Eine Rezeption und Weiterentwicklung hat sowohl das Konzept der sprachlichen Gattungen nach Bachtin als auch das Modell der kommunikativen Gattungen nach Luckmann im Programm der kommunikativen Aktivitätstypen und der kommunikativen Projekte durch Per Linell erfahren. Er nimmt sowohl Bachtin als auch Luckmann als Basis (vgl. Linell 2009:188 und 2010:38) und entwirft ein in vielen Aspekten parallellaufendes Konzept, das jedoch den Begriff der Gattung zu umgehen sucht (vgl. Linell 2009:190). Linell nimmt im Zuge dieser Differenzierungen eine Ordnung auf drei unterschiedlichen Ebenen an (vgl. Linell 2010:36): dem kommunikativen Projekt (CP), den kommunikativen Aktivitätstypen (CAT) und der situierten Interaktion. Theoretisch-konzeptionell versteht Linell das Modell zudem sowohl als Weiterentwicklung der (nach seinen Vorstellungen monologischen) Sprechakttheorie als auch als Erweiterung des engen (Paar)Sequenz-Begriffs wie Schegloff (2007) ihn entwickelt (vgl. Linell 2009:188; siehe Abschnitt 17.3). Linell folgt in diesem Zusammenhang dem Konzept der Dialogizität, wie Bachtin es beschreibt.

Die kommunikativen Aktivitätstypen (‚communicative activity types‘ kurz: CAT) bilden in Linells Modell das Äquivalent zum Begriff der kommunikativen Gattungen (vgl. Linell 2010:42, FN8) und sind in Komplexität und Reichweite sehr divers.

CATs are kinds of large overarching communicative projects (CPs). At the same time, CATs – like other CPs – may themselves be embedded within projects and activities that are not primarily communicative in nature. Also, CPs, vary widely in size, e.g. that of lighting a candle […] to that of giving reassurance to a pregnant woman over a series of maternal health care encounters […]. (Linell 2010:42)

Kommunikative Aktivitätstypen sind somit spezifische Formen größerer übergeordneter kommunikativer Projekte (vgl. Linell 2010:38) und können in sich wiederum weitere kleinere, untergeordnete, z. T. hierarchisch organisierte Aktivitätstypen und Projekte vereinen (vgl. Linell 2009:188). Wie bei dem Konzept der kommunikativen Gattungen nach Luckmann ist jedoch auch im Modell der kommunikativen Aktivitätstypen die Granularität und die Reichweite der einzelnen Begriffe nicht immer völlig klar. Deutlich wird dies z. B. an der Auswertung eines seiner Beispiele: „Barring some details, the episode can be divided into three subsequences, which are constituent CPs within the whole CP (which of course, is embedded in its turn within an overarching CP […])“ (Linell 2010:38). Linell spricht hier lediglich von mehreren, ineinander eingelagerten kommunikativen Projekten und stellt diese nicht in ihrem Verhältnis zu kommunikativen Aktivitätstypen dar. Es bleibt dadurch unexpliziert, in welchem konkreten Verhältnis er CPs und CATs verortet.

Ähnlich wie Linell mit dem Begriff der kommunikativen Aktivitätstypen eine Alternative zum Gattungsbegriff vorschlägt, wird auch der Begriff der kommunikativen Praktik eingeführt, um terminologisch eindeutiger und unbelasteter zu sein. Es haben sich jedoch auch hier unterschiedliche Konzeptionen etabliert.

  1. 1.

    Kommunikative Praktiken sind „‚Organisationsblöcke‘ in der Interaktion mit einem mittleren Umfang. Es handelt sich um Sets aus einer oder mehreren Handlungen, mit denen eine komplexe kommunikative Aufgaben gelöst wird“ (Imo 2016a:164). Diese Praktiken sind dann Teil von kommunikativen Gattungen.

  2. 2.

    Kommunikative Praktiken ist ein „Oberbegriff für routinisierte Verfahren zur Herstellung sozialer Aktivitäten“ (Günthner/König 2016:181). Kommunikative Gattungen sind in diesem Verständnis spezielle kommunikative Praktiken, die „Verfestigungen auf mehreren Ebenen […] aufweisen und sich über längere Sequenzen […] erstrecken und somit komplexe Handlungsmuster repräsentieren“ (Günthner/König 2016:182).

  3. 3.

    Die Begriffe der kommunikativen Praktik und der kommunikativen Gattung werden weitgehend synonym gebraucht. Genauer: der Begriff der Praktik bezeichnet den gleichen Gegenstand wie Gattungen im Sinne Luckmanns (vgl. Fiehler et al. 2004:103 f., Fiehler 2005:1180, Stein 2011:10 f.), ersetzt jedoch den disziplinenübergreifend genutzten Terminus der Gattung (vgl. Stein 2011:23). Fiehler orientiert sich jedoch deutlicher an Bachtin, wenn er davon ausgeht, dass „jedes Sprechen und Schreiben […] in […] kommunikativen Praktiken [geschieht]“ (Fiehler 2005:1180) und „jede Verständigung […] in der Realisierung eines konkreten, singulären Exemplars einer solchen kommunikativen Praktik [besteht]“ (Fiehler 2005:1180; siehe dazu auch Fiehler et al. 2004:104). Der Begriff der kommunikativen Praktik deckt in dieser Konzeption die gesamte Bandbreite sprachlicher Erscheinungsformen – mündlich wie schriftlich – ab (vgl. Fiehler 2005:1181).

Die vorliegende Arbeit versteht Praktiken im Sinne von Imo als Bestandteile bzw. Bausteine von Handlungen, die wiederum Teil einer größeren Aktivität bzw. kommunikativen Gattung sind (vgl. Selting 2016, Imo 2016a:158). Kommunikative Gattungen sind dann komplexe Interaktionsereignisse, innerhalb derer Handlungen mithilfe unterschiedlicher interaktiver Praktiken unter dem Einsatz verschiedener interaktiver Ressourcen realisiert werden. Die vorliegende Arbeit stellt die Begriffe ‚Gattung‘, ‚Handlung‘ und ‚Praktik‘ also in ein spezifisches Verhältnis, das Abb. 9.1 – hier schon anhand des Gegenstandes der christlichen Predigt – verdeutlicht. Die Darstellung greift in Ansätzen den nachfolgenden Analysen voraus, die in den Kapiteln 13 bis 17 detailliert vorgestellt werden:

Abb. 9.1
figure 1

Begriffsdifferenzierung

In der hier verwendeten Klassifikation bildet der Gottesdienst das übergeordnete, komplexe kommunikative Projekt, in dessen Verlauf unterschiedliche kommunikative Gattungen realisiert werden. Diese Gattungen sind in sich abgeschlossene raum-zeitliche Einheiten, die durch ihre typische Abfolge das Projekt des Gottesdienstes (als Gattungshybrid) ausmachen und konstituieren (siehe Kapitel 13). In diesem Sinne ist die Predigt eine kommunikative Gattung des kommunikativen Projekts Gottesdienst und steht zwischen vorausgehenden und nachfolgenden Gattungen, wie der Evangeliumslesung, einem Gebet, den Abkündigungen etc. Jede Gattung besteht aus unterschiedlichen Phasen bzw. Aktivitätstypen, von denen die Eröffnung und die Beendigung die basalsten sind (siehe Abschnitt 15.1 und 15.2). Der prominenteste Aktivitätstyp der Gattung Predigt ist der Wortbeitrag. Er bildet den Kern der Gattung. Die drei Aktivitätstypen sind für die Gattung obligatorisch (siehe Abschnitt 15.3) und bestehen wiederum aus unterschiedlichen kleineren und größeren kommunikativen Handlungen. Innerhalb der Eröffnung der Predigt sind z. B. der Gang des Predigers zum Predigtort und die intra- und interpersonelle Koordinierung konstitutiv (siehe Abschnitt 15.1). Innerhalb des Wortbeitrags sind z. B. das Lesen eines biblischen Textes oder die Zuschreibung spezifischer Wissensbestände (siehe Kapitel 16) typische Handlungen. Diese werden wiederum mithilfe unterschiedlicher kommunikativer Praktiken realisiert. Dazu gehören z. B. epistemisch-rhetorische Formulierungen wie ‚ich weiß nicht‘ (siehe Abschnitt 16.2) oder Interrogativsequenzen (siehe Abschnitt 17.4) sowie die körperliche Ab- und Zuwendung des Predigers zum Zweck der Koordinierung mit der Gemeinde (siehe Kapitel 14). Fakultativ können innerhalb der kommunikativen Gattung der Predigt weitere Gattungen, wie das Gebet, eingelagert sein. Diese können sowohl zwischen einzelnen Aktivitätstypen als auch innerhalb der Aktivitätstypen realisiert werden (siehe Abschnitt 15.1.4 und 15.2.1).

Den Fokus der vorliegenden Arbeit bildet die Konstruktion und Durchführung der kommunikativen Gattung der Predigt mit ihren typischen und spezifischen Merkmalen, Aktivitätstypen und Handlungen sowie ihrer Einbettung in das übergeordnete kommunikative Projekt des Gottesdienstes.