungehindertes und entspanntes Gespräch. Dies ist über die Dauer der gesamten Aufnahme, die hier nicht in Gänze wiedergegeben werden kann, ersichtlich.

Transkript 8: Ausschnitt aus der Morgenpflege: Interaktion zwischen einem russischsprachigen an Demenz erkrankten Pflegebedürftigen und einer russischsprachigen Pflegekraft

Dauer der Aufnahme::

13 Sekunden

Sprecher/innen::

Pflegerin (P1) in einem Pflegeheim,

Herr M., Bewohner eines Pflegeheims (B2)

Transkription:

P1:

dobroe utro!

B2:

dobroe utro, solnyško!

P1:

kak vam spalos’ segodnja chmm?

B2:

a ničë!

P1:

normal’no spalos’?

B2:

spal chorošo (gedehnt)

P1:

ėto zamečatel’no!

Übersetzung:

P1:

guten morgen!

B2:

guten morgen, sonnenschein!

P1:

wie haben sie heute geschlafen hmm?

B2:

ganz normal!

P1:

normal geschlafen?

B2:

ich habe gut geschlafen! (gedehnt)

P1:

das ist großartig!

Diese blitzlichtartigen Impressionen sollen verdeutlichen, dass es einen großen Unterschied macht, in welcher Sprache die Pflegekommunikation abläuft und dieser Unterschied zu einem anderen Verhalten des Pflegebedürftigen führt. Zwar wurde betont, dass in keiner der aufgezeichneten Fälle die Pflege im deutschsprachigen Setting gefährdet war bzw. das entsprechende Ziel der Morgenpflege aus sprachlichen Gründen nicht erreicht werden konnte, dennoch konnten einige wichtige Unterschiede zwischen der Interaktion mit einer Pflegekraft, die nicht die Erstsprache des Pflegebedürftigen spricht, und einer, die sie spricht, herausgearbeitet werden. Dass diese Unterschiede Folgen auf die konkrete Gesprächssituation und auf das psychische Empfinden beider Gesprächsteilnehmer haben, mag wohl jedem klar sein, der sich einmal in einer vergleichbaren Situation sprachlicher Asymmetrie befand. Ein wichtiger Unterschied liegt dabei auch in der beobachteten unterschiedlichen Verwendung des Secondary Baby Talks. Wo dieser in den deutschen Aufnahmen z. T. zumindest in Ansätzen erscheint, sind dafür keinerlei Anzeichen in den russischsprachigen Aufnahmen zu finden. Die Verwendung von Secondary Baby Talk durch den Sprecher geht normalerweise mit dem individuell und subjektiv eingeschätzten kognitiven Zustand des Hörers einher: Je geringer seine kognitiven Fähigkeiten angesehen werden, umso mehr wird auf diese Gesprächsstrategie zurückgegriffen. Gerade im Zusammenhang mit der Interaktion mit an Demenz erkrankten Personen mehren sich Anzeichen von Secondary Baby Talk im Verlauf der Erkrankung (vgl. hierzu Posenau, 2014), wenngleich dies nicht immer als positiv und erstrebenswert gewertet wird (vgl. dazu auch die entsprechenden Ausführungen oben). Häufig entzieht sich dabei der Einsatz dieser sprachlichen Charakteristika dem Bewusstsein, es handelt sich um eine intuitive Anpassung an die vermeintlichen Fähigkeiten des Gegenübers. Vor diesem Hintergrund lässt sich vermuten, dass der hier beobachtete Unterschied im Einsatz dieser Gesprächsstrategie darauf hindeutet, dass die russischsprachigen Pflegekräfte den kognitiven Zustand von Herrn M. als besser einschätzen, als es die deutschsprachigen Pflegekräfte tun. Und damit ist der Bogen zu den Beobachtungen im Fall von Frau S. geschlagen. Auch dort wurden die Fähigkeiten, die aus der deutschsprachigen Interaktion interpretiert wurden, als weitaus schlechter eingeschätzt als die im Rahmen der russischsprachigen. Die aus dieser Fehleinschätzung resultierenden Folgen für die/den Pflegebedürftigen wurden bereits oben skizziert. Im Fall der hier beschriebenen Konstellation erscheinen sie dabei als nicht ganz so dramatisch, da es hier den Ausgleich durch die jeweils russischsprachigen Pflegekräfte gibt.

Konstellation 3: Pflegebedürftige Person in der Interaktion mit gleichsprachigen (nicht umgebungssprachigen) Pflegekräften (quasi monolinguale Pflegekommunikation)

Die letzte hier zu schildernde Konstellation kommt dann zustande, wenn die pflegebedürftige Person ausschließlich mit Personen interagiert, die die gleiche Sprache wie die Erstsprache der pflegebedürftigen Person sprechen, die in diesem Fall nicht der Umgebungssprache entspricht. Dies sind Pflegeheime mit explizit sprachlich ausgerichteten Stationen bzw. einer entsprechenden Einstellungs- und Belegungspolitik, in der die Sprache oder auch die Kultur ein ausschlaggebendes Kriterium darstellt. Mittlerweile gibt es, gerade in Ballungsgebieten, einige Einrichtungen mit wachsender Zahl, die z. B. russisch- oder auch türkischsprachige Stationen eingerichtet haben, andere fokussieren sich auf kultursensible Pflege, weitere richten sich nach dem Glauben aus. Auch aufseiten der Angebote in den Pflegeheimen wächst die Diversität.

Kommt eine entsprechende pflegebedürftige Person in eine solch ausgerichtete Einrichtung, so verlässt sie die bisher in den meisten Fällen mehr oder weniger stark ausgeprägte mehrsprachige Lebenswirklichkeit und gelangt in eine quasi monolinguale Sprachumgebung. Dadurch, dass dennoch das Pflegeheim in Deutschland ist, sind natürlich Interaktionen auf Deutsch nicht ausgeschlossen. Ebenso kommt es auch in diesen Konstellationen zu sprachlichen Kontaktprodukten, die auf die allgemeine Kontaktsituation zurückzuführen sind. Dennoch ist es aus Sicht der pflegebedürftigen Person möglich, jedwede Kommunikation in ihrer Erstsprache zu führen. Je nach Ausrichtung der Institution und Gesundheitszustand inkludiert dies die Kommunikation mit anderen Bewohner/innen, in jedem Fall jedoch die Pflegekommunikation.

Auch für diese Konstellation soll stellvertretend eine Person porträtiert werden. Hier handelt es sich um die 95-jährige russischsprachige Frau E. Sie ist ebenfalls in der ehemaligen UdSSR geboren, war dort als Leiterin eines Krankenhauses tätig und ist im höheren Erwachsenenalter nach Deutschland gekommen. Sie ist an Demenz erkrankt und befindet sich im Spätstadium der Krankheit. Laut Auskunft ihrer Familienangehörigen, von denen sie Besuch bekommt, hat sie vor ihrer Erkrankung Deutsch verstanden und gesprochen. Mittlerweile sind jedoch ihre sprachlichen Ausdruckfähigkeiten krankheitsbedingt sehr stark eingeschränkt. Da die Angehörigen beobachtet haben, wie stark und schnell die Kommunikation im Deutschen eingeschränkt wurde, entschieden sie sich bewusst für dieses Pflegeheim, in dem sichergestellt werden konnte, dass Frau E. auf Russisch gepflegt werden würde. Frau E. ist in allen Bereichen sehr stark eingeschränkt. Sie ist kaum mehr in der Lage, sich verständlich mitzuteilen. Ihre Äußerungen beschränken sich auf einzelne Wörter, die sie zum Teil wiederholt bzw. lautiert. Ihre Aussprache ist dabei stark von der Demenz geprägt. Die Lautstärke ist lauter als normal, die Intonation monoton. Frau E. legt ein sog. herausforderndes Verhalten an den Tag. Dies ist in diesem Stadium der demenziellen Erkrankung keine Seltenheit und umfasst lautes Schreien, Gewalttätigkeiten, Verweigerung der Kooperation etc. Dies wird bei Frau E. häufig ausgelöst, wenn sie doch einmal – abweichend – auf Deutsch angesprochen wird. Die Pflegekräfte berichteten von vielen solcher Zwischenfälle, weswegen sie mittlerweile bewusst vermeiden, dass Frau E. mit der deutschen Sprache in Berührung kommt. Dies wird v.a. durch die Zuteilung ausgewählter russischsprachiger Pflegekräfte erreicht, die mit Frau E., ihrem Verhalten und auch ihren Reaktionen gut vertraut sind. Somit lässt sich hier zusammenfassend sagen, dass eine Kommunikation auf Deutsch mit Frau E. überhaupt nicht mehr möglich ist. Abgesehen davon, dass sie nicht in der Lage wäre, sich mitzuteilen, würde sie die Interaktion verweigern.

Auf Russisch hingegen sind viele Dinge noch möglich. In den zwei Aufnahmen der Morgenpflege von ihr mit zwei russischsprachigen Pflegerinnen zeigt sich eine sehr eingeschränkte Kommunikation, dennoch reagiert Frau E. verbal, kann sich mitteilen und wird verstanden. Unterm Strich lassen sich sogar quantitativ mehr und verständlichere Wörter zählen, als es im Vergleich bei Frau S., der ersten porträtierten Frau in der mittleren Phase der Demenz in der deutschsprachigen Interaktion der Fall war. Dazu muss allerdings gesagt werden, dass die Pflegerinnen davon berichten, dass die Interaktion von Frau E. stark tagesformabhängig ist und die Aufnahmen jeweils an einem guten Tag erfolgten.

Die Morgenpflege erstreckt sich bei Frau E. nicht bloß auf das Wecken, Waschen und Ankleiden, sondern umschließt auch das Füttern, da Frau E. dazu nicht mehr in der Lage ist. Damit weisen die Aufnahmen eine breitere Fülle an Interaktionen mit entsprechenden sprachlichen Begleithandlungen auf. Zudem sind hier die Gesprächsstrategien der Pflegekräfte stark von dem Grad der Krankheit geprägt. Beiden Pflegerinnen gelingt es dabei, eine angenehme Gesprächsatmosphäre zu schaffen und Frau E. emotional zu adressieren. Dies spiegelt sich auch in ihrer gewählten Anredeform. Diese entspricht ganz klassisch (und hier nicht durch den Kontakt mit dem Deutschen beeinflusst) den russischen Konventionen der Höflichkeit, gerade älteren Menschen gegenüber: Frau E. wird überwiegend mit Vorname + Vatersname +  / Vy angesprochen. Allerdings wechselt die Pflegekraft in einigen Fällen ins ты / ty (familiäre Anrede mit ‚Du‘). Diese Situationen zeichnen sich dann allerdings passend dadurch aus, dass die Pflegekraft versucht, eine größere Nähe aufzubauen, um z. B. Frau E. besser zu erreichen und zu einer Handlung zu führen. Ihre Pflegehandlungen begleiten die Pflegerinnen mit sehr viel positivem Lob und wiederholen die Aufforderungen sehr oft. Daneben verwenden sie recht viele Diminutiva (wie z. B. cпacибoчки / spasibočki, лoжeчки / ložečki, пoтиxoнeчкy / potichonečku oder pyчки / ručki – jeweils Verkleinerungsformen von ‚Danke‘, ‚Löffel‘, ‚langsam/ruhig‘ und ‚Hand‘). Die Intonation ist langsam, die Aussprache deutlich, aber beides nicht über Gebühr übertrieben. Damit sind einige Charakteristika des Secondary Baby Talk zu finden, es wird in den Gesprächen mit Frau E. zugleich aber in einer angepassten und dabei deutlich gesichtswahrenden Form verwendet.

Die Äußerungen von Frau E. sind ausschließlich reaktiv. Dabei erfolgen sie meist erst nach mehrmaliger Aufforderung und auf geschlossene Fragen. Meist wiederholt sie dabei das vorher von der Pflegekraft Gesagte oder reagiert mit Routineformeln. Dabei beschränken sich ihre Äußerungen auf einige wenige Wörter, vorrangig sind dies: xopoшo / chorošo ‚gut‘, нeт нeт / net net ‚Nein, Nein‘, бyдy / бyдeм / budu/budem ‚(ich/wir) werde/n‘ als Bestätigung, лaднo / ladno ‚in Ordnung‘ bzw. die besagten Wiederholungen der Äußerungen der Pflegekraft.

Illustrierend für diese Ausführungen soll auch hier ein Transkript der Begrüßung angeführt werden. Die Pflegekraft kommt ins Zimmer und begrüßt Frau E. Nach einer Wiederholung des Morgengrußes spiegelt ihn Frau E. Die Pflegerin erkundigt sich nach ihrem Schlaf, worauf Frau E. eine ihrer Standardantworten xopoшo! / chorošo! ‚gut!‘ gibt. Es ist festzuhalten, dass es sich dabei um eine Reaktion handelt, der nicht eine geschlossene Frage vorherging. Die Pflegekraft erläutert ihr daraufhin, welche Pflegehandlungen sie im Folgenden durchführen wird (aus dem Bett heben, waschen und anziehen) und bekommt als Reaktion eine verbale Zustimmung von Frau E. (wieder in der obigen Form):

Transkript 9: Ausschnitt aus der Morgenpflege: Interaktion zwischen einer russischsprachigen an Demenz erkrankten Pflegebedürftigen und einer russischsprachigen Pflegekraft, Beispiel 1

Dauer der Aufnahme::

20 Sekunden

Sprecher/innen::

Pflegerin (P1) in einem Pflegeheim,

Frau E., Bewohnerin (B3) eines Pflegeheims

Transkription:

P1:

dobroe utro vika borisownaFootnote 14! dobroe utro moja rodnaja, dobroe utro!

B3:

dobroe utro! (sehr laut und gleichförmig)Footnote 15

P1:

kak pospali?

B3:

chorošo!

P1:

chorošo! todaFootnote 16 ja vas ščas podnimu s koečki i pomoju i odenu, chorošo?

B3:

chorošo!

P1:

nu molodcy, vstavajte togda

Übersetzung:

P1:

guten morgen vika borisowna! guten morgen meine liebe, guten morgen!

B3:

guten morgen!

P1:

wie haben sie geschlafen?

B3:

gut!

P1:

gut, dann hole ich sie jetzt aus dem bettchen und wasche sie und ziehe sie an, gut?

B3:

gut!

P1:

na prima, dann stehen sie auf

Als abschließendes Beispiel für die Interaktion mit Frau E. soll hier ein etwas längeres Transkript eines Ausschnittes von ca. einer Minute Länge präsentiert werden, der das Ende der Aufnahme einleitet. Die Pflegerin hat Frau E. gefüttert und fragt sie zunächst, ob sie satt ist. Hier ist ein Wechsel, wie oben beschrieben, in die familiäre Form der Anrede mit ‚Du‘ zu beobachten. Darauf antwortet ihr Frau E. Im Anschluss daran stellt ihr nun die Pflegerin die Frage, was sie als nächstes machen möchte. Zunächst tut sie dies in Form einer offenen Frage, bekommt jedoch keinerlei Reaktion. Daraufhin reformuliert sie ihre Frage in etwas einfacheren Wörtern, bleibt jedoch weiterhin bei einer offenen Form. Auch diese bleibt reaktionslos. Die Pflegerin überbrückt das Schweigen durch Aufzählung der erfolgten Aktivitäten – hier wählt sie die ‚Wir‘-Form, die in Pflegekontexten recht verbreitet ist und stellt dann anschließend eine Entweder-oder-Frage. Auch auf diese bekommt sie keine Reaktion. Es folgen einige Wiederholungen, Aufforderungen zu antworten und erneute Ansprachen, die auch wiederum ohne Reaktion bleiben. Erst in dem Moment, als sich die Pflegerin für eine geschlossene Frage mit der Antwortmöglichkeit Ja bzw. Nein entscheidet, erfolgt die verbale Reaktion von Frau E.: sie will nicht spazieren gehen (нeт нeт! / net net! ‚Nein, Nein‘!) aber fernsehen (бyдeм! / budem! ‚(wir) werden!‘). Dieser Ausschnitt ist insofern gesprächstechnisch sehr interessant, als er sehr deutlich illustriert, wie wichtig es ist, in der Interaktion mit Menschen mit Demenz in dieser fortgeschrittenen Phase der Erkrankung in möglichst geschlossener Form zu sprechen. Der Dreischritt von einer ganz offenen über eine Wahlmöglichkeit hin zur Ja/Nein-Antwort spiegelt hier sehr gut wider, welche Optionen einem Sprecher grundsätzlich zur Verfügung stehen und welche in dieser speziellen Interaktion zum gewünschten Erfolg – der verbalen oder auch nonverbalen Reaktion – führen. Nicht umsonst ist die Formulierung geschlossener Fragen ein vielfach zu findender Rat in entsprechenden Pflegehandbüchern. Zugleich wird an dieser Stelle offensichtlich, dass eine Pflegekraft die kognitiven und reaktiven Fähigkeiten der pflegebedürftigen Person überschätzt und sich gezwungen sieht, ihre Strategien nach unten hin anzupassen. Dies steht im Gegensatz zu den oben geschilderten Konstellationen, in denen in der deutschsprachigen Pflegeinteraktion von einem zu niedrigen kognitiven Zustand ausgegangen wurde.

Mit der auf diese Weise doch erfolgten Reaktion von Frau E. ist die Morgenpflege abgeschlossen und die Pflegerin zufrieden. Sie wiederholt noch einmal, was sie als nächstes tun wird und verlässt danach das Zimmer.

Transkript 10: Ausschnitt aus der Morgenpflege: Interaktion zwischen einer russischsprachigen an Demenz erkrankten Pflegebedürftigen und einer russischsprachigen Pflegekraft, Beispiel 2

Dauer der Aufnahme::

1:16

Sprecher/innen::

Pflegerin (P1) in einem Pflegeheim,

Frau E., Bewohnerin (B3) eines Pflegeheims

Transkription:

P1:

vsë nakušalas’?

B3:

kušala!

P1:

nakušalas’. (Pause) chočeš’ eščë jogurt?

B3:

net net!

P1:

net? vsë? syta? bol’še kušat’ ne chočeš’?

B3:

ne choču!

P1:

ne chočeš’? (Pause) a čë ty chočeš’? (3 Sek. Pause) a čto, na čto želanie u tebja est’ vika borisowna? (2 Sek. Pause) čto ty chočeš’? (2 Sek. Pause) hm? skaži mne! (4 Sek. Pause) čto ty chočeš’? (Pause) čto bum ščas delat’? (3 Sek. Pause) pomylis’, odelis’, pokušali (Aufzählungsintonation) (2 Sek. Pause) čto bum ščas delat’? (4 Sek. Pause) hmm? (2 Sek. Pause) televizor smotret’ ili guljat’ pojdëm? (5 Sek. Pause) čto bum delat’? televizor smotret’ ili guljat’ pojdëm? (4 Sek. Pause) podumaj! (2 Sek. Pause) čto ty chočeš’ vika borisowna? (3 Sek. Pause) vika borisowna! (2 Sek. Pause) televizor bum smotret’ ili guljat’ pojdëm? (5 Sek. Pause) nu, skaži mne! (bittende Intonation) (3 Sek. Pause) čto my budem ščas delat’? (3 Sek. Pause) a? (5 Sek. Pause) vika borisowna! nu razgovarivaj so mnoj! (drängendere Intonation) (Pause) guljat’ pojdëm?

B3:

net net!

P1:

a televizor budem smotret’?

B3:

budem!

P1:

novosti budem smotret’?

B3:

budem!

P1:

nu chorošo! ščas ja togda vključu televizor, ladno?

B3:

ladno!

P1:

nu klassno!

Übersetzung:

P1:

alles aufgegessen?

B3:

gegessen!

P1:

aufgegessen. (Pause) möchtest du noch joghurt?

B3:

nein nein!

P1:

nein? alles? bist du satt? willst du nichts mehr essen?

B3:

ich will nicht!

P1:

du willst nicht? (Pause) und was willst du? (3 Sek. Pause) und was, was wünschst du dir, vika borisowna? (2 Sek. Pause) was willst du? (2 Sek. Pause) hm? sag es mir! (4 Sek. Pause) was willst du? (Pause) was werden wir jetzt machen? (3 Sek. Pause) wir haben dich gewaschen, angezogen und wir haben gegessen (Aufzählungsintonation) (2 Sek. Pause) was machen wir jetzt? (4 Sek. Pause) hmm? (2 Sek. Pause) schauen wir fernsehen oder gehen wir spazieren? (5 Sek. Pause) was machen wir jetzt? schauen wir fernsehen oder gehen wir spazieren? (4 Sek. Pause) überleg! (2 Sek. Pause) was willst du vika borisowna? (3 Sek. Pause) vika borisowna! (2 Sek. Pause) schauen wir fernsehen oder gehen wir spazieren? (5 Sek. Pause) sag es mir! (bittende Intonation) (3 Sek. Pause) was machen wir jetzt? (3 Sek. Pause) a? (5 Sek. Pause) vika borisowna, sprich mit mir! (drängendere Intonation) (Pause) gehen wir spazieren?

B3:

nein nein!

P1:

werden wir fernsehen?

B3:

werden wir!

P1:

werden wir nachrichten schauen?

B3:

werden wir!

P1:

das ist gut! dann schalte ich jetzt den fernseher ein, okay?

B3:

okay!

P1:

das ist super!

Diese Ausschnitte und die Ausführungen dazu zeigen, wie immens wichtig es ist, gerade in der letzten Phase einer demenziellen Erkrankung eine adäquate, liebevolle und entspannte Interaktion zu ermöglichen. Welche Rolle dabei die vertraute Erstsprache spielt, ist wohl offensichtlich. Der Fall von Frau E. spiegelt dies in jeder nur erdenklichen Klarheit: Eine Interaktion und damit auch die Pflege in einer anderen Sprache als ihrer Erstsprache ist nicht mehr möglich, wird sie jedoch in ihrer Erstsprache angesprochen und ihrem Krankheitszustand angemessen adressiert, verläuft die Pflege erfolgreich, auch wenn sie deutlich Empathie, Geduld und Zeit erfordert.

Abschließende Bemerkungen

Die Schilderung dieser drei sprachlichen Konstellationen, zu denen es im Fall der Pflegebedürftigkeit Mehrsprachiger in vollstätionären Einrichtungen kommen kann, fokussierte sich auf die Perspektive der jeweiligen pflegebedürftigen Person. Diese Perspektive wurde bewusst gewählt, da es letztlich die Pflegebedürftigen sind, die dauerhaft in dieser Situation leben. Es ist ihre alltägliche Lebenswirklichkeit, die vergleichsweise wenig Varianz aufweist. Neben dem Austausch mit den Pflegekräften und ggf. den anderen Bewohner/innen kommt es nur selten (meist nur durch Besuche) zu Kontakten zu anderen Gruppen bzw. zur Außenwelt. Dies wird im Fall von mehrsprachigen Pflegebedürftigen, zumindest für die durch das Projekt UnVergessen begleiteten Personen, meist noch verstärkt. Wie oben ausgeführt, findet ein Großteil der Pflege unter russischsprachigen Personen im familiären Kontext statt. Der Umzug ins Pflegeheim ist meist nur dann eine Option, wenn entweder die entsprechende Krankheit (meist Demenz) so weit fortgeschritten ist, dass eine Pflege zu Hause erschwert ist oder aber – wie in unseren Fällen ebenfalls häufig beobachtet – die Angehörigen örtlich entfernt leben, das Verhältnis zu ihnen beeinträchtigt ist bzw. es sie nicht gibt. Dies bedingt zwangsläufig, dass der Kontakt mit ihnen entweder gar nicht stattfindet oder auf ein Minimum reduziert ist. Die Interaktion im Pflegeheim ist damit häufig die einzige Kommunikationsmöglichkeit für diese Personen, wodurch sie eine große Relevanz bekommt.

In allen drei Fallbeispielen wurde die gleiche Kommunikationssituation – die Situation der Morgenpflege und Interaktion während dieser – dargestellt. Dabei wurde im Sinne einer Vergleichbarkeit darauf geachtet, dass in allen Fällen die Situation der Begrüßung und damit des Beginns der Pflegehandlung thematisiert wurde.

Aus diesen exemplarischen Beispielen lässt sich natürlich keine Verallgemeinerung auf die Situation anderer mehrsprachiger Pflegebedürftiger ziehen. Sie bleiben Fallbeispiele und sind mit ihren individuellen Charakteristika zu sehen und zu interpretieren. Wie aus den Schilderungen ersichtlich wurde, bedarf es jeweiliger Hintergrundinformationen und Kenntnisse der Person sowie der Pflegeumstände, um bestimmte Phänomene einschätzen zu können. Daher soll hier keinesfalls der Eindruck erweckt werden, man könne von diesen drei einzelnen Lebensumständen abstrahieren und allgemeingültige Aussagen treffen.

Dennoch treten zumindest zwei wesentliche Dinge aus den Darstellungen zu Tage, die abschließend noch einmal fokussiert werden sollen: zum einen die Relevanz der Erstsprache, die eine entspanntere und vertrautere Gesprächsatmosphäre für die Pflegebedürftigen schafft bzw. diese überhaupt erst ermöglicht und zum zweiten die Gefahr der Unterschätzung der kognitiven Fähigkeiten der Pflegebedürftigen, wenn die Kommunikation in einer anderen als der Erstsprache erfolgt. Auf die möglichen Folgen einer solchen dauerhaften Unterschätzung wurde dabei hingewiesen.

Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen erscheint es notwendig, zumindest für diese beiden Punkte zu sensibilisieren und zunächst die Situation und die Belange mehrsprachiger Pflegebedürftiger mehr in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken. Im Anschluss daran steht die Hoffnung, die Suche nach Konzepten anzustoßen, wie zu einer Verbesserung der Situation dieses Personenkreises beigetragen werden kann. Hier sind z. T. bereits Ansätze vorhanden (für einen Überblick über die konzeptionelle Öffnung stationärer Altenpflegeeinrichtungen in Deutschland in Richtung Interkulturalität verweise ich auf Schwarzer, 2017), es gibt aber in der Umsetzung noch deutlich Ausbaupotenzial. Ein wichtiger Ansatz ist hier sicherlich die Sensibilisierung für die Thematik aufseiten der Pflegekräfte bereits in ihrer Ausbildung bzw. durch entsprechende Fortbildungsmaßnahmen. Einem anderen Ansatz soll der folgende Teil dieses Buches gewidmet werden: dem Projekt UnVergessen, das vor genau diesem geschilderten Hintergrund ansetzt und versucht, eine besondere Form der Unterstützung für mehrsprachige Pflegebedürftige zu bieten.