Der durch den Soziologen Thomas Luckmann geprägte Begriff der ‚kommunikativen Gattung‘ und das dahinter stehende Konzept tragen – ähnlich den Bestimmungen von Michail Bachtin – der Beobachtung Rechnung, dass nicht nur Texte (seien sie als literarische oder als Gebrauchstexte ausgewiesen) wiederkehrende formale und funktionale Charakteristika und Ähnlichkeiten aufweisen, sondern dass auch in der alltäglichen verbalen Kommunikation (sowohl face-to-face als auch medial vermittelt) Strukturähnlichkeiten, Verfestigungen und Routinen auszumachen sind. Somit können wiederkehrende und je spezifische und/oder typische Muster beobachtet werden, an denen sich wiederum die Interagierenden wahrnehmbar orientieren. Bereits in den 1970er Jahren geprägt und entwickelt, wurde das Konzept der kommunikativen Gattungen sowohl in der Soziologie als auch in der Linguistik und vor allem in den sich an der Grenze zwischen diesen beiden Disziplinen verortenden Analyserichtungen verstärkt rezipiert. Entsprechend groß ist die Zahl der Studien, die sich mit diesem Konzept auseinandersetzen und die unterschiedlichsten kommunikativen Aktivitäten auf ihren Charakter als kommunikative Gattung hin untersuchen: Klatschgespräche (Bergmann 1987), Konversionserzählungen (Ulmer 1988), Vorwurfsaktivitäten als kleine Gattungen (Günthner 2000), Bewerbungsgespräche (Birkner 2001), Whats-App-Gespräche (Dürscheid 2005), Powerpoint-Präsentationen (Schnettler/Knoblauch 2007), Lästern (Schubert 2009), Todesanzeigen (Chen 2013), Tischgespräche (Chen 2016), Interviews (Barié-Wimmer 2018).

Die theoretische Grundlage bildet das wissenssoziologische Programm der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit, wie Berger und Luckmann (2012) es vorlegen (vgl. Günthner/Knoblauch 1995:1). Ausgangspunkt dieser Überlegungen waren sowohl die Auseinandersetzung mit dem symbolischen Interaktionismus (Mead, Blumer), der Theorie des sozialen Handelns (Weber) und vor allem den Auffassungen von Schütz. Damit steht Luckmann in der Tradition der Absage an eine positivistische Ausrichtung der Soziologie im Hinblick auf das Verständnis von Wirklichkeit. Er begreift diese nicht als singulär und gegeben (es gibt nicht ‚die eine‘ Wirklichkeit), sondern als von den Individuen (in der Interaktion auf der Grundlage zur Verfügung stehender Wissensbestände) durch ihr Handeln konstruierte, ausgehandelte und wahrnehmbar gemachte Wirklichkeit (vgl. Knoblauch 2005:157, Berger/Luckmann 2012:3), die verschiedene Wirklichkeitsbereiche umfasst (vgl. Berger/Luckmann 2012:24 f.). Eine Ausformung findet diese Konzeption im Modell der kommunikativen Gattungen mit seiner mikrostrukturellen Analyse der sozialen und kommunikativen Konstruktion der Wirklichkeit, die sich im konkreten (sozialen) Handeln von Individuen zeigt (vgl. Ayaß/Meyer 2012:26, Günthner 2018:30). Für Luckmann beginnt die Analyse kommunikativer Gattungen im Zuge dieser Ausrichtung mit (vorwissenschaftlichen) Ethnokategorien alltäglicher und/oder institutioneller Kontexte (vgl. Luckmann 1986:197, Luckmann 2002b:191). So sei der Terminus ‚kommunikative Gattung’ „ein Begriff zweiter Ordnung, ein wissenschaftlicher Begriff, der sich aber auf Begriffe erster Ordnung, nämlich solche des Alltagsverstands bezieht“ (Luckmann 1986:203). Ähnlich wie Bachtin beschreibt Luckmann, dass diese Begriffe und die damit assoziierten kommunikativen Handlungen wissensgestützt, aber unreflektiert und z. T. ohne metatheoretischen Unterbau von den Individuen genutzt und realisiert werden. Nichtsdestotrotz sind sie der Ausgangspunkt wissenschaftlicher Analysen und die „erstinstanzliche, empirische Basis für die systematische Anwendung des analytischen Begriffs“ (Luckmann 1986:203). In diesem Zusammenhang verweist Luckmann auf den strikt empirischen und induktiven Charakter der Gattungsforschung, die den jeweiligen Gegenstand anhand von natürlichen Daten in seinem eigenen Recht wahrzunehmen bestrebt ist und methodisch in der Linie von Beobachtung, Deskription, Rekonstruktion und schließlich Interpretation vorgeht (vgl. Luckmann 1986:197). In diesen Punkten überschneiden sich die Prinzipien der Konversationsanalyse mit denen der Gattungsforschung (siehe Kapitel 10). Darüber hinaus stellt auch Luckmann die Frage nach der gesellschaftlichen Ordnung bzw. der „allgemeinen Struktur der kommunikativen Vorgänge“ (Luckmann 1986:194) und liefert damit gleichsam ein sozial-theoretisches Konzept (vgl. Günthner/König 2016:180), das sich auf methodische Verfahren anderer empirischer Zugänge, z. B. der Konversationsanalyse, stützt (vgl. Luckmann 2002b:190). Beide Ansätze verfolgen ähnliche Fragestellungen und lassen sich somit wechselseitig füreinander fruchtbar machen, indem sich das Gattungskonzept mithilfe des interaktionslinguistischen Methodenrepertoires umsetzen und am konkreten Datenmaterial durchspielen lässt.

Kommunikative Gattungen sind, so Luckmann, das Endprodukt eines Verfestigungsprozesses, der mit individuell gemachten und mit Sinn aufgeladenen Erfahrungen beginnt. Werden diese Erfahrungen wiederkehrend gemacht, bilden sich (subjektive) Typisierungen heraus (vgl. Luckmann 1986:198). Wenn auch andere Individuen die gleichen (oder ähnliche) Erfahrungen machen und diese in der Interaktion als intersubjektive und kollektive Erfahrungen konstruierten, dann werden die gebildeten Typen „intersubjektiv erinnerungsträchtig und für Mitmenschen verfügbar“ (Luckmann 2002a:157). Das nun verfügbare Wissen führt zur Bildung spezifischer Handlungsschemata, die mit zunehmender Verfestigung eine Objektivierung erfahren, d. h. überindividuell und übersituativ werden (vgl. Luckmann 1986:199; siehe auch Berger/Luckmann 2012:24–26). Diese Schemata können mehr oder weniger verbindlich sein und müssen, unabhängig davon, wie rigide die Ausführung der Handlung am Handlungsschema orientiert ist, in der jeweiligen konkreten Interaktionssituation aktualisiert und ggf. angepasst werden (vgl. Luckmann 1986:198). Gleichzeitig bewirken sie eine Entlastung in der Produktion und Rezeption von Handlungen (vgl. Berger/Luckmann 2012:26; siehe auch Günthner/König 2016:180, Imo 2016a:163). Dies führt dazu, dass die gleiche Handlung auch in anderen Kontexten mit derselben Krafteinsparung ausgeführt werden kann (‚Habitualisierung‘; vgl. Luckmann 2002b:204). Somit entsteht gleichzeitig ein Modell künftiger erwartbarer Handlungen (vgl. Günthner/König 2016:180, Günthner 2018:31 und 40). Gattungen implizieren in ihrer situativen Nutzung also immer auch bestimmte „Erwartungserwartungen“ (Hausendorf 2007) hinsichtlich u. a. der Beteiligungsrollen, der Beteiligungsformate, der vollzogenen Handlungen und der dafür genutzten Praktiken etc. Dennoch, darin stimmen die Konzepte von Bachtin und Luckmann überein, müssen die Muster in der konkreten Interaktionssituation aktualisiert und Erwartungen erfüllt oder gebrochen werden (vgl. Bakhtin 1986:79; siehe dazu auch Günthner/König 2016:180 f.). Das Wissen über typische Gattungsstrukturen und entsprechend erwartbare Handlungsverläufe erleichtert also das Erkennen der nächsten Handlungszüge, entbindet aber nicht von der aktiven verstehbar angezeigten Hervorbringung und Durchführung. Die Erwartungserwartungen hängen nicht nur vom jeweiligen Format oder der jeweiligen kommunikativen Gattung ab, sondern auch auf besondere Weise von den „unterschiedlichen interaktiven bzw. kommunikativen Aufgaben oder Problemen“ (Hausendorf 2007:229), die mithilfe der Gattung gelöst werden sollen. Dabei gibt es je spezifische sowie grundlegende Interaktionsaufgaben, die gleichzeitig bearbeitet werden: „Gesprächseröffnung und -beendigung; Sprecherwechsel; Organisation von Themen und Beiträgen; Kontextualisierung: Rahmen, Zweck und Anlass; Situierung: Verankerung im Hier und Jetzt; Selbst- und Fremddarstellung/face work“ (Hausendorf 2007:230).

Die Frage ist dabei nicht, ob sich Verfestigungen in einer Gesellschaft herausbilden, sondern vielmehr wann und in welchem Ausmaß (Luckmann 2002a:163). Diese typischen Handlungs- und Interaktionsmuster definiert Luckmann als „[…] historisch und kulturell spezifische,Footnote 1 gesellschaftlich verfestigte Lösungsmuster für kommunikative Probleme“ (Luckmann 1997:14) und nennt sie kommunikative Gattungen (vgl. Luckmann 1986:201 f. und 1997:12). Oder wie Günthner/Knoblauch etwas detaillierter ausführen: Kommunikative Gattungen sind

historisch und kulturell spezifische, gesellschaftlich verfestigte und formalisierte Lösungen kommunikativer Probleme, deren – von Gattung zu Gattung unterschiedlich ausgeprägte – Funktion in der Bewältigung, Vermittlung und Tradierung intersubjektiver Erfahrungen der Lebenswelt besteht. (Günthner/Knoblauch 1997:282)

So sind Gattungen auf der einen Seite bereits vorhandene Orientierungsmuster, die die Beteiligten an einer sozialen Situation nutzen und dabei Entlastung beim Produzieren und Rezipieren von Redeformaten erhalten. Auf der anderen Seite erscheinen Gattungen als lokale Hervorbringungen der Interagierenden, die diese explizit oder implizit anzeigen und relevant setzen, auf die je spezifischen Anforderungen der jeweiligen Situation anpassen können und so Gattungen im Moment der Interaktion instantiieren. Unter diesen Vorzeichen lassen sich die zentralen Merkmale kommunikativer Gattungen betrachten. Nach Luckmann handelt es sich bei kommunikativen Gattungen

  • a) um ein spezifisch kommunikatives Handeln, das „in weitgehend voraussagbarer Typik an vorgefertigten Mustern ausgerichtet ist“ (Luckmann 1997:11; Hervorhebungen CD), das

  • b) Bestandteil des gesellschaftlichen Wissensvorrats ist und als solches

  • c) „im konkreten kommunikativen Handeln typisch erkennbar ist“ (Luckmann 1997:11; Hervorhebung CD) und dabei

  • d) „mehr oder minder wirksame verbindliche Lösungen für spezifische kommunikative Probleme“ anbietet (Luckmann 1986:202; 1997:12; Hervorhebung CD).Footnote 2

Die wichtigste Aufgabe besteht dabei in der Herstellung von Intersubjektivität, d. h. einem wechselseitigen Verstehen zwischen den Interagierenden, die in einer Interaktion reziprok ihre Perspektiven auf das Gesagte darstellen (vgl. Imo 2016a:163). Zu diesem Zweck sind dann spezifische Wissensbestände notwendig, die ggf. im Zuge der Gattungsrealisierung vermittelt werden (vgl. Luckmann 1986:205). Durch ein „reciprocal adjustment of perspectives“ (Imo 2016a:163) werden Gattungen zu einem wesentlichen Bestandteil des ‚kommunikativen Haushaltes‘ einer Gesellschaft, d. h. „des strukturierten Gesamts all jener kommunikativen Vorgänge, die einen Einfluss auf Bestand und Wandel einer Gesellschaft ausüben“ (Luckmann 1997:16; siehe auch Luckmann 1986:206 und Knoblauch/Schnettler 2010:292). In diesem Zusammenhang sind sie eine Manifestation und Objektivation dessen, was Luckmann und Berger mit der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit und der Beschreibung der Wissenssoziologie theoretisch ausführen. Sie dienen auf dieser theoretisch übergeordneten Perspektive der Beantwortung der Frage, wie gesellschaftliche Wirklichkeit entsteht und „durch welche Vorgänge ein bestimmter Vorrat an ‚Wissen‘ gesellschaftlich etablierte Wirklichkeit werden kann“ (Berger/Luckmann 2012:3). Im Gegensatz zu Bachtin betont Luckmann jedoch, dass sich nicht alles spezifisch kommunikative Handeln an vorgefertigten Mustern orientiert und nicht in allen Fällen kommunikative Gattungen vorliegen (vgl. Luckmann 1997:11; siehe dazu auch Knoblauch/Schnettler 2010:292). Die Verfestigungen und typischen Muster können dabei auf allen Ebenen der Kommunikation liegen. Zum Zweck einer besseren Systematisierung beschreibt Luckmann zwei Strukturebenen: die Außenstruktur und die Binnenstruktur (1986, 1997:12 f.), die von Günthner/Knoblauch (1995) um die situative Realisierungsebene bzw. Zwischenstruktur ergänzt werden (vgl. dann auch Luckmann 2002a:166). Tabelle  8.1 zeigt eine Auswahl der Elemente, die den einzelnen Ebenen zugeordnet werden (zusammengestellt aus: Luckmann 1986:204, Luckmann 2002a:166 ff., Günthner/Knoblauch 1995:11–17, Günthner/Knoblauch 1997:288–298, Günthner 1995, Auer 1999, Knoblauch 2007):

Tabelle  8.1 Strukturebenen Kommunikative Gattungen

Aus dieser umfangreichen Liste werden in der nachfolgenden Analyse einzelne Aspekte herausgegriffen und näher in den Blick genommen: die institutionellen und kommunikativen Rollen (siehe Kapitel 13), die material-räumliche und sozial-räumliche Situierung (siehe Kapitel 14), Formen der Ritualität, des kommunikativen und situativen Kontextes (siehe Kapitel 15) sowie Beteiligungsformate und Regelungen der Dialogizität (siehe Kapitel 17). Darüber hinaus spielen Formen des Gattungswissens und des Umgangs mit Wissen in der Gattung eine zentrale Rolle (siehe Kapitel 16).

Mit der Ebene der ‚Außenstruktur‘ richtet sich der Blick auf die „Beziehung zwischen kommunikativ Handelnden und der Sozialstruktur“ (Luckmann 2002a:167). Im Zentrum der Untersuchung stehen die gesellschaftlich definierten sozialen Milieus, in denen sich eine Interaktion bzw. eine kommunikative Gattung ereignet. So arbeitet Luckmann heraus, dass bestimmte Gattungen besonders häufig und erwartbar im Rahmen einer bestimmten sozialen Gruppe bzw. eines Milieus realisiert werden. In diesem Sinne werden Milieus als „räumlich umgrenzbare soziale Einheiten“ (Auer 1999:180) definiert,

die durch ‚verhältnismäßig feste Sozialbeziehungen‘ (mit einer hohen Wahrscheinlichkeit der regelhaften Wiederkehr typischer kommunikativer Interaktionen), durch ‚gewohnheitsmäßige Orte der Kommunikation, gemeinsame Zeitbudgets und eine gemeinsame Geschichte‘ gekennzeichnet sind. (Auer 1999:180)

Damit einher gehen bestimmte soziale Rollen und soziale Kategorisierungen sowie die Frage nach der institutionellen Einbettung der Interaktionssituation.

Als ‚Binnenstruktur‘ beschreibt das Modell der kommunikativen Gattungen die „Gemeinsamkeiten, die sich aus der Beziehung zwischen Grundfunktion und ‚materialer‘ Basis ableiten“ (Luckmann 1986:203). Luckmann beschreibt damit problemlösungsrelevante Verfestigungen, die auf der Ebene des sprachlichen Materials zu erkennen sind. Relevant ist dabei der Gebrauch unterschiedlicher „Zeichen- und Ausdruckssysteme“ (Luckmann 2002a:167) und interaktiver Ressourcen (verbal, vokal und visuell).

Gegenstand der Untersuchung sind also klassische linguistische Elemente wie Syntax, Lexik, Prosodie, die Verwendung bestimmter rhetorisch-stilistischer Wendungen etc. Darüber hinaus ordnen die Autoren aber auch Beobachtungen zum Medium der Ebene der Binnenstruktur zu. Im Anschluss daran stellt sich u. a. die Frage, welchen Einfluss z. B. eine technisch-mediale Vermittlung auf Gattungen haben kann. So zeigt Ayaß die Typiken und Spezifiken der kommunikativen Gattung ‚Wort zum Sonntag‘ auf, indem sie deren Charakter als medial vermitteltes Verkündigungsformat mit nicht ko-präsenten Rezipierenden reflektiert (vgl. Ayaß 1997a; siehe Kapitel 5).

Durch die erst nachträglich in das Gefüge der Gattungsebenen aufgenommene Zwischenebene bzw. situative Realisierungsebene werden die dialogisch-interaktiven Elemente kommunikativer Gattungen in den Blick genommen. Konkret werden Aspekte wie die Teilnehmerkonstellation, die Verteilung des Rederechts und damit die sequenzielle Ablaufstruktur sowie die interaktive Organisation des Interaktionsereignisses untersucht. Das Modell nutzt den Kontextbegriff nach Gumperz, der darunter eine prozesshafte und aktive Konstruktionsleistung der Interagierenden versteht, bei der sich Gattung und Kontext wechselseitig beeinflussen (vgl. Günthner 1995:209; siehe Abschnitt 10.1).

Auch wenn die Aufteilung in unterschiedliche Ebenen absolut und starr wirkt, so betonen die Autoren, dass es sich um eine künstliche, rein analytische Trennung handelt, um „die verschiedenen Ebenen kommunikativer und besonders sprachlicher Vorgänge, die in der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit wirksam sind“ (Luckmann 1988:281) zu systematisieren. Die Ebenen müssen mit Blick auf das konkrete Interaktionsgeschehen grundsätzlich zusammengedacht werden (vgl. u. a. Luckmann 1997:13). Dass das soziologische Gattungskonzept in diesem Sinne dynamisch ist und sich an der jeweiligen konkreten Interaktion orientiert, zeigt sich u. a. an den Inkonsistenzen der Theorie. So wird z. T. dasselbe Element von unterschiedlichen Autoren unterschiedlichen Strukturebenen zugeordnet: Auer (1999:180) verortet z. B. die Aspekte Zeit und Raum in der Außenstruktur. Im Gegensatz dazu sind für Günthner/Knoblauch (1995:15) die räumliche und zeitliche Situierung Element der strukturellen Zwischenebene. Ähnliche Unterschiede sind auch für die Aspekte der Ritualität, des Mediums, den sozialen Kontext sowie den Rezipientenzuschnitt zu beobachten. Gründe für diese unterschiedlichen Zuordnungen sind zum einen die verschiedenen Daten, die der jeweiligen Untersuchung zugrunde gelegt wurden und zum anderen unterschiedliche Definitionen dessen, was z. B. mit Raum, Kontext oder Medium bezeichnet wird. Obwohl das Konzept der kommunikativen Gattungen dadurch an theoretischer Stabilität und Eindeutigkeit verliert, ist es durch diese Flexibilität in der Lage eine am Datenmaterial ausgerichtete Analyse zu ermöglichen und Gattungen u. a. auch darüber zu charakterisieren und zu beschreiben, auf welcher Ebene u. a. die Aspekte der Ortes und der Zeit relevant gesetzt werden. Mithilfe des Modells kann dadurch induktiv die Verknüpfung mikrostruktureller Erscheinungen mit einem übergeordneten soziokulturellen Kontext geleistet werden (vgl. Günthner/Knoblauch 1995:1).

Die Errungenschaft des Models benennt Auer in einem „dreifache[n] Fortschritt“ (Auer 1999:177). So sei es zum einen die Leistung, die Bestimmung von Gattungen in zweifacher Weise an den Aspekt des Wissens zu binden und zu erkennen, dass die „gesellschaftliche Funktion [von kommunikativen Gattungen; Anm. CD] in der Tradierung und Vermittlung bestimmter gesellschaftlich relevanter Wissensbestände“ liegt (Auer 1999:177; siehe Kapitel 16). Auf der anderen Seite spielt ein spezifisches Gattungswissen eine Rolle, das wiederum die erfolgreiche Etablierung und Durchführung von Gattungen ermöglicht (vgl. Birkner 2001 und Knoblauch/Schnettler 2010:291; siehe Kapitel 16). Zum anderen verweist Luckmann auf den situativen Kontext und die Eingebettetheit von Gattungen in eine konkrete Interaktionssituation und damit auch auf die Indexikalität kommunikativer Gattungen (vgl. Auer 1999:177; siehe Kapitel 13). Und zum dritten betont Auer, dass das Modell nach Luckmann, anders als Gattungskonzepte vor ihm, berücksichtigt, dass bei aller Verfestigung und Routinisierung nicht alles Sprechen in Gattungen erfolgt und organisiert ist (vgl. Auer 1999:177; siehe auch Knoblauch/Schnettler 2010:292). Darüber hinaus begünstigt und fördert das Konzept der kommunikativen Gattungen eine holistische Betrachtung sozialer Interaktionen und die verschränkte Analyse verbaler, vokaler und visueller Ressourcen und Praktiken, die das jeweilige Ereignis als multimodale Herstellungsleistung der Interagierenden rekonstruierbar machen (siehe Abschnitt 10.4 und Kapitel 15).

In den Mittelpunkt der Analyse rückt die in der Linguistik als ‚Multimodalität‘ bezeichnete situative ‚Orchestrierung‘ verschiedener Kommunikationsmodalitäten wie Sprache, Gestik, Mimik, Körperhaltung und technische Artefakte. Im Zentrum steht die Performanz als vielfach übergangener, situativer, prozesshafter Realisierungscharakter kommunikativen Handelns. (Knoblauch/Schnettler 2010:293f)

Kritisch am Konzept der kommunikativen Gattungen wurde vor allem der Gebrauch des Begriffs ‚Gattung‘ diskutiert (vgl. u. a. Stein 2011:23). Durch die frequente disziplinenübergreifende Nutzung sei der Begriff unscharf und intransparent geworden. Die Folge sind Versuche den Terminus ‚Gattung‘ zu umgehen (siehe Kapitel 9).

Eine weitere Schwachstelle des Konzepts liegt in der mangelnden Abgegrenztheit der Einheiten und der Skalierung der Zuordnungen unterschiedlicher Handlungen zu einzelnen Gattungen (vgl. dazu auch Stein 2011:19). Dies führt zum grundlegenden Problem der Granularität und Reichweite kommunikativer Gattungen. Neben den ‚klassischen‘ bzw. prototypischen komplexen Gattungen erkennt Günthner kleine Gattungen bzw. „Minimalgattungen (wie Sprichwörter, Rätsel, Wortspiele, Abzählreime, formelhafte Wendungen, kleine Versformen, Vorwürfe etc.)“ (Günthner 1995:199; vgl. dazu Günthner 2018:40, Imo 2016a:163 f. und Stein 2011:19). An welchen Kriterien festgemacht wird, wann es sich um eine kommunikative Gattung und wann um eine Minimalgattung handelt, bleibt jedoch weitgehend unklar (vgl. dazu auch Stein 2011:19). Günthner weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass „die Kriterien von Verfestigung und Komplexität fließend [sind], und die Bestimmung einer routinisierten kommunikativen Form als vollausgereifte Gattung […] keineswegs immer eindeutig [ist]“ (Günthner 2018:40). Dies bedingt auch eine begriffliche Unschärfe zwischen ‚kommunikative Gattung‘ und ‚kommunikatives Muster‘ (vgl. Stein 2011:19). Stein kritisiert zudem, dass im Konzept der kommunikativen Gattungen nicht klar dargestellt ist, ob die gesamte Bandbreite an schriftlicher und mündlicher Kommunikation als mögliches Untersuchungsfeld eingeschlossen ist, oder ob der Schwerpunkt auf mündlichen Ereignissen liegt (vgl. Stein 2011:18). Günthner spricht sich in diesem Zusammenhang dafür aus, dass sowohl schriftliche als auch mündliche verfestigte Formen mithilfe des Gattungskonzepts in den Blick genommen werden (vgl. Günthner 2018:40).

Zum anderen geht es bei der kritischen Betrachtung des Konzepts um die Frage, in welchem Verhältnis unterschiedliche Gattungen zueinander stehen, und wie z. B. Predigten, politische Reden und private Ansprachen, die in bestimmten charakteristischen Merkmalen übereinstimmen, klassifiziert werden können. Luckmann selbst beschreibt zum einen Gattungen mit funktionalen Ähnlichkeiten bzw. funktionalen Verwandtschaften, die er als „Gattungsfamilien“ (Luckmann 1997:15, Luckmann 2002a:177) bezeichnet. So seien z. B. die Gattungen Klatschgespräch, (Moral)Predigt, Vorwurf und Neujahrsansprache Teil einer Gattungsfamilie, da sie alle Merkmale moralischer Kommunikation zeigen, indem sie „moralische Fragen thematisier[en] bzw. moralische Sachverhalte in moralisierender Weise bearbeite[n]“ (Luckmann 1997:15). Im Gegensatz dazu beschreibt Luckmann „Gattungsaggregationen“ (Luckmann 2002a:177) bzw. „Gattungsnachbarschaften“ (Luckmann 1997:15) oder einen Gattungsverbund. Mit ihnen verweist er nicht auf funktionale Gemeinsamkeiten, sondern auf „reale[] Interaktionsabläufe[] in bestimmten wiederkehrenden Konstellationen“ (Luckmann 2002a:176). Im Zuge der Beobachtung, dass kommunikative Gattungen dynamisch sind und sich aufgrund historischer, kultureller oder interaktiver Bedingungen anpassen und verändern können, spricht Günthner darüber hinaus von Gattungshybriden, bei denen die „Vermischung von Gattungen bzw. die Einblendung bestimmter Elemente einer Gattung in eine andere“ (Günthner 1995:211) zu erkennen ist. Dies sei die hauptsächliche Erscheinungsform kommunikativer Gattungen (vgl. Günthner 1995:210). Darüber hinaus werden komplexe Gattungen beschrieben, bei denen sich nicht einzelne Elemente unterschiedlicher Gattungen vermischen, sondern mehrere eigenständige kommunikative Gattungen in einer mehr oder weniger typischen Abfolge realisiert werden und dadurch ein übergeordnetes Interaktionsereignis konstituieren. In diesem Sinne wäre der Gottesdienst eine komplexe kommunikative Gattung, in die weitere Gattungen in einer typischen Abfolge eingebettet sind (wie Gebete, Textlesung, Predigt, Segen etc.; siehe Kapitel 9, 13 und 15).

Zum einen wegen der begrifflichen Unschärfe und zum anderen aufgrund konzeptioneller Schwächen, gab es in der Rezeption der Gattungstheorie Versuche einer Weiterentwicklung und Präzisierung. Diese werden im nächsten Kapitel überblicksartig vorgestellt.