Obwohl die Auseinandersetzung mit Sprache und Religion innerhalb der Linguistik eine lange Forschungstradition hat, bestehen nach wie vor Lücken, wenn es um die Analyse spezifischer sprachlich-kommunikativer Erscheinungen geht. Dies gilt gerade auch für das Ereignis der Predigt. Innerhalb der textlinguistischen Forschung etwa wird die Predigt zwar allgemein als liturgische Textsorte (vgl. Kuße 2012) bzw. als Teiltext der Textsorte Gottesdienst bestimmt (vgl. Simmler 2000:681 und 683), jedoch steht eine umfassende Textsortenanalyse – vor allem zeitgenössischer Predigten – mit der Beschreibung der typischen und spezifischen Textsortenmerkmale aus (vgl. dazu auch den Überblick in Simmler 2000). Textsorten bezeichnen „Gruppen von Texten, die sich durch bestimmte Bündel von Merkmalen auszeichnen“ (Linke et al. 2004:278; Hervorhebungen im Original) und in diesem Zusammenhang wiederkehrende und wiedererkennbare Charakteristika aufweisen. Ebert wiederum definiert die Predigt in diesem Zusammenhang als übergeordnete Textklasse, die sowohl religiöse als auch nicht-religiöse Textsorten wie Psalmen, Gleichnisse, Gedichte etc. enthalten kann und durch diese konstituiert wird (vgl. Ebert 2017:315 ff). Auffällig ist, dass im Zuge der Textsortenanalyse vor allem die Funktionen der Predigt und die dabei ausgeführten Sprechakte im Vordergrund stehen, weniger jedoch die strukturellen Merkmale. So bestimmt Kuße für die Predigt die Illokutionen des „Informierens (über religiöse Inhalte) und Mahnens (zu bestimmten Werthaltungen und Handlungsweisen)“ (Kuße 2012:165) sowie des Verheißens als spezifische Sprechhandlungen. Ebert benennt in ähnlicher Weise „Trost, Lehre, Ermutigung, Mahnung“ (Ebert 2017:317) als Textfunktionen und bescheinigt der Predigt, „dass alle Sätze einer Predigt wertend und appellierend sind und auf die Person des Hörers und auf seine Beziehung zu Gott und den Mitmenschen zielen“ (Ebert 2017:317). Vor allem rhetorische und stilistische Elemente schriftlich überlieferter Predigten stehen im Fokus der Forschung. Einen Großteil nimmt dabei die Analyse mittelalterlicher Predigttexte ein. So untersucht etwa Lobenstein-Reichmann (2011) die Predigt als Ort sprachlicher Diskriminierung unter Aspekten der historischen Semantik. Zwar verweisen die Studien darauf, dass das Predigtmanuskript auch im Mittelalter vorgelesen, d. h. mündlich realisiert wird, jedoch fehlen Reflexionen über die besondere (interaktive) Situation des Predigtvortrags, die auch auf mögliche Abweichungen zwischen Predigtskript und Predigtvortrag verweisen – gerade wenn die Forschung aktuelle Predigten in den Blick nimmt.

Vor allem aufgrund inhaltlicher Aspekte haben sich in der Forschung zur christlichen Predigt im Laufe der Zeit unterschiedliche Predigtklassifikationen herausgebildet, die z. B. den Ort und die Zeit der Predigt (z. B. Sonntagspredigt), die Rezipierenden (z. B. Gemeindepredigt, Jugend(gottesdienst)predigt, evangelistische Predigt), den Anlass (z. B. Passionspredigt, Kasualpredigt z. B. Traupredigt), die Art und Weise der Gestaltung und Performanz (z. B. Dialog-Predigt) oder das Medium (z. B. Fernseh-Predigt) zentral setzen, um nur eine kleine Auswahl zu nennen (vgl. u. a. Grimmler 2011:87, Kucharska-Dreiß 2017:389 f, Wollbold 2017:135 f). Die Unterscheidung zwischen Textpredigt bzw. Auslegungspredigt und Themapredigt ist bei den Versuchen einer Typologisierung die prominenteste (vgl. dazu auch Simmler 2000:684 f). Steht bei ersterer Kategorie ein spezifischer Bibeltext im Zentrum des Wortbeitrags, ist es bei letzterer ein (aktuelles) Thema, das anhand verschiedener Bibelstellen diskutiert wird (vgl. Wollbold 2017:140 ff, Keller 2017:31 ff).Footnote 1 In den meisten Fällen werden diese Formen jedoch nicht isoliert realisiert. Vielmehr sind Mischformen zu beobachten, d. h. die Realisierung mehrerer Formen innerhalb eines Wortbeitrags, bei denen die Übergänge fließend sind (vgl. Grimmler 2011:87; Wollbold 2017:136 f, Keller 2017:32).

Ein Großteil der bisherigen linguistischen Forschung zu religiöser Kommunikation widmet sich jedoch vor allem der Untersuchung christlicher (evangelischer, katholischer, freikirchlicher) Gottesdienste (z. B. bei Werlen 1984, Bayer 2004). Die Predigt selbst spielt dabei eine untergeordnete Rolle. So beschreibt Bayer in seiner Studie zu religiöser Sprache zwar auch die Argumentationsstruktur freikirchlicher Predigten (vgl. Bayer 2004:78–94), zeigt aber vor allem an Gottesdiensten allgemein, dass eine Abgrenzung zwischen religiöser und profaner Sprache nicht ohne Weiteres geleistet werden kann, denn „religiösen Sprachgebrauch [kann man] nicht beschreiben, erklären und schon gar nicht bewerten, wenn man vom Wortschatz oder der Grammatik religiöser Texte ausgeht. Entscheidend sind vielmehr jeweils die Funktion sowie die Semantik und Pragmatik religiöser Texte“ (Bayer 2004:11).

Ein ähnliches Bild zeigt sich in der Untersuchung von Werlen (1984) zum rituellen Charakter katholischer Messen, bei der die Betrachtung der Predigt nur eine untergeordnete Rolle spielt. Er gibt lediglich zu bedenken, dass nicht nur im Gottesdienst ritualisierte Wendungen und mehr oder weniger feststehende rhetorische Formulierungen auftreten können, sondern auch innerhalb von Predigten, obwohl sie trotz allem der am freiesten gestaltete Teil des Gottesdienstes seien (vgl. Werlen 1984:172; siehe Kapitel 13). Darüber hinaus verweist er hinsichtlich der sprachlichen Gestaltung der Predigt auf die homiletische Literatur (vgl. Werlen 1984:172).

Wie Bayer und Werlen setzt sich auch Paul mit dem Gottesdienst als Ritual auseinander und untersucht sprachlich-stilistische Merkmale (vgl. Paul 1983, 1989, 2009). Er unterscheidet etwa zwischen zwei Kommunikationsrichtungen: „Die Kommunikation der Gläubigen mit Gott (vertikale Kommunikation) und die Kommunikation der Gläubigen untereinander bzw. die Kommunikation der Gläubigen mit sich selbst (horizontale Kommunikation)“ (Paul 2009:2262; siehe auch Paul 1983:91 und 1989:170). Zur vertikalen Kommunikation zählt Paul darüber hinaus auch das Vorlesen eines biblischen Textes (vgl. Paul 1983:91). Der Pfarrer ist für Paul in diesem Zusammenhang ein Mittler zwischen horizontaler und vertikaler Kommunikation, was sich besonders auch in der Predigt zeige (vgl. Paul 2009:2264), die wiederum in einem „Spannungsfeld von ritueller, institutioneller und alltagsweltlicher Kommunikation“ (Paul 2009:2269) stehe. Die Sprache der Predigt wird hier als ein Grenzphänomen beschrieben, das innerhalb eines ritualisierten Ereignisses (des Gottesdienstes) mit religiös aufgeladenen sprachlichen Handlungen, starke Merkmale der Alltagssprache zeigt (vgl. Paul 2009). Paul versteht speziell die Predigt als „ein Exemplar der öffentlichen Rede neben anderen: Pfarrer gestalten ihre Ansprachen – nicht anders als Lehrer, Strafverteidiger oder Politiker“ (Paul 2009:2258). Auch Bayer sieht Parallelen zwischen religiösem und politischem Sprachgebrauch, die sich für ihn u. a. in den (kommunikativen) Gattungen widerspiegeln, die mit den jeweiligen Bereichen assoziiert werden – etwa die strukturellen und formalen Ähnlichkeiten zwischen politischen Reden und Predigten. Dies wird auch in dem Begriff der ‚Kanzelrede‘ deutlich, der häufig alternativ zum Begriff der Predigt verwendet wird.

Eine ganz ähnliche Gegenüberstellung nimmt auch Gülich vor, die sich anhand der Interaktion vor Gericht, im Gottesdienst und in säkularen Seelsorgegesprächen in einer empirischen Studie mit den Merkmalen institutioneller Kommunikation auseinandersetzt (vgl. Gülich 1981). Neben Aspekten wie Handlungsrollen und institutionsspezifischen Wissensbeständen befasst sie sich vor allem mit den interaktiven Potenzialen der einzelnen Settings und fragt nach dem „institutionell geregelten Kommunikationsablauf“ (Gülich 1981:426). Gülich zeigt u. a. am Beispiel evangelischer Gottesdienste, dass das Ereignis durch eine starke institutionenspezifische, ritualisierte Struktur geprägt ist, die z. B. in der Phase der Eröffnung und Beendigung bestimmten Rollenträgern (hier: dem Pfarrer) Formulierungen und Handlungsabläufe vorgibt (vgl. Gülich 1981:427, siehe Kapitel 13 und 15). Darüber hinaus erkennt sie im Gottesdienst dialogische Sequenzen, die jedoch nicht spontan erfolgen, sondern ebenfalls durch den vorgegebenen Gottesdienstablauf, die Liturgie, bestimmt werden. Innerhalb dieses Ablaufen können dann ritualisierte Interrogativsequenzen realisiert werden, die jedoch nicht durch die Überwindung eines Wissensdefizits gekennzeichnet werden, sondern ein struktureller Teil der Durchführung einer rituellen Handlung (z. B. Trauung, Taufe, Konfirmation etc.) sind (vgl. Gülich 1981:447 f).

Unter der Perspektive kommunikativer Kooperation betrachtet Roelofsen (1999) Predigtnachgespräche, d. h. Gruppengespräche zwischen einem Prediger und ausgewählten Personen der Gemeinde, die im Nachgang einer Predigt ihre Eindrücke und Interpretationen austauschen. Anhand von Audioaufnahmen fragt er nach der Herstellung und Aushandlung von Intersubjektivität in Bezug auf biblische Texte und deren Auslegung in der vom Prediger gehaltenen Predigt. Dabei kommt es sowohl zu thematischen Bearbeitungen der Texte und der Predigt als auch zu Rückmeldungen hinsichtlich der Predigtstruktur und Predigtstilistik. Für Roelofsen sind Predigtnachgespräche in einem unmittelbaren Zusammenhang mit Predigten zu sehen, jedoch werden in seiner Untersuchung keine Aussagen über das Predigtereignis als solches gegeben. Er konzentriert sich darauf, dass Predigtnachgespräche ein Raum für Konsens und Dissens zwischen den Anwesenden sind und zwischen eigenen und fremden Positionen vermitteln.

Neben diesen Einzelstudien, die unterschiedlichen linguistischen Schwerpunkten zugeordnet werden können, hat sich die Theolinguistik als eigenständige Disziplin innerhalb der Linguistik herausgebildet, und 2006 der internationale Arbeitskreis Theolinguistik gegründet.Footnote 2 Die Theolinguistik verortet sich an der Schnittstelle zwischen Linguistik und Theologie und setzt sich mit „sprachtheologische[n] Fragen“ (Hoberg 2009:11) und mit dem großen Untersuchungsfeld von ‚Sprache und Religion‘ auseinander (vgl. Wagner 1999; Greule/Kucharska-Dreiß 2011:11). Gegenstand der Untersuchungen sind Formen religiöser Sprache und religiöser Kommunikationsformen/Performanzen bzw. allgemeiner „alle menschlichen Äußerungen, die eine theolektale Kommunikationssituation konstituieren oder aus einer theolektalen Kommunikationssituation hervorgehen“ (Greule/Kucharska-Dreiß 2011:13; siehe auch Crystal 1988, Wagner 1999). Den Schwerpunkt der Untersuchungen bilden v. a. Formen des religiösen Sprachgebrauchs in christlichen Kontexten. Die Theolinguistik stützt ihre Untersuchungen auf eine texttheoretische Basis und nutzt einen sehr weiten Textbegriff, der sowohl mündliche als auch schriftliche Äußerungen einschließt. Entsprechend setzen sich theolinguistische Studien sowohl mit der Sprache biblischer Texte als auch mit Gesängen, Gebeten, kirchlich-institutionellen Dokumenten und Ereignissen wie dem Gottesdienst und der Predigt auseinander. Die theolinguistischen Untersuchungen nehmen alle Ebenen des Sprachsystems in den Blick, fragen also nach der Spezifik religiöser Sprache „auf der Ebene der Phonetik (z. B. Rhetorik bei der Predigt, aber auch Gesänge), der Graphetik (z. B. Tetragramm), der Morphologie (z. B. Sakralität markierende Morpheme), der Lexik, der Syntax, der Phraseologie, der Textgrammatik (z. B. Textgrammatik des Gebets) und der Pragmatik“ (Greule/Kucharska-Dreiß 2011:13). Sehr deutlich wird immer wieder auch eine soziolinguistische Orientierung, wenn nach den identitätsstiftenden Potentialen religiöser Sprache als ‚Theolekt‘ gefragt wird (vgl. Greule/Kucharska-Dreiß 2011:14). Die Theolinguistik versteht sich zudem als internationale linguistische Teildisziplin und vereint nicht nur Studien im deutschsprachigen Raum, sondern auch Untersuchungen zu religiösen Texten und Praktiken aus anderen Sprachen und Glaubenstraditionen. Vor allem Ethelston und Malmström haben sich innerhalb der Theolinguistik mit sprachlichen Phänomenen von Predigten auseinandergesetzt. Ethelston (2009 und 2011) nimmt bei seiner Untersuchung evangelistischer Predigten eine funktionalgrammatische Perspektive ein und betrachtet die rhetorisch-persuasiven Elemente, die von den Predigern genutzt werden. Er fragt dabei nach der interpersonellen Funktion der Predigtsprache, d. h. „how we use language to relate to each other“ (Ethelston 2011:101). Auf der Grundlage qualitativer Analysen legt er den Fokus auf die Konstruktion von Bewertungen, die von den Predigern im Vollzug der Predigt vorgenommen werden (vgl. Ethelston 2011:102 f), und identifiziert die rhetorische Figur der „misguided voices“ (Ethelston 2009:684), mit der die Prediger mehr oder weniger implizit unterschiedliche Meinungen anführen und kontrastieren. In der Regel handelt es sich dabei um Auffassungen, die dem religiösen Mainstream entgegenlaufen oder eine kritische Haltung gegenüber Religion, dem Glauben im Allgemeinen und dem Christentum im Besonderen widerspiegeln (vgl. Ethelston 2009:684). U.a. macht er dabei moralische Elemente aus, mit denen eine Verhaltensbeurteilung realisiert wird (vgl. Ethelston 2009:685), sowie Momente der bewussten Emotionalisierung, die durch die vom Prediger gegebenen Bewertungen erzeugt werden.

Ebenfalls aus funktional-linguistischer Perspektive betrachtet Malmström (2015) in seiner Untersuchung interrogative Strukturen in Predigten. Ziel ist es zu zeigen, ob und wie Prediger Fragen nutzen, um die Rezipierenden in das Predigtgeschehen zu involvieren (vgl. Malmström 2015:249; siehe Kapitel 17). Im Gegensatz zu der vorliegenden Arbeit besteht das von ihm bearbeitete Datenmaterial jedoch nicht aus Video- und Audioaufnahmen von Predigten, sondern aus schriftlich vorliegenden Predigtmanuskripten sowie aus Interviewdaten mit den jeweiligen Predigern (vgl. Malmström 2015:250).

Trotz der expliziten Schwerpunktsetzung der Theolinguistik gibt es innerhalb dieser Forschungsdisziplin nach wie vor keine systematischen empirisch-qualitativen Arbeiten zur Predigt im deutschsprachigen Raum hinsichtlich ihrer sprachlich-interaktiven Gestaltung und ihrer konstitutiven Merkmale. Und obwohl die Theolinguistik mit ihrer Fokussierung auf den spezifischen Gegenstand der religiösen Kommunikation einen sozial wie medial hoch relevanten Bereich abdeckt, bildet sie als eigener Forschungszweig innerhalb der aktuellen linguistischen Forschungslandschaft nur einen Randbereich. Dem will die Religionslinguistik entgegenwirken und die linguistische Auseinandersetzung mit religiöser Kommunikation im weitesten Sinne nicht nur neu beleben und intensivieren, sondern sie auch methodisch und theoretisch erweitern. Dies soll u. a. durch einen Anschluss an „die Arbeiten der Religionswissenschaft, der Religionsphilosophie, der Religionspsychologie oder der Religionssoziologie“ (Liebert 2017:10) erreicht werden. Hinzu kommt eine Erweiterung der Untersuchungsgegenstände. Nicht nur Kommunikationsereignisse innerhalb des Christentums stehen im Zentrum der Forschung, sondern auch Settings jenseits etablierter Religionen (vgl. Liebert 2017:10). Das Ziel der Religionslinguistik ist es, ihren Forschungsgegenstand von der religiösen Kommunikation hin zur spirituellen Kommunikation auszudehnen und auch esoterische Strömungen über Kultur- und Religionsgrenzen hinweg in den Blick zu nehmen. Die konkreten Untersuchungsgegenstände sollen zudem die gesamte Bandbreite (medialer) Realisierungs- und Inszenierungsformen abdecken, die von Texten über mediale Bearbeitungen bis hin zu situativ-lokalen Interaktionsereignissen face-to-face reichen (vgl. Liebert 2017:31). Dies schließt eine Ausweitung der untersuchten Interaktionsressourcen und eine stärkere Berücksichtigung der Multimodalität mit ein. Die theoretische Basis bilden vor allem religionssoziologische Modelle (etwa der Begriff der exzentrischen Positionalität nach Plessner; vgl. Liebert 2017:11 f), obwohl in der Konzeption der Religionslinguistik von ihr als sprachwissenschaftlicher Teildisziplin gesprochen wird, die „an die interaktionale Linguistik, die Text- und Diskurslinguistik, die Bildlinguistik und insbesondere an die Multimodalitätslinguistik anschließen“ kann (Liebert 2017:32). Dabei versucht die Religionslinguistik ein Dach für bereits erfolgte Untersuchungen innerhalb z. B. der Interaktionalen Linguistik zu bieten. Gerade aktuelle linguistische Studien, die sich mit der multimodal realisierten Interaktion innerhalb religiöser Settings beschäftigen, verorten sich selbst jedoch (noch) nicht innerhalb der Religionslinguistik.

So gab es in den letzten Jahren immer wieder Untersuchungen zu unterschiedlichen religiösen Settings, denen es jedoch mehr um die Demonstration methodischer und forschungstheoretischer Aspekte anhand religiöser Kommunikation ging, als um religiöse Kommunikation selbst. Lehtinen (2009a, 2009b und 2011) nutzt bei seiner Untersuchung von Audioaufnahmen der Bibelstunden finnischer Adventgemeinden das Methodenrepertoire der Konversationsanalyse, um die Praktiken der „Rekontextualisierung“ (Lehtinen 2009a:236) biblischer Texte zu untersuchen und zu zeigen, wie die beteiligten Personen die gelesenen Texte interpretieren und auf die eigene Lebenswirklichkeit übertragen. In diesem Zusammenhang betont er die Notwendigkeit der Berücksichtigung eines spezifischen ethnographischen Kontextwissens bei der Analyse der Daten und eine damit verbundene Erweiterung der klassischen konversationsanalytischen Forschungshaltung (vgl. Lehtinen 2009a:234 und 2009b:465; siehe Abschnitt 10.1 und 10.2). Das Ziel seiner Untersuchungen ist dabei nicht nur die Analyse der erhobenen Daten, sondern vor allem die Gegenüberstellung der Konzepte der Ethnographie und der Konversationsanalyse. Mit Blick auf das von ihm untersuchte religiöse Ereignis zeigt er auf, an welchen Punkten sich beide Forschungstraditionen gewinnbringend kombinieren lassen.

Unter dem Aspekt der deontischen Autorität, der Sequenzialität und der multimodalen Realisierung setzt sich Stevanovic mit den dienstlichen Besprechungen zwischen einem Pastor und einem Kantor in einer evangelisch-lutherischen Gemeinde in Finnland auseinander (u. a. Stevanovic 2012 und 2013, Stevanovic/Peräkylä 2012, Stevanovic et al. 2017). Das Datenmaterial repräsentiert damit eine Form des talk-at-work (siehe Abschnitt 10.2), die zwar innerhalb eines religiösen Settings verortet werden kann, selbst jedoch nicht zwingend religiöse Kommunikation sein muss. Das Verdienst dieser Arbeiten ist es, die methodischen und theoretischen Prämissen der Konversationsanalyse und der Interaktionalen Linguistik für den Gegenstand der religiösen Kommunikation bzw. der Kommunikation in religiösen Settings fruchtbar gemacht zu haben.

Hausendorf/Schmitt (2010, 2013, 2014, 2016a, 2017, 2019) wiederum erarbeiten das Konzept der Interaktionsarchitektur u. a. anhand der multimodalen Praktiken, die bei der Realisierung evangelistischer Gottesdienste (sog. Alpha-Gottesdienste) genutzt werden (siehe Kapitel 14). Dabei spielen die Betrachtung des Ortes (in diesem Fall eine Kirche) und die Frage danach, welchen Einfluss der Raum auf die Interaktion hat und wie der Raum in der Interaktion genutzt wird, eine besondere Rolle. Wie bei Lehtinen sind auch die Untersuchungen von Hausendorf und Schmitt an den theoretischen und methodischen Prämissen der Konversationsanalyse und darüber hinaus an der darauf aufbauenden multimodalen Interaktionsanalyse ausgerichtet (siehe Kapitel 10).

Die vorgestellten Studien befassen sich zwar mit dem Thema der Kommunikation innerhalb religiöser Settings, fokussieren dabei jedoch sehr stark den Gottesdienst als Gesamtereignis oder widmen sich Interaktionen außerhalb traditioneller Gottesdienste. Die Predigt als eigenständiges Interaktionsereignis spielt keine bzw. nur eine untergeordnete Rolle. Und wenn die Predigt Gegenstand der Analyse ist, so geht es meist nicht um christliche Predigten in katholischen oder evangelischen (Sonntags)Gottesdiensten, sondern um Predigten innerhalb charismatischer und evangelistischer Gottesdienste sowie um alternative Predigtformen. Inspiration dafür sind Studien über religiöse Veranstaltungen amerikanischer Prägung. Im Zentrum stehen vor allem Mega-ChurchesFootnote 3 und deren Gottesdienste und Predigten (vgl. Bryan/Albakry 2016) sowie die typischen Merkmale afro-amerikanischer (freikirchlicher) Predigten (vgl. Wharry 2003).

Der überwiegende Teil der Zugänge stimmt darin überein, dass es sich bei der Predigt um einen Text handelt. In den meisten Fällen wird dann ein sehr weiter Textbegriff genutzt, der sowohl eine mündliche als auch eine schriftliche Realisierung einschließt und bei dem zuweilen unklar bleibt, an welcher Stelle die Autoren welche Realisierungsform der Predigt thematisieren. So verortet Grimmler die Predigt zwar als Rede und als „in erster Linie mündliches Phänomen“ (Grimmler 2011:87), bemerkt auf der anderen Seite jedoch: „Ob als vorliegender Text oder mündlicher Vortrag, die Predigt ist eine Literaturgattung“ (Grimmler 2011:89). Die Frage nach Mündlichkeit und Schriftlichkeit ist ein Aspekt, der sich durch alle Versuche, die Predigt als Gattung zu bestimmen, zieht. Denn obwohl die Predigt theologisch, literaturwissenschaftlich und linguistisch als Text bestimmt wird, sei die Mündlichkeit ein konstitutives Merkmal (vgl. Mertens 2009:575) und die Predigt als Redegattung (vgl. Ebert 2017:315) zu beschreiben. Ein Modell, das in diesem Zusammenhang eine systematische Betrachtung verspricht, ist das Konzept der Nähe und Distanz nach Koch/Oesterreicher. Die Autoren unterscheiden in ihrem Schema zunächst zwischen einer medialen Opposition (phonisch vs. graphisch realisiert) und einem konzeptionellen Kontinuum (vgl. Koch/Oesterreicher 2019:193). Sie verstehen Mündlichkeit (bzw. Nähe-Kommunikation) und Schriftlichkeit (bzw. Distanz-Kommunikation) nicht als unvereinbare Gegensätze, sondern als polare Entitäten einer Skala, bei der es möglich ist, unterschiedliche Grade und Abstufungen abzubilden. Konstitutiv dafür ist die differenzierte Unterscheidung von zehn Analysekategorien, die zusammen das „konzeptionelle Relief“ (Koch/Oesterreicher 2011:9) einer Gattung bzw. eines kommunikativen Ereignisses, oder wie sie es nennen, einer Diskurstradition, bilden. Entscheidend ist für die Autoren zudem, dass ihre Darstellung jeweils „prototypische Bündelungen“ (Koch/Oesterreicher 2019:202) von Merkmalen darstellt und Diskurstraditionen einer „ununterbrochenen Dynamik“ (Koch/Oesterreicher 2019:202) unterliegen. Das führt dazu, dass sich, diachron betrachtet, das konzeptionelle Relief einer Diskurstradition verschieben kann.

In der Ausgestaltung ihres Konzepts bilden Koch/Oesterreicher u. a. das prototypische konzeptionelle Relief der Predigt ab (siehe Abb. 4.1 nach Koch/Oesterreicher 2011:8 f).

Abb. 4.1
figure 1

Konzeptionelles Relief der Gattung Predigt

Koch/Oesterreicher legen für die Predigt folgende Parameter an: „a) Öffentlichkeit, b) keine absolute Fremdheit, c) klar emotionale Komponenten, d) kaum Situations- und Handlungseinbindung, e) geringer Referenzbezug auf die Sprecher-origo, f) physische Nähe, g) keine Kooperationsmöglichkeit bei der Produktion, h) Monologizität, i) geringere Spontaneität, j) Themenfixierung“ (2011:8; Hervorhebung im Original). Sie bemerken weiterhin:

Im Hinblick auf eine Diskurstradition christliche Predigt wissen die Kommunikationsteilnehmer beispielsweise nicht nur, dass sie instruktiven Charakter hat, dass sie normalerweise in der Kirche, von einem Priester, vor einer Gemeinde, an bestimmten Tagen praktiziert wird, sondern sie wissen eben auch, dass bei diesem relativ distanzierten Diskurs, eventuell auf der Grundlage einer wie auch immer beschaffenen graphischen Vorlage, eine sorgfältige phonische Realisierung zu erwarten ist, die gewissen Bedingungen der Distanz genügt [...]. (Koch/Oesterreicher 2019:200 f)

Die Predigt ist nach diesem Modell ein konzeptionell schriftliches, eher distanzsprachliches, phonisch realisiertes, „zunehmend schreibbezogenes“ Ereignis (Koch/Oesterreicher 1985:18). Auffällig ist jedoch, dass Koch/Oesterreicher nicht darlegen, aufgrund welcher spezifischen Faktoren und konkreten Merkmale sie zu dem von ihnen zusammengestellten konzeptionellen Relief der Predigt kommen oder welche Daten (schriftliche Predigttexte oder mündliche Predigtvorträge, welche Konfessionen etc.) die Grundlage für ihre Zusammenstellung bilden. Aufgrund des Reliefs ist darüber hinaus davon auszugehen, dass Koch/Oesterreicher lediglich den Wortbeitrag als ‚Predigt‘ in den Blick nehmen und nicht, wie dies in der vorliegenden Arbeit der Fall ist, das gesamte Predigtereignis. Dies zeigt sich u. a. daran, dass sie eine, wenn überhaupt, nur geringe kommunikative Kooperation annehmen. Die Analyse in dieser Arbeit wird jedoch zeigen, dass sowohl der Prediger als auch die Gemeinde in hohem Maße reziprok kooperativ am Gelingen der Gattung Predigt beteiligt sind (siehe Kapitel 15). Des weiteren gehen Koch/Oesterreicher davon aus, dass in der Predigt eine hohe Situations- und Handlungsentbindung vorliegt. Wie sie auf diesen Befund kommen, kann nur spekuliert werden, denn auch hier werden die nachfolgenden Analysen zeigen, dass die Prediger in ihren Wortbeiträgen stark an der aktuellen Lebenswirklichkeit der Rezipierenden, dem unmittelbaren situativ-räumlichen Kontext und den Handlungsmöglichkeiten der Beteiligten orientiert sind. Deutlich wird das z. B. in der Zuschreibung von Wissen, der Thematisierung der überzeitlichen Gültigkeit biblischer Texte (siehe Kapitel 16) und der Nutzung unterschiedlicher Beteiligungsformate – innerhalb des Wortbeitrags (siehe Kapitel 17). Gerade dabei zeigt sich im Blick auf Monologizität und Dialogizität, dass Koch/Oesterreicher nur einen bestimmten Aktivitätstyp der Predigt, den Wortbeitrag darstellen, für den ein hoher Grad an Monologizität angenommen werden kann. Betrachtet man jedoch die Predigt als Gesamtereignis (siehe Kapitel 14 und 15), dann greift dieser Befund zu kurz. In diesem Zusammenhang verschiebt sich das konzeptionelle Relief. Dies kann natürlich einer historischen Veränderung der Gattung (bzw. Diskurstradition) zugerechnet werden, aber auch der in dieser Arbeit vorgenommenen genaueren Betrachtung des konkreten Ereignisses anhand authentischer Audio- undVideodaten. Erst dadurch wird es möglich, makro- und mikrostrukturell zu beschreiben, was eine Predigt im Einzelnen konstitutiv ausmacht. Abb. 4.2 zeigt, an welchen Punkten die Überlegungen von Koch/Oesterreicher die spezielle Charakteristik der Predigt als multimodalem Ereignis unter ko-präsenten Beteiligten nicht ausreichend berücksichtigen.

Abb. 4.2
figure 2

Revidiertes konzeptionelles Relief der Gattung Predigt

Die vorliegende Studie greift den hier skizzierten Forschungsstand auf und führt ihn mit spezifischem Blick auf die empirisch-qualitative Untersuchung christlicher Predigten weiter. Ziel ist es dann, die aufgezeigten Forschungsdesiderate zu bearbeiten und Forschungslücken hinsichtlich der gattungsanalytischen und (interaktional)linguistischen Beschreibung von Predigten zu schließen.