Die räumlichen Bedingungen und Gegebenheiten einer Interaktionssituation und die Frage, welchen Einfluss der jeweilige Raum auf die Interaktion hat, sind in den letzten Jahren mehr und mehr in den Fokus interaktionsanalytischer Untersuchungen gerückt. Ausgehend von den Überlegungen Adam Kendons zur Proxemik (f-formation; vgl. Kendon 1979 und 1990) und Erving Goffmans zur Interaktionsordnung (vgl. Goffman 1994), stehen die Fragen im Mittelpunkt, wie a) der materiell gegebene Raum die Interaktion ermöglicht (vgl. u. a. Hausendorf/Schmitt 2013:3), wie b) Personen durch ihre sprachlichen und körperlichen Handlungen auf den materiellen Raum zurückgreifen und den Raum dadurch strukturieren (vgl. u. a. Hausendorf/Schmitt 2014:4; Haddington 2013:413) und wie c) diese Ressourcen für die Herstellung eines spezifischen Interaktionsereignisses relevant und erkennbar gemacht werden (vgl. u. a. Hausendorf/Schmitt 2014; Haddington 2013:413). Die Basis dafür bildet die Annahme bzw. die Beobachtung, dass

Interaktion [...] auf grundlegende Weise mit ihrem umgebenden Raum verbunden [ist]. Diese Raumbindung der Interaktion zeigt sich darin, dass der Raum als Ressource für die Bearbeitung basaler Interaktionsanforderungen ausgenutzt wird, wie es insbesondere im Fall der institutionellen Kommunikation sehr anschaulich hervortritt. Hier haben sich gesellschaftliche Funktionsräume für den interaktiven Vollzug der jeweiligen Organisation herausgebildet. (Hausendorf/Schmitt 2017:4)

Innerhalb des Gattungskonzeptes, wie Luckmann, Günthner und Knoblauch es entwickelt haben, spielt der materielle Raum zunächst jedoch lediglich als Veranstaltungsort der Interaktion im weitesten Sinne eine Rolle. Im Vordergrund steht der architektonisch-materielle Raum, der analytisch meist der Ebene der Außenstruktur zugeordnet wird (vgl. Auer 1999:180; siehe Kapitel 8). Knoblauch (2007) zeigt etwa auf, welche typischen und spezifischen räumlichen Bedingungen für die Gattung der PowerPoint-Präsentation konstitutiv sind. Unter Verwendung des Begriffs der räumlichen Ökologie nimmt er u. a. innenarchitektonische und technische Aspekte in den Blick. Wenn er diese Aspekte auch nicht explizit in ihrer Verwobenheit mit den Ebenen der Binnen- und Zwischenstruktur aufzeigt, so verweisen seine Darstellungen doch darauf, dass die interaktive Ressource des Raumes vielschichtig und auf unterschiedlichen Ebenen konstitutiv für das jeweilige Interaktionsereignis und damit für die kommunikative Gattung ist. Dies wird auch daran deutlich, dass in anderen Arbeiten räumliche Implikationen nicht der Außenstruktur zugeordnet werden, sondern der situativen Realisierungsebene (vgl. Günthner/Knoblauch 1995:15). Zentral ist dabei immer die Beobachtung, dass der konkrete materielle Raum einen entscheidenden Einfluss darauf hat, dass, wie und welche Interaktion und letztlich Gattung zustande kommt, und dass auf der anderen Seite die Gattung selbst spezifische Anforderungen an den Raum stellt. Ziel dieses Kapitels ist es, diese Komplexität anhand der räumlichen Situierung christlicher Predigten aufzuzeigen. Während in bisherigen Studien zu Kirchenräumen und Predigtorten der Raum vor allem isoliert unter historischen Gesichtspunkten betrachtet wurde, soll er nachfolgend unter interaktionaler Perspektive hinterfragt werden. Zudem erschöpft sich die Betrachtung des Raumes mit Blick auf evangelische Predigten meist in der Bemerkung, dass sie von einer Kanzel aus gehalten werden. An dieser Stelle erweitert und verfeinert die vorliegende Untersuchung die Analyse der konstitutiven material-räumlichen und sozial-räumlichen Bedingungen für die Etablierung und Durchführung der kommunikativen Gattung.

Die theoretische Basis dafür bildet das Verständnis von Raum, wie es die Multimodale Interaktionsanalyse vorschlägt. Raum ist dann eine interaktive Ressource (vgl. Schmitt/Hausendorf 2016:15, Hausendorf et al. 2012) und wird von den beteiligten Personen als Kontextualisierungshinweis für die Sichtbarmachung der Gattung im jeweiligen interaktiven Vollzug relevant gesetzt. Im Zuge dieser Hineinnahme des Raumes in die Analyse von Interaktionsereignissen wurden die drei Bereiche der ‚Interaktionsarchitektur‘, der ‚Sozialtopografie‘ und des ‚Interaktionsraums‘ herausgearbeitet und aufeinander bezogen (vgl. Hausendorf/ Schmitt 2013). Grundlegend ist zunächst die Beobachtung, dass der materielle Raum als Ressource bis zu einem bestimmten Punkt „interaktionsvorgängig und [interaktions]unabhängig“ ist (Schmitt/Hausendorf 2016a:16). Die Interaktionsarchitektur beschreibt in diesem Zusammenhang den gebauten, gestalteten und ausgestatteten konkreten Raum (vgl. Hausendorf/Schmitt 2016a:27), d. h.

sinnlich wahrnehmbare (also sensorisch und motorisch erfahrbare) und entsprechend empirisch dokumentierbare Erscheinungsformen von Architektur, die es – auch im Hinblick auf ihren Grad an Statik und Dynamik der Verankerung im Raum – zu beschreiben gilt. (Hausendorf/Schmitt 2013:3)

Diese „architektonische[n] Erscheinungsformen“ (Hausendorf/Schmitt 2013:3) eines Raumes sind darüber hinaus in vielen Fällen „interaktionsüberdauernd“ (Hausendorf/Schmitt 2013:4) und geben bestimmte Nutzungsmöglichkeiten, sog. „Benutzbarkeitshinweise“ (Hausendorf/Schmitt 2013:4) vor, an denen sich die in den Raum eintretenden Personen orientieren können, denn, so die These, „alles, was in einem Raum an Interaktion geschehen mag, geschieht vor dem Hintergrund seiner interaktionsarchitektonischen Implikationen“ (Hausendorf/Schmitt 2013:12). So geht es in der eigenständigen Analyse der Interaktionsarchitektur nicht um „faktische Interaktionen und Nutzungen, sondern um das Möglich- und Wahrscheinlich-Machen von Interaktion und Nutzung durch Architektur“ (Hausendorf/Schmitt 2016a:32). Im nächsten Schritt erfolgt dann die Analyse hinsichtlich der Frage, ob die an einer Interaktion Beteiligten auf diese Implikationen und Benutzbarkeitshinweise zurückgreifen oder nicht, bzw. in welcher Form die Nutzung erfolgt (vgl. Schmitt/Hausendorf 2016a:16). Der materielle Raum wird dabei nicht (mehr nur) als Gegebenheit betrachtet, sondern als „sich im Verlauf der Handlung (re)konfigurierend“ (Mondada 2007:65 f.) perspektiviert. Sowohl die „Konstellation der Beteiligten, durch ihre Körperposition“ (Mondada 2007:66) als auch die „strukturellen und materiellen Eigenschaften“ (Mondada 2007:66) des Raumes selbst bestimmen dabei den Herstellungsprozess und die Form der situativen Raumnutzung. An dieser Stelle wird die Sozialtopographie relevant (vgl. Hausendorf/Schmitt 2013:4; Schmitt/Dausendschön-Gay 2015:7). Sie beinhaltet, dass und wie eine einzelne Person interaktionsarchitektonische Implikationen nutzt und den gegebenen Benutzbarkeitshinweisen folgt, ohne dass eine weitere Person anwesend ist und eine fokussierte Interaktion entsteht. Sind dann wiederum zwei oder mehr sich wechselseitig wahrnehmende Personen in dem jeweiligen Raum anwesend, entsteht innerhalb der Bedingungen der Interaktionsarchitektur ein multimodal konstruierter Interaktionsraum, d. h. ein „mit und durch Interaktion geschaffene[r] Raum“(Hausendorf/Schmitt 2013:4). In Anlehnung an Kendons f-Formation (1979 und 1990) und Goffmans Interaktionsordnung (1994) beschreibt das Konzept des Interaktionsraums die „räumlichen Konfigurationen, die die Interaktanten im Verlauf ihrer Aktivitäten herstellen“ (Mondada 2007:55) und „lenkt die Aufmerksamkeit auf die räumlichen Arrangements der Körper der Interaktanten und ihre wechselseitige Ausrichtung und damit auf die Verfahren, mit denen sie sich im Hinblick auf ihr gemeinsames Handeln im Raum koordinieren“ (Mondada 2007:55). Dies bedeutet nicht nur, dass eine Koordination in Bezug auf die Bereitschaft zur Interaktion stattfinden muss, sondern auch die konkrete Koordination der Körperhaltungen und der Körperpositionen zur Herstellung einer Fokussierung. Der dabei entstehende (durch die Körper begrenzte) Raum konstituiert die Anwesenden visuell wahrnehmbar als „Interaktionseinheit“ (Müller/Bohle 2007:129) bzw. als Interaktionsensemble (vgl. Schmitt 2012c). Interaktionsräume sind also „nicht bloßer Ausdruck der Bereitschaft zu fokussierter Interaktion, sondern Produkt koordinativer Aktivitäten der Beteiligten […]. Interaktionsräume werden gemeinsam hergestellt, und zwar durch je spezifische Koordination von Körperorientierung und Position im Raum“ (Müller/Bohle 2007:130). Zusammen bilden Interaktionsarchitektur, Sozialtopographie und Interaktionsraum „die körperlich-räumliche Trägerstruktur der Interaktion“ (Schmitt/Dausendschön-Gay 2015:7). Erste Studien, die dieses Konzept illustrieren und präzisieren, setzten sich u. a. mit der interaktionsarchitektonischen Beschaffenheit von Kirchenräumen auseinander (vgl. u. a. Hausendorf/Schmitt 2010, 2014, 2016a, 2017 und Schmitt 2012b). Die dabei gemachten Beobachtungen sind insofern für die hier durchgeführte Analyse relevant, als die Predigt bereits als Teil des Gottesdienstgeschehens beschrieben wurde (siehe Kapitel 13) und den gleichen räumlichen Bedingungen unterliegt. So betonen Hausendorf/Schmitt:

Die Gottesdienstbesucher kommen nicht in einem leeren, unstrukturierten Raum an, sondern in einem, der speziell für eine bestimmte religiöse Praxis ein- und hergerichtet worden ist. (Hausendorf/Schmitt 2010:59)

Der Kirchenraum und seine Architektur seien somit die Manifestation der „gebaute[n] und gestaltete[n] Antwort und Lösung für konstitutive Fragen und Probleme von Gottesdienst als Interaktion“ (Hausendorf/Schmitt 2017:4). Da Kirchenräume jedoch längst nicht mehr die einzigen Orte sind, an denen Gottesdienste veranstaltet werden, muss das, was Hausendorf/Schmitt speziell für einen Kirchenraum beschreiben, notwendig auch an anderen Räumen geprüft werden. In dem hier untersuchten Corpus wurden zwei Formen des umbauten und begrenzten Raumes erkennbar: a) der speziell für die Durchführung von Gottesdiensten geschaffene Ort, der auf eine für einen „speziellen gesellschaftlichen Funktionsbereich organisierte[] Interaktion“ (Hausendorf/Schmitt 2013:5) ausgerichtet ist (z. B. Kirchen und Gemeindehäuser), und b) der nicht spezifisch auf diese eine religiöse Praxis hin geschaffene Ort, der auch für andere Veranstaltungen und z. T. primär für diese ausgelegt ist (z. B. Zelte oder ein Café). Knoblauch spricht an dieser Stelle von der formalen Ökologie spezialisierter Räume und der informellen Ökologie von Räumen, die nicht spezifisch für die Durchführung eines bestimmten Ereignisses gebaut wurden (vgl. Knoblauch 2007:195). Tabelle 14.1 zeigt die unterschiedlichen Orte, an denen die Predigten des untersuchten Korpus stattfanden, und die Anzahl der Predigten an den jeweiligen Orten.

Tabelle 14.1 Übersicht Gottesdiensträume im Corpus

Die Bandbreite in den vorliegenden Daten reicht von Räumen, die speziell zur Durchführung ritueller religiöser Zeremonien geschaffen wurden, wie Kirchen, über Räume, für die eine Mehrfachnutzung unterschiedlicher Settings erkennbar wird (Messehalle), bis hin zu Räumen, bei denen die Gestaltung Hinweise auf Settings gibt, die außerhalb religiöser Rituale liegen: So sind in der Turnhalle verschiedene Sportgeräte (z. B. ein Basketballkorb und Spielfeldlinien) oder im Café eine Bar erkennbar. Unter diesen Bedingungen großer Variabilität stellt sich noch einmal in verstärkter Form die Frage, welche räumlichen Elemente und Bedingungen vorhanden sein müssen, um die kommunikative Gattung der Predigt realisieren zu können.

Zunächst lässt sich an den Gottesdienstorten erkennen, dass die Aufladung mit religiöser Symbolik in unterschiedlichen Graden realisiert wird. Diese ist neben den architektonischen Bedingungen auch von der Konfession abhängig. In katholischen und evangelischen Kirchen des hier erhobenen Korpus befinden sich Altäre mit mehr oder weniger gut sichtbaren Kruzifixen.

Abbildung 14.1 zeigt den Altarraum einer katholischen KircheFootnote 1, Abbildung 14.2 zeigt eine der evangelischen Kirchen. In beiden ist das Kreuz gut sichtbar hinter bzw. über dem Altar angebracht. Daneben gibt es weitere für den Kirchenraum der jeweiligen Konfession typische Symbole und Artefakte. In den Gemeinderäumen der untersuchten Freikirchen war ein Kreuz zwar vorhanden, stand jedoch architektonisch nicht im Mittelpunkt des Raumes, der lediglich eine dezente Ornamentierung zeigt. Dies hängt auch mit den theologischen Prinzipien der jeweiligen Konfession und also mit der institutionellen Einbettung zusammen. Der Raum ist damit auch Ausdruck und Visualisierung bestimmter institutioneller Prämissen. Brüdergemeinden etwa lehnen i. d. R. jegliche religiöse Symbolik und sakrale Ausgestaltung ab (vgl. Jordy 1982:91). Die untersuchte Gemeinde hat sich in dieser Hinsicht geöffnet und neben einem Bibelspruch als Wandbild (hinter dem Rednerpult) auch ein Kreuz im Raum positioniert, das sich jedoch nicht zentral befindet, sondern links in der Ecke (siehe Abbildung 14.3 und 14.4).

Abb. 14.1
figure 1

Altarraum katholische Kirche

Abb. 14.2
figure 2

evangelische Kirche

Abb. 14.3
figure 3

Versammlungsraum Brüdergemeinde

Abb. 14.4
figure 4

Skizze Versammlungsraum Brüdergemeinde

Im Gegensatz zu den beiden vorgestellten Kirchenräumen steht nicht der Altar im Zentrum des Blickfokus, sondern ein großer Holztisch, der sog. ‚Brüdertisch‘, von dem aus das Abendmahl gefeiert wird. Dieses wird im ersten Teil des Gottesdienstes ausgeteilt, der mit einer kurzen Pause vom Predigtgottesdienst getrennt ist (siehe dazu auch Holthaus 2008:197). Die Stühle sind in zwei Blöcken angeordnet. Um den Abendmahlstisch herum gruppiert sich der erste Block. Dahinter sind im rechten Winkel weitere Stuhlreihen aufgestellt (Abbildung 14.4). Diese Anordnung spiegelt die traditionelle Raumaufteilung und Sitzordnung der Brüdergemeinden wieder: „Meistens sitzen die Männer links und rechts des Tisches, auf dem sich Brot und Wein befinden, während die Frauen im rechten Winkel dazu Platz nehmen“ (Gerlach 1994:196, FN637). Diese strikte Geschlechtertrennung entstand auch durch die Sonderstellung der Frauen, die im brüdergemeindlichen Gottesdienst nicht aktiv an der Gestaltung beteiligt sind (vgl. Gerlach 1994:196). So sind die Plätze um den Brüdertisch herum den Ältesten und eingeladenen Männern vorbehalten, im hinteren Bereich des Raumes nehmen dann aber alle anderen Anwesenden, unabhängig vom Geschlecht, Platz.

Im Gegensatz zu den Kirchenräumen und auch dem Gemeindehaus, sind die Herrichtungen im Museum, in den Messehallen, Zelten und der Turnhalle nur auf eine zeitlich begrenzte Nutzung beschränkt und damit als nicht interaktionsüberdauernd erkennbar. Alle Ornamentierungen und Ausstattungen des Raumes wurden hier speziell für den spezifischen Gottesdienst aufgebaut und im Anschluss daran wieder abgebaut. Im Fall der untersuchten Predigten zum Abschluss von sog. Israelkonferenzen wurden zudem nicht nur christlich-religiöse Artefakte, sondern auch jüdisch-religiöse Objekte, wie verschiedene Menorot und der Davidstern verwendet. Allein im Café wurde keine symbolische Aufladung des Raumes vorgenommen. Erkennbar ist lediglich das typische Mobiliar eines Cafés: Tische und Stühle sowie eine Bar. Zum Zweck des Gottesdienstes wurde in einer Ecke des Raumes eine kleine Bühne aufgebaut.

Obwohl sich die gebauten Räume also z. T. deutlich voneinander unterscheiden, werden in der Gestaltung und Ausstattung der Räume Parallelen erkennbar, die als typisch für Gottesdienste und Predigten herausgearbeitet werden können. Gemeinsam ist all diesen Räumen zunächst, dass sie Platz für eine mehr oder weniger große Gruppe von Menschen bieten. Eine weitere Gemeinsamkeit bildet das Arrangement der Bänke und Stühle in den jeweiligen Räumen. In 36 der untersuchten Gottesdienste sind dies fest verankerte Bänke in Kirchen, in allen anderen Räumen bewegliche und damit veränderbare Stühle. Wie Hausendorf/Schmitt (2013:4) es speziell für den Kirchenraum beschreiben, nutzten die Anwesenden in allen hier untersuchten Settings die Sitzgelegenheiten, um darauf Platz zu nehmen und folgen damit nicht nur den durch den jeweiligen Raum gegebenen Benutzbarkeitshinweisen der vorinteraktionalen architektonischen Gegebenheiten, sondern dokumentieren auch „ihre sozialtopografische Interpretation der Bankreihen als Platz für die Besucher eines Gottesdienstes“ (Hausendorf/Schmitt 2013:4). In der Anordnung der Bänke bzw. Stühle wird darüber hinaus erkennbar, dass die Sitzgelegenheiten auf ein ‚Vorne‘ ausgerichtet sind.

Der Raum und dessen Herrichtung weisen eine zentrierte Mittigkeit auf […] und orientieren den Blick des Besuchers automatisch nach vorne und etablieren ein Blickfeld, das in spezifischer Weise für die Wahrnehmung des Besuchers aufbereitet ist. (Hausendorf/Schmitt 2010:60)

In Kirchen sind dieses ‚Vorne‘ der Altarraum und die Kanzel, an Orten wie Messehallen, Turnhallen, Cafés etc. ist es eine aufgebaute Bühne. In der Regel ist diese Bühne erhöht – nur im Museum blieb der Bereich ebenerdig, wurde dann aber durch die Dekoration vom übrigen Raum abgegrenzt und so herausgehoben. Für das Predigtereignis ist dieser Aspekt zum einen dadurch relevant, dass der Predigtort im Bereich dieses ‚Vorne‘ etabliert wird, und zum anderen durch die Ausrichtung der Anwesenden auf diesen Bereich – und damit auch auf den zukünftigen Predigtort hin. Nur im Café war die Anordnung zunächst weniger deutlich auf die aufgebaute Bühne ausgerichtet. Die Stühle standen wie in einem normalen Café um die einzelnen Tische. Sie wurden erst durch die Anwesenden selbst in ihrer Position verändert und auf die Bühne ausgerichtet. Dies zeigt jedoch, dass das Vorhandensein eines exponierten Bereiches einen starken Hinweis darauf liefert, an welcher Stelle des Raumes eine erhöhte Aktivität stattfinden wird und dass die Hinwendung zu diesem Ort eine starke Relevanz hat und erwartbar ist. Dies dokumentiert die Vorannahmen der anwesenden Personen und damit deren Gattungswissen, das mit einem „gesellschaftlich vorhandenes Raumnutzungswissen“ (Hausendorf/Schmitt 2016a:41) verbunden ist. Dieses führt dazu, dass das vorhandene Mobiliar verrückt und neu arrangiert wird. Abbildung 14.5 zeigt am Beispiel eines Gottesdienstes in einer Mehrzweckhalle nochmals die Ausgerichtetheit der Anwesenden auf das ‚Vorne‘, das in der Predigt durch den jeweiligen Prediger körperlich-räumlich markiert wird. Der Kreis zeigt die Position des Predigers.

Abb. 14.5
figure 5

Mehrzweckhalle

In den untersuchten Daten gab es nur eine Ausnahme von dieser klaren Ausrichtung auf ein ‚Vorne‘, das von den interaktionsarchitektonischen Implikationen erwartbar gemacht wird. In diesem Fall fand der Gottesdienst in einer Kirche statt, die nicht mehr nur für Gottesdienste genutzt wird, sondern auch für Konzerte, Theatervorstellungen und andere Veranstaltungen. Dazu wurden die Bänke weitgehend entfernt. Die anwesenden Personen saßen auf im Raum verteilten Stühlen, auf dem Boden oder lehnten an aufgestellten Stehtischen und an Wänden und Säulen der Kirche. Der Prediger wiederum stand in der Mitte des Raumes. Diese veränderte räumliche Situation hatte u. a. einen Einfluss auf die Eröffnung dieser Predigt (siehe Abschnitt 15.1.3, Beispiel 5).

Die Anordnung und Ausrichtung der Bänke und Stühle und die Bestätigung der Benutzbarkeitshinweise durch die anwesenden Personen ist zentral für die Herstellung wechselseitiger Wahrnehmung zwischen dem Prediger und der Gemeinde und begünstigt die Herstellung einer fokussierten Interaktion. Erst diese räumliche Konstellation ermöglicht die Eröffnung der Predigt (siehe Kapitel 15). Auch interaktionsarchitektonisch erhält die Predigt also ihre Spezifik aus der Einbettung in das Gottesdienstgeschehen, da zunächst der Gottesdienstraum situiert wird, der die Voraussetzung für die Herstellung des Predigtereignisses ist, denn innerhalb dieses Gottesdienstraumes wird dann der spezielle Ort erkennbar, von dem aus die Predigt realisiert wird: der Predigtort.

In dem hier untersuchten Korpus werden drei Varianten des räumlichen Arrangements als Predigtort von den Predigern genutzt: 1) die (fest gebaute) Kanzel, 2) das (feste oder bewegliche) Rednerpult oder 3) die freie Position im Raum. Die Verteilung der unterschiedlichen Predigtorte bezogen auf die Räumlichkeiten, in denen der gesamte Gottesdienst abgehalten wurde, ist in Tabelle 14.2 dargestellt. Diese macht noch einmal deutlich, wie variabel die Orte und Räumlichkeiten sind, in denen die kommunikative Gattung Predigt realisiert werden kann.

Tabelle 14.2 Übersicht Predigtorte im Corpus

Vor allem in evangelischen Kirchen ist die Kanzel ein dominierendes interaktionsarchitektonisches Element (in Abbildung 14.2 rechts am Übergang zwischen Altarraum und Kirchenschiff). Die Kanzel ist innerhalb der evangelischen Predigttradition der prototypische Predigtort (vgl. Rauhaus 2007:47) und bildet den „eigens ausgestaltete[n] Platz für die Predigt“ (Hausendorf/Schmitt 2014:8), denn sie ist von ihrer ursprünglichen Nutzungsbestimmung exklusiv der Predigt vorbehalten (vgl. Damblon 2003:72, Ulrich 2006:138). Unter funktionalen Gesichtspunkten wurden Kanzeln zur besseren Hör- und Sichtbarkeit des Predigers eingeführt (vgl. Rauhaus 2007:46). Zunehmend wird in den Gemeinden jedoch auch auf der Kanzel mit moderner Verstärkungstechnik gearbeitet, was immer wieder zu Diskussionen über die Notwendigkeit von Kanzeln führt. Darüber hinaus bewirkt die räumlich erhöhte Position auch, dass „der Prediger eine herausragende Position bekommt und der Gemeinde als Amtsträger gegenübertritt“ (Kucharska-Dreiß 2017:393). In diesem Zusammenhang sind häufig genannte Gründe, nicht mehr von der Kanzel zu predigen, die Nähe zur Gemeinde und die Einheit von Schriftlesung und Schriftauslegung: „Die Homilie vom Ambo gleicht einer Brücke, die zwischen der Welt der Gemeinde und dem Wort Gottes geschlagen wird. Es wäre unmöglich gewesen, die Predigt von der Kanzel als Brücke zu bezeichnen“ (Damblon 2003:73). Im Zuge einer rezipientenzugewandten Homiletik ist die räumliche Nähe und die Reduzierung räumlich ausgedrückter Hierarchisierung das neue Ideal (vgl. Rauhaus 2007:47). Vergleiche werden hier mit der katholischen Tradition gezogen, denn „[d]ie katholische Predigt wird vom Ambo aus gehalten, einem Lesepult in Altarnähe, an dem auch Lesungen und Fürbitten vorgetragen werden“ (Kucharska-Dreiß 2017:393). Diese Tradition kam jedoch erst mit dem II. Vatikanischen Konzil auf. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde auch in katholischen Gottesdiensten von Kanzeln aus gepredigt (vgl. Mödl 2006:128). Der Predigtort ist bis heute ein konstitutives Unterscheidungsmerkmal zwischen katholischen und evangelischen Predigten und deutet neben der Länge der Predigt und ihrer Positionierung im Gottesdienstablauf (siehe Kapitel 13) auf ihren unterschiedlichen Stellenwert in katholischen und evangelischen Gottesdiensten hin (vgl. dazu auch Mödl 2006:128 und Kucharska-Dreiß 2017:393).

Gerade mit Blick auf die Realisierung von Predigten im evangelischen Kontext müssen die Befunde zur Kanzel jedoch erweitert und verfeinert werden, denn alternativ nutzen die Prediger des untersuchten Korpus auch in Kirchen ein Rednerpult, das aus einem fest verankerten Pult bestehen kann, aber auch aus einem Tisch oder sogar nur aus einem Notenständer, als Predigtort. Im vorliegenden Korpus wurden acht der in Kirchen gehaltenen Predigten von einer Kanzel aus gesprochen und 23 wurden von einem Pult aus realisiert (davon waren 14 Pulte beweglich und neun Pulte fest). Dies zeigt einmal mehr, dass die Kanzel selbst in Kirchen nicht mehr der exklusive Ort der Predigt ist, sondern dass auch andere Orte geschaffen und genutzt werden (vgl. Damblon 2003:72). Darüber hinaus standen die Prediger in sechs Fällen frei im (Kirchen)Raum, obwohl eine Kanzel vorhanden war (siehe Tabelle 14.2).

Im Gemeinderaum der untersuchten Brüdergemeinde befindet sich das exponierte Rednerpult, von dem aus die Predigt gehalten wird, auf einem erhöhten Podest hinter dem Brüdertisch (siehe Abbildung 14.4). In allen übrigen Räumen bildeten bewegliche Rednerpulte den Predigtort.

Es zeigt sich, dass die Nutzung bzw. Nicht-Nutzung bestimmter Predigtorte auch von der Art des Gottesdienstes abhängig ist. Während die Prediger in den regulären Sonntagsgottesdiensten evangelischer Gemeinden in den meisten Fällen von der Kanzel aus predigten, stehen sie im Rahmen alternativer Gottesdienste und Kasualien an einem Rednerpult oder frei im Raum. Auch bei Jugend- und anderen Zielgruppengottesdiensten, die in einer Kirche stattfanden, wurden die Predigten in den meisten Fällen von einem beweglichen Rednerpult und nicht von der Kanzel aus gehalten. Über die Motive für die Nutzung eines alternativen Predigtortes lässt sich an dieser Stelle keine Aussage treffen. Nichtsdestotrotz wird erkennbar, dass der Predigtort der Kanzel bzw. des Ambo kirchengeschichtlich und konfessionell geprägt ist und sowohl funktionale Überlegungen zur Wortverkündigung repräsentiert als auch das jeweilige Predigtverständnis. Die konfessionell-theologischen Ideologien sind in diesen Fällen in die Architektur des Raumes eingeschrieben. Die Interaktionsarchitektur ist damit gerade in Kirchen und Gemeindehäusern Teil der institutionellen Rahmung der kommunikativen Gattung Predigt und somit auf der Ebene der Außenstruktur zu verorten.

Während in Kirchen die Kanzel als Predigtort architektonisch bereits angelegt und meist gut wahrnehmbarer Teil des gebauten Raumes ist, und auch z. B. in Gemeindehäusern das fest gebaute oder unbewegte Rednerpult gut als möglicher Predigtort identifizier- und wahrnehmbar ist, muss der Predigtort in Fällen, in denen er nicht architektonisch angelegt ist bzw. die vorhandenen architektonischen Hinweise nicht genutzt werden, speziell geschaffen, d. h. aufgebaut werden. Dadurch wird er erst unmittelbar zu Beginn des Predigtereignisses selbst als Predigtort erkennbar. Dies war bei 20 der untersuchten Predigten der Fall. Das nachfolgende Beispiel zeigt, wie der Predigtort (hier in einer Kirche) im Rahmen eines Jugendgottesdienstes von den Beteiligten geschaffen wird. Obwohl sowohl eine Kanzel als auch ein festes Rednerpult vorhanden sind, wird die Predigt von einem beweglichen Pult aus gehalten. Dieses befindet sich jedoch noch nicht an dem dafür vorgesehenen Platz, sondern wird von einigen der anwesenden Personen erst speziell zu diesem Anlass aufgebaut (siehe Abbildung 14.6).

Abb. 14.6
figure 6

Umbau Predigtort

Nachdem das vorgängige Geschehen (hier: eine Spielszene, Anspiel genannt, die thematisch auf die Predigt hinführt und auf der speziell für den Gottesdienst aufgebauten Bühne stattfindet) beendet ist, wird der Raum für die Predigt bereitet: die Requisiten werden abgebaut und die Spieler verlassen die Bühne im Altarraum. Parallel dazu wird das Pult, von dem aus der Prediger sprechen wird, von zwei Helfern im vorderen Teil der Bühne platziert (Abbildung 14.6). Während dieser Handlungen sitzt der Prediger in der ersten Bankreihe (durch den Kreis markiert). Erst nachdem das Pult an seinem Platz steht und alle Personen die kleine Bühne verlassen haben, erhebt sich der Prediger und geht nach oben, um sich hinter dem Pult aufzustellen und die Predigt zu eröffnen (siehe Kapitel 15). Dieses Beispiel zeigt sehr deutlich die besondere räumliche Charakteristik der Predigt mit notwendigen architektonischen Bedingungen und Voraussetzungen, die für eine erfolgreiche Etablierung vorhanden sein bzw. geschaffen werden müssen. Dazu gehört ein erkennbarer, meist erhöhter und damit exponiert stehender Predigtort, zu dessen Errichtung z. T. sogar mehr oder weniger große Eingriffe in die Interaktionsarchitektur des jeweiligen Raumes vorgenommen werden.

Abhängig von dem zur Verfügung stehenden Predigtort gestalten sich die Möglichkeiten des Predigers zur Bewegung am Ort. Die Kanzel bietet eine klar definierte, feste Umgrenzung, in der der Bewegungsspielraum des Predigers deutlich eingeschränkt ist. Anders verhält es sich bei Rednerpulten oder wenn der Prediger frei im Raum steht. In diesen Fällen steht ihm ein deutlich größerer Spielraum zur Verfügung, der jedoch nicht von allen Predigern auch ausgenutzt wird. Die meisten halten sich relativ nah an dem Ort, an dem sie zuvor das Predigtmanuskript abgelegt haben und nutzen nur einen kleinen Radius dahinter oder an den Seiten des Pultes. Ein Hervortreten der Prediger ist vor allem dann zu beobachten, wenn die Gemeinde direkter angesprochen und zu aktiverer Beteiligung aufgefordert wird (siehe Kapitel 17).

All diese räumlichen Elemente (die Ausrichtung der Bestuhlung, die Nutzung und Schaffung eines exponierten Bereiches und die Relevantsetzung eines speziellen Predigtortes) kennzeichnen die Predigt als Bühnenformat (platform event) im Sinne Goffmans, bei dem „eine Handlung vor einem Publikum stattfindet“ (Goffman 1994:70). Im Fall der Predigt bildet die anwesende Gemeinde das PublikumFootnote 2 bzw. allgemeiner die Gruppe der Rezipierenden, während der Prediger seinen Wortbeitrag als Performanz realisiert. Der Gottesdienst und mit ihm die Predigt sind in der hier untersuchten Form ohne ‚Publikum‘ nicht denkbar und benötigen konstitutiv die Anwesenheit rezipierender Personen. Für Bühnenformate ist eine ‚multiparty‘-Interaktion, d. h. eine Mehrfachadressierung eines Einzelnen gegenüber einer Gruppe, und damit eine Situation ‚one-to-many‘ bzw., wie Schmitt es beschreibt, eine „one-face-to-many-faces“-Konstellation (Schmitt 2013:57) charakteristisch. Die räumliche Anordnung und die dadurch begünstigte Interaktionsordnung des Bühnenformates hat die Predigt mit anderen Formaten öffentlicher und privater Reden gemein (vgl. Goffman 1979:12; siehe dazu auch Damblon 2003:85). Somit ist die Predigt als Teil einer größeren, aufgrund struktureller Merkmale zu fassenden Gattungsaggregation beschreibbar, für die das Merkmal des Bühnenformats typisch ist (z. B. Kundgebungen, (politische) Reden und andere Ansprachen, Vorträge etc.).

Im Zuge einer interaktionsräumlichen Analyse ist nun zu fragen, welche interaktiven Aufgaben mithilfe der räumlichen Gegebenheiten bearbeitet werden (vgl. Hausendorf/Schmitt 2016a:33) und „[z]ur Lösung welcher interaktiven Aufgaben […] die relevant gesetzten Aspekte von Raum wann, von wem und auf welche Art und Weise eingesetzt [werden]“ (Schmitt 2013:30). Für die Beteiligten an einem Gottesdienst besteht diese Aufgabe zunächst in der lokalen Eröffnung der Predigt innerhalb des gottesdienstlichen Kontextes. Die Predigt erscheint damit als ein Ereignis, das „von den Beteiligten in einem prä-existenten und komplexen multi-aktionalen, setting-definierten praxeologischen Kontext realisiert“ (Schmitt/Deppermann 2010:339) wird. Dabei ist konstitutiv, dass die Predigt nicht nur innerhalb der räumlichen Bedingungen des jeweiligen Gottesdienstortes stattfindet, sondern dass auch das vorgängige interaktive Geschehen Auswirkungen auf die Art und Weise der Eröffnung der Predigt hat: die Gemeinde sitzt auf Stühlen bzw. (Kirchen)Bänken mit einer spezifischen Ausrichtung, einzelne Personen sind bereits explizit in Erscheinung getreten (z. B. um Bibeltexte vorzulesen, ein Gebet zu sprechen oder Musik zu machen), es herrscht ein ritualisiertes dialogisches Beteiligungsformat. In vielen Fällen ist auch der zukünftige Prediger eine bereits aktiv in Erscheinung getretene Person. Die anwesenden Personen haben also vor Beginn der Predigt eine „gemeinsame vorgängige Interaktionsgeschichte in diesem raumzeitlichen Kontext“ (Schmitt/Deppermann 2010:337). Des Weiteren spielt der Raum eine Rolle bei der Aktualisierung und Vermittlung von Wissen, denn die architektonischen Gegebenheit eines exponierten Predigtortes bedingt spezifische Praktiken der Wissenszuschreibung. Der Raum hat damit einen Einfluss auf für die Predigt zentrale binnenstrukturelle Komponenten und Aufgaben (siehe Kapitel 16).

In allen räumlichen Umgebungen wird der Predigtort so hergestellt, dass der jeweilige Prediger eine exponierte Position einnimmt (meist räumlich erhöht). Dazu werden ggf. mehr oder weniger große Eingriffe in die Interaktionsarchitektur vorgenommen. Der Predigtort ist dadurch für die anwesenden Personen (optisch) wahrnehmbar. Die Gemeinde ist wiederum aufgrund der Interaktionsarchitektur körperlich auf den Prediger orientiert, der dadurch als „Fokusperson“ (Schmitt/Deppermann 2007:109 f., Schmitt/Deppermann 2010, Schmitt 2013) im Zentrum der Aufmerksamkeit steht und zum Gegenstand der „Monitoring-Aktivitäten“ (Schmitt/Deppermann 2007:109) wird. Zu dieser wird er auch durch sein eigenes Verhalten, indem er sich durch die Einnahme einer nur durch ihn bespielten räumlich exponierten Position „für permanente Wahrnehmung durch die [Anwesenden] verfügbar macht“ (Schmitt 2013:57; siehe Abschnitt 15.1). Aber auch der Prediger ist von seiner Position aus körperlich und blicklich auf die Gemeinde ausgerichtet. Dadurch entsteht die für Predigten typische Konstellation des one-face-to-many-faces, die Wahrnehmungswahrnehmung, d. h. „wechselseitig[] geteilte[] Aufmerksamkeit“ (Hausendorf 2007:227; siehe dazu auch Schmitt/Deppermann 2010:338) ermöglicht (siehe Abschnitt 15.1). Diese Konstellation bedingt wiederum die Transkription, denn die frontale Ausrichtung von Prediger und Gemeinde wird als deiktische Verankerung festgelegt und mit dem ISWA-Zeichen markiert.

Der konkrete, vorinteraktionale Raum mit seinen interaktionsarchitektonischen Implikationen und seiner situativen Nutzung wird so bei der Herstellung des Predigtereignisses zu einer „interaktive[n] Ressource“ (Schmitt 2013:13) und gleichzeitig „Grundlage der multimodalen Interaktion“ (Schmitt 2013:13).Footnote 3

Die bisherigen Darstellungen haben gezeigt, dass der gebaute und gestaltete Raum vor allem dann, wenn er das Predigtverständnis der jeweiligen Konfession oder Gemeinde repräsentiert und die Glaubensvorstellungen visualisiert, einen Teil der institutionellen Rahmung und Einbettung der Predigt ausmacht. In diesem Zusammenhang ist er ein Teil der Außenstruktur. Der architektonische Raum ist zudem Teil des Gattungswissens. Die untersuchten Predigten machen deutlich, dass die anwesenden Personen den Benutzbarkeitshinweisen folgen, die der vorinteraktional gestaltete und ausgestattete Raum zur Verfügung stellt. Dadurch entsteht ein Bühnenformat mit einem exponierten Predigtort und einer one-face-to-many-faces Konstellation. In den meisten Fällen wird bereits durch die Interaktionsarchitektur die körperliche Ausrichtung auf ein ‚Vorne‘ angelegt und durch die Anordnung der Stühle und Bänke vorstrukturiert. Zudem erfolgt die eigentliche Eröffnung der Predigt erst, wenn der Predigtort – sofern er nicht bereits architektonisch als solcher erkennbar ist – geschaffen wurde. Zudem nutzen die Prediger die architektonischen Gegebenheiten und die zu absolvierenden Laufwege durch den vorhandenen konkreten Raum als interaktive Ressource, um das Ereignis ‚Predigt‘ herzustellen, zu eröffnen und schließlich zu beenden (siehe Kapitel 15). Dies zeigt, dass der Aspekt des Raumes direkt und indirekt auf allen Gattungsebenen eine Rolle spielt. Tabelle 14.3 fasst noch einmal die Bedeutung und Relevanz des konkreten Raumes für das Predigtereignis auf den einzelnen analytischen Ebenen des Gattungskonzeptes zusammen und gibt zugleich einen Ausblick auf die nachfolgenden Kapitel, in denen der Aspekt des Raumes immer wieder aufgegriffen wird:

Tabelle 14.3 Bedeutung des Raumes für die Gattungsebenen

Die nächsten Kapitel widmen sich den Vorgängen der Ko-Orientierung, Ko-Ordinierung und Ko-Operation zwischen Prediger und Gemeinde mit Blick auf den Beginn und die Beendigung der Predigt und vertiefen in diesem Zusammenhang auch die Rolle des Raumes bei der Herstellung des Predigtereignisses. Es stellt sich die Frage, wie die vorinteraktionalen räumlichen Bedingungen situativ genutzt werden, wie die in den Raum kommenden Personen die interaktionsarchitektonischen Implikationen lesen und konkret im Sinne sozialtopografischer Aspekte umsetzen und als Ressource für ihre Handlungen relevant setzen. Wie die nachfolgende Analyse zeigt, bedienen sich die Beteiligten bei ihrem ‚doing Predigt‘ maßgeblich auch der räumlichen Gegebenheiten und bauen neue Interaktionsräume auf, um die Predigt zu realisieren und zu kontextualisieren.