Die vorliegende Arbeit nimmt folgende Fragestellungen zentral in den Blick:

  1. A)

    Welche charakteristischen und wiederkehrenden (strukturellen und kommunikativen) Merkmale sind konstitutiv für die Gattung ‚Predigt‘?

  2. B)

    Welche interaktiven Verfahren werden zur Realisierung der Gattung ‚Predigt‘ von den Beteiligten, vor allem dem jeweiligen Prediger, genutzt?

  3. C)

    Welche spezifisch kommunikativen Aufgaben bzw. Probleme bearbeitet die Gattung ‚Predigt‘?

Ist die Predigt eine kommunikative Gattung, so muss sie eine Form kommunikativen Handelns sein, die typische und damit erwartbare Elemente aufweist, die im je konkreten lokalen Handeln der Beteiligten erkennbar und wahrnehmbar sind und für explizit kommunikative Probleme und Aufgaben Lösungen bereitstellen (siehe Kapitel 8). Vor diesem Hintergrund verfolgt die Arbeit vier Ziele: Zum einen will sie eine konzise Darstellung und Beschreibung der christlichen Predigt als kommunikative Gattung leisten und damit eine nach wie vor vorhandene Forschungslücke schließen. In diesem Zusammenhang ist es das Ziel, die multimodale Herstellung und Durchführung des Predigtereignisses zu beschreiben und das Zusammenspiel verbaler, vokaler, visuell-leiblicher und darüber hinaus materieller Ressourcen herauszuarbeiten. Zum anderen ist es das Ziel dieser Arbeit, das in, mit und durch die Gattung vermittelte Wissen und die Praktiken aufzuzeigen, mit denen diese Vermittlung geschieht. Schließlich verfolgt die Arbeit das Ziel, dialogische bzw. interaktive Elemente von Predigten in den Blick zu nehmen und die Predigt als dialogische Gattung darzustellen.

Aufgrund der theoretischen und methodischen Ausrichtung geht die vorliegende Arbeit von der grundlegenden Annahme aus, dass das konkrete Predigtereignis ein durch die räumlich und zeitlich ko-präsenten Beteiligten wechselseitig und multimodal hergestelltes, erkennbar gemachtes und realisiertes Interaktionsereignis ist, das in seiner daraus entstehenden Komplexität und in seinem eigenen Recht analysiert werden muss. Die Predigt wird in diesem Zusammenhang als „auf unterschiedlichen Ausdrucksebenen hervorgebrachtes, von allen Beteiligten zu jedem Zeitpunkt gemeinsam konstituiertes und praxeologisch gerahmtes Ereignis“ (Deppermann/Schmitt 2007:22) verstanden und unter diesen Voraussetzungen analysiert. Dabei spielt nicht nur die akustisch wahrnehmbare, d. h. die gesprochene Sprache, eine Rolle, sondern gerade auch das visuell wahrnehmbare Handeln der Beteiligten. Aus dieser Haltung folgt, dass die vorliegende Arbeit keine rezeptions- und wirkungsästhetische Perspektive einnimmt, also explizit nicht nach den Erwartungen, die Prediger und Rezipierende an die Predigt haben, und auch nicht nach der Wirkung der Predigt fragt. Da es sich um eine interaktionslinguistische Studie handelt, kann und will sie zudem nicht nach theologischer Adäquatheit und Richtigkeit fragen und nicht beurteilen, ob es sich bei den untersuchten Predigten um inhaltlich ‚gute‘ oder ‚schlechte‘ Predigten handelt. Vielmehr fragt die Arbeit nach der Form und der interaktiven Herstellung und Durchführung. Damit geht die Arbeit erheblich über bisherige linguistische und auch homiletische Fragestellungen und Vorgehensweisen hinaus und ermöglicht einen neuen Zugang zu einer kommunikativen Gattung, die vor allem in der theologischen Forschung bereits vermeintlich ausführlich dokumentiert und beschrieben wurde, und zu der es zahlreiche Gestaltungshilfen gibt. Zwischen der modellhaften Darstellung in Lehrbüchern und dem praktischen Arbeitsvollzug besteht jedoch ein Unterschied, der nicht übersehen werden darf (vgl. Bergmann 2006:394). In diesem Sinne fragt die vorliegende Arbeit danach, wie Prediger und Gemeinde im Vollzug Predigten herstellen und diese Moment für Moment konstruieren. Dabei geht es nicht (nur) um das theoretische Wissen der Akteure, sondern um das verkörperte Wissen, das sich in der Ausführung bestimmter interaktiver Praktiken zeigt, die das Interaktionsereignis erst als solches, d. h. in diesem Fall als spezifische kommunikative Gattung, erkennbar machen. Zur eindeutigeren terminologischen Bestimmung differenziert die vorliegende Arbeit zwischen den Begriffen ‚Predigt‘ und ‚Wortbeitrag‘. Während der Terminus ‚Predigt‘ das gesamte interaktive Ereignis umfasst, wie es in dieser Arbeit in seiner multimodalen Konstitution vorgestellt wird, bezeichnet der Terminus ‚Wortbeitrag‘ einen spezifischen Aktivitätstyp des Predigtereignisses (siehe Kapitel 9).