Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag widmet sich der Frage nach der notwendigen pädagogischen Bearbeitung von Grenzen (pädagogische Grenzbearbeitung) quasi ad negativo. Nach einer einführenden Positionierung zur Frage pädagogischer Grenzbearbeitung geschieht dies anhand eines Einblicks in zwei Forschungsprojekte, in denen eine pädagogische Praxis der Grenzziehung und deren teilweise gewaltvolle Auswirkung durch Grenzüberschreitungen von Erwachsenen gegen Kinder sichtbar werden. In beiden Projekten stellte die untersuchte Organisation ein so genanntes (teil-)geschlossenes Setting in einer stationären Wohngruppe für Kinder und Jugendliche dar. Auf Basis dieser beiden empirischen Einblicke lassen sich symptomatische Aspekte solcher grenzziehenden und grenzüberschreitenden Settings ausmachen, was deren organisationalen Kontext und deren Organisationskultur angeht. Deren Ausarbeitung weist auf eine Verkehrung, Blockierung und Verhinderung pädagogischer Grenzbearbeitung hin, weshalb die vorliegenden Überlegungen am Ende in eine Schlussreflexion zur Frage pädagogischer Grenzbearbeitung münden.
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Notes
- 1.
Der nachfolgenden Darstellung liegen zwei Forschungsprojekte zugrunde, die am Institut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik der Universität Duisburg-Essen in den Jahren 2011–2012 (Wohngruppe 1) bzw. 2013–2016 (Wohngruppe 2) gemeinsam mit Nicole Koch (Wohngruppe 1) und Friederike Lorenz (Wohngruppe 2) durchgeführt wurden.
- 2.
Mit Abschaffung der Fürsorgeerziehung durch das KJHG bedarf der Freiheitsentzug im Rahmen der Jugendhilfe immer eines familienrichterlichen Beschlusses nach § 1631b BGB3. Das KJHG an sich stellt keine eigenständige Rechtsgrundlage für eine freiheitsentziehende Maßnahme in Form der geschlossenen Unterbringung dar. Die Genehmigung nach § 1631b BGB ist davon abhängig, ob das Wohl des Kindes dies erfordert und festgestellt werden kann, dass es sich bei der geschlossenen Unterbringung um die geeignete, notwendige und hinsichtlich des erzieherischen Bedarfs und der Ziele einer Hilfemaßnahme verhältnismäßige Form der Hilfe handelt (Winkler 2003, S. 230). Zu prüfen ist also formal-rechtlich, ob der Freiheitsentzug in Hinblick auf die Erziehung und Förderung der Entwicklung des Kindes und Jugendlichen in einem angemessenen Verhältnis steht und ob weniger schwer in die Persönlichkeitsrechte des Kindes bzw. Jugendlichen eingreifende Maßnahmen nicht mehr möglich sind. Die geschlossene Unterbringung wird damit als letzte Möglichkeit (ultima ratio) verstanden, in der es in erster Linie um Hilfe und Erziehung und weniger um Strafe, Sühne oder Abschreckung im Sinne der Logik der Justiz gehen soll, so die offizielle Lesart.
- 3.
Ihr verhaltenstherapeutisches Grundverständnis markieren die Autor*innen Fritz Jansen und Uta Streit (2006) im Fokus auf Belohnung und Bestrafung. Dementsprechend wird im Gruppenkonzept der Wohngruppe 2 die entsprechende grundlegende Forderung von Jansen und Streit zitiert: „Wir müssen lernen, Belohnung und Bestrafung völlig wertfrei zu sehen.“ (Jansen und Streit 2006, S. 43). Dadurch könne sowohl günstiges Verhalten auf- als auch ungünstiges abgebaut werden, nicht zuletzt, weil Menschen im „Sekundenfenster“ belohnende und bestrafende Signale senden und empfangen könnten (ebd.). Bestrafung sollte deshalb auch nicht weiter negativ bestimmt und verstanden werden, da dies den „biologischen und evolutionär vorgegebenen Sachverhalten“ widerspreche (ebd.). Diese biologistische Argumentation ist für Jansen und Streit konstitutiv: „Eine Erziehung in Familie, Kindergarten und Schule oder eine therapeutische Forderung muss uneffektiv bleiben, solange die handlungssteuernden Modelle in diesem Punkt von den evolutionär gegebenen Sachverhalten abweichen.“ (Ebd.)
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Kessl, F. (2021). Grenzziehung und Grenzüberschreitung in pädagogischen Organisationen. Überlegungen zur pädagogischen Bearbeitung von Grenzen. In: Schröer, A., Köngeter, S., Manhart, S., Schröder, C., Wendt, T. (eds) Organisation über Grenzen . Organisation und Pädagogik, vol 29. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-33379-9_3
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