Zusammenfassung
Ziel dieses Beitrages ist es, das Rollenverständnis zwischen Lehrpersonen und Schüler*innen in unterrichtsnahen Experimentiersituationen zu rekonstruieren und zu reflektieren. Dieses Rollenverständnis wird beim Experimentieren im Sachunterricht selten thematisiert, erweist sich aber oft als wenig demokratisch. Die These dieses Beitrages ist, dass das immanent zu berücksichtigende Demokratielernen – auch oder gerade – im Hinblick auf ‚Experimentieren im Sachunterricht‘ als Forschungsgegenstand konstruktiv weiterentwickelt werden kann. Dabei wird auf das Forschungsprojekt „doing AGENCY“ Bezug genommen, das die Aushandlung des selbstbestimmten Vorgehens beim Experimentieren mittels Teilnehmender Beobachtung Grounded Theory Kodierverfahren untersucht. Die vorliegenden Analysen erlauben es, Demokratiebildung im Sachunterricht auch im Bereich Experimentieren sensibel weiterzuentwickeln und traditionelle, fremdgesteuerte Experimentier-Paradigmen – für Sachunterricht und die Lehrkräftebildung – zu überwinden.
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Notes
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Das Adjektiv „perspektivenübergreifend“ betont, dass es in diesem Beitrag nicht um eine interdisziplinäre, perspektivenvernetzende Betrachtung von Demokratie (oder Demokratielernen) aus allen fünf Perspektiven des Sachunterrichts gleichzeitig geht (GDSU 2013). Vielmehr wird thematisiert, wie Demokratielernen im naturwissenschaftlich orientierten Sachunterricht am Beispiel des Experimentierens als zentrale Arbeitsweise und Methode der Naturwissenschaften zum Forschungsgegenstand und im Anschluss zum Unterrichtsgegenstand werden kann.
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- 3.
Bisherige Studien rekurrieren oft auf das Selbstbestimmungsempfinden als intraindividueller, individualpsychologischer Eigenschaft einer einzelnen Person (z. B. Hartinger 2008). Dadurch bleiben aber u. E. wesentliche Aspekte des Demokratielernens unberücksichtigt, da die Frage nach der Aushandlung bzw. sozialen Verursachung von Entscheidungs- und Beteiligungsprozessen nicht betrachtet bzw. verkürzt wird (Häcker 2011; Giest 2019).
Das Projekt „doing AGENCY“ transferiert sozialwissenschaftliche Ansätze, um diese Verkürzung zu bearbeiten (Kihm und Peschel 2019). „Agency“ lässt sich mit Handlungsfähigkeit oder Selbstbestimmung übersetzen. Agency „is not something that people have; it is something that people do“ (Biesta und Tedder 2007, S. 136). Doing betont v. a. die Dynamik von Interaktionsprozessen. Selbstbestimmung muss demnach in jeder Situation aktualisiert/neu ausgehandelt werden.
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Im didaktischen Konzept des Gofex ist diese Aufgabe auf Öffnungsstufe 2 zu verorten (es gibt insgesamt fünf Öffnungsstufen, siehe Peschel 2009). Das bedeutet, dass sie nicht nur organisatorisch geöffnet ist (bzgl. Sozialform, Bearbeitungsreihenfolge, -ort und -dauer) (Öffnungsstufe 1), sondern auch methodisch (bzgl. Lernziele, Materialien, Bearbeitungswege) (Öffnungsstufe 2). Anders, als die Aufgaben ab Öffnungsstufe 3 (inhaltlich geöffnet), gibt diese Aufgabe allerdings einen klaren Inhalt/ein Experiment vor (zu den weiteren Öffnungsstufen siehe ebd.).
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Da die Lehrkräfte aufgrund der Informationen und Vorbesprechungen zu den Gofex-Tagen wissen, dass sie sich nicht in offene Experimentiersituationen im Gofex einmischen sollen, verstecken sie (bewusst oder unbewusst) ihre Interventionen und Einschränkungen (s. u.) häufig in der Nonverbalität. Dieses Handeln deckt sich mit Beobachtungen aus anderen Arbeiten, die zeigen, wie Lehrkräfte mit Blicken oder Zeigegesten (z. B. Hecht 2009) Autonomie von Schülerinnen und Schülern in offeneren Lehr-Lern-Situationen subtil kontrollieren, teilweise unbewusst oder sogar entgegen ihrer eigenen Ansprüche oder Konzepte (Hartinger et al. 2006; Wahl 2013).
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Kihm, P., Peschel, M. (2021). Demokratielernen durch Experimentieren?! – Aushandlung eines selbstbestimmten Vorgehens beim Offenen Experimentieren im Sachunterricht. In: Simon, T. (eds) Demokratie im Sachunterricht – Sachunterricht in der Demokratie. Edition Fachdidaktiken. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-33555-7_15
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