Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Kommunikationsformen innerhalb religiöser Kontexte hat sowohl in der Linguistik als auch in der Soziologie eine lange Tradition. So wird etwa aus sprach- und mediengeschichtlicher sowie varietätenlinguistischer Perspektive der enorme Einfluss religiöser Sprache auf das Lexikon und den Sprachwandel untersucht (z. B. die Lexik des ‚Lutherdeutsch‘, die Bedeutung unterschiedlicher Bibelübersetzungen, das Vorkommen religiöser Sprichwörter etc.; vgl. dazu u. a. von Polenz 2000, Greule/Kucharska-Dreiß 2011:11, Gloning 2017) und die enge Verknüpfung zwischen der Entwicklung neuer Medientechnik und religiöser Kommunikation herausgearbeitet (vgl. von Polenz 2000:231). Religion wird aufgrund solcher Beobachtungen als „soziale Erscheinung“ (Gloning 2017:37) konzeptualisiert, die „auf das Engste mit dem Gebrauch von Sprache und mit historisch verfestigten Formen des Sprachgebrauchs und der Kommunikation verknüpft“ (Gloning 2017:37) ist. Glaubensgemeinschaften bilden komplexe „Kommunikationsgemeinschaften“ (Gloning 2017:38), die zum einen in Texten wie der Bibel „eine zentrale kommunikative und spirituelle Grundlage“ haben (Gloning 2017:38) und sich zum anderen durch mündliche Praktiken konstituieren. In diesem Zusammenhang fragt die linguistische Forschung nach Merkmalen sakraler Sprache und sakralen Sprechens, nach Ritualität und ritueller Kommunikation sowie nach den rhetorischen Elementen religiöser Textsorten (vgl. u. a. Gülich 1981, Werlen 1984, Bayer 2004, Paul 2009, Liebert 2017). Die religions- und wissenssoziologische Forschung wiederum fragt nach routinisierten Mustern und der gesellschaftlichen Relevanz und Bedeutung religiös-spiritueller Ereignisse. Während Gottesdienste sowohl in der Linguistik als auch in der Soziologie als komplexes soziales und kommunikatives Ereignis aus ritualtheoretischer, rhetorisch-stilistischer und auch interaktionaler Perspektive gut dokumentiert und beschrieben sind, ist die (interaktional)linguistische und soziologische Auseinandersetzung mit dem spezifischen Ereignis der Predigt innerhalb von Gottesdiensten nach wie vor unterrepräsentiert. Um dieses Forschungsdesiderat zu bearbeiten, wird die Predigt in der vorliegenden Arbeit in ihrem eigenen Recht mithilfe des Konzepts der kommunikativen Gattung, wie es von Thomas Luckmann, Hubert Knoblauch und Susanne Günthner entwickelt wurde, reflektiert und analysiert. Innerhalb dieses Modells wurde die Predigt zwar bereits als kommunikative Gattung bestimmt (vgl. Luckmann 1986, Günthner 1995), jedoch nicht explizit empirisch als solche untersucht und beschrieben. Dass die Predigt eine komplexe, monologische Gattung mit spezifischen und typischen, wiederkehrenden und wiedererkennbaren Merkmalen ist, ist dabei über Forschungsgrenzen hinweg zunächst Konsens. Je nach Disziplin wird sie dann als literarische Gattung (Theologie und Literaturwissenschaft), als Textsorte (Linguistik), als kommunikative Gattung (Soziologie) oder als Hybridform dieser drei Formen („mixed genre“, Lorensen 2014:96) bezeichnet. In der Überführung zu Fernseh-, Internet- und Radiopredigten wird sie gar zu einer speziellen Mediengattung. Welche konkreten verbalen, vokalen, visuellen und materiellen Ressourcen jedoch zu ihrer Realisierung eingesetzt werden und welche Elemente für die Gattung typisch und spezifisch sind, ist nach wie vor nicht konzise beschrieben. Darüber hinaus sind die bisherigen Forschungen zur Predigt als Gattung vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie ein Korpus schriftlich überlieferter Predigtmanuskripte untersuchen. Gattungsanalytische Arbeiten anhand eines Korpus authentischer Predigtereignisse face-to-face stehen aus. Dies ist der Ansatzpunkt der vorliegenden Arbeit, die dieses Forschungsdesiderat bearbeitet und dazu methodisch und theoretisch an die Forschungslinien der multimodal ausgerichteten Interaktionalen Linguistik sowie der Wissenssoziologie anschließt. Gegenstand der Untersuchung sind deutschsprachige christliche Predigten des 21. Jahrhunderts. Diese werden anhand authentischer, natürlicher Audio- und Videoaufnahmen untersucht. Das erhobene Datenmaterial bildet den Ausgangspunkt und das Zentrum der Analyse. Bestandteil des Korpus sind solche Ereignisse, die die beteiligten Personen (PredigerFootnote 1 und Gemeinde) ethnokategorial selbst als Predigt bezeichnet haben, und umfasst sowohl evangelische als auch katholische, freikirchliche und ökumenische Predigten. Dadurch kann die vorliegende Arbeit die Frage stellen, was eine Predigt nicht nur innerhalb eines bestimmten konfessionellen Kontextes ausmacht, sondern was sie grundsätzlich und überkonfessionell charakterisiert. Die Arbeit reiht sich damit in den Bereich der „videobasierten multimodalen Interaktionsanalyse“ (Schmitt 2013:12) ein, und nimmt eine empirisch-qualitative, induktive, an den Daten des erhobenen Korpus orientierte Analysehaltung ein.