Was sind die konstitutiven Elemente der kommunikativen Gattung der christlichen Predigt? Dies war die Ausgangsfrage der vorliegenden Arbeit. Das Ziel war es in diesem Zusammenhang, christliche Predigten des 21. Jahrhunderts anhand natürlicher audio-visueller Aufnahmen als komplexe, multimodal und interaktiv realisierte kommunikative Gattung zu beschreiben und a) die charakteristischen und wiederkehrenden typischen und spezifischen Merkmale der Gattung herauszuarbeiten, b) die interaktiven Realisierungsverfahren aufzudecken und c) die übergeordneten und spezifischen kommunikativen Aufgaben zu identifizieren, die mithilfe der Gattung bearbeitet werden.

Dazu wurden vor allem die methodischen Prämissen der Konversationsanalyse sowie der Multimodalen Interaktionsanalyse zur Anwendung gebracht. Das Gattungskonzept nach Luckmann bildete die theoretische Rahmung, denn es eröffnet durch die Unterscheidung von drei analytischen Ebenen (Außenstruktur, Binnenstruktur, situative Realisierungsebene/Zwischenstruktur) die Möglichkeit, Interaktionsereignisse sowohl hinsichtlich ihres sozialen und institutionellen Kontextes sowie ihrer sequenziellen Struktur und auch der zur Realisierung gebrauchten verbalen, vokalen und visuell-leiblichen Praktiken zu untersuchen. Der Blick der vorliegenden Arbeit richtete sich dabei auf das Ereignis der Predigt in seiner Gesamtheit und auf das Zusammenspiel und die wechselseitige Bedingtheit der einzelnen Gattungsebenen. Aus diesem Grund wurden die Analyseebenen nicht getrennt voneinander betrachtet, sondern unter dem Blick spezifischer interaktiver Phänomene, wie der Eröffnung und Beendigung des Ereignisses, des Umgangs mit Wissen bei der Vermittlung, Zuschreibung und Veranschaulichung biblischer Texte in den Wortbeiträgen und der Realisierung unterschiedlicher Beteiligungsformate. Eine zusätzliche Anreicherung geschah durch die Hineinnahme des Dialogizitäts- und Gattungskonzepts Bachtins und die immer wieder eingeflochtenen Verweise auf die homiletische Forschung.

Die Bestimmung eines Interaktionsereignisses als kommunikative Gattung hängt nach Luckmann vor allem mit der Frage nach verfestigten und freien Elementen, dem multimodalen Zusammenspiel der drei Gattungsebenen und der notwendigen kommunikativen Aufgabe zusammen, die mithilfe der Gattung bearbeitet wird (vgl. Luckmann 1986:201f und 1997:12). Diese drei Aspekte sollen nochmals herausgegriffen und zusammengefasst werden.

  • Verfestigte und freie Elemente der Gattung

Trotz zahlreicher Definitionen ist nach wie vor umstritten, ob man überhaupt von ‚der Predigt‘ sprechen kann (siehe Kapitel 6). Argumentiert wird vor allem, dass die Predigt aufgrund ihrer unterschiedlichen Erscheinungsformen bis hin zur Dialogpredigt und der Abhängigkeit von der Art des Gottesdienstes nicht als ein einheitlicher Gegenstand in Erscheinung tritt und daher auch nicht einheitlich beschrieben werden könne. Die vorliegende Arbeit hat diese Haltung zunächst dadurch in Rechnung gestellt, dass sie zum einen mit einem heterogenen Korpus von Predigten unterschiedlicher konfessioneller Prägung, unterschiedlicher Anlässe und unterschiedlicher Prediger gearbeitet hat und zum anderen nur solche Ereignisse untersucht hat, die von den Beteiligten ethnokategorial als Predigt bezeichnet wurden. Darüber hinaus wurde in der vorliegenden Arbeit eine terminologische Differenzierung zwischen der Predigt als gesamtem Ereignis und dem Wortbeitrag als dem zentralen Aktivitätstyp vorgenommen. So gewann die Analyse an Klarheit und Eindeutigkeit. Dadurch konnte gezeigt werden, dass bei der Betrachtung unter gattungsanalytischen und interaktionsanalytischen Gesichtspunkten durchaus von ‚der Predigt‘ gesprochen werden kann, denn es wurden konfessions- und anlassübergreifende Typiken und Verfestigungen im Vergleich der Predigten deutlich. Als übergeordnetes Ergebnis der vorliegenden Arbeit kann nun – auf der Grundlage der hier untersuchten Predigten – folgende Definition einer christlichen Predigt im 21. Jahrhundert als kommunikativer Gattung gegeben werden:

Eine Predigt ist ein öffentliches, multimodal realisiertes, raum-zeitlich abgegrenztes Interaktionsereignis (mit konstitutiven dialogischen und interaktiven Elementen) für das eine Interaktionsordnung one-face-to-many-faces unter zeitlich und räumlich ko-präsenten Beteiligten charakteristisch ist und das prototypisch innerhalb eines institutionell gerahmten Ritualgeschehens (Gottesdienst) realisiert wird. Sie ist zudem eine rekonstruktiv-prospektive kommunikative Gattung, die (speziell im Wortbeitrag) in der Tradierung und gegenwartsbezogenen Aktualisierung biblischer Texte sowie grundlegender Glaubensgewissheiten und im daran anschließenden Verweis auf mögliche zukünftige Handlungen die kommunikative Aufgabe hat, eine Wissens-, Glaubens- und Praktikengemeinschaft unter den anwesenden Personen herzustellen bzw. aufrechtzuerhalten. Dadurch wird die Predigt zu einer Form religiöser Kommunikation.

Die basale Realisierung (bestehend nur aus den obligatorischen Handlungen des Gangs zum Predigtort, dem Aktivitätstyp des Wortbeitrags und der Handlung des Verlassens des Predigtortes) wurde im vorliegenden Corpus in allen Predigten, konfessionenübergreifend erkennbar. Während in den untersuchten katholischen Sonntagspredigten und den Sonntagspredigten in der Brüdergemeinde keine weiteren Elemente erkennbar wurden, zeigt sich in evangelischen Predigten (vor allem in den regulären Sonntagspredigten, aber auch in einigen Predigten im Rahmen alternativer Gottesdienstformen) eine ausgebaute Form, die zusätzliche fakultative Elemente enthält: liturgische Eingangsformel, Gebet, Textlesung, liturgische Abschlussformel, Amen-Sequenzen. Darüber hinaus variierte die Abfolge der fakultativen Elemente sowie der Grad der Ausgebautheit (z. B. die Art und Weise des Gebets) sehr stark zwischen Gemeinde, Prediger und Anlass. Dazu kommen Predigten, in denen das Gebet oder die Textlesung in den Wortbeitrag eingelagert sind. Die Gemeinde, d. h. die Gesamtheit der zur Predigt anwesenden Personen, folgt dabei nicht nur der typischen Struktur und Interaktionsordnung von Predigten, sondern ist an der Herstellung des Ereignisses beteiligt.

Vor allem der Wortbeitrag bietet jedoch mehr oder weniger viel Spielraum für unterschiedliche Formen, die Interaktionsordnung des Bühnenformats zu erweitern. Er ist einer der drei obligatorischen Aktivitätstypen einer Predigt und dabei gleichzeitig der flexibelste. In seiner Gestaltung ist er weit dehnbar (vom klassischen 1-Personen-Wortbeitrag über die Form der Dialogpredigt bis hin zum gemeinsam koordinierten und realisierten Wortbeitrag zwischen dem Prediger und mindestens einem Gemeindemitglied). Die Form des Kanzelmonologs erscheint in diesem Zusammenhang zwar als typische Realisierungsform, die jedoch weder rituell noch institutionell vorgegeben ist und immer wieder Erweiterungen erfährt. Die Predigt ist damit Teil eines übergeordneten Ritualgeschehens (Gottesdienst), ist aber selbst nur in den Aktivitätstypen der Eröffnung und der Beendigung rituell verfestigt (in unterschiedlichen Ausprägungen). Der Wortbeitrag selbst zeigt lediglich in Bezug auf Länge und Positionierung innerhalb des Gottesdienstes konfessionelle Unterschiede, nicht aber eine grundsätzliche Ritualisierung. Darüber hinaus konnten anlassbezogene Unterschiede, jedoch keine durch die Konfession bedingten ausgemacht werden.

Auf der Ebene der thematischen Orientierung zeigt sich weiterhin die Flexibilität des Wortbeitrags. Die stärkste Erwartbarkeit besteht im Sprechen des Predigers über biblische Texte und religiöse Glaubenspraxis. Wie dies jedoch konkret gestaltet wird, welcher Text im Fokus steht und ob der Wortbeitrag mehr eine Schritt-für-Schritt Auslegung des biblischen Textes oder eine Betrachtung grundlegender theologischer und religiöser Haltungen ist, bleibt Sache des jeweiligen Predigers.

  • Multimodale Elemente

In der bisherigen Forschung wurde die Predigt, und speziell der Wortbeitrag, vor allem unter sprachlich-rhetorischen Gesichtspunkten analysiert. So gilt etwa in der homiletischen Literatur mehr oder weniger einheitlich die Auffassung „Predigt ist Sprache“ (Boyd-MacMillan 2011:16). Die vorliegende Arbeit konnte jedoch zeigen, dass Predigten nicht nur dominant verbal und vokal realisiert werden, sondern maßgeblich auch mithilfe visueller Ressourcen und damit multimodal konstruiert sind. Erst unter dieser Perspektive lässt sich adäquat beschreiben, inwiefern Predigten nicht nur ‚Sprache‘ sind, sondern Interaktion. Dies zeigte sich u. a. darin, dass der konkrete Raum, in dem das Ereignis situiert war, als eigenständige interaktive Ressource für die Herstellung und Durchführung einer Predigt von den Beteiligten relevant gesetzt wurde. Durch die Analyse des gebauten und ausgestatteten Raumes mit seinen Benutzbarkeitshinweisen wurde in der vorliegenden Arbeit eine Lücke innerhalb des Gattungskonzepts geschlossen, da der Raum als Element bestimmt wurde, das auf allen drei Ebenen für die Realisierung der Gattung bestimmend ist. Darüber hinaus werden vor allem von der Interaktionsordnung des Bühnenformats abweichende Beteiligungsformate wie Interrogativsequenzen maßgeblich mithilfe multimodaler Praktiken in ihrer Antworterwartung kontextualisiert.

Ziel der vorliegenden Arbeit war es, den multimodalen Charakter der untersuchten Predigten nicht nur in den Analysen zu beschreiben, sondern ihn auch in den Transkripten sichtbar zu machen und damit die Koordinierung und Orchestrierung unterschiedlicher Interaktionsmodalitäten nachvollziehbar zu machen. Dazu wurden vor allem zwei Elemente in der vorliegenden Arbeit genutzt: Zum einen wurde ein neuartiges Transkriptionssystem entwickelt, das die Konventionen des GAT2 mit dem ISWA kombiniert. Gerade die Nutzung eines speziell für die Verschriftlichung von Bewegungen entwickelten Systems wie dem ISWA schafft in den Transkripten eine hohe Intersubjektivität, indem es den Beschreibungsaufwand verringert und gleichzeitig Lesbarkeit und eine fragestellungsadäquate Anpassbarkeit gewährleistet. In diesem Zusammenhang erfüllt es die wichtigsten Kriterien einer für die Interaktionsanalyse geeigneten Transkription. Somit ging die vorliegende Arbeit nicht nur inhaltlich-konzeptuell einen Schritt weiter, sondern auch methodisch. Zum anderen wurden QR-Codes integriert, die die Analysen durch das Hör- und Seherlebnis der vorgestellten Auszüge in besonderer Weise nachvollziehbar machten.

  • • Kommunikative Aufgabe

Innerhalb der homiletischen Literatur wird die Aufgabe der Predigt in der Verkündigung des Evangeliums gesehen. Die vorliegende Arbeit konnte detaillierter zeigen, welche kommunikativen und interaktiven Aufgaben und Anforderungen die Prediger mit der Predigt als solcher und in ihren Wortbeiträgen bearbeiten. Predigten dienen der Aktualisierung und Vermittlung spezifischer Wissensbestände vor allem in Bezug auf biblische Texte und den darin tradierten Ereignissen, Personen und als überzeitlich konzeptualisierten göttlichen Aus- und Zusagen zum Zweck der Herstellung einer Glaubens-, Wissens- und Praktikengemeinschaft unter den anwesenden Personen. In diesem Zusammenhang ist es die Aufgabe der Prediger, zeitliche, kultur-historische und religiöse Distanzen zwischen dem biblischen Text und den anwesenden Personen zu bearbeiten und die Gültigkeit und die Relevanz der verhandelten Texte für die Lebenswirklichkeit der Rezipierenden aufzuzeigen. Die vorliegende Arbeit konnte zeigen, dass die Wissensvermittlung einen zentralen Aspekt von Predigten bildet und die Prediger meist erst in einem zweiten Schritt und auf der Grundlage des verhandelten Bibeltextes, moralische Handlungsanweisungen geben.

Mit der vorliegenden Arbeit wurden bisherige Analysen auf dem Gebiet der Gattungsforschung und der Interaktionalen Linguistik in Bezug auf religiöse Kommunikation weitergeführt und bestehende Forschungslücken geschlossen. Das Desiderat einer konzisen Beschreibung christlicher Predigten als kommunikative Gattung konnte bearbeitet werden. Die vorliegende Arbeit hat in diesem Zusammenhang erstmals die christliche Predigt im 21. Jahrhundert als multimodal realisiertes Interaktionsereignis auf den Ebenen der Außen-, Binnen- und Zwischenstruktur beschrieben. Darüber hinaus hat die vorliegende Arbeit auch methodische Forschungslücken aufgezeigt und durch die Entwicklung eines neuen Transkriptionssystems Impulse zu deren Schließung gesetzt.