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Welcher Menschenwürde-Begriff taugt für Kinder?

Eine ethische Analyse

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ZusammenDenken

Zusammenfassung

Es ist ein intuitiv einleuchtender Gedanke, dass Kinder über Menschenwürde verfügen. In der Ethik wird aber ganz überwiegend entweder die Menschenwürde erwachsener Personen oder die von Embryonen thematisiert. Die Menschenwürde geborener Kinder wird so gut wie nie diskutiert. Viele Autoren und Autorinnen, die sich um die Präzisierung des Menschenwürde-Begriffs im Rahmen von personhood accounts bemühen, scheinen zu unterstellen, der von ihnen jeweils entwickelte Begriff sei im Prinzip auf Erwachsene wie auf Kinder anwendbar. Im Beitrag werden unterschiedliche Menschenwürde-Interpretationen daraufhin untersucht, ob sie tatsächlich geeignet sind, die Situation von Kindern angemessen zu erfassen. Ziel ist eine Analyse geläufiger Menschenwürde-Konzeptionen aus der Perspektive des Kindes. Dies soll einerseits theoretisch-analytisch und andererseits mit Bezug auf zwei praktische Beispiele geschehen.

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Notes

  1. 1.

    Das interdisziplinäre Handbuch zur Menschenwürde, herausgegeben von J. C. Joerden, E. Hilgendorf und F. Thiele (2013), zum Beispiel zählt 49 Beiträge, von denen sich keiner dem geborenen Kind widmet. Für eine Kritik an diesem Mangel s. a. Baumann und Bleisch (2015).

  2. 2.

    Sog. „Mitgiftkonzeption“, vgl. Pollmann (2005); Stoecker (2013, S. 398). Vgl. auch die Unterscheidung in Menschenwürde als „inherent value of human beings“ einerseits und basierend auf „personhood accounts“ andererseits, die Holger Baumann und Barbara Bleisch (2015) vornehmen.

  3. 3.

    Es sei hier bemerkt, dass die Debatte über Kinderrechte ein zwar verwandtes, aber keinesfalls identisches Thema behandelt.

  4. 4.

    Diesen Auszug aus der Lebensgeschichte von Andromyda habe ich dem Buch von Claudia Lang (2006, S. 190 f.) entnommen. Lang bezieht sich auf eine Fassung der Webseite des Vereins xy-frauen von 2005, die nicht mehr existiert. Mittlerweile finden sich dort andere, nicht weniger bewegende Geschichten von betroffenen Personen mit ähnlich traumatisierenden Kindheitserfahrungen. Vgl. www.xy-frauen.de/geschichten. Zugegriffen: 1. März 2018.

  5. 5.

    Es wird nicht klar, ab wann man auch bei Kindern von einer Handlungsfähigkeit im Gewirth’schen Sinn sprechen kann.

  6. 6.

    Ein Achtjähriger, der sich schreiend mit Händen und Füßen gegen eine ärztliche Untersuchung wehrt und dann – in seinem vermeintlich besten Interesse – von mehreren erwachsenen Personen mit vereinten Kräften auf die Untersuchungsliege gezwungen wird, wo er eine körperliche Untersuchung zu erdulden hat, erleidet einen Angriff auf seine Würde nicht, weil seine Handlungsfähigkeit eingeschränkt wird, sondern weil seine Angst und Verzweiflung nicht angemessen gewürdigt werden.

  7. 7.

    Vgl. eine weitere Definition von Menschenwürde von Peter Schaber: „über wesentliche Bereiche des eigenen Lebens verfügen zu können und die Rechte wahrnehmen zu können, die Personen darin schützen, zwischen akzeptablen Optionen wählen zu können.“ (Schaber 2010, S. 58).

  8. 8.

    Peter Schaber konstatiert, dass Kindern zumindest aus pragmatischen Gründen von der Geburt an Menschenwürde zugestanden werden solle, selbst wenn sie noch nicht über Selbstachtung verfügen (vgl. Schaber 2004, S. 103), wenngleich der Menschenwürde-Begriff im eigentlichen Sinne nicht auf Kleinkinder angewendet werden könne (vgl. Schaber 2010, S. 94). Das scheint mir allerdings schon deshalb nicht ausreichend, weil der Begriff der Menschenwürde in diesem Fall keine Orientierung dafür bietet, wie genau kleine Kinder aus Menschenwürdegründen behandelt werden sollen.

  9. 9.

    Stoecker unterscheidet zwischen der kleinen, der sozialen Würde und der großen, der exzeptionellen Menschenwürde. Die erstere bauen wir im Alltag auf, sie ist kulturabhängig kontingent und richtet weniger strenge Forderungen an uns. Die letztere sei immer und unbedingt zu beachten (vgl. Stoecker 2010, S. 111). Zwar sei sie nur aus ersterer heraus zu verstehen und abzuleiten, doch sei es zulässig, gegen die kleinere Würde zu verstoßen, etwa indem Menschen durch Zurechtweisung gedemütigt werden, die etwas verbrochen haben, während die große Menschenwürde unbedingten Respekt erfordert (vgl. ebd.). Auf diese Weise möchte Stoecker das Paradox lösen, dass die Menschenwürde zugleich als unantastbar gilt und dennoch Menschen faktisch entwürdigt werden können.

  10. 10.

    An einer Stelle spricht Stoecker allerdings davon, dass es eine Würdeverletzung darstellen kann, psychiatrische Patienten wie Kinder zu behandeln. Das verweist auf einen signifikanten Unterschied zwischen diesen beiden und scheint zu unterstellen, dass die Würde der Kinder und der erwachsener, psychisch erkrankter Menschen nicht identisch sei.

  11. 11.

    Man kann in Anlehnung an die Situation des Kindes sogar die These aufstellen, dass aus dem gleichen Grund auch bei Erwachsenen Demütigungen nicht zulässig sind. So sollte etwa die Bestrafung einer erwachsenen Täterin nie den Charakter der Demütigung annehmen. Damit verbietet sich etwa die gezielte öffentliche Zurschaustellung der Täterin mit dem Ziel der Anprangerung. Wenn sich der Steuerhinterzieher anlässlich des öffentlichen Bekanntwerdens seiner Tat dennoch gedemütigt fühlt, so hat dies als erste und wichtigste Ursache, dass er sich selbst durch sein heimliches und betrügerisches Verhalten entwürdigt hat und diese Selbstentwürdigung nun öffentlich wird. Die öffentliche Schadenfreude über die Enttarnung eines prominenten Steuerhinterziehers hat durchaus demütigende und damit würdeverletzende Züge und sie wird genau aus diesem Grund zu Recht moralisch verurteilt.

  12. 12.

    Auch ich verwende den Begriff carings, um zu verdeutlichen, welche kindlichen Anliegen Respekt verdienen, selbst wenn diese nicht als voll und ganz selbstbestimmte Handlungen gelten können (Wiesemann 2016, S. 97 f.). Die Würde von Kindern bestehe einerseits darin, ihre carings ernst zu nehmen und andererseits ihr Bedürfnis nach vertrauensvollen Beziehungen nicht zu enttäuschen (ebd., S. 113 f.).

  13. 13.

    Sie konstatieren lediglich, dass ihr Konzept auch auf Erwachsene übertragbar ist, die nicht vollständig autonom sind. Damit konstatieren sie aber indirekt, dass für vollständig autonome Erwachsene ein anderes Kriterium für Menschenwürde verwendet werden müsste.

  14. 14.

    Ähnlich verfährt Martha Nussbaum, deren Ansatz hier nur am Rande gestreift werden soll, weil sie ohnehin konstatiert, dass der Capabilities Approach nicht ohne Weiteres auf Kinder angewendet werden kann. Menschenwürde ist Nussbaum zufolge jenes Prinzip, das alle capabilities im Sinne von fundamentalen Freiheiten fundiert („freedom to choose and act“, Nussbaum 2011, S. 20). Das gilt allerdings ihrer Ansicht nach nicht für Kinder: „Education is one area in which the usual deference to choice is relaxed: governments will be well advised to require functioning of children, not simply capability.“ (Ebd., S. 156) Der für den menschenwürdebasierten Capabilities Approach wesentliche Aspekt der freien Wahl der functionings ist bei Kindern aufgehoben: „Compulsory functioning is justified both by the child’s cognitive immaturity and by the importance of such functioning in enabling adult capacity.“ (Nussbaum 2006, S. 172) Konsequenterweise stützen sich etwa Schweiger und Graf in ihrem auf Nussbaum aufbauenden Beitrag zur Problematik der Kinderarmut auf well-being und well-becoming und bewusst nicht auf Nussbaums Konzept einer Menschenwürde von Kindern (Schweiger und Graf 2015, S. 43).

  15. 15.

    Ein Angriff auf die repräsentative Würde kann dazu dienen, die eigentliche Würde des Menschen zu betonen, wenn etwa ein besonders eitler und heuchlerischer Politiker mit einem Tortenwurf entlarvt werden soll und der Angreifer damit auf den Unterschied zwischen eigentlicher und repräsentativer Würde hinweist.

  16. 16.

    Übrigens gehe ich davon aus, dass auch das Verschmähen der Liebe eines Kindes einer Würdeverletzung entspricht. Dieser etwas komplexere Fall soll hier aber nicht weiter erörtert werden.

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Wiesemann, C. (2021). Welcher Menschenwürde-Begriff taugt für Kinder?. In: Kipke, R., Röttger, N., Wagner, J., v. Wedelstaedt, A.K. (eds) ZusammenDenken. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-33464-2_10

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