Als soziologisches Modell nimmt das Gattungskonzept nach Luckmann nicht nur die situativ realisierten verbalen, vokalen, visuellen und sequenziellen Aspekte in den Blick, sondern fragt auch nach dem übergeordneten sozialen und institutionellen Kontext. Für christliche Predigten als Teil religiöser Kommunikation bzw. als Teil der „Domäne Religion“ (Lasch 2011:536) ist es in diesem Zusammenhang ‚die Kirche‘, die institutionelle Strukturen bereitstellt, sowie der Gottesdienst als übergeordnetes interaktives Rahmengeschehen, d. h. als kommunikatives Projekt (siehe Kapitel 9). Aus homiletischer Perspektive erscheint die Predigt darüber hinaus selbst als eigene Institution, die rechtlich in kirchliche bzw. gemeindliche Strukturen eingebettet ist und einen offiziellen Verkündigungsauftrag erhalten hat (vgl. Engemann 2002:106). Dies betrifft auch die Rolle des Predigers als Funktions- und Amtsträger (vgl. Engemann 2002:103).

Aus theologischer Sicht bildet der Gottesdienst – konfessionenübergreifend – das zentrale Kommunikations- und Beziehungsgeschehen „zwischen dem in Wort und Sakrament handelnden dreieinigen Gott und der christlichen Gemeinde“ (Schwöbel 2011:147, siehe dazu auch Weyel 2011:166, Boschki 2010:223). Der Gottesdienst wird aus Sicht der Interaktionalen Linguistik als Form interaktiv hergestellter öffentlicher, ritueller Kommunikation (vgl. Paul 1989:169 und 1990:22) sowie als „religiös motivierte institutionelle Kommunikation“ (Hausendorf/Schmitt 2014:4) verstanden, die nach einer „vorgefertigten Verfahrensordnung vollzogen“ (Paul 1990:22) wird, an der sich die am Ritual beteiligten Personen mit festgelegten Rollen orientieren und die „ein singuläres Kommunikationsereignis [ist], dessen soziale Realität sich in den individuellen Sinngebungsleistungen aller Teilnehmer […] unabhängig von ihrem Vorwissen“ (Paul 1990:22) zeigt. Die in den Rahmen dieses Rituals ‚Gottesdienst‘ eingebettete Predigt gilt als „Normalfall“ (Fechtner/Friedrichs 2008:9), d. h. als prototypische Erscheinungsform der Verkündigung (vgl. Cornehl 2006:12, Boyd-MacMillan 2011:16, Weyel 2011:168, Zerfaß 2002:1348). Bei allen tatsächlichen und angenommenen Unterschieden zwischen katholischer, evangelischer und freikirchlicher Theologie ist in der aktuellen theologischen Diskussion ein Konsens über die grundlegende Notwendigkeit der Verkündigung biblischer Botschaften in Form von Predigten erkennbar (vgl. Müller 2006b:89). Zwar gilt die Predigt aus evangelischer und freikirchlicher Perspektive als „das normative Zentrum des Gottesdienstes“ (Cornehl 2006:12) bzw. als „Fokuspunkt“ (Stadelmann 2013:240) des Gottesdienstgeschehens, aber auch innerhalb der katholischen Kirche gewann die Predigt mit dem II. vatikanischen Konzil an Bedeutung und wird als „kraftvolle Kommunikation des Glaubens“ (Bundschuh-Schramm 2009:149; siehe dazu auch Boschki 2010:222) beschrieben:

Die Predigt ist daher fester Bestandteil der Messe sowie der Wortgottesdienste am Sonntag […]. Seit dem Konzil wird sie […] als integrierender Teil der Liturgie betrachtet und ist in der Regel bei vielen Feiern vorgeschrieben. (Bundschuh-Schramm 2009:149)

Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf eben diesen ‚Normalfall‘ und untersucht die gottesdienstlich gerahmte Predigt. Dieses Kapitel betrachtet die Wechselwirkungen zwischen dem kommunikativen Projekt des Gottesdienstes und der kommunikativen Gattung Predigt unter den Variablen der Konfession, des Anlasses und der Rezipierenden.

Abhängig von der Konfession und dem Anlass sind die Gottesdienstabläufe (d. h. die Liturgie oder die Agenda) z. B. in den Gesangbüchern abgedruckt und können von der Gemeinde unmittelbar nachvollzogen werden. Darüber hinaus haben die am Gottesdienst Mitarbeitenden die Möglichkeit den Ablauf selbst festzulegen und verschiedene, nicht institutionell vorgegebene Elemente zu integrieren. Auch wenn manche Gemeinden keiner Liturgie folgen, finden sich in den Gottesdiensten dennoch wiederkehrende Elemente, die eine Art ‚versteckte‘ Liturgie und damit einen ritualisierten, im Vorfeld festgelegten Ablauf bilden. In den für diese Untersuchung analysierten Daten ist auffällig, dass, trotz abweichender Ritualität und Strukturiertheit der Gottesdienstabläufe, die Predigt als „liturgisches Standardelement“ (Hausendorf/Schmitt 2018:103) und damit als obligatorisches Element innerhalb des Gottesdienstes erscheint.Footnote 1 Der Prediger weiß also, an welcher Stelle des Gottesdienstes die Predigt zu halten ist. Nicht nur der typische Ablauf des Gottesdienstes unterscheidet sich nach Konfession und Anlass, sondern auch die Position der Predigt innerhalb dieses Ablaufs. Daran werden u. a. unterschiedliche Frömmigkeitsstile, „religiöse Landschaften“ (Steffensky 2006:26) und Predigttraditionen erkennbar, die der Predigt einen je unterschiedlichen Stellenwert innerhalb des Gottesdienstes zuschreiben. Steffensky spricht mit Blick auf die unterschiedliche Gewichtung von Predigt und Abendmahl von den „Dialekte[n] der Konfessionen“ (Steffensky 2006:26). So sind die Gottesdienste der freien Gemeinde zentral auf die Predigt ausgerichtet. Im katholischen Sonntagsgottesdienst der hier untersuchten Gemeinde wird die Predigt dagegen relativ am Anfang gehalten. Die zentrale Ausrichtung liegt hier auf der Feier der Eucharistie. Im evangelischen Sonntagsgottesdienst steht die Predigt relativ in der Mitte des liturgischen Ablaufs. Dies soll exemplarisch an der Gottesdienstordnung der evangelischen Landeskirche Sachsens und der Erzdiözese Dresden-Meißen verdeutlicht werden. Zunächst erscheint die Predigt in beiden Ordnungen als obligatorisches Element innerhalb des Gottesdienstablaufs, das in der Liturgieübersicht aufgeführt wird (siehe Abb. 13.1 und Abb. 13.2).

Abb. 13.1
figure 1

Auszug Gottesdienstordnung ev.-luth. Landeskirche Sachsen

In der Gottesdienstordnung der evangelischen Landeskirche SachsenFootnote 2 fällt unter dem Ordnungspunkt ‚Predigt‘ die erneute Bezeichnung ‚Predigt‘ auf. Diesmal nicht als Teil der Liturgie an sich, sondern als Teil des liturgischen Punktes ‚Predigt‘. Dies weist auf eine begriffliche Unbestimmtheit hin, die in der vorliegenden Arbeit mit der Differenzierung zwischen ‚Predigt‘ und ‚Wortbeitrag‘ aufzulösen versucht wurde (siehe Kapitel 1). Diese Ordnung zeigt weiterhin, dass sowohl der Gottesdienst als auch die Predigt selbst aus unterschiedlichen Teilelementen bestehen (im Falle des Gottesdienstes sind es unterschiedliche kommunikative Gattungen, im Fall der Gattung Predigt drei verschiedene Aktivitätstypen; siehe Kapitel 3 und Abschnitt 15.3). Ähnlich ist es auch bei der katholischen Messe (Abb. 13.2 aus Gotteslob 2013:645):

Abb. 13.2
figure 2

Auszug Gottesdienstordnung Diözese Dresden-Meißen

Greule/Kiraga (2017) beschreiben den Gottesdienst bzw. in ihrem Fall die katholische Messfeier als „rituellen Handlungskomplex“, der als „Großritual“ aus mehreren kleineren religiösen Ritualen besteht, die als „Teilrituale“ bezeichnet werden und ihrerseits „kleinere Ritualschritte“ aufweisen (alle Zitate Greule/Kiraga 2017:341). Die Predigt ist demnach auch für Greule/Kiraga im gottesdienstlichen Gefüge ein Ritualschritt – in der katholischen Messe innerhalb des Teilrituals des Wortgottesdienstes – bzw. selbst ein Teilritual, das aus unterschiedlichen Ritualschritten besteht (vgl. dazu auch Weyel 2011:168). Gleichzeitig wird die besondere Ambivalenz der Predigt und des Gottesdienstes in Bezug auf Ritualität und Verfestigung deutlich: „zur Liturgie gehört geprägte Form, zur Predigt als freier und lebendiger Rede immer neue Wandelbarkeit und Aktualität“ (Schütz 1981:34). Auch Lasch bemerkt, dass sich die Predigt „ritueller Überformung [entzieht]“ (Lasch 2011:545). Innerhalb des gottesdienstlichen Rahmens ist die Predigt demnach fest verankert und doch erscheint sie als „Leerstelle“ (Grimmler 2011:90), die es durch den Prediger zu füllen gilt, denn „[d]er Inhalt der jeweiligen Predigt ist relativ gesehen frei“ (Grimmler 2011:91 f.; siehe auch Stetter 2011:205, Lasch 2011:546, Greule/Kiraga 2017:344). Dies zeigt sich auch daran, dass sowohl die evangelische als auch die katholische Predigt in den jeweiligen Gottesdienstordnungen eines der wenigen Elemente ist, das keine nähere Spezifizierung und Vorformulierung erfährt. Das lässt die Frage aufkommen, ob sie selbst ein Ritual ist, oder nur ein nicht-ritualisierter Teil eines Rituals. Wie die nachfolgenden Ausführungen zur multimodalen Eröffnung und Beendigung zeigen werden (siehe Kapitel 15), ist auch an dieser Stelle die Unterscheidung zwischen Predigt und Wortbeitrag ein Schlüssel zur Klärung dieser Frage. Während sich in den Aktivitätstypen der Eröffnung und Beendigung der Gattung Predigt je nach Konfession unterschiedliche, mehr oder weniger ritualisierte Elemente finden (z. B. Kanzelgruß, Kanzelsegen; siehe Abschnitt 15.1.4 und 15.2.1), zeigt der Aktivitätstype des Wortbeitrags in der hier durchgeführten Analyse keine Ritualisierung. Vielmehr gibt es Parallelen zwischen den untersuchten Wortbeiträgen hinsichtlich der grundsätzlichen thematischen Orientierung, des Umgangs mit Wissen und der Gestaltung der Beteiligung der anwesenden Personen. Die Predigt als Gesamtereignis ist demnach, abhängig von der Liturgie des Gottesdienstes und deren Grad an Ritualisierung, durchaus bis zu einem Punkt rituell aufgeladen. Innerhalb der Gattung unterscheiden sich jedoch die Aktivitätstypen stark in ihrer (potenziellen) Ritualität. Gottesdienst (Liturgie) und Predigt stehen so in einem spannungsvollen Verhältnis. Drei Aspekte sind hier zentral: 1.) die Rolle der Predigt innerhalb des Gottesdienstes und die Wechselwirkung zwischen Gottesdienst und Predigt, 2.) die Stellung der Predigt als liturgisches Element, d. h. als fester Bestandteil innerhalb des Gottesdienstablaufs, das selbst nicht liturgisch strukturiert ist, d. h. vor allem im Wortbeitrag keinen geregelten und schriftlich verankerten Ablauf hat, und schließlich 3.) die Predigt als Teil einer Gattungsaggregation, die vor allem in ihrer formalen Gestaltung Parallelen zu anderen Rede- bzw. Vortragsgattungen (z. B. der politischen Rede) und damit zu ‚außergottesdienstlichen Mitteilungsformen‘ aufweist (vgl. Stetter 2011:205).

Die unterschiedliche Gewichtung der Predigt zeigt sich darüber hinaus auch in der Länge der analysierten Predigten (vgl. Bundschuh-Schramm 2009:149). Sie haben einen zeitlichen Umfang zwischen fünf bis 50 min. Tabelle 13.1 gibt einen Überblick über die Dauer der untersuchten Predigten im Verhältnis zur Konfession:

Tabelle 13.1 Übersicht Predigtlänge

Die kürzesten Predigten fanden zum einen innerhalb evangelischer Gottesdienste zu Weihnachten statt, bei denen das Krippenspiel das zentrale Geschehen bildete und der Prediger gleich zu Beginn des Gottesdienstes eine fünfminütige Predigt hielt, zum anderen in katholischen Gottesdiensten, in denen Predigten u. a. auch eine Länge von ungefähr fünf bis zehn Minuten hatten. Die längsten Predigten wurden im Rahmen von Jugendgottesdiensten, alternativen Gottesdiensten und Evangelisationen realisiert.Footnote 3 Die Länge und die Position der Predigt ist aber nicht nur bestimmt durch die jeweilige Konfession und Zielgruppenorientierung, sondern kann auch innerhalb einer Konfession je nach Anlass des Gottesdienstes variieren. Vom Sonntagsgottesdienst wird eine Vielzahl unterschiedlicher Gottesdienstformen abgegrenzt, etwa Kasualgottesdienste wie Hochzeiten (vgl. Meyer-Blanck 2008:72). Darüber hinaus werden Gottesdienste zu verschiedenen Anlässen innerhalb und außerhalb des Kirchenjahres organisiert (z. B. Familiengottesdienste, Friedensgottesdienste oder Osternachtsfeiern), alternative Gottesdienstformen angeboten und Gottesdienste für bestimmte Zielgruppen realisiert (vgl. dazu auch Staub 2002:434). Im evangelischen Kontext hatten reguläre Sonntagspredigten durchschnittlich eine Länge zwischen fünf und zwanzig Minuten, zu Anlässen des ‚Gottesdienst mal anders‘ eine Länge zwischen 15 und 30 min und in zielgruppenorientierten Jugendgottesdiensten eine durchschnittliche Länge von 30 min.

Darüber hinaus kann die Art des Gottesdienstes nicht nur die Position der Predigt, ihre Länge oder ihre thematische Ausgestaltung beeinflussen, sondern auch die Gestaltungsform, denn „die besonderen liturgischen Kontexte nötigen zu besonderen Formen gottesdienstlicher Rede“ (Cornehl 2006:13). Dies zeigt sich auch daran, dass die Prediger in alternativen und rezipientenspezifischen Gottesdienstformen andere theatrale, didaktische und kommunikative Mittel nutzen, als dies im ‚normalen‘ Sonntagsgottesdienst der Fall ist. Im vorliegenden Korpus wurden in Predigten im Rahmen ökumenischer und alternativer Gottesdienste sowie in Zielgruppengottesdiensten andere Beteiligungsformate der Gemeinde realisiert und diese formal aktiver in das Predigtereignis involviert (siehe Kapitel 17). Dadurch werden nicht nur stilistische Unterschiede zwischen den einzelnen Predigtanlässen beobachtbar, sondern auch anlassspezifische Formen der dialogischen Gestaltung, obwohl die unterschiedlichen Möglichkeiten der Beteiligung grundsätzlich immer zur Verfügung stehen.

Nicht nur die Einbettung in den übergeordneten Gottesdienstablauf ist durch die kirchliche Institution mehr oder weniger stark vorstrukturiert, sondern auch die Verteilung der Handlungsrollen. So ist in der katholischen Kirche das Recht zu predigen den Priestern und Diakonen vorbehalten und kann nur in Notfällen an eine Laienperson übertragen werden (vgl. Müller 2006a:56 f.). In den untersuchten Freikirchen und freien Gemeinden ist es dagegen gängige Praxis, dass ‚Laien‘ die Wortverkündigung übernehmen (vgl. Weißenborn 2008:44). Auch in den untersuchten Sonntagspredigten evangelischer Gemeinden predigte der (Gemeinde)Pfarrer.Footnote 4 Eine Ausnahme bildeten Gottesdienste unter dem Label „Der andere Gottesdienst“. Zu diesen Anlässen predigten sowohl Pfarrer als auch Evangelisten oder Laien. Darüber hinaus wurden vor allem die Predigten zu speziellen Anlässen (Hochzeiten, Evangelisationen, Zielgruppengottesdienste) häufig auch von Evangelisten oder Laien gehalten. Tabelle 13.2 gibt einen Überblick über die Verteilung von ordinierten Amtspersonen, theologisch ausgebildeten Evangelisten und Laien im Verhältnis zu den Anlässen und den Konfessionen der untersuchten Predigten.

Tabelle 13.2 Übersicht Prediger

Die Predigt ist für ordinierte Amtsträger auch eine Form professioneller Kommunikation oder ‚talk-at-work‘, bei dem die Interaktionssituation nicht nur durch eine übergeordnete Institution gerahmt, sondern auch dadurch charakterisiert ist, dass zumindest einer der Beteiligten (hier: der Prediger) Repräsentant dieser Institution ist (vgl. Drew/Heritage 2001:3). Im Gegensatz zu vielen anderen professionellen Handlungsfeldern, die explizit durch die Interaktion eines Experten und einer Laien-Person gekennzeichnet sind (vgl. Drew/Heritage 2001:3) bzw. durch eine „vollprofessionelle Interaktion […], in der unterschiedliche Funktionsrollen arbeitsteilig kooperieren“ (Deppermann 2010:11), ist das Predigtereignis durch eine Predigerrolle mit unterschiedlichem Grad der institutionellen Professionalisierung gekennzeichnet. Dieser Funktionsrolle des Predigers steht in allen Fällen die Gemeinde gegenüber. In der vorliegenden Arbeit wird darunter die Gesamtheit der zum Zeitpunkt des Predigtereignisses im Gottesdienst anwesenden, d. h. körperlich ko-präsenten Personen verstanden und nicht die institutionelle Zugehörigkeit zu einer Kirche. Diese Gemeinde besteht aus Personen, die sich z. T. über Jahrzehnte mit biblischen Geschichten, theologischen Überzeugungen und vor allem ihrem eigenen Glaubensleben auseinandergesetzt haben und somit eine mehr oder weniger lange religiöse Biographie vorzuweisen haben. Zudem besteht die Gemeinde nicht per se aus theologischen Laien, denn auch Personen, die selbst die Funktionsrolle eines Predigers übernehmen, können Teil einer Gemeinde sein. Da in dieser Arbeit keine spezielle Milieuanalyse vorgenommen wurde, kann das Milieu ‚Gemeinde‘ nur aus den Kommentaren und Zuschreibungen der Prediger (siehe Abschnitt 16.2) und aus der rezipientenorientierten Benennung der Gottesdienste rekonstruiert werden. So deuten die Namen ‚Jugendgottesdienst‘, ‚Kraftfahrergottesdienst‘ etc. bereits darauf hin, dass einzelne Zielgruppen genauer in den Blick genommen werden. Diese Zielgruppen sind dann jedoch hinsichtlich der Variablen Geschlecht, sozio-ökonomischer Status und Glaubensbiographie sehr heterogen. Noch deutlicher unterscheiden sich Gemeinden zu regelmäßigen Sonntagsgottesdiensten und ökumenischen Gottesdiensten zusätzlich bezogen auf Alter und bei letzterem auf Konfession. Die Gemeinden bilden sich zudem je nach Gottesdienstanlass aus mehr oder weniger festen und langjährigen, wiederkehrenden Beteiligten. Im regulären Sonntagsgottesdienst und in regelmäßig stattfindenden Zielgruppengottesdiensten besteht die Gemeinde aus festeren Beteiligten als in einmalig stattfindenden Gottesdiensten. Die Bekanntheit zwischen dem Prediger und den anwesenden Personen, die die Gemeinde bilden, ist also davon abhängig, a) wie häufig die Personen im Gottesdienst anwesend sind, b) ob es sich um einen Gemeindepfarrer handelt, der regelmäßig in der Gemeinde predigt, oder um einen Gastprediger und, c) ob es sich um einen regelmäßig stattfindenden Gottesdienst handelt oder um eine einmalige Veranstaltung. Innerhalb des sozialen Ereignisses des Gottesdienstes bzw. der Predigt wird die Gemeinde nichtsdestotrotz zu einer Glaubens- und Wissensgemeinschaft, deren Bildung nicht nur von einem bei allen anwesenden Personen mehr oder weniger stark vorhandenen christlichen Glauben bestimmt wird, sondern auch von spezifischen Wissensbeständen (siehe Kapitel 16). Die Unterscheidung zwischen den Funktionsrollen des Predigers und der Gemeinde wird dadurch verstärkt, dass für das Ereignis der Predigt eine spezifische Interaktionsordnung mit scheinbar klar und starr verteiltem Rederecht charakteristisch ist (siehe Kapitel 14 und 17).

Eine weitere Verschränkung zwischen liturgischem Ablauf und speziell dem Wortbeitrag lässt sich auf der Ebene der inhaltlichen Gestaltung erkennen. Obwohl das übergeordnete Thema aller hier untersuchten Wortbeiträge die Auseinandersetzung mit biblischen Überlieferungen und göttlichen Aus- und Zusagen war, wurde der Inhalt v. a. außerhalb klassischer katholischer und evangelischer Sonntagsgottesdienste frei bestimmt und gestaltet. In Sonntagsgottesdiensten ist die Predigt u. a. durch die kirchenjährliche Agenda, d. h. die Ordnung der Sonntage und die je zugeordneten Bibeltexte inkl. Predigttext (Perikopenordnung), an den Gottesdienst (rück)gebunden (vgl. Stetter 2011:206). Gerade bei Kasualien und Gottesdienstformen für spezielle Zielgruppen wird die Wechselwirkung zwischen Predigt und Gottesdienst erkennbar. Dies zeigt sich zum einen in einer übergeordneten thematischen Ausrichtung, der sowohl der Gottesdienst als auch die Predigt folgen und die sich nicht an einem institutionell vorgegebenen Bibeltext orientieren. In dem für diese Arbeit untersuchten Korpus sind insgesamt 22 Predigten sog. Themapredigten. So befassten sich z. B. sowohl Gottesdienst als auch Predigt mit den Themen ‚Warten‘, ‚Warum hier?‘ (Schöpfung vs. Wissenschaft) oder mit der biblischen Bedeutung der Elemente. Die analysierten Predigten freier Gemeinden waren zudem thematisch eingebettet in eine sog. Predigtserie. Die wöchentlichen Wortbeitragsthemen bauen dabei aufeinander auf.

Wie anhand verschiedener liturgischer Abläufe und theologischer Haltungen aufgezeigt werden konnte, ist der Gottesdienst der übergeordnete situative und kommunikative Rahmen der Predigt. Er ist Teil einer institutionellen Praxis und mehr oder weniger verbindlicher Teil individueller Frömmigkeitspraktiken der anwesenden Personen. Innerhalb dieses Rahmens ist die Predigt eine spezielle kommunikative Gattung neben anderen (z. B. den Gebeten, den Lesungen, der Ausgabe des Abendmahls etc.). Wie die nachfolgenden Kapitel zeigen werden, ist die Predigt trotz ihrer Eingebettetheit ein Ereignis, das lokal und situativ hergestellt werden muss. Neben der festen Rollenverteilung zwischen Prediger und Gemeinde ist sie darüber hinaus eine institutionelle Gattung, die gerade im Wortbeitrag einen großen Gestaltungsspielraum zulässt. Die nachfolgenden Kapitel vertiefen diese ersten Befunde und fokussieren im Speziellen die räumliche Situierung der Predigt und die Ausgestaltung des Wortbeitrags.