Für Michail Bachtin, der sein Konzept ab den 1930er Jahren entwickelt hat, vollziehen sich alle sprachlichen ÄußerungenFootnote 1 und jeglicher Gebrauch von Sprache, egal ob mündlich oder schriftlich, in sprachlichen Gattungen (‚speech genres‘; vgl. Bakhtin 1986:78)Footnote 2 und damit in relativ stabilen, mehr oder weniger regelhaften, typischen und dadurch wiedererkennbaren Formen und Mustern (vgl. Bakhtin 1986:61). Er geht in seiner Auffassung sogar so weit zu sagen, dass eine Kommunikation ohne sprachliche Gattungen nahezu unmöglich, in jedem Fall aber mit erheblichem Aufwand verbunden sei (vgl. Bakhtin 1986:79).

Sogar im freiesten und ungezwungensten Gespräch gießen wir unsere Rede in bestimmte Gattungsformen, die manchmal geprägt und musterartig und manchmal variierbarer, plastischer und schöpferischer sind […]. (Bachtin 2004:464)

Mit dem Terminus ‚sprachliche Gattung‘ wird somit die gesamte Bandbreite von schriftlichen (literarischen) Texten bis hin zu mündlichen Alltagsäußerungen in jedem möglichen Interaktionskontext abgedeckt (vgl. Bachtin 2004:447). Gerade in dieser Breite seines Gattungsbegriffs sieht Bachtin den Mehrwert seiner Theorie. Dabei geht es ihm um die Analyse konkreter sprachlicher (mündlicher oder schriftlicher) Äußerungen in ihrem jeweiligen Kontext, um zum einen deren charakteristische strukturelle Merkmale herauszuarbeiten und zum anderen die Verbindung zwischen Sprache und Lebenswelt aufzuzeigen und damit den Verwendungszusammenhang der jeweiligen Gattung (vgl. Bakhtin 1986:61ff).

Jede einzelne Äußerung ist selbstverständlich individuell, aber jede Sphäre der Verwendung der Sprache arbeitet ihre relativ beständigen Typen von Äußerungen aus, die wir sprachliche Gattungen nennen. (Bachtin 2004:447; Hervorhebungen im Original)

Nach Bachtin sind Äußerungen also gleichzeitig individuell und überindividuell. Vor allem bei institutionellen Gattungen zeigen sich z. T. sehr starke Verfestigungen, Routinisierungen und Realisierungsregeln. Dies führt dazu, dass die Nutzer und Nutzerinnen in einigen Fällen keinen bzw. nur einen sehr begrenzten Gestaltungsspielraum haben (vgl. Bakhtin 1986:79). Auf der anderen Seite lassen vor allem im Alltag gebrauchte Gattungen einen mehr oder weniger großen Freiraum zur individuellen Ausgestaltung, z. B. auf der Ebene des Umfangs und der Länge des Redezugs, des verwendeten Stils etc. (vgl. Bakhtin 1986:79). Gattungen machen damit bestimmte Äußerungsformate, Beteiligungsformen oder Redezugfolgen erwartbar (vgl. Bakhtin 1986:81). In diesem Zusammenhang gilt es, den spezifischen Verfestigungsgrad und den Ritualcharakter von Gattungen herauszuarbeiten. Gattungen sind für Bachtin nicht nur ein Ordnungsmittel, sondern auch ein Entlastungselement, das der Ökonomisierung der Kommunikation dient. In allen Fällen werden die einzelnen Gattungen situationsadäquat und kontextsensitiv realisiert (Bachtin 2004:447). Die Wahl einer sprachlichen Gattung wird nach Bachtin weniger von den individuellen Vorlieben der Beteiligten bestimmt, als von der übergeordneten Kommunikationssituation, dem spezifischen situativen Kontext, der Interaktionsordnung der beteiligten Personen und den semantisch-thematischen Anforderungen der jeweiligen Interaktion (vgl. Bakhtin 1986:78 und 97). So kann eine bestimmte sprachliche Gattung innerhalb unterschiedlicher Kontexte unterschiedlich realisiert werden – etwa eine Begrüßung, die sowohl standardisiert formell als auch individuell informell erfolgen kann. Dennoch werden all diese Formen der Gattung der Begrüßung zugeordnet (vgl. Bakhtin 1986:79). Dabei bedingen sich die jeweilige Gattung und der Kontext wechselseitig (vgl. Bachtin 2004:450). Dies zeigt sich laut Bachtin auf drei Ebenen: a) dem Thema bzw. dem Inhalt der Äußerung; b) dem Sprachstil, d. h. der „Auswahl lexikalischer, phraseologischer und grammatischer Mittel der Sprache“ (Bachtin 2004:447) und c) im „kompositionellen Aufbau“ (Bachtin 2004:447), also „bestimmten Typen des Aufbaus des Ganzen, […] Typen des Abschlusses und Typen von Beziehungen des Sprechers zu den anderen Teilnehmern der sprachlichen Kommunikation (Hörern oder Lesern, Partnern, der fremden Rede usw.)“ (Bachtin 2004:451). Diese Ebenen sind untrennbar miteinander verknüpft und bilden zusammen die charakteristische Gestalt der jeweiligen Gattung aus. Mit diesem Modell grenzt sich Bachtin von Disziplinen und Forschungstraditionen (etwa der strukturalistischen Forschung) ab, die jeweils nur eine dieser Ebenen isoliert zum Gegenstand der Untersuchung machen (vgl. Bachtin 2004:454). Darüber hinaus kritisiert Bachtin Betrachtungsrichtungen, die allein die Produzierenden einer Äußerung ins Zentrum der Analyse rücken und die Rezipierenden als rein passive Instanz konzeptualisieren (vgl. Bachtin 2004:454). Obgleich dies in einigen Beispielen durchaus praktikabel erscheinen mag, bezeichnet Bachtin entsprechende Theorien als in der Mehrheit der Fälle „wissenschaftliche Fiktion“ (Bachtin 2004:455) und betont im Gegenteil die aktive Rolle der Rezipierenden an der Kommunikation (vgl. Bachtin 2004:455).Footnote 3 So verortet er die Beziehung zwischen Sprechenden und Hörenden auf der Ebene des kompositionellen Aufbaus. Eines der wesentlichen Merkmale ist dabei der „Wechsel der sprachlichen Subjekte“ (Bachtin 2004:458), d. h. der Sprecherwechsel. Den Sprecherwechsel beschreibt Bachtin zum einen mit unmittelbar aufeinander folgenden Redezügen, geht dann jedoch darüber hinaus, indem er das Merkmal des Sprecherwechsels auch dann erkennt, wenn die Reaktion der Rezipierenden erst mit einem mehr oder weniger großen zeitlichen Abstand folgt – ggf. sogar unbemerkt von den Produzierenden der Äußerung (vgl. Bachtin 2004:455). Die Art und Weise, wie der Sprecherwechsel vollzogen wird, schafft für Bachtin ein wesentliches Differenzierungsmerkmal sprachlicher Gattungen untereinander. Auch bezogen auf dieses Merkmal unterscheidet Bachtin schließlich zwischen primären Gattungen, d. h. einfachen und mündlich realisierten Gattungen der alltäglichen Interaktion, „die sich unter den Bedingungen der unmittelbaren sprachlichen Kommunikation herausgebildet haben“ (Bachtin 2004:449) und für die ein unmittelbarer Sprecherwechsel charakteristisch ist, und sekundären Gattungen, d. h. komplexen und vor allem schriftlich realisierten Gattungen, z. B. alle Formen von Literatur oder wissenschaftlicher Auseinandersetzung (vgl. Bakhtin 1986:62). Gattungen dieses Typs weisen u. a. ein verzögertes Antwortverhalten und verschobene Antworterwartungen auf (siehe Kapitel 17). Bei allen grundlegenden Unterschieden zwischen diesen beiden großen Kategorien wird, so Bachtin, nur durch den Vergleich und die Betrachtung der Beziehung zwischen primären und sekundären Gattungen eine differenzierte Aussage über den Charakter von Äußerungen möglich (vgl. Bachtin 2004:449). Er beobachtet eine Wechselwirkung zwischen primären und sekundären Gattungen, die zu Grenzfällen der Zuordnung führen kann (siehe Kapitel 13 und 17). Gattungen sind zudem keine festen Gebilde, sondern unterliegen einem historischen, kulturellen und sozialen Wandel und werden innerhalb einer Gesellschaft tradiert und erlernt (vgl. Bakhtin 1986:66). So ist nicht nur die Vermischung und das Ineinanderaufgehen von (primären und sekundären) Gattungen zu beobachten (vgl. Bakhtin 1986:80), sondern auch die Entstehung neuer Gattungen (z. T. aus bereits vorhandenen Gattungen heraus) und das Verschwinden alter Gattungen, abhängig von den kommunikativen Erfordernissen einer Gesellschaft (vgl. Bachtin 2004:452). Der Wandel von Gattungen ist dabei direkt mit der Veränderung der Sprache selbst verbunden, d. h. dem Sprachstil und dessen Realisierung (vgl. Bakhtin 1986:65). Sprechgattungen sind also soziale Hervorbringungen, zu deren Realisierung das sprech- und interaktionsbefähigte Individuum über spezifisches explizites und implizites Gattungswissen verfügen muss (vgl. Bakhtin 1986:78). Bachtin schreibt Gattungen damit einen entscheidenden Status innerhalb des gesellschaftlichen Wissenshaushalts zu. In einem nächsten Schritt fragt Bachtin dann nach den Funktionen, die Gattungen in einer Gesellschaft und in einer konkreten Kommunikationssituation haben. Diese Funktionen rechnet er der Ebene des Stils zu und erkennt u. a. wissenschaftliche, technische, publizistische, geschäftliche und alltägliche Funktionen (Bachtin 2004:451).

Die Befunde des Konzepts wurden nicht nur in der linguistischen Forschung rezipiert und aufgenommen (siehe Kapitel 17), sondern auch in der theologischen Forschung reflektiert. Gerade für die Gattung der Predigt wurde es immer wieder fruchtbar gemacht (vgl. Lorensen 2011 und 2014; siehe Kapitel 17). Unter dem sehr weiten Gattungsbegriff Bachtins und seines ebenso weiten Dialogbegriffs erscheint die Predigt dann als „genre of communication“ (Lorensen 2011:26), als sekundäre, dialogische Gattung. Darüber hinaus steht es anderen Gattungsmodellen nahe, etwa den Überlegungen Thomas Luckmanns.