Die Bestimmung der Predigt zum einen als Teil der Gottesdienstordnung und zum anderen als inhaltliche und formale ‚Leerstelle‘, d. h. als nicht bzw. nur schwach durch die Liturgie vorstrukturiertes Element (siehe Kapitel 13), hat einen Einfluss auf die Frage nach dem Beginn und dem Ende der Predigt. Diesem Gegenstand nähert sich die vorliegende Arbeit aus interaktionsanalytischer Perspektive und unter der Betrachtung der Predigt als soziales und durch die beteiligten Personen interaktiv hergestelltes Ereignis. Essenziell ist hier wieder die in dieser Arbeit vorgenommene Unterscheidung zwischen der Predigt als Gesamtereignis und dem Wortbeitrag als einem konstitutiven und obligatorischen Aktivitätstyp der Gattung.

Während die ersten konversationsanalytischen Arbeiten bereits in den 1970er Jahren erkannt und beschrieben haben, dass Gesprächsbeendigungen (bzw. allgemeiner Interaktionsbeendigungen) einer Eröffnung bedürfen (vgl. Schegloff/Sacks 1973: Opening up Closings), betonen Hausendorf/Schmitt (2010) in ihrer Studie ‚Opening up Openings‘, dass auch die Eröffnung von Interaktionsereignissen „systematisch vorbereitet und selbst eröffnet“ (2010:53) werden muss. Dazu nutzen die beteiligten Personen unterschiedliche multimodale Koordinierungspraktiken (vgl. dazu auch Mondada/Schmitt 2010:37ff). Hausendorf/Schmitt (2010) beschreiben in ihrer Studie exemplarisch die Eröffnungsphase eines Alphagottesdienstes als reziprok durch die Beteiligten hergestellt. Innerhalb des etablierten (räumlichen und institutionellen) Kontextes des Gottesdienstes werden dann unterschiedliche kommunikative Gattungen deutlich, die von den beteiligten Personen als eigenständige „raumzeitliche Einheit“ (Schmitt/Deppermann 2010:337) mit klar erkennbaren bzw. erkennbar gemachten Grenzen hergestellt werden. Die Predigt ist eine der beobachtbaren kommunikativen Gattungen innerhalb des kommunikativen Projekts des Gottesdienstes, die durch die anwesenden Personen und unter Nutzung unterschiedlicher Ressourcen vorbereitet, durchgeführt, organisiert, koordiniert, d. h. eröffnet und schließlich auch wieder beendet wird. Dabei muss nicht nur der Wortbeitrag als zentraler Aktivitätstyp innerhalb der Gattung realisiert werden, sondern die Etablierung des gesamten Ereignisses einschließlich der Übergänge zum vorausgehenden und nachfolgenden Gottesdienstgeschehen.

1 Eröffnung der Predigt

Obgleich dem Predigtanfang in der homiletischen Literatur vor allem unter rhetorischen und inhaltlichen Gesichtspunkten ein großes Gewicht beigemessen wird (vgl. u. a. Lerle 1972), gehen die Aussagen darüber, wann Predigten innerhalb des Gottesdienstes tatsächlich beginnen und enden, deutlich auseinander. Während einige Analysen die Markierung von Anfang und Ende durch Kanzelgruß und Kanzelsegen sehen (vgl. Josuttis 1985:166), setzen andere die „vorgängige Lesung des Bibeltextes“ (Stebler 2006:175) oder aber die Adressierung der Gemeinde (vgl. Thiele 2004:255ff) als Rahmungsmomente an. Anhand der Analyse schriftlich vorliegender Wortbeitragstexte werden dann „Einleitungstypen“ herausgearbeitet (vgl. Josuttis 1985:167), die Hinweise, Tipps und Normen für einen ‚guten‘ Predigtanfang geben.Footnote 1 Auffällig ist dabei, dass der Beginn der Predigt in den homiletischen Arbeiten allein durch seine Verbalität gekennzeichnet ist: „Jede Predigt beginnt mit einem ersten Satz“ (Josuttis 1985:167). Begreift man die Predigt jedoch nicht nur als Textgattung, sondern unter einer interaktionsanalytischen Perspektive als kommunikative Gattung mit ko-präsenten Beteiligten, dann greift diese Bestimmung deutlich zu kurz. Aus diesem Grund betrachtet die vorliegende Arbeit auch die visuellen Ressourcen, die bei der Eröffnung der Predigt von den beteiligten Personen genutzt werden. Dafür grundlegend ist eine allgemeine Beobachtung zur Eröffnung von Interaktionen:

Die Situationseröffnung ist in der Regel eine dem verbalen Austausch sequenziell vorgelagerte Phase körperlich-räumlicher Annäherung, wechselseitiger blicklicher Orientierung, der Nähe-Distanz-Regulierung und der gemeinsamen Koordination im Hinblick auf den intendierten, fokussierten interaktiven Austausch. (Schmitt 2013:44f)

Schmitt bestimmt hier vor allem visuell verfügbare Ressourcen als zentrale Elemente der Eröffnung: die Positionierung im Raum, die Nutzung architektonischer Implikationen, die körperliche Ausrichtung sowie die Blickorientierung. Auch Mondada betont gerade bei der Analyse von face-to-face Situationen die Relevanz visueller Ressourcen und Praktiken und den empirischen Charakter der Frage, wann eine Interaktionssituation eröffnet wird:

Es gibt […] eine Phase der Vororientierung der Körper im Raum, bevor die Eröffnung überhaupt stattfinden kann. [...] Daraus ergibt sich im Übrigen das Problem, wie der Beginn einer Aktivität zu definieren ist, denn dieser ist selbst eine praktische Hervorbringung, die Zeit beansprucht und zu einer eigenen Aktivität werden kann […]. Wenn der Vollzug der Eröffnung […] entscheidend ist für die wechselseitige Anpassung der Beteiligten und damit die Bedingung für die Koordinierung, so ist die körperliche Orientierung auf die Eröffnung eine erste Koordinationsleistung, um das Gespräch zu ermöglichen. Koordinierung der Beteiligten und Eintritt in die Interaktion konfigurieren sich also wechselseitig. (Mondada 2007:65, FN4)

Gleiches gilt auch mit Blick auf christliche Predigten. Dazu soll Schritt für Schritt die Eröffnung der Predigt in ihren einzelnen Bestandteilen und Handlungen nachgezeichnet werden. Im Zentrum der Betrachtungen stehen neben dem Gang zum Predigtort (Abschnitt 15.1.1) und den Koordinierungs- und Fokussierungsaktivitäten des Predigers und der Gemeinde (Abschnitt 15.1.2) die auf die visuelle Eröffnung folgenden Aktivitäten der verbalen Eröffnung (Abschnitt 15.1.3 und 15.1.4).

1.1 Der Gang zum Predigtort

Die Analyse natürlicher Predigtereignisse zeigt, dass ein erstes zentrales Element der Eröffnung der Gang des Predigers zum jeweiligen Predigtort ist. Diese Handlung des zweck- und zielgerichteten Gehens (vgl. Staub 2002:459) und der damit einhergehenden Bewegung durch den Raum zu einem bestimmten Ort hin, ist eine Schnittstelle bei der interaktiven Etablierung und Eröffnung des Predigtereignisses und markiert den Übergang zwischen dem vorgängigen Geschehen und der Predigt. Für die Predigt heißt das, dass sie als neue Situation „in einer für die Beteiligten erkennbar und für die Realisierung des aktuellen Zwecks sachdienlichen Weise vom bisherigen Geschehen abzugrenzen und sie – gemäß ihrer Eigenständigkeit – durch eine ihrem Status als Herstellung einer neuen Situation adäquaten Art und Weise zu eröffnen“ (Schmitt/Deppermann 2010:339) ist. In diesem Zusammenhang wird – analog zu den Analysen von Schmitt/Deppermann (2010) – auch bei Predigten die Transition von Interaktionsräumen zur Eröffnung einer neuen Interaktion erkennbar.

Der Gang des Predigers zum Predigtort ist dabei nicht nur eine notwendige, sondern auch eine situierte Praktik. Dies zeigt das exemplarische Beispiel eines evangelisch-lutherischen Sonntagsgottesdienstes, der nach der üblichen liturgischen Ordnung abgehalten wird (siehe Kapitel 13). Unmittelbar zuvor sprechen die Gemeinde und der Pfarrer gemeinsam laut das Glaubensbekenntnis. Dabei stehen alle Beteiligten in den Bänken im Kirchenschiff und sind auf den Altarraum und das Kreuz ausgerichtet (siehe Abbildung 15.1, der Stern markiert die Position des Predigers im Kirchenschiff). Der Prediger positioniert sich aufgrund dieses Standortes als Teil der Gemeinde und auf einer räumlich-egalitären Stufe mit den übrigen Anwesenden. Nachdem das Glaubensbekenntnis mit einem ‚Amen‘ beendet wurde, verlässt der Prediger seine Position und nimmt einen räumlichen Wechsel vor, indem er für alle Anwesenden sichtbar den Altarraum Richtung Sakristei durchquert (Abbildung 15.1 und Abbildung 15.2, Weg durch Pfeil markiert), die Sakristeitür öffnet, in diese hineingeht, hörbar die Tür zur Kanzel öffnet und von dort auf die Kanzel steigt.

Abb. 15.1
figure 1

Skizze Kirchenraum

Abb. 15.2
figure 2

Ansicht Kirchenraum mit Kanzel

Zunächst wird hier eine etablierte Situation mit einer spezifischen räumlichen Konstellation (alle stehen und sind körperlich auf den Altar ausgerichtet) und einem spezifischen Beteiligungsformat (alle sprechen gleichzeitig laut denselben Text) aufgelöst, indem sich der Prediger daraus löst. Dazu wendet er sich körperlich von dem allen gemeinsamen Fokuspunkt des Altars ab und tritt aus dem bestehenden Interaktionsraum heraus. Diese Auflösung wird durch das Gehen deutlich gemacht und ist mit Erreichen des Predigtortes abgeschlossen. Nun beginnt der Aufbau des neuen, für das Predigtereignis charakteristischen Interaktionsraums. Die Art und Weise, in der der Prediger den Gang zum Predigtort realisiert, markiert dessen Gerichtetheit auf den jeweiligen Predigtort hin und macht erkennbar, dass es nicht um das Gehen an sich geht, sondern um das nachfolgende Ereignis: er geht a) für alle sichtbar, aber allein b) in zügiger, aber nicht hektischer Weise zu einem Ort, der exponiert liegt und den er c) allein bespielen wird. Diese Merkmale verweisen nicht nur auf ein neues Ereignis, sondern konstituieren parallel dazu die Partizipationsstruktur der Predigt als Bühnenformat (siehe Kapitel 14). So vollzieht sich gleichzeitig zum räumlichen Wechsel des Predigers eine körperlich-interaktive Neukonstellation zwischen den Beteiligten: Von einer Situation face-to-back, in der der Prediger in einer Ausrichtung mit der Gemeinde steht und ihr den Rücken zukehrt, zu einer Situation one-face-to-many-faces, in der der Prediger frontal zur Gemeinde ausgerichtet ist und wechselseitige Wahrnehmung herstellt.Footnote 2 Bis auf wenige Ausnahmen realisieren die Prediger des untersuchten Korpus ihren Gang nicht parallel zu einer anderen Aktivität (z. B. während eines Liedes, bei dem die Gemeinde einen anderen Fokus hat – etwa das Gesangbuch oder die Textleinwand – oder während eines Gebetes, bei dem die Gemeinde die Augen potentiell geschlossen hat), sondern im Anschluss daran und darüber hinaus erst dann, wenn alle nicht am Predigtereignis beteiligten Personen den zukünftigen Predigtort verlassen haben. Eine geringfügige Abweichung zeigen u. a. die untersuchten katholischen Predigten. Der Prediger sitzt dabei nicht mit der Gemeinde im Kirchenschiff (face-to-back), sondern auf einem Stuhl im erhöhten Altarraum, der sich hinter dem Rednerpult befindet (Abbildung 15.3).

Abb. 15.3
figure 3

Altarraum katholische Kirche

Der Gang zum Predigtort wird dann von einer bereits exponierten Position aus realisiert und ist entsprechend der geringen räumlichen Distanz zwischen Sitzplatz und Predigtort sehr schnell vollzogen. Eine ähnliche Konstellation zeigte sich auch in einer der untersuchten Traupredigten. Auch dort sitzt der Prediger nicht bei der Gemeinde, sondern bereits seitlich im Altarraum (Abbildung 15.4) und vollzieht aus dieser Position heraus den Gang zu seiner freien Predigtposition zwischen Rednerpult und dem im Altarraum sitzenden Brautpaar (Abbildung 15.5). In den untersuchten Predigten befand sich der Prediger in sechs Fällen bereits im Altarraum in der Nähe des Predigtortes.

Abb. 15.4
figure 4

Prediger im Altarraum

Abb. 15.5
figure 5

Predigtposition

In allen untersuchten Predigten fand ein Wechsel zwischen „dynamischen und statischen Präsenzformen“ (Schmitt 2013:38) statt. So kommt der Prediger von einer sitzenden oder stehenden Position und bewegt sich dynamisch zu einem Ort, an dem er wieder mehr oder weniger ruhig stehen wird.

Das Gehen hin zum Predigtort ist also konstitutiv für die Predigt und Teil der Herstellungsaktivitäten des ‚doing Predigt‘. Damit wird es zu einer „situierten Praktik“ (Schmitt 2012a), indem es eine „interaktive Eigenwertigkeit“ (Schmitt 2013:35) erkennen lässt. Der Prediger kommuniziert durch die strukturierende und segmentierende Handlung des Gehens seine „interaktionsrelevante Interpretation“ (Schmitt 2013:35) der Situation (vgl. allgemein dazu Hausendorf/Schmitt 2010:88). Der Gang zum Predigtort zeigt erst einmal unspezifisch, aber grundlegend an, dass etwas Neues passiert und ein Wechsel stattfindet, aber noch nicht, welcher Art die Veränderung sein wird und welche personellen und räumlichen Neukonstellationen etabliert werden. Betrachtet man den Gang weitgehend isoliert, verweist er also nicht spezifisch auf das nachfolgende Predigtereignis, obwohl er dafür konstitutiv ist, er zeigt lediglich einen Übergang an. Aufgrund ritualisierter und institutionalisierter Abläufe innerhalb der Gottesdienstgestaltung kann jedoch mehr oder weniger klar zugeordnet werden, zu welchem Ereignis der Gang führt. Entscheidend für die Bestimmung des Gangs als Element der Predigteröffnung sind folgende Parameter: wer den Gang vollzieht und ob der Prediger schon im vorausgegangenen Gottesdienstgeschehen mit anderen Aufgaben in Erscheinung getreten ist oder nicht, wohin die Person geht und ob der Predigtort predigtspezifisch ist oder nicht, wann der Gang innerhalb des Gottesdienstgeschehens vollzogen wird.

Im Anschluss an den räumlichen Übergang tritt der Prediger in eine Phase koordinatorischer und fokusetablierender Aktivitäten ein, die die aktive Herstellung des neuen Interaktionsraumes darstellen. Zentrale Elemente sind dabei die Ausrichtung und Orientierung auf den neuen Interaktionspartner (vgl. Schmitt/Deppermann 2010:374), die Herstellung einer Wahrnehmungswahrnehmung (vgl. Schmitt/Deppermann 2010:375) und die visuelle und verbale Herstellung einer neuen fokussierten Interaktion (vgl. Schmitt/Deppermann 2010:375; siehe Abschnitt 15.1.3).

1.2 Predigtankündigung

Einen zusätzlichen, dem Gang zum Predigtort vorgelagerten Kontextualisierungshinweis für den Beginn der Predigt bilden durch eine dritte Person gemachte Ankündigungen oder auch eine Kurzvorstellung des Predigers und die Benennung des nachfolgenden Geschehens als Predigt. Dies war jedoch nur in drei der untersuchten Predigten der Fall, die zudem im Rahmen besonderer Gottesdienste gehalten wurden: einem Jugendgottesdienst, einem evangelistischen Gottesdienst sowie dem Gottesdienst zum Abschluss einer Israelkonferenz. Damit decken sich die Befunde dieser Arbeit mit den Beobachtungen von Schmitt/Petrova, die Predigtankündigungen ebenfalls als spezielles Element alternativer Gottesdienste bewerten (vgl. 2019:371). In allen Fällen des hier vorliegenden Korpus war der Prediger gemeindefremd, d. h. er wurde von den Mitarbeitern des Gottesdienstes speziell zu diesem Anlass eingeladen. Die Ankündigung des Predigers kontextualisiert also in besonderer Weise, dass es sich bei der nun in Erscheinung tretenden Person um den Prediger handelt und das kommende Ereignis die Predigt ist. Die drei hier analysierten Predigtankündigungen machen zudem deutlich, dass dieses, der eigentlichen Predigt vorgelagerte Ereignis, unterschiedlich stark ausgebaut sein kann. Dies zeigt darüber hinaus auch der Vergleich mit den Beobachtungen von Schmitt/Petrova (2019). Während sie als „Kernelemente“ der Predigtankündigung die Nennung des Themas der Predigt, die Nennung des Namens und der Funktionsrolle des Predigers, den „Verweis auf die Predigt als Handlungstyp“ sowie die Etablierung einer Erwartungshaltung bestimmen (alle Zitate Schmitt/Petrova 2019:382), zeigt die kürzeste Variante im hier vorliegenden Korpus die folgenden Elemente: den Namen des Predigers sowie die implizite Aufforderung zu predigen. Bei dieser minimalen Form folgt der Gang des Predigers direkt auf die Ankündigung. In der ausgebauten Variante wird der Prediger nicht nur angekündigt, sondern in einem Interview vorgestellt. Zu diesem Zeitpunkt sind sowohl der Prediger als auch der Gottesdienstmitarbeiter im Altarraum bzw. auf einer Bühne anwesend. Obwohl der Prediger schon auf der Bühne steht, befindet er sich aber noch nicht am Predigtort. Zudem ist eine nicht unmittelbar an der Predigt beteiligte Person auf der Bühne anwesend. Erst wenn diese den Ort verlassen hat, eröffnet der Prediger die Predigt visuell, indem er zum Predigtort geht und verbal, indem er das Wort an die Gemeinde richtet (siehe Abschnitt 15.1.4). Wichtiger Bestandteil der hier untersuchten Ankündigungen ist damit die explizite und implizite Etablierung des Predigers in seiner Rolle. Dies wiederum kontextualisiert das der Ankündigung folgende Ereignis als Predigt.

1.3 Koordinierung und Fokussierung

Bei der erfolgreichen Herstellung eines Interaktionsereignisses spielt die „Koordination als beobachtbare[s] Verhalten der Interaktionsbeteiligten“ (Deppermann/Schmitt 2007:20) eine zentrale Rolle. Erst durch die intra- und interpersonellen Koordinierungsleistungen der Anwesenden wird der erforderliche Interaktionsraum hergestellt, der als Voraussetzung für den verbalen und visuellen Austausch notwendig ist (siehe Kapitel 14).

Der Interaktionsraum des Predigtereignisses erscheint auf den ersten Blick vor allem aufgrund der starken material-räumlichen Vorstrukturierung beeinflusst zu sein. Folgen die anwesenden Personen den Benutzbarkeitshinweisen, so ergibt sich dadurch eine auch körperliche Ausrichtung auf den hervorgehobenen primären Aktionsraum (z. B. den Altarraum, die Kanzel oder die erhöhte Bühne; siehe Kapitel 14). Die Frage ist nun, welche Rolle die Koordinierung bei der Etablierung und Durchführung des Predigtereignisses spielt, denn wenn die „Koordination eine kontinuierliche Anforderung für alle an der Interaktion Beteiligten ist“ (Deppermann/Schmitt 2007:20), dann muss sie auch in einem institutionellen Geschehen wie der Predigt erkennbar werden.

Der Prozess der Koordinierung wird zunächst in zwei ‚Grundformen‘ unterschieden: intrapersonelle und interpersonelle Koordination. Die intrapersonelle Koordination beschreibt das gleichzeitige Ausführen unterschiedlicher Aktivitäten durch ein und dieselbe Person (vgl. Deppermann/Schmitt 2007:32, Krafft/Dausendschön-Gay 2007:168):

Aktivitäten, mit denen ein Interaktionsbeteiligter die unterschiedlichen Ausdrucksmodalitäten seines eigenen Verhaltens aufeinander abstimmt: Verbalität, Mimik, Blickorganisation, Gestik, Körperpositur, Raumorientierung etc. müssen koordiniert werden. Der intrapersonelle Aspekt besteht dabei in der ‚Selbstorganisation‘ und nicht im Hinblick auf die interaktiven Bezüge und Implikationen, denen diese Selbstorganisation oftmals dient. (Deppermann/Schmitt 2007:32)

Im Gegensatz dazu wird mit dem Begriff der interpersonellen Koordination die „zeitliche, räumliche und multimodale Abstimmung eigener Handlungen und Verhaltensweisen mit denen der anderen Beteiligten“ (Deppermann/Schmitt 2007:34) gefasst. Diese Koordinierung zwischen den Interagierenden wird wiederum differenziert in eine „direkte Koordinierung, wenn die Partner sich einander zuwenden, und [eine] Koordinierung über Objekte, wenn die Partner eine gemeinsame Orientierung der Aufmerksamkeit herstellen“ (Krafft/Dausendschön-Gay 2007:168; Hervorhebungen CD). In der Regel sind die interpersonelle und intrapersonelle Koordinierung aufeinander bezogen:

Häufig ist es so, dass die intrapersonelle Koordination partnerorientiert gestaltet wird und somit auch interpersonelle Koordination involviert. Dieser Fall ist als Regelfall zu erwarten, da Koordination letzten Endes meist im Dienst der Ermöglichung interpersoneller Kooperation steht. (Deppermann/Schmitt 2007:37)

Gerade bei der Eröffnung von Interaktionsereignissen werden die Prozesse der Koordinierung deutlich erkennbar (vgl. Hausendorf 2007:228):

Koordination ist die Voraussetzung der gemeinsamen Herstellung personal-räumlicher Strukturen als Basis des verbalen Austausches, des zeitlich-räumlichen Alignments einzelner Teilnehmer mit dem der anderen oder der selbstbezogenen Abstimmung einzelner Modalitäten wie Verbalität, Gestikulation, Blick, Körperpositur etc. […]. Verbalität […] kommt in der Regel erst dann zum Einsatz, wenn die Beteiligten hierfür bereits interaktiv die Voraussetzungen geschaffen haben. (Schmitt 2013:15f)

Auch das Predigtereignis muss durch die Beteiligten komplex koordiniert werden. Der erste Schritt dazu ist der Gang des Predigers zum Predigtort (siehe Abschnitt 15.1.1). Damit sind allerdings die für die verbale Interaktion grundlegenden Voraussetzungen einer vorhandenen wechselseitigen Wahrnehmung und Fokussierung noch nicht geschaffen. Dies zu realisieren ist die Aufgabe der dem Gang zum Predigtort folgenden Handlungen der Koordinierung und Fokussierung am Predigtort. Dabei sind abweichend zu ‚klassischen‘ SituationseröffnungenFootnote 3 jedoch vor allem folgende Faktoren konstitutiv: a) „die vorgängige gemeinsame Präsenz auf einem Setting“ (Schmitt/Deppermann 2010:338) und b) „die Existenz einer interaktiven Vorgeschichte auf diesem Setting zu einem früheren Zeitpunkt des Aufenthalts“ (Schmitt/Deppermann 2010:338). Diese interaktive Vorgeschichte entsteht im Falle der Predigt durch das unmittelbar vorausgegangene Gottesdienstgeschehen. Zum Zeitpunkt der Predigt haben sich die anwesenden Personen dann bereits als ratifizierte Beteiligte anerkannt. Zudem besteht – zumindest auf der Seite der Gemeinde, die auf den Altarraum, die Kanzel oder die Bühne ausgerichtet sitzt – bereits eine räumliche Anordnung, die für die Predigt konstitutiv ist (siehe Kapitel 14). Unter diesen Vorzeichen muss dann die wechselseitige Wahrnehmung hergestellt werden.

Dabei besteht die Handlung der Koordinierung zu Beginn des Predigtereignisses aus zwei Abschnitten: Zunächst erfolgt die intrapersonelle Koordination des Predigers, in der er eine körperlich-räumliche Ausrichtung vornimmt und das mitgebrachte Predigtskript arrangiert. Es folgt eine Phase der interpersonellen Koordination, in der die Fokussierung mit der Gemeinde hergestellt wird. Der nachfolgende Auszug aus einem evangelischen Sonntagsgottesdienst setzt mit Erreichen des Predigtortes ein. In dieser Zeit sind der Prediger und seine Handlungen für die Gemeinde sicht- und hörbar (und diese Wahrnehmung ist wiederum für den Prediger wahrnehmbar).

figure a

Kurz bevor der Prediger die oberste Ebene der Kanzel erreicht hat, schaltet er das Kanzellicht ein. Es findet damit ein kleiner Lichtwechsel statt, der potentiell die Kanzel zusätzlich in ihrer räumlich exponierten Position im Kirchenraum ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt. Darüber hinaus kontextualisiert der Lichtwechsel deutlich, dass sich das folgende Geschehen an diesem Ort ereignen wird.Footnote 4 Der Prediger betritt daraufhin die Kanzel. Ab diesem Zeitpunkt ist er für die Gemeinde visuell und später auch akustisch wahrnehmbar. In den folgenden fünf Sekunden (Z.1, Sek. 10 bis 15) nimmt der Prediger sein Predigtmanuskript aus einer Mappe, legt diese auf den Rand der Kanzel (Sek.11,8) und wendet sich zu dem an der Kanzel angebrachten kleinen Rednerpult (Sek.13,7). Dort ordnet er das Predigtskript. All diese Handlungen vollzieht er ohne in die Gemeinde zu blicken. Der Kopf bleibt gesenkt ( , und , Sek. 10–14).Footnote 5 Auffällig ist, dass diese intrapersonelle Koordination für die Gemeinde wahrnehmbar durchgeführt wird. Dadurch entsteht eine Art öffentlicher backstage-Situation, in der die Vorbereitung zu einem Teil der Performanz des Predigers und damit zu einem Kontextualisierungshinweis wird. Während der Gang zum Predigtort unspezifisch angezeigt hat, dass ein neues Ereignis und eine Veränderung in der personellen und räumlichen Struktur stattfindet, verweist die intrapersonelle Koordinierung spezifischer darauf, dass es sich bei dem neuen Interaktionsereignis um ein Bühnenformat handeln wird, bei dem der Prediger als Fokusperson fungiert. Im obigen Beispiel hebt der Prediger schließlich bei Sekunde 14,1 den Kopf an ( ) und richtet den Blick in die Gemeinde. Dadurch stellt er die Bedingungen für eine erfolgreiche Fokussierung und wechselseitige Wahrnehmung her: Er ist frontal auf die Gemeinde ausgerichtet ( ), die Gemeinde kann ihn sehen und hören und auch er kann die Anwesenden (zumindest) visuell wahrnehmen. Erst als diese Konstellation hergestellt ist, beginnt der Prediger zu sprechen (gnAde sei mit EUCH, Z.2).

Auch im nächsten Beispiel wird die Zweiteilung zwischen intra- und interpersoneller Koordinierung deutlich erkennbar. Zudem lässt sich daran zeigen, dass die Koordinierung und die Ausrichtung nicht nur durch den Prediger allein geleistet wird, sondern auch durch die Gemeinde mitgetragen und mitvollzogen werden muss. Der Auszug zeigt den Beginn eines ökumenischen Sonntagsgottesdienstes, der in einem runden Zelt stattfindet. Zu diesem Zweck wurden Klappstühle in zwei großen Blöcken rechts und links eines Mittelganges aufgestellt. Diese Anordnung zeigt deutliche Parallelen mit der Anordnung der Bänke in Kirchen. Die Stühle sind auf eine Bühne hin orientiert, auf der Instrumente, Blumen und ein beweglicher Rednertisch stehen, der den zukünftigen Predigtort bildet. Der Ort ist nicht predigtexklusiv, da im Verlauf des Gottesdienstes von ihm aus auch Moderationen und Bibeltexte gelesen werden. Rechts und links der Bühne sind Bildschirme aufgestellt, auf denen die Texte der gesungenen Lieder, kleine Videos und Bilder angezeigt werden (Abbildung 15.6).

Abb. 15.6
figure 6

Orientierung der Gemeinde zum Monitor

Im Vorfeld der Predigt ist auf diesen Bildschirmen ein Filmausschnitt zu sehen, der thematisch auf den Wortbeitrag verweist. Die anwesenden Personen müssen, wollen sie den Filmclip sehen, rechts oder links auf den Bildschirm schauen.Footnote 6 Der Prediger, der in der vorderen Stuhlreihe sitzt, ist auf den rechten Monitor (nicht im Bild) ausgerichtet. Im nachfolgenden Transkript sind die visuell wahrnehmbaren Handlungen des Predigers (P) und eines Mannes aus der Gemeinde (M) abgebildet. Dieser wurde exemplarisch ausgewählt, um stellvertretend die wechselseitige Ausrichtung zwischen Gemeinde und Prediger und die Reziprozität der Herstellungshandlung zum Beginn des Predigtereignisses zu verdeutlichen.

figure g
figure h

Nachdem der Filmclip beendet ist, steht der Prediger von seinem Stuhl in der ersten Reihe auf ( , Z.1) und vollzieht den Gang zum Predigtort, indem er nach vorn zur Bühne läuft ( , Z.1, Sek.2,2–5,9). Er verlässt seine Position als Teil der Gemeinde und exponiert sich selbst, da er eine Ausrichtung one-face-to-many-faces herstellt. Während des Ganges ist sein Blick zunächst weiter auf den rechten Monitor gerichtet ( und ). Erst als er die Bühne betritt, wendet er seinen Kopf gerade ( und , Z.1, Sek.5,8) und senkt ihn anschließend während seiner Wende zum Rednerpult ( , Z. 1, Sek.5,8 bis 8,1) nach unten ( , Z.1, Sek. 6,3). Er ist nun frontal zur Gemeinde und damit auf sein Vorne orientiert, wie es für diese Analyse festgelegt wurde ( ). Der Kopf ist gesenkt ( , Z.1, ab Sek.6,7). Auffällig ist auch in diesem Beispiel wieder, dass der Prediger den Gang zum Predigtort nicht während des Filmclips vollzieht, sondern erst danach. Obwohl der Fokus der Anwesenden mehrheitlich noch auf den Monitoren liegt, ist der Prediger dadurch potentiell stärker fokussierungsfähig, als wenn er den Gang während des Filmclips realisiert hätte. Nachdem der Prediger den Predigtort erreicht hat, tritt er in die Phase der intrapersonellen Koordination ein, indem er sich am Predigtort ausrichtet, die Bibel und das Predigtmanuskript, das er während des Ganges in der Hand gehalten hat, auf das Rednerpult legt, es arrangiert und aufschlägt (Sek.8,2 bis 14). Erst danach hebt er den Kopf ( , Z.1, Sek.14 bis 14,8) und blickt mit gerader Kopfposition ( , Z.1, Sek. 14,9) in die Gemeinde. Damit richtet er seine Wahrnehmung auf die vor ihm sitzenden Personen aus.

Dieser Auszug zeigt jedoch nicht nur den Gang zum Predigtort und die intrapersonelle Koordination des Predigers, sondern auch die deutliche körperliche Re-Positionierung eines Mannes in der ersten Reihe der Gemeinde. M ist mit seinem Körper und seinem Kopf zunächst auf den linken Monitor ausgerichtet ( , Z.1 bis Sek.6,5). Diese Position behält er bei, während sich der Prediger von seinem Platz erhebt und nach vorn geht. Als der Prediger die Bühne betritt (Z.1, Sek.3,7), wendet sich M mit seinem Kopf zum Prediger um ( , Z.1, Sek.3,7). Dabei bleibt seine körperliche Ausrichtung noch unverändert auf den Bildschirm gerichtet ( , Z.1; Abbildung 15.7). Dies zeigt, dass er die Bewegung des Predigers wahrnimmt und damit auch dessen räumliche Veränderung, d. h. die Auflösung des bisherigen und die Herstellung eines neuen Interaktionsraums, die durch das Gehen angezeigt und vorbereitet werden. Die körperliche Ausrichtung des Mannes auf den Prediger erfolgt jedoch erst, als sich dieser zum Rednerpult umwendet ( , Z.1, Sek.6,7 bis 9,8; Abbildung 15.8). Aufgrund seines Sitzplatzes im Zelt, ist M nicht frontal auf den Prediger ausgerichtet, sondern schräg nach rechts ( , Z.1, Sek.10).

Abb. 15.7
figure 7

Blick zum Prediger

Abb. 15.8
figure 8

Ausrichtung auf Prediger

Der Auszug zeigt, dass auch M eine intrapersonelle und interpersonelle Koordinierung vornimmt, indem er sich zunächst blicklich und später auch mit seinem gesamten Körper auf den Prediger ausrichtet und diesen dadurch als neuen Interaktionsfokus, d. h. als Fokusperson, erkennbar macht. Die intrapersonelle Koordination von M schafft die Voraussetzung für eine interpersonelle Koordinierung mit dem Prediger und für eine Fokussierte Interaktion, d. h. eine „absichtsvolle[] wechselseitige[] Orientierung aufeinander“ (Stukenbrock 2015:51) und Wahrnehmungswahrnehmung. Da der Prediger seine eigene intrapersonelle Koordination zum Zeitpunkt der Ausrichtung von M (Sek.10) jedoch noch nicht abgeschlossen hat (sein Kopf ist nach wie vor gesenkt), ändert M noch einmal seine Kopfposition, wendet sich kurz vom Prediger ab und dem linken Monitor zu ( , Z.1, Sek.11,5). Dabei bleibt sein Körper jedoch unverändert zum Prediger hin ausgerichtet ( ). Die Erwartungen an ein nachfolgendes Ereignis und die Projektion des Predigers als Fokusperson bleiben bestehen, obwohl die Bedingungen für die Fokussierung noch nicht vollständig hergestellt sind. Schließlich wendet M seinen Kopf wieder zum Prediger ( , Z.1, Sek.12,4). Damit hat M sowohl seine intra- als auch seine interpersonelle Koordination beendet. Nachdem auch der Prediger seine intrapersonelle Koordination abgeschlossen hat, hebt er den Kopf ( , Z.1, Sek. 14) und stellt eine fokussierte Interaktion her. Damit sind die Bedingungen für die verbale Eröffnung der Predigt und des Wortbeitrags geschaffen und der Prediger beginnt zu sprechen (was Ist also der GLAUbe?, Z.2).

Dieses Beispiel zeigt sehr deutlich, dass sich während der Koordinierungsphase des Predigers am Predigtort die Gemeinde körperlich und blicklich re-orientiert und re-positioniert (z. T. wird nur der Kopf auf den Prediger ausgerichtet, z. T. wird der Sitz auf dem Stuhl verändert und der gesamte Körper bewegt, wie dies bei M deutlich erkennbar ist). Innerhalb des institutionellen Rahmens und trotz typischer institutioneller Verfestigungen stellen Prediger und Gemeinde das Ereignis also durch den Aufbau der Fokussierung aktiv und wechselseitig her. Anhand der exemplarisch beschriebenen körperlich-räumlichen Veränderungen lassen sich die Erwartungen der beteiligten Personen an das nachfolgende Ereignis und damit auch deren Gattungswissen rekonstruieren: a) die Herstellung eines Ereignisses im Bühnenformat, das von einer zentralen Fokusperson gesteuert wird, b) die exponierte Position dieser Person an einem speziellen Ort, der nur von ihr bedient wird, und c) die institutionelle Einbettung des Ereignisses in einen gottesdienstlichen Ablauf. Der Prediger wird als Fokusperson von ihm selbst und von den anwesenden Personen ko-konstruiert: Durch das Aufstehen und den Gang zum Predigtort markiert der Prediger sich selbst als Akteur. Hinzu kommt, dass er den Gang allein vollzieht. Parallel dazu konstruiert auch die Gemeinde den Prediger als Akteur und Fokusperson, indem sie sich auf ihn ausrichtet, denn trotz der scheinbar vorgezeichneten körperlichen Ausrichtung durch die interaktionsarchitektonischen Elemente bedarf es einer aktiven Orientierung der anwesenden Gemeinde auf den Prediger und vice versa. Die beiden Beispiele machen darüber hinaus deutlich, dass auch die Interaktion in einer Ordnung one-face-to-many-faces und damit innerhalb des neu etablierten Interaktionsraums mit der Herstellung potentieller wechselseitiger Wahrnehmung beginnt. Der Blickkontakt bzw. die Möglichkeit sich zu sehen ist dafür zentral. Der nachfolgende Auszug aus einem Jugendgottesdienst, in dem der Prediger Fragen und Rückversicherungen zur aktuellen Sehsituation produziert, macht die Relevanz der wechselseitigen Wahrnehmung mit besonderer Betonung der Wahrnehmung durch die Gemeinde deutlich. In diesem Beispiel zeichnet sich die Situation durch eine besondere Lichtsituation aus, da Scheinwerfer auf den Prediger gerichtet sind. Dies erhöht die Sichtbarkeit für die Gemeinde und bestärkt die Position des Predigers als Fokusperson, behindert jedoch den Kontakt des Predigers zu den anwesenden Personen, die er nicht bzw. nicht gut sieht.

figure ad

Nachdem der Prediger von einem Gottesdienstmitarbeiter mit einem kurzen Interview angekündigt und vorgestellt wurde, verlässt der Interviewer die Bühne (SO und jetzt verSCHWIND ich hier, Z.1–2) und übergibt sein Mikrophon an den Prediger. Dieser kommentiert den Abgang (Z.3) und befindet sich nun allein auf der Bühne. Während die Gemeinde kichert (Z.4), bewegt sich der Prediger zum Predigtort ( , Z.4) und richtet sich von einer schrägen Körperorientierung zu einer geraden Orientierung auf die Gemeinde aus ( , Z.4 und , Z.5). Im Anschluss daran formuliert der Prediger einen Metakommentar zu seiner aktuellen Wahrnehmungssituation (ich sEh euch leider NICH, Z.5) und der von ihm erwünschten Wahrnehmungssituation der Gemeinde (ich hoffe Ihr seht MICH, Z.6). Er expliziert seine subjektiven Sehverhältnisse dann nochmals, indem er scherzhaft erneut auf das Nicht-Erkennen verweist (WENN ich hier so ins publikum gucke, dann hab ich das bedürfnis mir ne SONnenbrille aufzusetzen, und sonst seid ihr alles irgendwie so_n bisschen unheimlich schwarzer HAUfen, Z.7–9). Der Prediger senkt schließlich seinen Kopf ( , Z.11) und verändert seine räumliche Position, indem er zum Predigtort geht ( , Z.12). Währenddessen hält er das Mikrophon in seiner rechten und eine Bibel in seiner linken Hand und beendet seine Kommentierung der Wahrnehmungssituation (ich hoffe ihr werft nicht mit STEInen oder so, Z.12). Dabei bleibt sein Kopf gesenkt ( , Z.12). Der Predigtort besteht hier aus einem bereits auf der Bühne stehenden Notenpult, das zuvor von einem der Musiker genutzt wurde. Der Predigtort ist damit nicht predigtexklusiv und wurde im Vorfeld nicht als zukünftiger Predigtort gekennzeichnet. Erst das Verrücken des Notenpults durch den Prediger etabliert dieses schließlich als Predigtort. Dieses Verrücken ist schon Teil der intrapersonellen Koordinierung, die auch das Ablegen des Predigtskripts auf dem Notenpult umfasst. Nachdem der Prediger kurz den Kopf hebt ( , Z.13), senkt er ihn wieder ab, während er das Thema des Wortbeitrags benennt (MITgerissen, , Z.14), um dann den Blick wieder zu heben und in seinen Ausführungen fortzufahren (tjA, , Z.14). Die intrapersonelle und auch interpersonelle Koordinierung ist damit abgeschlossen.

Durch den Gang zum Predigtort und die kurze Phase der intrapersonellen Koordination ist der Beginn des Wortbeitrags deutlich abgesetzt von der Kommentierung der Wahrnehmungssituation, die hier zu einem Teil der interpersonellen Koordinierung wird und der Etablierung des Predigers als Fokusperson dient und, anders als im vorherigen Beispiel, der intrapersonellen Koordinierung vorgelagert ist. Obwohl der Prediger also nach eigenen Angaben die Anwesenden nicht optimal sieht, vollzieht er die bereits beschriebenen Handlungen der visuellen Eröffnung. Dass er aber sowohl auf seine eigene Wahrnehmungssituation als auch auf die der Anwesenden eingeht, zeigt, dass das Sehen der am Predigtereignis beteiligten Personen konstitutiv ist und im Idealfall wechselseitig gegeben sein sollte. Gleichzeitig legen jedoch sowohl die Interaktionsarchitektur als auch die in diesem Beispiel produzierten Metakommentare die präferierten Wahrnehmungsrichtungen offen: Für die Gemeinde geht es darum, den Prediger als Fokusperson adäquat sehen und hören zu können. Dies bedeutet auch, dass es nicht primär darum geht, die anderen Gemeindemitglieder zu sehen. So sind die Bänke oder Stühle auf das ‚Vorne‘ ausgerichtet, an dem sich der zukünftige und meist erhöhte Predigtort befinden wird (siehe Kapitel 14). Dadurch ergibt sich für die Gemeinde untereinander eine face-to-back bzw. eine side-by-side Ausrichtung. Für den Prediger ist es wiederum wichtiger gesehen zu werden, als selbst zu sehen. Und so wird die Predigt in dem hier gezeigten Auszug trotz der vorfindlichen Situation etabliert und der Wortbeitrag eröffnet. Zur Sicherung des Sehens und Hörens führen einige der Prediger unterschiedliche Formen des „Adressatenmonitoring“ (Stukenbrock 2016:101) durch. Dies kann in Form eines „Kontrollblick[s] zur Wahrnehmungswahrnehmung“ (Stukenbrock 2016:103) erfolgen, d. h. eine Blickorientierung auf die übrigen Anwesenden, um deren „visuelle Orientierung bzw. die Wahrnehmung des Adressaten zu überprüfen“ (Stukenbrock 2016:101) oder, wie im gezeigten Beispiel deutlich wurde, durch einen Metakommentar. In einigen wenigen Fällen formulierten die Prediger explizite Fragen dazu, ob sie zu sehen und/oder zu hören sind. Neben der visuellen Wahrnehmung wurde so auch die akustische Wahrnehmung in einigen wenigen Fällen zur Disposition gestellt. Erst wenn die Wahrnehmung und die Aufmerksamkeit der Gemeinde gewährleistet sind, beginnt der Prediger den Wortbeitrag.

Welche Bedeutung die Fokussierung und Ausrichtung auf den Prediger für das Zustandekommen des Wortbeitrags haben, zeigen auch die nachfolgenden Beispiele, in denen die visuelle Koordinierung und Fokussierung aufgrund räumlicher Gegebenheiten bzw. durch Störungen im Gottesdienstablauf behindert bzw. unterbrochen werden. Im ersten Beispiel aus einem Jugendgottesdienst wird der Prediger während des Gangs zum Predigtort von einem Gottesdienstmitarbeiter aufgehalten und darüber informiert, dass vor der Kirche einige Autos falsch geparkt wurden. Der Prediger gibt dem Mitarbeiter daraufhin das interaktive Recht, die Kennzeichen der Autos vorzulesen. In der Gemeinde setzt amüsiertes Lachen ein und die betreffenden Personen verlassen den Raum, um ihre Autos umzuparken. Währenddessen setzt der Prediger seinen Gang zum Predigtort fort und nimmt seinen Platz auf der Kanzel ein. Der Prediger selbst ist auf der Kanzel für die Gemeinde visuell und durch sein Mikrophon auch akustisch wahrnehmbar, denn er kommentiert von der erhöhten Position aus immer wieder das Geschehen und verweist sogar kurz auf das eigentlich geplante Ereignis („Das ist noch nicht die Predigt Leute“, nicht im Transkript). In dieser konkreten Situation ist der Prediger jedoch nicht die Fokusperson. Als Konsequenz daraus muss er das Rederecht, das er an den Mitarbeiter abgegeben hat, aktiv wieder zurückerlangen und die Fokussierung auf sich, oben auf der Kanzel, herstellen (der Videoausschnitt beginnt in Zeile 9 des Transkripts).

figure anfigure an
figure ao

Der übliche Ablauf des Gottesdienstes sieht vor, dass nach dem Anspiel die Predigt folgt. In diesem Auszug wird die ritualisierte Gottesdienstabfolge und damit auch der Vollzug der Predigtetablierung jedoch gestört. Aufgrund der Unterbrechung des Gangs zum Predigtort, dem damit verbundenen Übergang des Rederechts auf den Gottesdienstmitarbeiter, der Verlagerung des Fokus vom Prediger auf den Mitarbeiter und die einsetzende Bewegung in der Gemeinde durch die Personen, die den Raum verlassen, kann die Etablierung der visuellen Fokussierung und damit die typische Herstellung des Predigtereignisses nicht durchgeführt werden. Der Prediger muss in der Folge auch verbale und vokale Ressourcen einsetzen und einen erhöhten kommunikativen Aufwand in Kauf nehmen, um die Rolle der Fokusperson für sich zu reklamieren. Zunächst kommentiert der Prediger, bereits auf der Kanzel stehend, das Geschehen und beginnt während des Vorlesens der Autokennzeichen zu Lachen (ab Z.2). Dadurch aligniert er sich mit dem Lachen der Gemeinde. Der Gottesdienstmitarbeiter beendet schließlich seinen Redebeitrag nach einer kurzen Pause, in der der Prediger weiter lacht, mit einem Dank (ich bedAnke mich für die AUFmerksamkeit, Z.6), mit dem er gleichzeitig das Rederecht wieder abgibt. Zusätzlich kontextualisiert wird dies dadurch, dass er sein Mikrophon zur Seite legt und den Altarraum verlässt. Der Prediger kann nun die Etablierung der Predigt und die Selbstmarkierung als Fokusperson wieder aufnehmen. Dazu muss er im Kirchenraum für Ruhe sorgen. Zunächst bleibt der Prediger aber in der Modalität der scherzhaften und ironischen Kommentierung der Unterbrechung und des Mitarbeiters, die er lächelnd und schließlich lachend spricht (ihr sEht (.) ihr SEHT; der MIcha kann es nicht ertragen mal beim Anspiel nicht verwUrstet zu WERden(--) er will immer <  < kichert > dabEI sein > , Z.12–14). Diesen Metakommentar, der auf die interaktive Vorgeschichte der Beteiligten verweist, erweitert er, indem er auch die Unruhe in der Kirche durch die aufstehenden Autofahrer kommentiert. Dazu adressiert er einen der Genannten explizit (wenn ihr eure autos eInsortiert habt kommt_ə einfach WIEder <  < kicherndes lachen > ne JÜRgen, Z.16–17). In der darauffolgenden fünfsekündigen Pause schaut der Prediger zunächst lächelnd in die Richtung der anwesenden Personen (Sek. 0,1–3, Zeile18), bevor er den Kopf senkt ( , Sek. 3, Zeile 18) und auf sein Manuskript schaut. Dabei stützt er sich mit beiden Händen auf dem Kanzelrand ab und lehnt seinen Oberkörper noch weiter nach vorn ( Sek.3, Zeile 18). Der Prediger geht dabei in eine kurze Phase der intrapersonellen Koordinierung über und wechselt zudem die Modalität, indem er visuell wahrnehmbar zu einer ernsteren Mimik übergeht. Nach dem Einatmen hebt der Prediger den Kopf wieder an ( , Z.20), blickt in die Gemeinde und produziert ein weiteres „oKAY“ (Z.20). Dabei richtet er seinen Oberkörper wieder auf ( , Z.20). Auffällig ist, dass er während der folgenden expliziten Fokussierungsaufforderung (leiht mir eure OHRN, Z.21) mit seinem Oberkörper in die gerade Ausgangsposition zurückkehrt ( und , Zeile 21) und den Blick erneut nach unten senkt ( , Zeile 21). Dabei bewegt er sein Predigtskript. Diese de-fokussierte Haltung behält er ca. drei Sekunden lang bei, bevor er den Kopf wieder hebt ( , Sek. 4,4, Z.21) und mit einem kurzen Lächeln auf ein nochmaliges Kichern aus der Gemeinde reagiert. Trotz dieses Lächelns wechselt der Prediger deutlich von einer scherzhaften in eine ernste Modalität und markiert dadurch nochmals, dass nun der Fokus nicht mehr auf der Lösung des Problems ‚Falschparken‘ liegt, sondern wieder die Bearbeitung des Predigtereignisses im Mittelpunkt steht.

Das Beispiel macht deutlich, dass die verbale Eröffnung des Wortbeitrags (ich weiß nich ob ihr den letzten satz der maria noch im OHR habt, Z.23) erst nach einem Diskursmarker (Z.20), einer expliziten Fokussierungsaufforderung (Z.21), zwei Phasen der intrapersonellen Koordination (Z.18 und Z.21) und einem deutlichen Moment der interpersonellen Koordination (Z.21), in dem der Prediger auf die Gemeinde ‚wartet‘, realisiert wird. Der Diskursmarker ‚okay‘ und die explizite Fokussierungsaufforderung dienen dabei der Strukturierung und Gliederung der Situation, indem gleichzeitig die vorherige Aktivität abgeschlossen und der Beginn einer neuen Aktivität anzeigt wird. ‚Okay‘ hat damit sowohl einen retrospektiven als auch projektiven Verweischarakter. Dies macht nochmals deutlich, dass die Fokussierung, die Ausrichtung auf den Prediger und die Wahrnehmung konstitutive Merkmale und notwendige Bedingungen sind, damit der Aktivitätstyps des Wortbeitrags eröffnet werden kann.

Im nächsten Beispiel ist es im Gegensatz dazu keine Störung im Ablauf, sondern die räumliche Situation, die für den Prediger schwierig zu bearbeiten ist, da die Gemeinde nicht wie bei klassischen Bühnenformaten auf den Prediger ausgerichtet ist, sondern im gesamten Raum und um den Prediger herum verteilt sitzt. Die Punkte in Abbildung 15.9Footnote 7 markieren grob die Positionen, an denen sich die Anwesenden während der Predigt befinden, das Kreuz markiert die Position des Predigers. Seine primäre Ausrichtung auf die Personen, die auf den Bänken sitzen, verändert der Prediger jedoch im Verlauf des Wortbeitrags immer wieder, indem er sich dreht und sich so auch den Personen neben und hinter ihm körperlich zuwendet. Dennoch verlässt er den Predigtort während seines Wortbeitrags nicht.

Abb. 15.9
figure 9

Skizze Kirchenraum

Zudem ist der Raum relativ dunkel gehalten. Die Kirche selbst wird auch für nicht-gottesdienstliche kulturelle Veranstaltungen genutzt. Der Altar ist noch vorhanden, außerdem ein Kreuz und einige Kirchenbänke. Das Kirchenschiff ist darüber hinaus nahezu leer. Zum Zweck des Gottesdienstes wurde im vorderen Drittel eine kleine Bühne aufgebaut. Die Predigt ist eingebettet in einen Lobpreisgottesdienst, bei dem mehrere Bands der Stadt aus unterschiedlichen Kirchgemeinden und Konfessionen nacheinander Anbetungslieder spielen und die anwesenden Personen zum Singen und Beten einladen. Nachdem die ersten Bands gespielt und die Bühne verlassen haben, entsteht eine Pause, in der die Anwesenden im Raum herumlaufen, sich etwas zu essen und zu trinken holen und sich unterhalten. Die Gemeinde sitzt z. T. auf den noch vorhandenen Bänken und z. T. auf dem Boden auf Sitzkissen oder an die Säulen des Kirchenschiffs gelehnt. Andere Personen stehen an Stehtischen. Parallel dazu wird Musik vom Band abgespielt. In dieser Situation der allgemeinen Bewegung und Unruhe vollzieht der Prediger den Gang zum Predigtort. Damit unterscheidet sich dieser bereits deutlich von den bisher gezeigten und bildet eine Ausnahme in dem hier untersuchten Korpus, denn der Prediger ist während seines Gangs zwar potentiell für die Anwesenden sicht- und also wahrnehmbar, allerdings verlagern die parallelen Aktivitäten den Fokus auf andere Dinge. Auch das führt in der Folge dazu, dass der Prediger seine Rolle als Fokusperson explizit und unter größerem kommunikativem Aufwand herstellen muss. Es folgt eine relativ lange Phase der intrapersonellen Koordinierung und der Ausrichtung des Predigers am Ort, in der er sein Mikrophon richtet und ein Mitarbeiter ein Notenpult von der Bühne holt und vor ihn stellt. Damit ist der Predigtort aufgebaut und der Prediger kann sein Skript auf dem Notenpult arrangieren. Vom Gang zum Predigtort bis zum ersten Blick in die Gemeinde vergehen ca. 75 Sekunden. In dieser Zeit ist der Prediger potentiell für die Anwesenden sichtbar und bereits exponiert, die Fokussierung ist aufgrund der räumlichen und situativen Bedingungen aber noch nicht hergestellt. Die erste verbale Fokussierungsaufforderung und die Übernahme des Rederechts unternimmt der Prediger im Anschluss an die intrapersonelle Koordinierung. Der nachfolgende Transkriptauszug zeigt die erste Phase der Fokussierung, die als Prä-Sequenz dem Wortbeitrag vorausgeht. Sie etabliert jedoch die Rolle des Predigers als Fokusperson und verweist auf den zeitnahen Beginn der Predigt.

figure ax

Auffällig sind in diesem Beispiel die zwei Diskursmarker „so“ (Z.1) und „okAY“ (Z.2) sowie die Adressierung der Anwesenden (ihr LIEben, Z.2), mit denen der Prediger das Rederecht beansprucht und ergreift. Unterstützend wirkt bei dieser ersten Fokussierungsaufforderung die Verstärkung seiner Rede durch das Mikrophon. Deutlich wird darüber hinaus, dass es sich bei dieser Turn-Übernahme noch nicht um den Beginn des Wortbeitrags handelt. Die Aufforderung, die Bibel herauszunehmen (falls jemand von EUCH:: eine heilige SCHRIFT mithat kann er die VORholen, Z.3–5), dient vielmehr als Vorbereitung und steht sequenziell als Pre-Opening vor dem Wortbeitrag. In der Folge lässt der Prediger Auszüge aus den für den Wortbeitrag relevanten Bibelstellen durch einige Anwesende verteilen, die er selbst auswählt (Z.8–17). Er geht daraufhin wieder zurück zum Predigtort und tritt in eine erneute Phase der intrapersonellen Koordination ein, in der er mehrere Male das Skript bewegt. Schließlich richtet er seinen Körper frontal zu den in den Bänken sitzenden Personen aus und konstruiert damit den Bereich seiner Fokussierung als primären Interaktionsraum mit den anwesenden Personen. Diese Phase dauert insgesamt ca. 50 Sekunden. Aus dieser Position heraus vollzieht der Prediger in der Folge mehrmals den visuellen Versuch einer interpersonellen Koordinierung und damit der Herstellung fokussierter Interaktion. Jedoch wird die Zuwendung des Körpers und des Blicks von den Anwesenden nicht in für den Prediger zufriedenstellender Weise erwidert und die Herstellung wechselseitiger Wahrnehmung scheitert. Dies ist auch durch die räumliche Situation bedingt, da nur die frontal vor dem Prediger befindlichen Anwesenden eine gute Sicht auf ihn haben, nicht aber diejenigen, die an den Seiten auf dem Boden Platz genommen haben oder stehen, und auch nicht diejenigen, die auf der anderen Seite der Bühne oder am Getränketisch stehen. Aufgrund der gescheiterten visuellen Fokussierung nutzt der Prediger schließlich verbale Mittel.

figure ay

Wie bei der ersten Fokussierungsaufforderung nutzt der Prediger den Diskursmarker „oKAY“ (Z.24), hier gefolgt von dem über vier Sekunden gezogenen stimmlosen postalveolaren Frikativ [ʃ] „sch“ (Z.25). Die anwesenden Personen interpretieren diese Praktiken als Kontextualisierungshinweise dafür ruhig zu werden, sich auf den Prediger auszurichten und ihn als Fokusperson zu bestätigen. Dadurch konstruieren sie den Beginn der Predigt mit. Es folgt eine dreisekündige Pause, während der sich der Prediger erneut kurz Richtung Notenständer wendet, bevor er zu einer frontal auf die Gemeinde ausgerichteten Position zurückkehrt. Danach realisiert er ein uneingeleitetes lautes Gebet (zu Formen des Gebets am Predigtbeginn Abschnitt 15.1.4) und damit die verbale Eröffnung der Predigt. Die Vorbereitung und Eröffnung des Predigtereignisses erstrecken sich in diesem Beispiel über acht Stadien:

  1. (1)

    Herstellung des Predigtortes, nicht beteiligte Personen verlassen den Predigtort

  2. (2)

    Intrapersonelle Koordination des Predigers am Predigtort

  3. (3)

    Körperliche Ausrichtung des Predigers auf einen Teil der Gemeinde

  4. (4)

    Pre-Opening der Predigt mit verbaler Fokussierungsaufforderung

  5. (5)

    Intrapersonelle Koordination des Predigers am Predigtort

  6. (6)

    Körperliche Ausrichtung des Predigers auf einen Teil der Gemeinde

  7. (7)

    Verbale Fokussierungsaufforderung mit interpersoneller Koordination

  8. (8)

    Gebet (verbale Eröffnung der Predigt)

Die Explizitheit der verbalen Fokussierungsaktivitäten richtet sich nach der lokalen und situativen Wahrnehmungssituation. In der Regel vollziehen sich die koordinativen und fokusherstellenden Handlungen des Predigers und der Gemeinde unmarkiert und unkommentiert mithilfe visueller Ressourcen, z. B. der Körperausrichtung und der Blickorientierung. Sie sind Teil des spezifischen Gattungswissens über die Predigt und deren Herstellung und Etablierung. Dass dieses Wissen mit Erwartungen über das Verhalten der anwesenden Personen verbunden ist, zeigen die Beispiele der expliziten Fokussierungsaufforderung. Erst wenn die beschriebenen Bedingungen (hergestellter neuer Interaktionsraum, wechselseitige Ausrichtung aufeinander und hergestellte Fokussierung und Wahrnehmung) gewährleistet sind und die Predigt visuell eröffnet ist, beginnt der Prediger mit der verbalen Eröffnung des Wortbeitrags. Die nachfolgenden Kapitel setzen sich nun mit unterschiedlichen Möglichkeiten auseinander, wie dies realisiert wird.

1.4 Kanzelgruß und Gebet

Wurde das Predigtereignis durch den Prediger und die Gemeinde visuell (und ggf. durch verbale Verfahren unterstützt) hergestellt, folgt die verbale Eröffnung. Diese kann durch unterschiedliche Praktiken realisiert werden und besteht – abhängig von Konfession, Anlass und Vorlieben des jeweiligen Predigers – aus mehr oder weniger ritualisierten Elementen. In der evangelischen Landeskirche ist der Ablauf in der Gottesdienstordnung festgeschrieben. Dieser besteht aus einem Kanzelgruß, der durch den Prediger gesprochen und durch die Gemeinde mit ‚Amen‘ erwidert wird, der Aufforderung zu einem stillen Gebet sowie der Lesung des der Predigt zugrundeliegenden Predigttextes (siehe Abbildung 13.1 in Kapitel 13). Diesem Ablauf folgt auch der Prediger im nachfolgenden Beispiel. Nachdem er den Gang zum Predigtort abgeschlossen hat, tritt er in die Phase der intra- und interpersonellen Koordinierung ein, als deren Ergebnis der neue Interaktionsraum aufgebaut ist. Der Prediger eröffnet daraufhin die Predigt verbal, indem er den liturgisch vorgegebenen Kanzelgruß (hier nach 1.Kor 1,3) spricht:

figure az

Der vom Prediger gesprochene ritualisierte Kanzelgruß (Z.2–4) wird sowohl durch ihn als auch von der Gemeinde mit einem „Amen“ (Z.5 und 6) abgeschlossen (siehe Abschnitt 17.4.1). Es folgt die Aufforderung zu einem stillen Gebet durch den Prediger (Z.7–8). Der Kanzelgruß ist ein ritualisiertes, jedoch fakultatives Element der Predigt, das innerhalb des untersuchten Korpus nur von Predigern im Kontext evangelischer und ökumenischer Gottesdienste realisiert wurde. In der Eröffnungsphase katholischer und freikirchlicher Predigten haben die Prediger keinen institutionell vorgegebenen und/oder idiosynkratisch ritualisierten Kanzelgruß gesprochen. Auch innerhalb evangelischer Predigten wurde der Kanzelgruß jedoch nicht von jedem Prediger und nicht zu jedem Anlass produziert. Zudem variierte der Text des Kanzelgrußes.

Auf den Kanzelgruß folgt im obigen Beispiel die Einladung und Aufforderung zu einem Gebet (Z.7–8). Tabelle 15.1 gibt einen Überblick über die verschiedenen Formen, in denen Gebete am Predigtbeginn realisiert wurden.

Tabelle 15.1 Übersicht Gebetsformen am Predigtbeginn

Die Prediger können das Gebet zum einen einleiten, d. h. ankündigen (z. B. wir wollen in der STILle um den sEgen seines wortes BITten, Z.7–8; 21 Mal im Korpus) oder auch uneingeleitet, d. h. ohne Ankündigung, direkt beginnen (3 Mal im Korpus). Das Gebet selbst kann dann still von jeder der anwesenden Personen für sich formuliert (12 Mal im Korpus) oder durch den Prediger laut für alle gesprochen werden (12 Mal im Korpus). Der Abschluss des Gebets kann wiederum laut durch den Prediger erfolgen (indem er ein ‚Amen‘ spricht oder noch eine kurze Gebetsformulierung anschließt; 15 Mal im Korpus) oder unmarkiert, indem der Prediger direkt mit der Lesung des Predigttextes oder dem Wortbeitrag beginnt (6 Mal im Korpus). Im oben gezeigten Auszug (Beispiel 7) ist die Aufforderung zum Gebet mit dem Hinweis darauf verbunden, wie das Gebet zu realisieren ist (in der STILle, Z.7), durch wen (wir, Z.7) und zu welchem Zweck (um den sEgen seines wortes BITten, Z.8). Den Abschluss des Gebets bildet der direkte Anschluss an die Lesung des Predigttextes. Es ist also ein eingeleitetes, stilles Gebet mit einem direkten Übergang zur Textlesung. Auf der visuellen Ebene wird mit dem Gebet ein eigener Interaktionsraum innerhalb des Predigtereignisses eröffnet und bildet damit eine eigene kommunikative Gattung, die innerhalb der kommunikativen Gattung der Predigt realisiert wird. Um dies zu verdeutlichen, zeigt das nachfolgende Transkript den obigen Auszug nochmals mit ISWA-Zeichen.

figure ba
figure bb

Nachdem der Interaktionsraum der Predigt aufgebaut wurde, eröffnet der Prediger das Ereignis verbal, indem er noch vor dem Beginn des Wortbeitrags zu einem stillen Gebet auffordert (Z.7–8). Er ist dabei körperlich auf die Gemeinde ausgerichtet und hat den Blick auf die anwesenden Personen orientiert ( , Z.7). Erst auf „BITten“ (Z.8) hebt er die face-to-face-Orientierung auf, indem er den Kopf senkt ( , Z.8), seinen Körper zum Altar wendet ( , Z.8) und so die Fokussierung aufhebt. Sowohl er als auch die Gemeinde sind auf den Altar ausgerichtet. Schließlich kniet sich der Prediger auf der Kanzel hin ( ) und legt seinen Kopf auf den Armen ab ( , Z.8), die auf dem Kanzelrand liegen. Er ist nun für die anwesenden Personen im Kirchenschiff optisch nicht mehr wahrnehmbar.Footnote 8 Diese visuelle De-Fokussierung (Abwenden des Körpers, Schließen der Augen, Rücknahme der Sichtbarkeit) bewirkt eine Veränderung der Beteiligungsstruktur, die das Gebet als eigene raum-zeitliche Einheit innerhalb des Predigtereignisses markiert und einen neuen Interaktionsraum eröffnet, der in dem gezeigten Auszug besonders deutlich sichtbar gemacht wird, da der Prediger seine gesamte Körperpositionierung verändert.Footnote 9 Zudem fordert der Prediger die anwesenden Personen dazu auf, die Interaktionsausrichtung zu ändern und in eine private, individuelle vertikale Interaktion mit Gott einzutreten. Die face-to-face-Situation wird aufgrund dessen auch von Seiten der Gemeinde aufgelöst. Nachdem der Prediger sein stilles Gebet beendet hat, hebt er den Kopf ( , Sek.17,1, Z.8), steht auf ( ), senkt dabei den Kopf aber unmittelbar wieder ab ( ), und wendet sich wieder der Gemeinde zu ( , Sek.22,1, Z.8). Er tritt damit aus dem Interaktionsraum des Gebets heraus und stellt den Interaktionsraum der Predigt mit der Ausrichtung one-face-to-many-faces wieder her. Diesen behält er während des gesamten weiteren Predigtereignisses bei. Nachdem er auch den Kopf und seinen Blick zurück auf die Gemeinde orientiert hat ( , Z.9), geht er in die Phase der verbalen Eröffnung über, indem er den Predigttext zunächst ankündigt und die Bibelstelle nennt, an der der Textauszug zu finden ist (den prEdigttext finden wir im MARkusevangelium im drItten kaPItel, Z.9 und 10). Diesen Text liest er im Anschluss daran laut vor (nicht im Transkript abgebildet) und schließt die Lesung mit einem Textsegen ab (siehe Abschnitt 15.1.5). Im Unterschied zu dem gezeigten angekündigten, leise realisierten Gebet mit direktem Übergang zur Textlesung, kündigt der Prediger im nachfolgenden Auszug das Gebet an, lässt Raum, damit jeder still ein individuelles Gebet sprechen kann, formuliert dann aber einen lauten Abschluss.

figure bm

Auch in diesem Auszug fordert der Predigt die Gemeinde zu einem stillen Gebet auf und begründet dies mit der Bitte um Segen für den nachfolgenden Wortbeitrag (ich lade euch EIN dass wir in STILle um den sEgen von Gottes wort !BE:!ten, Z.1–3). Es folgt die Gebetsstille der Anwesenden (Z.4). Im Gegensatz zu Beispiel 8 beendet der Prediger in diesem Fall das Gebet mit einem laut formulierten Abschluss (Z.5–8) und schließt mit einem „Amen“ (Z.9), das die Gemeinde ebenfalls mit „aMEN“ (Z.10) beantwortet (siehe Abschnitt 17.3.1). Nach einer zweisekündigen Pause beginnt der Prediger den Wortbeitrag (liebe schwEstern und BRÜder, Z.11).

Es wird bereits durch diese zwei Beispiele deutlich, dass der Prediger den Moment und die Dauer des Gebets bestimmt und koordiniert, um schließlich wieder in den Interaktionsraum der Predigt zurückzukehren und den Wortbeitrag zu realisieren. Hier wird neben der speziellen Interaktionsordnung des Predigtereignisses auch die rollenbedingte Autorität des Predigers deutlich. Dieser besitzt zum Zeitpunkt der Predigt nicht nur das Rederecht, sondern entscheidet auch über dessen Abgabe an die anwesenden Personen (siehe dazu auch Kapitel 17).

Neben eingeleiteten stillen Gebeten mit und ohne lautem Abschluss durch den Prediger, können Gebete auch eingeleitet und laut realisiert werden, wie der nachfolgende Auszug aus einem Jugendgottesdienst zeigt.

figure bnfigure bn

Mit der Formulierung „ich möchte BEten“ (Z.1) kündigt der Prediger nicht nur an, dass ein Gebet folgt, sondern auch, dass er selbst das Gebet sprechen wird und nicht jeder der Anwesenden individuell für sich in Stille. Nach dieser Ankündigung schließt der Prediger die Augen ( , Z.2) und senkt den Kopf leicht nach unten ( , Z.2). Sein Körper bleibt auf die Gemeinde ausgerichtet, und er hält sein Mikrophon weiterhin vor den Mund. Die andere Hand liegt sowohl während der Gebetsankündigung als auch während des Gebets auf dem Stehtisch, der in diesem Fall den Predigtort bildet.

Obwohl der Prediger einen neuen Interaktionsraum eröffnet (markiert durch das Schließen der Augen und das Absenken des Kopfes), bleibt er körperlich für die Gemeinde wahrnehmbar. Auch stimmlich zieht sich der Prediger nicht zurück, sondern bleibt akustisch präsent und behält das Rederecht. Es folgt das laut gesprochene Gebet (Z.2–16). Der Prediger schließt es mit „Amen“ ab (Z.17) und realisiert dann den Übergang vom Interaktionsraum des Gebetes zurück in den Interaktionsraum der Predigt (Z.17). Dazu öffnet er auf die letzte Silbe von „Amen“ seine Augen ( , Z.17), blickt zunächst nach unten auf sein Skript ( ), hebt dann seinen Kopf ( , Z.17) und blickt zu den anwesenden Personen, bevor er wieder zu sprechen beginnt und den individuellen Wortbeitrag startet (ab Z.18). Einleitungsformeln, d. h. ein expliziter Hinweis darauf, dass ein gemeinsames Gebet (still oder laut) erfolgen wird, hatten in dem untersuchten Korpus folgende Formulierungen: „Lasst uns in der Stille beten“, „Lasst uns in der Stille beten um den Segen aus Gottes Wort“, „Lasst uns in der Stille um den Segen seines Wortes bitten“, „Ich möchte beten“.

Eine vierte Möglichkeit das Gebet vor dem Wortbeitrag zu realisieren, ist das nicht angekündigte laute Gebet, das der Prediger direkt an die Phase der intrapersonellen Koordination anschließt. In diesen Fällen entfällt die Phase der expliziten interpersonellen Koordinierung. Die Predigt im nächsten Beispiel wird im Rahmen eines ökumenischen Sonntagsgottesdienstes gehalten, der in einer Messehalle stattfindet. Dazu wurde eine Bühne aufgebaut, in deren Zentrum ein transportables Rednerpult steht. Der Predigtort ist in diesem Fall nicht predigtexklusiv, sondern wurde bereits für andere Aktivitäten und durch andere Personen genutzt, z. B. für Moderationen, Textlesungen und auch durch eine Frau, die den Prediger mit Namen angekündigt hat (siehe Abschnitt 15.1.2). Der von ihr produzierte Metakommentar fungiert als Kontextualisierungshinweis, der u. a. auf die sich verändernde Partizipationsstruktur und Rederechtsverteilung des nachfolgenden Ereignisses hinweist. Erst nachdem diese Aktivitäten abgeschlossen sind, erhebt sich der Prediger von seinem Platz und vollzieht den Gang zum Predigtort in einem ruhigen, zügigen Stil und für die Gemeinde gut sichtbar, da die Bühne im Gegensatz zu den Stühlen der Anwesenden deutlich erhöht ist. Der nachfolgende Auszug beginnt mit der Ankunft des Predigers am Predigtort.

figure bt
figure bu

Sobald der Prediger den Predigtort erreicht hat, tritt er in die Phase der intrapersonellen Koordination ein. Der Kopf ist nach unten gerichtet ( , Z.1), der Prediger ruft das Skript auf seinem Tabletcomputer auf und richtet seinen Körper am Predigtort auf die anwesenden Personen aus ( , Z.1). Während der Etablierung des neuen Interaktionsraums ist der Prediger für die Anwesenden sichtbar, es besteht jedoch noch keine fokussierte Interaktion. Die wechselseitige Wahrnehmung ist angelegt, aber der Blickkontakt von Seiten des Predigers (noch) nicht hergestellt. Der weitere Verlauf des Ausschnitts zeigt, dass diese Fokussierung im Gegensatz zu den vorherigen Beispielen dann auch nicht visuell durch das Heben des Kopfes realisiert wird, denn der Prediger geht von seiner intrapersonellen Koordination direkt in ein lautes, nicht angekündigtes Gebet über (ab Z.2). Zuvor schließt er die Augen ( ), hebt den Kopf leicht nach oben und bringt ihn damit in eine gerade Position ( , Z.1 ab Sekunde 7). Im Laufe des Gebetes senkt sich der Kopf wieder leicht ab. Seine Körperorientierung bleibt dabei gerade auf die Gemeinde ausgerichtet. Nachdem er das Gebet mit „Amen.“ (Z.18) beendet hat, öffnet der Prediger die Augen ( , Z.18), senkt jedoch gleichzeitig den Kopf ( und , Z.18) und tritt erneut in eine sehr kurze Phase der intrapersonellen Koordinierung ein, in der er seine Brille absetzt und auf das Rednerpult legt. Im Anschluss daran hebt er den Kopf ( , Z.20), schaut in die Gemeinde und beginnt parallel dazu mit dem Wortbeitrag (ab. Z.20). Auch hier zeigt sich deutlich die Veränderung in der Interaktionsorientierung. Da der Prediger aber das Gebet laut für die gesamte Gemeinde spricht, ist der Interaktionsraum des Gebets nicht so stark vom Interaktionsraum der Predigt unterschieden. In diesem Beispiel, wie auch in den bisher gezeigten, haben die Prediger die Augen bei ihren Gebeten geschlossen. Allein diese ritualisierte Gebetshaltung markiert eine Veränderung der Wahrnehmung und verdeutlicht, dass innerhalb des zuvor visuell aufgerufenen und etablierten Interaktionsraums des Predigtereignisses ein weiterer, neuer Interaktionsraum eingelagert ist: der des Gebets. Neben der theologisch-religiösen Funktion des Gebetes als Gespräch mit Gott, nutzen die Prediger im untersuchten Korpus Gebete am Beginn der Predigt auch zu einer nochmaligen Fokussierung und Sammlung. Besonders deutlich wird das in Predigtsituationen, in denen die Fokussierung erschwert ist (siehe Beispiel 6).

Gebete können sowohl unmittelbar an die visuelle Eröffnung der Predigt anschließen als auch erst nach einem verbalen Vorlauf erfolgen. Dieser kann in Form eines ritualisierten Kanzelgrußes, oder einer bereits thematischen Einleitung realisiert werden. Das Gebet zu Beginn der Predigt ist jedoch fakultativ und wurde in 41 der untersuchten Predigten nicht gesprochen (siehe Tabelle 15.1) – darunter waren auch die aufgezeichneten katholischen sowie freikirchliche Predigten. Selbst in der evangelischen Landeskirche, in deren Gottesdienstordnung die Aufforderung zum Gebet formuliert und die sog. Gebetsstille als Elemente der Predigt aufgeführt ist, wurden diese nicht in allen Fällen realisiert.

1.5 Lesung des Predigttextes

Ein ebenfalls fakultatives Element der verbalen Eröffnung ist die biblische Schriftlesung, der sog. Predigttext. Dieser Text bildet in den meisten Fällen den zentralen Bezugspunkt des Wortbeitrags und kann aus einem einzelnen Bibeltext bestehen oder aus mehreren Auszügen, die im Laufe des Wortbeitrags aufeinander bezogen werden. Im nachfolgenden Auszug aus einem evangelischen Sonntagsgottesdienst wird ein Textauszug gemäß der Gottesdienstordnung (siehe Kapitel 13) nach dem Kanzelgruß und dem stillen Gebet gesprochen (Z.13–14).

figure cd

Nach dem Gang zum Predigtort und der Etablierung des Interaktionsraums (siehe Beispiel 1) eröffnet der Prediger den verbalen Teil der Predigt mit einem Kanzelgruß (siehe Beispiel 7). Die Gemeinde antwortet mit „Amen“ (nicht im Transkript), woraufhin der Prediger zum stillen Gebet auffordert (Z.7–8; siehe dazu auch Beispiel 8). Das Gebet wird durch den Prediger nicht explizit beendet. Vielmehr steigt er unmittelbar mit einer Ankündigung in die Textlesung ein, in der er benennt, in welchem Kapitel der Bibel der Predigttext zu finden ist (Z.10–11). Im Anschluss daran liest der Prediger die entsprechende Stelle laut vor (Z.12; nicht transkribiert). Abgeschlossen wird die Lesung durch einen Textsegen: „der HERR; sEgne an uns sein WORT.(-)Amen.“ (Z.13–15). Die Gemeinde antwortet mit „ <  < p > amen. > “ (Z.16). Die anwesenden Personen, die während dieser Aktivitäten standen, setzen sich nun hin (Z.17). Dies führt dazu, dass der aufgebaute Fokus noch einmal unterbrochen wird und der Prediger abwartet, bis sich die anwesenden Personen gesetzt haben. In dieser Zeit senkt auch er noch einmal den Kopf und richtet das an der Kanzel angebrachte Mikrophon. Der Prediger geht also nochmals in eine kurze Phase der intrapersonellen Koordinierung über, bevor er den Kopf wieder hebt und sich körperlich und blicklich auf die Gemeinde ausrichtet. Die bis zu diesem Zeitpunkt erfolgte Etablierung des Predigtereignisses durch die Herstellung des Interaktionsraums und die Ratifizierung des Predigers als Fokusperson wirkt trotz der Gebetsunterbrechung so stark, dass eine nochmalige explizite verbale Fokussierung nicht notwendig ist. So beginnt der Prediger unmittelbar mit dem Wortbeitrag, sobald er sieht, dass die Gemeinde sitzt (ab Z.18).

In dem untersuchten Korpus wurden insgesamt vier Möglichkeiten erkennbar, zu welchem Zeitpunkt die Textlesung realisiert werden kann: a) noch vor dem eigentlichen Ereignis, d. h. bevor der Interaktionsraum der Predigt aufgebaut wurde (in diesen Fällen wird die Lesung meist durch eine dritte Person realisiert und der Prediger verweist zu Beginn des Wortbeitrags darauf, dass der Text bereits gelesen und gehört wurde), b) zu Beginn des verbalen Teils der Predigt (vor oder nach dem Gebet), c) nach einem alternativen verbalen Vorlauf, wie z. B. Metakommentaren zum Gottesdienst, oder d) in der Mitte des Wortbeitrags (der Predigttext ist in diesen Fällen bereits Teil des Wortbeitrags und nicht diesem vorgelagert). Welche dieser Varianten genutzt wird, hängt u. a. auch davon ab, ob dem Wortbeitrag ein einzelner Text zugrunde liegt, oder ob mehrere thematisch passende Bibelstellen zum Beleg der getätigten Aussagen herangezogen werden.

Die Auszüge aus unterschiedlichen Predigten haben gezeigt, dass der Aktivitätstyp der Eröffnung des Predigtereignisses in zwei Phasen verläuft: Die visuelle Eröffnung mit den Handlungen des Gangs zum Predigtort, der intra- und interpersonellen Koordinierung der Prediger und der Gemeinde sowie der Fokussierung zwischen dem Prediger und den anwesenden Personen, und die Phase der verbalen Eröffnung, die mehr oder weniger stark ritualisierte Elemente (Grußformeln, Gebete, individuelle Erzählungen, Lesung des Bibeltextes) enthalten kann (siehe Abschnitt 15.3). Dies zeigt, dass die Prediger unterschiedliche multimodale Handlungen ausführen, um die Predigt verbal zu eröffnen und damit auf den Aktivitätstyp des Wortbeitrags hinzuführen. Die Praktiken der verbalen Eröffnung sind im Gegensatz zu den meisten Praktiken der visuellen Eröffnung fakultativ. Ähnlich verhält es sich bei der Predigtbeendigung, wie die nachfolgenden Kapitel zeigen.

2 Beendigung der Predigt

Betrachtet man die Predigt als eigenständige raum-zeitliche Einheit innerhalb des gottesdienstlichen Kontextes, stellt sich nicht nur die Frage nach dem Beginn der Predigt und der Transition von Interaktionsräumen zur Eröffnung des Interaktionsereignisses, sondern auch die Frage nach dem Ende der Predigt und dem Übergang zu den der Predigt nachfolgenden Ereignissen innerhalb des Gottesdienstes. Aus theologischer Perspektive scheint eine Antwort vermeintlich leicht: „Wo der Predigtschluss endet, ist einfach zu bestimmen. In der Regel hören die Predigten mit dem ‚Amen‘ der predigenden Person auf“ (Stebler 2006:180). Und auch Werlen vermerkt in seiner Untersuchung zum Ritualcharakter katholischer Gottesdienste: „Das Ende der Predigt wird durchwegs mit Amen gekennzeichnet“ (Werlen 1984:172; Hervorhebung im Original). Sowohl Stebler als auch Werlen unterscheiden jedoch nicht zwischen Predigt und Wortbeitrag. Tut man dies aber, so wird deutlich, dass auch das Ende einer Predigt ein komplexer Prozess ist, der sich über mehrere verbale und visuelle Phasen erstreckt und sich dabei in Bezug auf die verwendeten kommunikativen Ressourcen komplementär zum Predigtbeginn vollzieht: Zunächst erfolgt der verbale Abschluss, der unterteilt werden kann in die Beendigung des Wortbeitrags und in die Beendigung des verbalen Teils der Predigt insgesamt (Abschnitt 15.2.1). Im Anschluss daran erfolgt der visuelle Abschluss. Dabei wird die aktuelle fokussierte Interaktion aufgehoben ( De-Fokussierung), der existierende Interaktionsraum aufgelöst (Abschnitt 15.2.2) und schließlich der Predigtort verlassen (Abschnitt 15.2.3). Ähnlich wie beim Predigtbeginn können die einzelnen Phasen der Beendigung unterschiedlich stark ausgebaut sein.

2.1 Amen, Kanzelsegen und Gebet

Das „rituelle Signalwort“ (Walti 2016:257) ‚Amen‘ ist prototypisch sowohl eine „explizite Markierung des Gebetsschlusses“ (Walti 2016:256) als auch die prägnanteste Beendigungsmarkierung des verbalen Teils christlicher Predigten. Eine zentrale Rolle für die Konstruktion der Predigt als komplexem Interaktionsereignis und kommunikativer Gattung spielt dabei, dass es eine Beendigungsmarkierung ‚innerhalb‘ von Predigten und nicht zwingend auch ‚der‘ Predigt ist. Anders als dies in der theologischen Literatur zum Ausdruck kommt (vgl. Stebler 2006:180), kann die Formel ‚Amen‘ an unterschiedlichen Stellen innerhalb der Predigtbeendigung realisiert werden und sowohl den Abschluss des Wortbeitrags als auch das Ende des verbal realisierten Predigtteils bilden. In der ‚klassischen‘ Form fällt das Ende des Wortbeitrags mit dem Ende des verbalen Predigtteils zusammen und wird durch eine ‚Amen‘-Paarsequenz (siehe Abschnitt 17.4.1) final markiert. Der nachfolgende Predigtauszug aus einem evangelischen Sonntagsgottesdienst verdeutlicht diese Konstellation.

figure ce

Nachdem der Prediger den Wortbeitrag beendet hat, schließt er diesen mit „Amen“ (Z.4) ab, woraufhin die Gemeinde ebenfalls mit „Amen“ (Z.5) antwortet. Es entsteht eine rituelle Sequenzstruktur, bestehend aus einer Paarsequenz, bei der der Prediger den ersten Paarteil und die Gemeinde den zweiten Paarteil produziert (siehe Abschnitt 17.4.1). Im Anschluss daran geht der Prediger in die Phase der visuellen Beendigung über (siehe Abschnitt 15.2.2) und verlässt schließlich den Predigtort. Das Ende des Wortbeitrags ist hier gleichzeitig das Ende des verbal realisierten Predigtteils (siehe Abschnitt 15.3).

Der expliziten Beendigungsmarkierung geht in diesem Beispiel die Eröffnung der Beendigung voraus, die auf der Ebene der Intonation kontextualisiert wird. Nach zunächst einer Intonationsphrase mit halbfallender Intonation von einer Frequenz von 166,5 Hz auf 139,3 Hz (GOTT, Z.1), und einer Intonationsphrase mit fallender Intonation von einer Frequenz von 142,9 Hz auf 114,5 Hz (LEBT, Z.2, und ich wÜnsch uns dass wir das entDEcken, Z.3), wird das „Amen“ mit fallender Intonation auf einem niedrigen Frequenzniveau realisiert. Die Frequenz sinkt dabei von 116,5 Hz auf 95,57 Hz. Der Prediger spricht das ‚Amen‘ zudem leiser. Er beginnt in der Aufnahme mit einer Lautstärke von 66,74dB und endet bei 62,84dB. Im Gegensatz dazu liegt die Lautstärke bei 77dB auf dem Wort „GOTT“ und 73dB bei dem Wort „LEBT“.

Dieses Muster zeigt sich auch in anderen Wortbeiträgen. Die Prediger sprechen das abschließende ‚Amen‘ leiser als den Rest ihres Wortbeitrags. Innerhalb der Gattungsfamilie der (öffentlichen) Rede ist die Paarsequenz mit ‚Amen‘ für die Gattung der christlichen Predigt zudem ein spezifisches, aber kein obligatorisches (Beendigungs)Element. So zeigt z. B. der Auszug aus einem katholischen Sonntagsgottesdienst (siehe Abschnitt 15.2.2, Beispiel 19), dass auch ein verbal unmarkierter Abschluss möglich ist, bei dem allein körperliche Ressourcen das Ende des Wortbeitrags und der Predigt erkennbar werden lassen. Nichtsdestotrotz lässt sich bereits jetzt die auch theologisch relevante Frage näher betrachten, „wo der Anfang des Predigtschlusses liegt“ (Stebler 2006:180). Konkreter müsste formuliert werden: Wo der Anfang des Wortbeitragsschlusses und/oder des verbalen Predigtteils markiert wird. Stebler formuliert weiter: „Es ist eine Ermessensfrage, wie viel Kontext nach vorne neben dem allerletzten Satz zum Predigtschluss gerechnet werden soll“ (Stebler 2006:180). Diese Aussage kann nun mithilfe der Analyse natürlicher Predigten und anhand der vorkommenden Kontextualisierungshinweise konkretisiert werden. Aus sequenzieller Sicht werden die Lautstärke, der Intonationsverlauf und z. T. die Rhythmisierung durch die Pausengestaltung als Kontextualisierungshinweise erkennbar, die das Ende des Wortbeitrags ankündigen. Dass der Abschluss des Wortbeitrags jedoch nicht zwingend auch der Abschluss des verbal realisierten Predigtteils sein muss, verdeutlicht das nachfolgende Beispiel aus einem evangelisch-lutherischen Sonntagsgottesdienst.

figure cf

Der Prediger schließt seinen Wortbeitrag mit „Amen“ (Z.12) auf einem Frequenzniveau von 105 Hz ab, das damit bereits tiefer gesprochen wird als „in unserer mItte entDEcken“ (Z.11), das am Ende bei einer Frequenz von 119,4 Hz liegt. Die Gemeinde antwortet ebenfalls mit „Amen“ (Z.19). Der Prediger übernimmt im Anschluss daran erneut das Rederecht und produziert den sog. Kanzelsegen (und der frIede GOTtes; der grÖßer ist als aLle verNUNFT bewAhre unsere HERzen und sinne IN jesus christus, nach Philipper 4,7; Z.14–17). Dieser wird, wie der Abschluss des Wortbeitrags, zunächst vom Prediger und schließlich von der Gemeinde mit „Amen“ beendet (Z.18 und 19). Der Prediger realisiert dieses zweite ‚Amen‘ auf einem Frequenzniveau von 102 Hz. Es ist damit nochmals ein wenig stärker mit fallender Intonation gesprochen als das Erste. Zusätzlich zu der liturgisch-institutionellen Verankerung des Kanzelsegens als Teil der Predigt (siehe Abbildung 13.1 in Kapitel 13), wird durch die Wiederaufnahme des Rederechts durch den Prediger, die unveränderte Interaktionsordnung und den gleichbleibenden Interaktionsraum situativ-lokal kontextualisiert, dass zwar der Wortbeitrag, nicht aber die Predigt beendet ist. In diesem Auszug ist die Zweiteilung der Beendigung besonders deutlich ausgebaut: Zuerst wird der Wortbeitrag, anschließend der gesamte verbale Teil der Predigt abgeschlossen. Dies geschieht in beiden Fällen jeweils durch eine Amen-Paarsequenz. Der Wortbeitrag wird durch den Prediger somit als Aktivitätstyp der Predigt etabliert, der gleichzeitig aber nur ein Teil des gesamten Predigtereignisses ist (siehe Kapitel 9 und Abschnitt 15.3). Im nächsten Beispiel ist die Teilung zwischen Wortbeitrag und verbaler Beendigung bereits weniger deutlich erkennbar, da der Prediger kein ‚Amen‘ zur Beendigung des Wortbeitrags produziert, sondern nach einer zweisekündigen Pause direkt das Segensvotum spricht.

figure cg

Auch in diesem Beispiel wird das Ende des Wortbeitrags durch die fallende Intonation und die Phrasierung angezeigt. Zudem verlangsamt der Prediger das Sprechtempo und betont rhythmisch das letzte Wort der jeweiligen TCU. Dass es sich nicht nur um den Abschluss eines bestimmten inhaltlichen Gedankens handelt, sondern tatsächlich um die Beendigung des Wortbeitrags, zeigt der weitere Verlauf, denn der Prediger schließt an die zwei Sekunden dauernde Pause ein Segenswort an (dIeses wort (.) !SE!gne der herr an UNS, Z.505–506). Erst diesen Kanzelsegen schließt der Prediger mit einem „Amen“ (Z.507), auf das die Gemeinde ebenfalls mit „Amen“ (Z.508) antwortet. Das „Amen“ (Z.507) fällt in der Tonhöhe dabei sehr stark von 136,5 Hz auf 93,7 Hz ab und endet damit im Vergleich zu dem zuvor Geäußerten nochmals tief, denn „an UNS“ (Z.506) endet bei 97,7 Hz. Die Beendigung des Wortbeitrags wird hier durch vokale Elemente (Lautstärke, Pausengestaltung, Rhythmus) kontextualisiert und nicht zuerst durch verbale Elemente. Der Abschluss des verbalen Teils der Predigt wird dann verbal-lexikalisch durch „Amen“ markiert.

Eine weitere Variante der verbalen Beendigung ist das durch den Prediger laut gesprochene Gebet. Wie Predigten mit einem Gebet verbal eröffnet werden können (siehe Abschnitt 15.2.1), so können sie auch mit einem angekündigten oder unangekündigten Gebet beendet werden. Das nachfolgende Beispiel aus einer freien Gemeinde zeigt den Übergang zwischen Wortbeitrag, Gebet und der visuellen Beendigung.

figure ch
figure ci

Dieses Beispiel macht erneut deutlich, dass der individuelle Wortbeitrag nicht obligatorisch durch ein ‚Amen‘ bzw. durch eine Amen-Sequenz beendet wird, denn der Prediger wechselt zum Abschluss des verbalen Predigtteils in die kommunikative Gattung des laut gesprochenen und angekündigten Gebets. Der Prediger formuliert nach einer Zusammenfassung der von ihm im Wortbeitrag geäußerten Gedanken zum Predigtthema eine Gebetsankündigung (ich will gern noch dafür BEten, Z.15), die nicht nur auf einen Wechsel des Interaktionsraums (vom Wortbeitrag zum Gebet), sondern auch auf das Ende des Wortbeitrags verweist. Der Metakommentar hat also nicht nur die sequenzielle Funktion eines ‚pre-closing‘, das die Beendigung der Gattung initiiert (vgl. zu pre-closings Schegloff/Sacks 1973:303), sondern verweist als Strukturierungselement auf eine zukünftig auszuführende Gattung und benennt diese. Dieser Ankündigung folgt jedoch nicht unmittelbar das Gebet, denn der Prediger formuliert einen längeren Einschub, der die Handlungsoptionen der anwesenden Personen im Anschluss an die Predigt thematisiert (Z.16–31; siehe Abschnitt 16.6). In dieser Zeit nimmt er mit seinen Händen die zukünftige Gebetsposition ein, indem er sie ineinanderlegt ( , Z.30). Erst auf den Satz „das WÜNSCH ich mir“ (Z.31) schließt der Prediger seine Augen ( ), senkt seinen Kopf nach unten ( ) und spricht nach einer längeren Pause (Z.31) das Gebet (ab Z.32). Ohne einen nochmaligen verbalen Verweis wird dieses Gebet allein anhand visueller und vokaler Kontextualisierungshinweise erkennbar. In der folgenden Pause wendet der Prediger seinen Körper von der Gemeinde ab ( , Z.32) und beginnt hin und her zu gehen. Dabei bleiben die Hände zusammengelegt. Der Prediger hebt damit die blickliche Fokussierung mit den übrigen Anwesenden auf, behält jedoch aufgrund der Gebetsankündigung das Rederecht.

In dieser Predigt ist darüber hinaus nicht nur das Gebet ein Hinweis auf das Ende, sondern auch die leise einsetzende Musik während des Übergangs zwischen Wortbeitrag und Gebet. In dieser Gemeinde ist es üblich, dass kurz vor dem Ende des Wortbeitrags die Musiker wieder nach vorn auf die Bühne kommen und parallel zu den letzten Ausführungen des Predigers leise begleitend auf ihren Instrumenten spielen. Dazu betritt ein Gitarrist den Ort, von dem aus schon im Verlauf des Gottesdienstes eine kleine Band gespielt hat. Dieser befindet sich links neben dem Predigtort.

Der Prediger beendet das Gebet schließlich mit „aMEN“ (Z.54), das an dieser Stelle eine doppelte interaktive Funktion hat, denn es markiert sowohl den verbalen Abschluss des Gebets als auch des verbalen Teils der Predigt. Der Prediger geht dann in die Phase der visuellen Beendigung über, indem er parallel zum wieder Einsetzen des Musikers die De-Fokussierung und intra- und interpersonelle Koordinierung realisiert und schließlich den Predigtort verlässt (siehe Abschnitt 15.2.2 und 15.2.3).

Es zeigt sich hier erneut, dass es sich bei der Predigt um eine komplexe kommunikative Gattung handelt, bei deren Ausführung die Prediger die Möglichkeit haben weitere Gattungen zu integrieren, z. B. Gebete. Anders als bei Gebeten zu Beginn einer Predigt stellen Prediger nach Gebeten am Ende des Wortbeitrags den blicklichen Fokus meist nicht wieder her. Damit wird die blickliche Abwendung zu einem weiteren pre-closing, das auf den Abschluss der Predigt verweist. Die Beendigung des verbalen Predigtteils zeigt sich in diesem Beispiel also anhand unterschiedlicher Kontextualisierungen: a) der verbalen Ankündigung eines Gebets, b) des visuellen Übergangs in das Gebet mit der Abwendung des Blicks, c) der verbalen Durchführung des Gebets und d) die das unmittelbar bevorstehende Ende ankündigende leise Musik parallel zu den Schlussbemerkungen des Predigers. Gebete am Ende eines Wortbeitrags können jedoch nicht nur eingeleitet, sondern auch uneingeleitet erfolgen. Dabei geht der Prediger vom Wortbeitrag direkt in ein lautes Gebet über, wie der nachfolgende Auszug aus einem Jugendgottesdienst zeigt.

figure cn

In diesem Auszug vollzieht der Prediger einen unmittelbaren Übergang zwischen Wortbeitrag und Gebet. Der direkte Anschluss erfolgt nach einer einsekündigen Pause (Z.5) und wird vor allem visuell kontextualisiert. Der Prediger verharrt in seiner Ausrichtung auf die Gemeinde, bevor er während eines Einatmens die Augen schließt ( , Z.6) und auf „JEsus“ (Z.6) die Fingerspitzen seiner Hände aneinanderlegt – und damit eine abgewandelte Form der gefalteten Gebetshände demonstriert ( , Z.6). Während des Gebets bleibt seine Körperposition und Ausrichtung unverändert auf die Gemeinde orientiert. Auch dieser Prediger stellt nach der Beendigung des Gebets mit „Amen“ die Fokussierung mit der Gemeinde nicht wieder her, sondern senkt seinen Kopf nach unten und öffnet dabei seine Augen (nicht im Transkript). Damit geht er direkt in die Phase der intrapersonellen Koordinierung zur Beendigung der Predigt über (siehe Abschnitt 15.2.2). In 21 der untersuchten Predigten sprachen die Prediger nach dem Wortbeitrag ein Gebet, das in allen Fällen ein lautes, durch den Prediger formuliertes Gebet war. In keiner Predigt forderten die Prediger die Gemeinde im Anschluss an den Wortbeitrag zu einer kollektiven Gebetsstille auf.

Die verbalen und vokalen Mittel der Beendigung des Wortbeitrags und/oder der Predigt werden häufig kombiniert realisiert. Tabelle 15.2 fasst die in dem hier untersuchten Korpus erkennbaren Formen der verbalen Beendigung christlicher Predigten zusammen.

Tabelle 15.2 Erscheinungsformen von ‚Amen‘ am Predigtende

Das rituell deutlichste Signal ist die Formulierung von ‚Amen‘. Dieses kann sowohl die Beendigung des Wortbeitrags als auch des verbalen Predigtteils markieren. Wird nach dem Wortbeitrag ein Gebet gesprochen, kontextualisiert das ‚Amen‘ sowohl das Ende des Gebets als auch das Ende des verbalen Predigtteils. Hinzu kommen vokale Markierung mithilfe der Intonation, der Lautstärke, dem Tempo, der Pausengestaltung und der Rhythmisierung des Sprechens. Die deutlichste Markierung für das Ende des Wortbeitrags und des verbalen Predigtteils ist jedoch die körperlich-räumliche Orientierung des Predigers, die Aufhebung der blicklichen Fokussierung und die Rücknahme der wechselseitigen Wahrnehmung. Diese visuellen Praktiken der Beendigung sind Gegenstand des nachfolgenden Kapitels.

2.2 De-Fokussierung und Koordinierung

Der expliziten oder impliziten verbalen Beendigung folgt die visuelle Beendigung der Predigt. Wie in den vorherigen Predigtauszügen bereits angesprochen, geschieht dies, indem der zu Beginn der Predigt aufgebaute Interaktionsraum des one-face-to-many-faces wieder aufgelöst wird. Dazu bedienen sich die Prediger ähnlicher Praktiken wie zur Eröffnung der Predigt (siehe Abschnitt 15.1). Unabhängig davon, welchen Predigtort und welchen umgebenden Raum der Prediger zur Verfügung hat, sind es vor allem das Blickverhalten und die Körperorientierung, die bei der De-Fokussierung eine zentrale Rolle spielen. So haben die bisher gezeigten Auszüge unterschiedlicher Wortbeiträge bereits erkennbar gemacht, dass die dauerhafte Abwendung des Blicks (z. B. das Schließen der Augen zum Gebet) und die dadurch erfolgte Aufhebung der fokussierten Interaktion zwischen Prediger und Gemeinde deutliche Signale für das Ende des Wortbeitrags und der Predigt allgemein sind. Das nachfolgende Beispiel aus einem evangelischen Sonntagsgottesdienst zeigt die einzelnen Phasen nochmals in besonders deutlicher Art und Weise: wie der Prediger zunächst den Blick, der in die Gemeinde gerichtet war, von dieser abwendet und in eine Phase der intrapersonellen Koordination übergeht, in der er sein Predigtmanuskript ordnet und schließt (das Video beginnt in Zeile 4 des Transkripts).

figure cq
figure crfigure cr

Dieser Auszug zeigt die für einen evangelisch-lutherischen Sonntagsgottesdienst typische zweigeteilte Beendigung, bei der zunächst der Wortbeitrag durch eine Amen-Sequenz abgeschlossen wird (Z.7 und Z.8; siehe Abschnitt 17.3.1), bevor der Prediger einen liturgisch-ritualisierten Kanzelsegen spricht (Z.9–13), der ebenfalls durch eine Amen-Sequenz beendet wird (Z.14 und Z.15; siehe Abschnitt 15.2.1). Auffällig ist, dass der Prediger zwischen der Beendigung des Wortbeitrags und der Formulierung des Segensvotums den Blickkontakt mit der Gemeinde beibehält. Die Fokussierung wird also, im Gegensatz zum Gebet, aufrechterhalten und der Kanzelsegen so durch das Blickverhalten als zur Predigt gehörend kontextualisiert. Direkt nach dem von ihm produzierten ersten Paarteil der Amen-Sequenz des Kanzelsegens senkt der Prediger den Kopf ( , Z.14) und hebt damit die Fokussierung auf. Es wird nun eine Phase der intrapersonellen Koordinierung erkennbar, in der der Prediger seinen Blick auf das Manuskript richtet und dieses ordnet. Der Prediger schaltet schließlich das Kanzellicht aus und wendet sich körperlich von der Gemeinde ab ( , , Z.15, Sek. 12,3) und dem Altar zu, um ein stilles Gebet zu sprechen. Anders als bei dem Gebet zu Beginn der Predigt (siehe Abschnitt 15.1.4 Beispiel 8) kniet er sich hier nicht auf der Kanzel nieder, sondern bleibt stehen und senkt lediglich den Kopf. Das Gebet wird von diesem Prediger zwar für alle wahrnehmbar durchgeführt, jedoch erst nach der verbalen Beendigung des Wortbeitrags und den De-Fokussierungshandlungen. Durch diese Positionierung kontextualisiert der Prediger, dass dieses Gebet nicht von der Gemeinde mitzuvollziehen ist, sondern es eine individuelle Handlung des Predigers darstellt. Ein weiterer Hinweis darauf ist auch das beginnende Orgelstück. Die Aufmerksamkeit der Gemeinde wird also bereits wieder auf andere Aktivitäten gelenkt. Aus dieser abgewendeten Position heraus verlässt der Prediger schließlich die Kanzel ( , Sek. 20,3, Z.15), ohne nochmals zu den Anwesenden zu schauen. Dabei hebt der Prediger den etablierten Interaktionsraum auf und markiert damit den Abschluss des aktuellen Interaktionsereignisses. Dies war bei allen hier untersuchten Predigten der Fall.

Die Analyse hat gezeigt, dass die verbale Beendigung der visuellen Beendigung vorausgeht. Im Gegensatz zu Praktiken der verbalen Beendigung, sind die Praktiken der visuellen Beendigung nicht fakultativ, wie das nachfolgende Beispiel aus einem katholischen Sonntagsgottesdienst zeigt. Der Prediger schließt hier ohne ‚Amen‘, Kanzelgruß, Gebet oder metakommunikative Elemente und geht direkt in die visuelle Beendigung der Predigt über, indem er die blickliche Fokussierung mit der Gemeinde aufhebt.

figure cw

In diesem Auszug realisiert der Prediger die Blickabwendung parallel zur körperlichen Abwendung ( , Z.220). Ohne eine Phase der intrapersonellen Koordinierung senkt er den Kopf ( , Z.220), wendet sich von der Gemeinde ab ( ), verlässt den Predigtort und setzt sich auf einen Stuhl hinter dem Rednerpult (siehe Kapitel 14). Dadurch hebt er die blickliche Fokussierung mit der Gemeinde und die wechselseitige Wahrnehmung auf. Dies wird dadurch noch verstärkt, dass sich der Prediger hinsetzt und seine exponierte Position und die Wahrnehmbarkeit für die Gemeinde reduziert.

Die hier durchgeführte Analyse des Aktivitätstyps der Beendigung der Predigt hat gezeigt, dass der Schlusspunkt des Predigtereignisses nicht durch eine verbale Beendigung markiert wird, sondern von der körperlich-räumlichen Orientierung des Predigers und der Transition von Interaktionsräumen. Die Prediger nutzen dazu drei unterschiedliche Praktiken: die Aufhebung der fokussierten Interaktion und der wechselseitigen Wahrnehmung durch die Abwendung des Blicks, die körperliche Abwendung und das Verlassen des Predigtortes.

2.3 Verlassen des Predigtortes

Das Verlassen des Predigtortes bildet den Schlusspunkt des Predigtereignisses. Wie der Gang zum Predigtort am Beginn der Predigt die Öffnung eines neuen Interaktionsraums initiiert (siehe Abschnitt 15.1.1), markiert der Weggang des Predigers die endgültige Auflösung des Interaktionsraums der Predigt und den Übergang zu den der Predigt folgenden Ereignissen mit ihren jeweiligen spezifischen Interaktionsräumen und körperlich-räumlichen Konstellationen der anwesenden Personen. Im Gegensatz zu den räumlichen und personellen Veränderungen zur Eröffnung des Predigtereignisses verlaufen die Aktivitäten der Auflösung des Interaktionsraums bei der Beendigung häufig parallel mit der Eröffnung neuer Interaktionsräume und der Etablierung der neuen Interaktionsereignisse innerhalb des Gottesdienstes. In vielen Fällen betreten nach der verbalen Beendigung des Predigers und der Auflösung der Fokussierung Musiker den Altarraum, um das nächste Lied zu spielen, die Musik (z. B. ein Gemeindelied, das mit der Orgel begleitet wird) setzt bereits ein, andere Personen betreten den Altarraum bzw. die Bühne etc. Durch die parallelen Handlungen werden die Phasen der intrapersonellen Koordination und schließlich das Verlassen des Predigtortes durch den Prediger nicht mehr in der gleichen Präsenz realisiert wie zur Eröffnung der Predigt. Der Prediger gibt seine Rolle als Fokusperson auf, indem er die one-face-to-many-faces Konstellation mit seiner körperlichen Abwendung aufbricht und mit dem Verlassen des Predigtortes auch seine exponierte Position aufgibt. In den meisten Fällen setzt sich der Prediger wieder an den Platz zurück, von dem aus er den Gang zum Predigtort bei der Predigteröffnung vollzogen hat. Dadurch ergibt sich entweder wieder eine side-by-side oder face-to-side Konstellation mit der Gemeinde. In einigen Fällen wurde auch der Predigtort wieder abgebaut (d. h. das Rednerpult wurde wieder weggeräumt oder der Notenständer verrückt) und dadurch auch anhand der Veränderung der Interaktionsarchitektur erkennbar gemacht, dass das Ereignis der Predigt beendet ist. Es ist also nicht das ‚Amen‘, nicht der Kanzelsegen und nicht das Gebet, das den eigentlichen Abschluss des Predigtereignisses bildet, sondern die Veränderung der Wahrnehmungssituation, die Auflösung des Interaktionsraumes sowie der personell-räumlichen Konstellation.

3 Struktur der Predigt

Die bisherige Analyse hat gezeigt, dass die Predigt in ihrer Herstellung und Beendigung ein multimodal realisiertes Ereignis ist, an dem sowohl der Prediger als auch die Gemeinde reziprok beteiligt sind. Aufgrund der Interaktionssituation als institutionell gerahmtem Bühnenformat ist es jedoch vor allem der Prediger, der dominierend die einzelnen Aktivitätstypen des Predigtgeschehens mit ihren typischen Handlungen organisiert, koordiniert und etabliert. Er ist dabei aber auf die Kooperation der im Gottesdienst anwesenden Personen angewiesen, wie die Beispiele zur Herstellung der fokussierten Interaktion und der Vergewisserung über wechselseitige Wahrnehmung und Wahrnehmungswahrnehmung gezeigt haben.

Die Predigt ist eine eigene raum-zeitliche Einheit innerhalb des Gottesdienstgeschehens mit klar erkennbaren Grenzen und einem eigens zu diesem Zweck hergestellten Interaktionsraum. Durch den Blick auf die strukturelle Organisation des Predigtereignisses konnte dann herausgearbeitet werden, dass es nicht zuerst verbale Elemente sind, die eine Predigt als interaktives Geschehen konstituieren, sondern visuell vollzogene Handlungen. Abbildung 15.10 zeigt die erkennbaren Phasen des Predigtereignisses in der Reihenfolge ihrer typischen Realisierung.

Abb. 15.10
figure 10

Struktur Predigtereignis

Aus interaktionsanalytischer Perspektive greift es also zu kurz, die in der homiletischen Literatur aufgezeigte Grenzziehung von Beginn und Ende (formelhafte, ritualisierte Wendungen, Begrüßung, Adressierung der Gemeinde, Textlesung und ‚Amen‘) zu übernehmen. Darüber hinaus hat die Analyse gezeigt, dass diese verbal realisierten Elemente fakultativ sind. Im Gegensatz dazu stehen die obligatorischen visuell-leiblichen Elemente. Besonders prägnant ist dabei die „Veränderung der personellen Konstellation“ (Schmitt/Deppermann 2010:339), die sich z. B. im Wechsel der Partizipationsstruktur von einer kollektiv ausgeführten Handlung (einem gemeinsam gesprochenen Gebet, Glaubensbekenntnis oder einem gemeinsam gesungenen Lied) bzw. einer durch mehrere Personen vollzogenen Handlung (z. B. einem kurzen Anspiel) hin zu einem von einer Einzelperson dominierten Ereignis zeigt, bei dem das Rederecht und die Möglichkeit dieses zu verteilen beim Prediger liegt (siehe Kapitel 17). Die Predigt ist somit als Bühnenformat beschreibbar, bei dem wechselseitige Wahrnehmung in der Konstellation one-face-to-many-faces vorherrscht und der Prediger zur Fokusperson, d. h. zum zentralen Element der Wahrnehmung wird. Damit einhergehend findet eine „Veränderung der räumlichen Struktur“ (Schmitt/Deppermann 2010:339) statt. So verlässt der Prediger seine bisherige Position im Raum und geht zum Predigtort. Wird dieser unmittelbar zuvor erst aufgebaut, wird sogar ein Eingriff in die Interaktionsarchitektur vorgenommen. Der Gang zum Predigtort und das Verlassen des Predigtortes mit dem dabei vollzogenen Orts- und Dynamikwechsel sind typische Praktiken zur Kontextualisierung der Predigt. Die vorgestellten und analysierten Beispiele zeigen zudem die notwendigen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um das Predigtereignis zu etablieren. Erst wenn diese Voraussetzungen geschaffen sind, beginnt der Prediger i. d. R. zu sprechen: a) das Vorhandensein bzw. die Herstellung eines Predigtortes (räumlich exponiert), b) die Etablierung des Predigers als Fokusperson (u. a. durch die Abwesenheit unbeteiligter Personen und die exponierte räumliche Position), c) die Herstellung wechselseitigen körperlich-räumlichen Ausgerichtetseins der Beteiligten (one-face-to-many-faces) sowie d) die Möglichkeit wechselseitiger, zumindest aber rezipientenseitiger, visueller und akustischer Wahrnehmung.

Welche konkrete Charakteristik das neue Interaktionsereignis haben wird, dass es sich also um eine Predigt und nicht um die bloße Lesung eines Bibeltextes oder um ein Gebet handelt, wird vor allem von verbalen Hinweisen weiter konkretisiert und kontextualisiert. Der Wortbeitrag und der verbale Teil einer Predigt können schließlich, wie die Analyse gezeigt hat, auf unterschiedliche Weise und mithilfe unterschiedlicher Verfahren beendet werden. Bei der Beendigung geht wiederum der primär verbal realisierte Abschluss der primär visuell realisierten Beendigung voraus. Auch hier sind die verbalen und vokalen Elemente fakultativ, während die Auflösung der Fokussierung und des Interaktionsraums sowie das Verlassen des Predigtortes obligatorisch sind.

Erkennbar wurden neben einem ‚Amen‘ als Beendigungsmarkierung des Wortbeitrags ritualisierte Wendungen (Kanzelsegen bzw. Segensvotum) und Gebete, die ihrerseits häufig mit einer Amen-Paarsequenz beendet werden. Wie die Beispiele gezeigt haben, können diese Elemente auch nacheinander in einer Predigt realisiert werden. Dem ‚Amen‘ am Ende des Wortbeitrags und/oder des verbalen Predigtteils kommt damit nicht nur eine wichtige theologisch-inhaltliche Funktion als ritualisierte Wendung zu, sondern es leistet darüber hinaus einen wichtigen interaktiv-sequenziellen Beitrag zur Organisation und Strukturierung des Predigtereignisses. Der Prediger markiert nicht nur das Ende in Form eines ersten Paarteils, sondern die Gemeinde ratifiziert die Beendigungshandlung durch die Produktion des zweiten Paarteils und vollzieht damit die Beendigung gleichfalls mit (vgl. Schegloff/Sacks 1973:297f; siehe Kapitel 17). Durch diese Responsivität und Ratifizierung wird auch die Beendigung der Predigt auf verbaler Ebene als komplexes Interaktionsgeschehen erkennbar. Darüber hinaus vollzieht sich die gemeinsam realisierte Beendigung nicht nur verbal, sondern auch visuell, indem die wechselseitige Wahrnehmung und Fokussierung aufgehoben wird. Der Schwerpunkt der durchgeführten Analyse lag dabei auf der Fokusperson des Geschehens, d. h. dem Prediger. Es konnte jedoch gezeigt werden, dass die vom Prediger durchgeführten Handlungen von den anwesenden Personen wahrgenommen werden müssen und auch auf Seiten der Gemeinde eine körperliche Ausrichtung auf den Prediger erfolgen muss (je nach der Gestaltung des Raumes in unterschiedlichem Umfang – von der körperlichen Re-Positionierung bis hin zu einem Heben des Kopfes und der Ausrichtung des Blicks auf den Prediger). Damit wird die Interaktivität und komplexe Multimodalität der Predigt sowohl auf Seiten des Predigers als auch auf Seiten der Gemeinde erkennbar. Mithilfe unterschiedlicher Kontextualisierungshinweise demonstrieren die anwesenden Personen ihr spezifisches Gattungswissen und aktualisieren und ratifizieren dieses Wissen gleichzeitig im Moment der Ausführung. Dabei bleibt die kommunikative Gattung der Predigt zu jeder Zeit in den gottesdienstlichen Kontext eingebettet und als Form institutioneller Kommunikation erkennbar. Die institutionellen und ritualisierten Elemente sowie interaktionsarchitektonischen Implikationen, die auf der Ebene der Außenstruktur verortet werden können, wirken bei der Eröffnung und Beendigung der Predigt zusammen mit zwischenstrukturellen und binnenstrukturellen Komponenten. So bedingen sich der Raum und die hergestellte Interaktionsordnung wechselseitig und die beteiligten Personen folgen den Benutzbarkeitshinweisen des Raumes, indem der Prediger durch seinen Gang zum Predigtort die exponierte Position einnimmt und ein Bühnenformat schafft. Hat der Prediger den Predigtort erreicht, sind es vor allem visuelle Praktiken der blicklichen und körperlichen Orientierung, die von Luckmann, Günthner und Knoblauch auf der Ebene der situativen Realisierungsebene angesiedelt werden, die zur Herstellung der Predigt beitragen. Ritualisierte und institutionell vorgegebene Wendungen wie der Kanzelgruß und der Kanzelsegen sind schließlich binnenstrukturelle Elemente, die zur Kontextualisierung des Predigtereignisses eingesetzt werden. Dies macht deutlich, wie stark außenstrukturelle, binnenstrukturelle und zwischenstrukturelle Elemente zusammenwirken und als Ressourcen zur Herstellung und Beendigung der kommunikativen Gattung genutzt und relevant gemacht werden. Die einzelnen Aktivitätstypen des Predigtereignisses sind konfessions- und anlassübergreifend, können jedoch je nach Konfession, Anlass und Prediger unterschiedlich stark ausgebaut sein.

Die nachfolgenden Kapitel setzten sich detaillierter mit dem Wortbeitrag auseinander. Dabei zeigt sich, dass die Predigt ebenfalls ein Ereignis der „Veränderung der thematischen und pragmatischen Relevanz“ (Schmitt/Deppermann 2010:339) ist. Im Fokus stehen die Aspekte der Wissenszuschreibung, des Wissenstransfers, der Veranschaulichung von Wissensbeständen (Kapitel 16) und die dialogischen Elemente innerhalb des Wortbeitrags (Kapitel 17).